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Regina Stürickow

Mörderische

Metropole

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Authentische Fälle

1914–1933

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Erweiterte Neuauflage: © Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2015

Erstauflage: Militzke Verlag e.K., Leipzig 2004

Lektorat: Caren Fuhrmann, Monika Werner

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Ralf Thielicke

Umschlaggestaltung: unter Verwendung zweier Fotos von istockphoto

Schrift: ITC Legacy Serif

ISBN: 978-3-86189-860-3 (Buch)

eISBN: 978-3-86189-973-0 (E-Book)

Besuchen Sie uns im Internet unter: www.militzke.de

Inhaltsverzeichnis

Die dunkle Seite von Berlin

Vom Schlesischen Bahnhof zum Kurfürstendamm: Eine kriminalhistorische Topographie

Rund um den Alexanderplatz

Zwischen Münz- und Linienstraße: Im Scheunenviertel

Tatort Mulackstraße

Stettiner Bahnhof und Poetenviertel

Rund um den Schlesischen Bahnhof

Vom Bülowbogen zum Kurfürstendamm

Von Schiebern und Kneipenwirtinnen: Kriminalistenalltag im Ersten Weltkrieg

Tante Jänichen und der seltsame junge Herr

Vollrausch

Tödliche Geschäfte

Die zwanziger Jahre ohne Gold

Der Untermieter

Das Attentat in der Hardenbergstraße

Der Fall Jakobi oder der Triumph der Daktyloskopie

Der Mordfall Fehse

Das Mädchen aus Pankow

Tod einer Prostituierten oder der Sieg der Kriminalistik

Blutige Hände

Die Reise nach Wien oder ein fast perfekter Mord

Mord? Selbstmord? Unfall? – Todesermittlungen und ihre Tücken

Tödliches Mitleid

Das Wunderkind oder »Ödipus vom Kurfürstendamm«

Mord um zwanzig Pfennig

Der Weihnachtsmord

Wirtschaftskrise und Verbrechen: »Die Mordkurve«

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bildnachweis

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Die dunkle Seite von Berlin

 

»Wünschen Sie einen Blick in die Unterwelt zu tun?« fragt Curt Moreck in seinem 1931 erschienenen Führer durch das »lasterhafte« Berlin und lässt eine ausführliche Beschreibung der sogenannten Berliner Verbrecherwelt folgen, eine Beschreibung jener heruntergekommenen Stadtviertel mit ihren einschlägigen Kaschemmen, den angeblichen Treffpunkten der Kleinkriminellen und der gestandenen Berufsverbrecher. Kaum ein Berlinführer der zwanziger Jahre verzichtet darauf, den Mythos vom »dunklen Berlin« zu bedienen und eine mehr oder weniger sachkundige Schilderung der Berliner Unterwelt oder dessen, was man gemeinhin dafür hält, zu geben. Die von einer Aura der Romantik umnebelte Verbrecherwelt ist zur Touristenattraktion geworden und die Neugier des Publikums kaum zu bändigen. Gierig verschlingen die Leser die Polizei- und Gerichtsberichte in der Tagespresse. Kriminal- und Gerichtsreporter sind, ganz gleich, ob sie ihre Artikel kolportagehaft im lockeren Plauderton oder im gepflegten Feuilleton-Stil präsentieren, die Stars ihrer Zunft.

Einer jener populären Gerichtsberichterstatter ist der Schriftsteller und Journalist Paul Schlesinger (1878–1928), der unter dem Pseudonym »Sling« seine gleichermaßen brillanten wie amüsanten Gerichtsreportagen für die altehrwürdige Vossische Zeitung schreibt. Reportagen, in denen nicht nur Schlesingers demokratische Gesinnung, sondern mehr noch seine humanistische Grundhaltung zum Tragen kommt. Demzufolge betrachtet »Sling« den vor Gericht stehenden Delinquenten nicht nur als »Täter«, sondern – je nach den gegebenen Umständen – gleichsam als »Opfer« der sozioökonomischen Verhältnisse. So zeichnet Schlesinger in seinen Gerichtsberichten ein Gesellschaftsporträt, das das Legende gewordene Gold jener Jahre als verrostetes Blech entlarvt.

Zur Touristenattraktion avancierte das »dunkle Berlin« jedoch nicht erst in den Jahren der Weimarer Republik. Schon um 1871 führte Heinrich Zille, gerade dreizehn Jahre alt, Touristen aus der Provinz durch die verrufensten Gassen der preußischen Metropole und vermittelte ihnen mit wahren und geflunkerten Schauergeschichten eine Verbrecherwelt, dass es den unbedarften Provinzler nur so schauderte. Mehr als zwanzig Jahre später, in den 1890er Jahren, begleitete Kriminalkommissar Hans von Tresckow neugierige Einheimische wie Zugereiste in die bekanntesten Verbrecherkaschemmen des Berliner Ostens und Nordens; freilich nur in jene, die ihm vertraut waren und in denen er, jedenfalls wenn er privat kam, ein mehr oder weniger gern gesehener Gast war. »Na, Herr Kommissar, wieder mal als Bärenführer unterwegs?« lästerten dann die Ganoven.

»Bärenführer« nannte man, nach den seinerzeit berühmten Reiseführern gleichen Namens, die Kriminalkommissare, die Fremde durch die Verbrecherviertel führten.

Die Faszination des Verbrechens geht weit ins 19. Jahrhundert zurück; ein Phänomen, dem letztlich die Romanfigur Sherlock Holmes und als französische Antwort auf den britischen Meisterdetektiv der Gentleman-Einbrecher Arsène Lupin ihre Existenz verdanken. In den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Detektivzeitschriften, die in aller Ausführlichkeit über authentische, zuweilen aber auch, um die Auflage zu steigern, über allein der Phantasie entsprungene Verbrechen berichteten. In Frankreich erreichten Tageszeitungen wie Le Petit Journal oder Le Matin, die in reißerischer Form Verbrechen schilderten, Auflagen in Millionenhöhe. In Deutschland verschlangen vor dem Ersten Weltkrieg besonders Kinder und Jugendliche die von den Pädagogen verdammten Nic-Carter-Geschichten.

In den zwanziger Jahren werden die von Kriminalkommissaren verfassten Milieuschilderungen zu Bestsellern: so die Publikationen von Kommissar Ernst Engelbrecht und dem Kriminalschriftsteller Leo Heller, die mit Neugier weckenden Titeln wie »Berliner Razzien«, »Bilder und Skizzen aus dem Verbrecherleben«, »In den Spuren des Verbrechertums« oder »Kinder der Nacht« erscheinen.

Bis zu Beginn der dreißiger Jahre bleibt es eine Attraktion der besonderen Art, sich von einem der populären Kriminalkommissare durch düstere Stadtviertel und einschlägige Kneipen führen zu lassen. In erster Linie sind es Künstler, Schauspieler, Regisseure, Komponisten, Schriftsteller oder Journalisten, die aus diesem Grunde im Polizeipräsidium vorstellig werden. So lässt sich auch der Komponist Ralph Benatzky (»Im weißen Rößl«) kurz nach seiner Ankunft in Berlin im Februar 1924 von einem Kriminalbeamten in eine berüchtigte Kellerkaschemme führen, wo er sich »bei kaltem Bier und vorzüglicher Eierspeis mit Kartoffeln« köstlich amüsiert.

Um uns von der alltäglichen Arbeit der berühmten Kriminalkommissare vom Alexanderplatz ein lebendigeres Bild machen zu können, werden auch wir einen Streifzug durch die Berliner Unterwelt zur Zeit der Weimarer Republik unternehmen. Die Warnungen der zahllosen Reiseführer beherzigend, werden wir uns nicht auf eigene Faust auf Entdeckungstour begeben, sondern wollen uns einem Kenner der Szene anvertrauen. Unser Begleiter, ein bekannter Kriminalkommissar, der sein Inkognito wahren möchte, kennt sich glänzend aus im Milieu. Regelmäßig zieht er, so erzählt er jedenfalls, durch die berüchtigten Kaschemmen, um zu sehen, »was gerade Sache ist«.

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Vom Schlesischen Bahnhof zum Kurfürstendamm: Eine kriminalhistorische Topographie

 

Eine Topographie der Berliner Unterwelt zu skizzieren ist kein leichtes Unterfangen, denn es gibt kein homogenes sogenanntes Verbrecherviertel. Ähnlich einem Flickenteppich erstreckt sich das »dunkle Berlin« über ein weitläufiges Areal, dessen Hauptbrennpunkte in den östlichen und nördlichen Stadtteilen konzentriert sind: angefangen vom Schlesischen Bahnhof über den Alexanderplatz in Richtung Norden, über das Scheunenviertel beziehungsweise die Spandauer Vorstadt und den Stettiner Bahnhof bis nach Moabit und in den Wedding. Ein weiterer Brennpunkt der Kriminalität konzentriert sich im Berliner Westen rund um den Bülowbogen, zieht sich bis zum Nollendorfplatz und von hier aus weiter zum Wittenbergplatz und Kurfürstendamm.

 

Rund um den Alexanderplatz

Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1928 und beginnen wir unseren Spaziergang durch das »dunkle Berlin« unweit des Polizeipräsidiums, jenes zwischen 1885 und 1889 vom Stadtbaurat Hermann Blankenstein errichteten roten Backsteinkolosses am Alexanderplatz, wo sich, so Curt Moreck, »gleichsam unter dem Protektorat der Polizei« die Verbrecherwelt konzentriert. Treffen wir uns vor dem Haupteingang des Kaufhauses Hermann Tietz, bei »Tietzen«, wie die Berliner sagen. Mit Erstaunen stellen wir fest, dass die dicke Berolina, die bronzene Heroine, die vor kurzem noch einfältig grinsend über den Platz schaute, inzwischen ihren Sockel verlassen hat. Sie ist, wie wir erfahren, vorübergehend in irgendeinem Depot verschwunden. Der Grund: Die Gegend rund um den Alexanderplatz ist zurzeit Großbaustelle, denn die U-Bahn wühlt sich von hier aus weiter nach Osten durch. Wohin man auch blickt: Allenthalben bestimmt Abriss das Bild. Aus reiner Neugier gehen wir zunächst ein Stück in die Landsberger Straße hinein. Die heruntergekommenen Mietskasernen sind als nächstes dran. Ganze Häuserzeilen stehen bereits als Ruinen, ohne Türen und Fenster, ausgeschlachtet von armen Leuten auf der Suche nach Brennholz. Die Straße ist menschenleer.

Des Nachts jedoch wird sich diese Totenstadt mit geisterhaftem Leben erfüllen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlurft bereits der erste Obdachlose mit seinem schmutzigen Lumpenbündel in einen der verwaisten Keller, um zwischen Schutt, Gerümpel und Unrat sein Nachtlager aufzuschlagen. Eine ganze Schar Gleichgesinnter wird es ihm im Laufe der Nacht noch gleichtun. Hier ist es immerhin besser als im städtischen Asyl in der Fröbelstraße, wo man sich nicht nur allerlei ansteckende Krankheiten holen kann, sondern auch noch beklaut wird.

Im ebenfalls abbruchreifen Nebenhaus verschwindet gerade eine Nutte mit ihrem Freier. Für sie ist es ein Glücksfall, denn eine wohlfeilere Absteige wird sie gewiss nirgendwo in der Stadt finden. Sie ist nur eine von Hunderten von Straßendirnen aus der Münzstraße oder der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), die auch in dieser Nacht wieder in den Abrisshäusern ihrem Geschäft nachgehen werden.

Vor zwei Tagen erst haben Bauarbeiter im Keller eines solchen Abrisshauses eine Tote gefunden. Der Mordkommission ist es bisher nicht gelungen, die Leiche zu identifizieren. Auch die Todesursache ist noch ungeklärt. War es Mord? Selbstmord? Ein tragischer Unfall? Ein ganz ähnlicher Fall wird uns später noch beschäftigen …

Gehen wir zurück zum Alexanderplatz, am Bahnhof vorbei und in die Dircksenstraße, wo sich die Zentralmarkthallen unmittelbar an den Stadtbahnviadukt anlehnen. Die Berliner sind stolz auf ihre Stadtbahn. Oberbaurat August Dircksen hat diese erste Viaduktbahn Europas, sie ist am 7. Februar 1882 eröffnet worden, innerhalb von nur sechs Jahren errichten lassen. Die 731 Viaduktbögen, sie erstrecken sich vom Schlesischen Bahnhof bis zum Bahnhof Zoologischer Garten, beherbergen in der Nähe der Bahnhöfe Kneipen, Restaurationsbetriebe oder Läden, weiter entfernt finden sich Pferdeställe, Garagen, Lagerräume oder Kulissenunterstände.

Die ebenfalls von Stadtbaurat Blankenstein projektierten, nach nur dreijähriger Bauzeit im Mai 1886 eröffneten Zentralmarkthallen sind mit 11.000 Quadratmetern Grundfläche um ein Viertel größer als Les Halles von Paris und dreimal so groß wie die Londoner Markthallen. Zudem verfügen die Berliner Zentralmarkthallen über einen direkten Eisenbahnanschluss. Zu diesem Zweck ist der Viadukt auf der Höhe der Markthallen für den Güterverkehr um drei Gleise erweitert worden. Hydraulische Aufzüge bringen die angelieferten Waren direkt ins Erdgeschoss oder in den Keller.

Nur die Fischhändler müssen ihre Waren mit eigenen Fuhrwerken von den jeweiligen Eingangsbahnhöfen direkt abholen. Lachs und Stör aus der Ostsee, Schellfisch, Kabeljau, Hering und Schollen aus der Nordsee kommen in speziellen Fischgüterwagen an. In einigen der sieben direkt mit den Markthallen verbundenen Viaduktbögen haben die Fischgroßhändler ihre Niederlassungen. Für Hummer gibt es hier sogar ein Riesenbassin mit Meerwasser.

Rund um die Markthallen herrscht immer Hochbetrieb. Die Anfahrtsstraßen sind von Lastkraftwagen und Fuhrwerken verstopft, dazwischen Markthelfer mit Handkarren und die berüchtigten, ständig keifenden Berliner Marktweiber. Es ist laut und schmutzig. Papier, Holzwolle, Apfelsinenschalen, Gemüseabfälle und allerlei anderer Unrat zieren das Pflaster. Obdachlose und die Ärmsten der Armen lungern herum und sammeln nach Geschäftsschluss heruntergefallenes oder angefaultes Obst auf. Manchmal haben die Händler auch Spendierhosen an und verschenken leicht verderbliche, nicht mehr verkäufliche Ware.

Freilich nehmen es nicht alle Händler mit der Hygiene so genau. Da ist zum Beispiel die Marktfrau, die ihren nicht mehr ganz einwandfreien Harzer Käse statt in die Mülltonne in einen Bottich mit Eiswasser wirft. Dann krabbeln die Maden heraus. Morgen wird sie ihn wieder als »Spezialität« verkaufen.

In den Stadtbahnbögen rund um den Alexanderplatz finden sich zahllose Kaschemmen und billige Restaurationsbetriebe, in denen allerlei zwielichtige Gestalten verkehren. In unmittelbarer Nähe des Polizeipräsidiums befindet sich die berüchtigte »Kruke«, in der sich tagsüber die Obdachlosen versammeln. Die beliebte Wärmehalle ist ihre Informationsbörse und, obwohl streng verboten, ihre Handelszentrale. Bei Wohnungseinbrüchen erbeutete Textilen – im Winter sind besonders warme Mäntel gefragt – finden hier reißenden Absatz. Auch Schrippen-Emil, von dem Willy Pröger in seinem Buch erzählt, dürfte in der »Kruke« Stammgast sein. »Wollt’a Schrippen koof’n, sechse ha ick noch, alle sechs zwanzich Fennje, viere sin beschmiat«, zitiert Pröger den Bettler, der aus einem Sandsack Stullen und Schrippen anbietet, die er von gutmütigen Hausfrauen erbettelt hat. Gegen Abend, wenn die »Kruke« schließt, zieht, namentlich in den Wintermonaten, ein trauriger Zug abgerissener Gestalten in Richtung Prenzlauer Berg in die Fröbelstraße, in die »Palme«, das städtische Obdachlosenasyl.

In unmittelbarer Nähe der »Kruke«, in einem weiteren Stadtbahnbogen, finden wir ein Lokal mit dem Namen »Zum großen Seidel«. Das »Milljöh« kennt es besser unter dem Namen »Brillantenbörse«, denn hier werden Schmuck, Edelsteine und bei Wohnungseinbrüchen erbeutetes Tafelsilber verschoben. Zahlreiche Hehler haben in dieser Kaschemme fliegende Büros eingerichtet.

Dass in den Kneipen und Kaschemmen Pläne für Verbrechen ausgeheckt werden, ist weit mehr als nur ein Klischee. »Die Wolfsschlucht« im Stadtbahnbogen 72, unweit des Polizeipräsidiums, gilt als eine solche Verbrecherkaschemme, in der schon so mancher schwere Junge festgenommen werden konnte. Kaschemmen dieser Art sind im Übrigen beliebte Aufenthaltsorte für Vigilanten, jene Polizeispitzel, die auch Achtgroschenjungen genannt werden. In der Regel sind es Kleinkriminelle, die das Milieu im Auftrag der Polizei ausspionieren, in der Hoffnung, dank dieser Hilfsleistung in eigener Sache glimpflich davonzukommen.

 

Zwischen Münz- und Linienstraße: Im Scheunenviertel

Unser nächstes Ziel ist die Spandauer Vorstadt, das sogenannte Scheunenviertel, das strenggenommen gar nicht mehr das Scheunenviertel ist, denn das alte, Elend beherbergende, wirkliche Scheunenviertel existiert schon längst nicht mehr. Im Zuge einer großangelegten Sanierungsaktion hatte man 1906 damit begonnen, die heruntergekommenen Häuser, insgesamt einhundertneunzehn, abzureißen. Das gesamte Areal wurde dem Erdboden gleichgemacht, und somit waren auch die alten, berüchtigten Straßen, die Füsilier-, Amalien- und Koblankstraße, verschwunden. Allein die Weydingerstraße blieb, wenigstens dem Namen nach, erhalten. Zunächst wurde das Grundstück, das ein großes Dreieck bildete, aber nicht wieder bebaut, sondern als Schrott- und Lagerplatz genutzt. Erst zwischen 1913 und 1915 entstand hier, auf dem späteren Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz), die von Oskar Kaufmann projektierte Volksbühne, seinerzeit das modernste Theater Berlins.

Gehen wir die Dircksenstraße hinunter bis zum Bahnhof Börse am Hackeschen Markt. Die behäbigen Straßenbahnen spucken hier, an der Endhaltestelle gleich mehrerer Linien, ihre Fahrgäste aus, die dann sogleich weiterhasten: in die Stadtbahn, zu nahe gelegenen Bushaltestellen oder zielstrebig in Richtung Oranienburger oder Rosenthaler Straße. Erschöpfte, schäbig gekleidete Fabrikarbeiterinnen, die von der Schicht kommen, grell geschminkte Nutten in kurzen, engen Röcken und noch engeren Blusen, biedere Bürovorsteher mit abgewetzten Jacketts, Hochwasserhosen und zu kurzen Socken, blasse Angestellte, die an ihren ohnehin schon langen Arbeitstag noch drei oder vier Überstunden angehängt haben, Arbeiter, die sich beim Bier mit den Kumpels verplauscht haben, kleine Gauner und Zuhälter. Hier und da spazieren immer wieder elegant gekleidete Pärchen, die sich staunend umschauen, als seien sie auf einer Zeitreise nicht nur in eine andere Epoche, sondern auch in eine andere Welt versetzt worden: Neugierige aus dem Neuen Westen, aus der Gegend um den Kurfürstendamm.

Biegen wir in die Rosenthaler Straße ein, eine der Lieblingsstraßen der Kriminalpolizei. Eine Unzahl schmuddeliger kleiner Hotels, die weniger den Touristen als vielmehr den Prostituierten und ihren Freiern als Herberge dienen, sorgen dafür, dass der Polizei nie die Arbeit ausgeht. Fast jedes der viergeschossigen Mietshäuser beherbergt ein Stundenhotel. Der »Weinmeisterhof« im Haus Nummer 65 ist ein solches Etablissement. 1927 wurde in dieser Absteige eine Prostituierte erdrosselt aufgefunden. Nur einem Zufall war es zu verdanken, dass der Täter gefasst werden konnte. Doch dazu kommen wir später ...

Gleich die erste Querstraße biegen wir nach rechts ein, in die Neue Schönhauser Straße, wo wir im Haus Nummer 13 eine Großgaststätte finden, die gemeinhin nur »Café Dalles« genannt wird. Das eigenartige Wort kommt aus dem Jiddischen. Einen Dalles haben bedeutet: ein leeres Portemonnaie oder einen leeren Magen haben. Einen treffenderen Namen hätte man für dieses »Café« kaum finden können, denn es ist in der Tat der bevorzugte Versammlungsort der Ärmsten der Armen, der Obdachlosen und der Berliner Unterwelt schlechthin. In keiner anderen Kaschemme der Stadt werden so häufig Razzien durchgeführt – und immer sind sie von Erfolg gekrönt. Schon so mancher dicke Fisch ging der Kripo hier ins Netz: vom kleinen Taschendieb bis zum jugendlichen Raubmörder. »Im ›Dalles‹«, beklagt der ehemalige Kriminalkommissar Ernst Engelbrecht in seinen »Berliner Razzien«, »entschließt sich meist das nach Berlin dem Elternhause entlaufene Mädchen zu ihrem neuen unsittlichen Berufe, und hier nimmt so manches Verbrecherleben seinen Anfang. Hier wird oft der Plan zu einem Raubmord ausgeheckt, hier trifft man sich, um das ›Ding‹ zu besprechen, und von hier aus wird dann auch der Raubzug angetreten.« Zahllose Legenden ranken sich um dieses Café. So habe man hier früher, behauptet jedenfalls Engelbrecht, die Gabeln und Löffel mittels langer Eisenketten an der Wand befestigt, um deren Entwendung zu verhindern. Eine Angestellte des Hauses sei dann mit einem großen Bottich, in dem sich eine fürchterlich schmutzige Brühe befunden habe, öfter mal von Tisch zu Tisch gegangen, um Tischplatte und Besteck einer Reinigung zu unterziehen.

An der nächsten Kreuzung haben wir die Wahl, nach links in die Weinmeisterstraße oder nach rechts in die Münzstraße einzubiegen. Werfen wir zunächst einen flüchtigen Blick in die Weinmeisterstraße, die als die gefährlichste Hehlergegend der Stadt gilt. Weniger furchterregend ist dagegen die berühmteste Kaschemme der Straße, der »Albert-Keller«, eines der zahlreichen Stammlokale des Dichters Joseph Roth; ein Kellerlokal, das eher an ein Literatencafé als an einen Verbrechertreff erinnert: »Der Albert-Keller hat Stammgäste von einer solchen Dauerhaftigkeit, dass sie sogar ihre Post dort abholen«, schreibt Roth. Und man könne hier sogar, so der Dichter, am Nachmittag ein paar Stunden schlafen, ohne gestört zu werden. Auch Kriminalbeamte kommen nach Dienstschluss immer wieder gerne hierher. Sie lieben es nun mal, sich unter ihre »Kundschaft« zu mischen.

Kehren wir wieder um und gehen in die Münzstraße, die Straße mit den meisten Kinos und den meisten Huren. Allenthalben bieten Kriegsinvaliden auf Krücken aus ihrem Bauchladen Schnürsenkel, Kragenknöpfe oder Streichhölzer feil, und die Wurstmaxen, die ihre Chromkessel an Lederriemen über der Schulter tragen, preisen Würstchen aus »garantiert echtem Schweinefleisch« an. Der schmierige Pferdeschlächter an der Ecke grinst dazu hämisch. Die Wurstmaxen wissen Bescheid im »Milljöh«, sie kennen die schweren Jungs und die leichten Mädchen, doch sie lassen sich von der Polizei nicht als Vigilanten missbrauchen.

Wie in jeder Straße des Viertels findet der Besucher auch hier zahlreiche »Produktenkeller«, die meist im Souterrain oder Keller gelegenen An- und Verkaufsstellen der Lumpenhändler. Wer Geld braucht, versucht hier all das Gerümpel zu verkaufen, das er gerade noch entbehren kann oder irgendwo geklaut hat. Andere wiederum suchen sich das noch Brauchbarste heraus, weil sie sich etwas Besseres nicht leisten können. Ein muffiger und modriger Geruch dringt aus diesen Kellern, die prall gefüllt sind mit Lumpensäcken, aufgestapelten verschlissenen Matratzen, in denen schon der Schimmel steckt, und allem nur erdenklichen Hausrat.

Hin und wieder wird die Münzstraße ihrem Ruf als Verbrecherstraße tatsächlich gerecht. So wurde hier am 4. September 1926 ein Mann auf offener Straße hinterrücks niedergestochen. Zwei Männer waren um den Anteil aus der Beute eines Raubes in Streit geraten, worauf einer der beiden ein Messer zog. Das Opfer verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Dank präziser Zeugenaussagen konnte der Täter einige Tage später gefasst werden.

Auch an Verbrecherkaschemmen fehlt es in der Münzstraße nicht. Der ehemalige Kriminalkommissar Ernst Engelbrecht zählt in seinen »Spuren des Verbrechertums« gleich fünf auf: »Münzhof«, »Münzglocke«, »Münzklause«, »Alexanderquelle« und »Martins Hackepeter«. Engelbrecht räumt allerdings ein, dass in diesen Kaschemmen »nicht nur Verbrecher, sondern auch gelegentlich, aber nur selten und ausnahmsweise, ehrliche Arbeiter und ihre Angehörigen zu verkehren pflegen.«

Nehmen wir zum Beispiel das Lokal »Münzhof«: Am Abend des 6. Januar 1927 führte die Polizei mit einem Großaufgebot an Schutzpolizisten und Kriminalbeamten eine Razzia in dem Lokal durch. Und wie bei Razzien üblich, wurden alle Gäste, die sich nicht ausweisen konnten, ins Polizeipräsidium verfrachtet. Die Gesellschaft füllte, so wusste das Berliner Tageblatt am 7. Januar zu berichten, »nicht weniger als fünf große Lastautomobile«. Das Ergebnis: Drei weibliche Personen, die wegen Diebstahls gesucht wurden, fünfundzwanzig wohnungs- und arbeitslose junge Männer, die in Schutzhaft genommen und nach Prüfung in ihre Heimatorte abtransportiert wurden, sowie acht weitere Personen, nach denen eine Fahndung lief.

Wir überqueren die Dragonerstraße und erblicken eine Menschentraube, die sich vor der »Münzglocke«, dem bekannten Unterweltlokal unmittelbar an der Einmündung der Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) angesammelt hat. Dass hier ganz offen Schwarzhandel betrieben wird, ist stadtbekannt. Vor allem Textilien, Schmuck und gestohlenes Tafelsilber werden feilgeboten.

Wir biegen gleich nach links in die Grenadierstraße ein und befinden uns mitten im Zentrum des ostjüdischen Lebens. Alte Männer in schwarzen Kaftanen, mit weißen Bärten und Schläfenlocken prägen das Bild. In der schmalen Straße reiht sich Laden an Laden: Koschere Fleischereien, Fischhandlungen und Grünkramläden. Schuster, Schneider, Buchtrödler, koschere Gaststätten und Bethäuser. Obwohl der Polizei hier allenfalls Kleinkriminelle ins Netz gehen, finden ausgerechnet in der Grenadierstraße am häufigsten Straßenrazzien statt. Die Frage, ob es sich bei diesen Razzien um antisemitische Schikane handelt, darf gestellt werden.

Das Instrument der Straßenrazzia ist ohnehin umstritten, auch innerhalb der Kriminalpolizei. Sie verfolgt zwar das Ziel, Kriminelle aus bestimmten Gegenden zu verbannen oder zumindest zu verunsichern, doch einige erfahrene Kriminalkommissare bezweifeln die Effizienz dieser Maßnahme und befürchten sogar, dass gerade die Kleinkriminellen dadurch in alle Winde versprengt werden und somit ungleich schwerer für die Polizei aufzuspüren sind.

Um den Erfolg einer Razzia zu gewährleisten, muss strengste Geheimhaltung gewahrt werden. In der Regel ist nur der für die Organisation verantwortliche Beamte eingeweiht. Er erarbeitet den Zeitplan und fordert die Lastwagen und die Hundertschaften der Schutzpolizei an. Gegen Mitternacht wird dann die Straße, in der die Razzia stattfinden soll, weiträumig mit allen Seiten- und Querstraßen abgeriegelt. Vorher sind bereits zahlreiche Kriminalbeamte in Zivil in die betroffene Straße entsandt worden, die auf ein Zeichen des Einsatzleiters die Absperrung der Straße vornehmen. Exakt zur selben Zeit muss auch die Schutzpolizei an Ort und Stelle sein. Die auf der Straße befindlichen Personen sind nun buchstäblich eingekesselt, und die Kriminalbeamten nehmen eine vorläufige Überprüfung der Ausweispapiere vor. Jetzt rücken die Lastwagen an, um all diejenigen, die sich nicht ausreichend legitimieren können, ins Polizeipräsidium abzutransportieren. Dabei kommt es zwangsläufig immer wieder vor, dass sich auch harmlose Spaziergänger, die vergessen haben, ihre Papiere einzustecken, unversehens in der »grünen Minna« des Polizeipräsidiums wiederfinden.

Ernst Engelbrecht, der am 1. Juli 1921 die Leitung der Streifmannschaft der Kriminalpolizei übernommen hat, erinnert sich: »Meistens hatten die Razzien guten Erfolg, es gab Tage, an denen einige tausend Personen sistiert und weit über hundert von der Polizei als gesucht oder aber nicht genügend legitimiert zurückbehalten wurden. Die Straßen, in denen eine solche Aktion vor sich gegangen war, glichen häufig einem Schlachtfelde. Stich- und Schußwaffen, Schlagringe, Einbrecherwerkzeug, Kokainpäckchen usw., deren sich die Verbrecher noch schnell zu entledigen vorgezogen hatten, bewiesen die Berechtigung der Aktion.«

Die meisten Razzien wurden jedoch in den berüchtigten Lokalen, den Schlupfwinkeln der Kriminellen, durchgeführt. Im Laufe der Jahre war den Razzien allerdings immer weniger Erfolg beschieden. Der Schriftsteller und Journalist Leo Heller kennt den Grund für diese für die Polizei unbefriedigende Entwicklung und schreibt in den um 1924 erschienenen »Berliner Razzien«: »Bis vor kurzer Zeit wurden die Razzien vielleicht ein wenig allzu Max Reinhardtisch inszeniert. Sie gingen zumeist mitten in der Nacht vom Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz aus. Eine halbe Stunde vor ihrem angesagten Beginn fuhren ratternd und knatternd die großen Lastautos, die zur Beförderung der Sistierten dienen, in den Lichthof des Präsidiums ein, die leichten Personenautos der Kommissare standen ›unter Dampf‹, und die Streifmannschaften strebten in Gruppen ihrem Versammlungsorte zu. Dieses etwas lärmende Treiben blieb natürlich von den Straßenpassanten nicht unbeobachtet. Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Leute in der Nähe des ›Roten Hauses‹ umhertreiben, die eigentlich zahlreiche Gründe hätten, seine Nähe geflissentlich zu meiden.«

Aufmerksam beobachten diese Leute die Aktivitäten im Hof des Polizeipräsidiums und informieren, meist telefonisch, die in den von Razzien bedrohten Stadtteilen gelegenen Kaschemmen. »Alextippler« nennt man diese Art von Spionen. Erscheinen dann die Beamten in den Lokalen, sind die Nester meistens schon leer, und der Einsatzleiter muss zähneknirschend eingestehen, dass die Aktion mal wieder »verpfiffen« worden ist. Doch Erfahrung macht bekanntlich klug, so weiß Heller weiter zu berichten. Die Kriminalpolizei hat nämlich, nachdem sie endlich dahintergekommen ist, dass die schweren Jungs schlauer sind, als die »Polente« erlaubt, ihre Taktik geändert. »Sie nahmen davon Abstand, das Präsidium zum Ausgangspunkt ihrer nächtlichen Operationen zu machen, und verlegten – immer von Fall zu Fall wechselnd – den Versammlungsort für ihre braven, tapferen Helfer in die einzelnen Polizeireviere. Auch sehen sie davon ab, die verräterischen Lastautos an irgendeinem Platze zu konzentrieren. Bedarf man ihrer, dann werden sie telephonisch aus den Polizeikasernen herbeigerufen. Seither haben die Razzien natürlich gute Erfolge gezeitigt.«

 

Tatort Mulackstraße

Durch die enge Schendelgasse gelangen wir in die berlinischste aller Straßen, in die berühmte Mulackstraße. Eine Verbrechergegend ist diese Straße in den zwanziger Jahren jedoch schon lange nicht mehr. Was wir hier antreffen, ist allenfalls noch Verbrecherromantik. Das berühmte Lokal »Mulackritze« im Haus Nummer 15 ist inzwischen in den Rang einer Sehenswürdigkeit aufgestiegen; verkörpert es doch genau das, was sich der brave Bürger gemeinhin unter einer Verbrecherkaschemme vorstellt. Ein Besuch lohnt sich immer, denn wenn der Zufall es will, bekommt man jede Menge Prominenz zu Gesicht. Nicht nur Polizeipräsident Zörrgiebel verkehrt hier, sondern auch zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur schauen gerne mal vorbei: So der Maler Heinrich Zille und der Schauspieler Heinrich George.

Die Mulackstraße ist weniger eine Verbrecherstraße als vielmehr ein Schlupfwinkel der billigen Prostitution mit ihren schäbigen Absteigen. Unter einem Absteigequartier ist eine Privatwohnung zu verstehen, in der ein Zimmer, meist ist es aber nur ein abgetrenntes Eckchen, an Strichmädchen, nicht etwa stundenweise, sondern allenfalls minutenweise, vermietet wird. Und es gibt hier noch eine Besonderheit: Die Miete zahlen nicht die Freier, wie es in einem Stundenhotel üblich ist, sondern die Mädchen.

In der Mulack- und der benachbarten Steinstraße gibt es unzählige solcher Absteigen. In seiner Reportage über die »Stätten der Berliner Prostitution« schreibt Willy Pröger: »Ein zweistöckiges Haus inkl. Keller und Hinterhaus in der Steinstraße scheint nur aus Absteigen zu bestehen. Genaues läßt sich bei der Winkeligkeit des Hauskomplexes nicht erforschen. Was einem zu Gesicht kommt, sind dunkle, wenige Quadratmeter große Räume in der üblichen Verschmutztheit. Wie im Taubenschlag geht es in dem Hause zu. Die Besuchsziffern überschreiten die Absteigen in der Dragonerstraße noch! In der kurzen Mulackstraße, fast Haus an Haus, sieben Absteigen.

Eine Absteige sei andeutend beschrieben: eine winzige fensterlose Küche mit allem entsprechenden Hausgerät in einer Ecke, abgeteilt durch eine Wolldecke, eine Chaiselongue-Ruine; als Waschschüssel dient eine Steingut-Kruke von 20 cm Durchmesser. In der Mulackstraße versagt alle Statistik. Man müsste sieben Augenpaare haben, um die Frequenzzahlen festzustellen.

Es entbehrt nicht einer gewissen blutigen Komik, wenn die Wirtin, bei gleichzeitiger Benutzung beider Räume, ehrsamst ihren Strickstrumpf nimmt und so lange auf der Treppe kampiert, bis ein Pärchen seine Angelegenheit geordnet hat ...«

Und in seinen »Berliner Razzien« beschreibt Leo Heller die Atmosphäre in einer der ärmlichen Kaschemmen in der Mulackstraße zur Zeit der Inflation: »Über der Tür eine Tafel mit der harmlosen Aufschrift ›Bierquelle‹. Drei Steinstufen führen in den bedrückend kleinen Raum, in dem nicht mehr als drei Tische, eine Bank und ein paar klapprige Holzstühle vorhanden sind. Hinten befindet sich das Büfett, ein kahler Ladentisch, und hinter ihm die Wirtin, die aus einer großen Flasche Brennspiritus in Gläser schenkt. Brennspiritus – heute kostet das Glas bereits 50 M – ist hier das Lieblingsgetränk der Gäste. Sein Gestank erfüllt das ganze Lokal. In dieser Kaschemme finden sich die Verbrecherveteranen und die Straßendirnen von mehr als fünfzig Jahren zusammen. […] Hier renommiert man mit seinen Zuchthausstrafen. Wer die meisten Jahre ›Knast‹ abgesessen hat, genießt das größte Ansehen. Hier findet man, was vielleicht vor zwanzig Jahren der Schrecken der Stadt oder der Straße gewesen war. Aber es ist schwach und weißhaarig geworden und lang nicht mehr auf der Höhe des Berufs.«

Mögen die Kaschemmen in der Mulackstraße auch noch so verkommen sein, mögen hier auch nur noch die alten Ganoven, die »Invaliden der Branche« verkehren, wohl nirgendwo ist die Solidarität innerhalb des »Milljöhs« stärker ausgeprägt als hier. Ein Vorfall, der sich am 9. März 1923 ereignete, legt dafür beredtes Zeugnis ab:

Der dreißigjährige Schneider Paul Jahnke aus der Mulackstraße 10 trank, wie fast jeden Abend, im Schanklokal von Willy Zick, seiner Stammkneipe im gleichen Haus, an der Theke sein Bier und plauderte mit dem Wirt. Gegen 22.30 Uhr stürzte plötzlich ein junger Mann in das Lokal, zog eine Waffe und feuerte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Anlass vor den Augen der Lokalgäste auf Jahnke, der sofort tot zusammenbrach. Später konnte ermittelt werden, dass die Tat mit einem länger zurückliegenden Streit zwischen den beiden in Zusammenhang stand.

Mit der heftigen Reaktion der anwesenden Gäste hatte der Täter, ein zwanzigjähriger Schlosser, indes nicht gerechnet. Sie stürzten sich auf den Schützen und schlugen ihn erbarmungslos zusammen. »Der Täter wurde gelyncht, so daß er infolge schwerer Gehirnerschütterung der Krankenstation des Untersuchungsgefängnisses zugeführt werden mußte«, hieß es seinerzeit im Polizeibericht. Einige Tage später erlag er seinen schweren Verletzungen. Der Polizei war es jedoch nicht möglich, unter den zahlreichen Beteiligten denjenigen zu ermitteln, der dem Schlosser den tödlichen Schlag versetzt hatte.

Im Hebst 1926 ermittelte Kommissar Dr. Ludwig Werneburg in einem Fall, der eher einer derben Alt-Berliner Posse entnommen zu sein schien als trockenen Polizeiakten. Hätte nicht das Berliner Tageblatt über den Fall, den wir hier kurz skizzieren wollen, ausführlich berichtet, würde der Leser diese kuriose, tragikomische Geschichte nie und nimmer für authentisch halten, sondern allenfalls für übelste Kolportage:

Am Abend des 25. November 1926 saß der fünfunddreißigjährige Bruno Borchert in seiner Stammkneipe in der Linienstraße, kippte einen Klaren nach dem anderen und schimpfte dabei auf »die Weiber«. Borchert hatte es tatsächlich nicht leicht mit seiner Frau, denn sie war jung und zudem bildhübsch: Seidenweiches, blondes Haar, strahlend blaue Augen, makelloser Teint und eine perfekte Figur. Die Männer in der Mulackstraße beneideten Borchert. Wie kommt der olle Saufkopp zu diesem Superweib?, fragten sie sich. Eigentlich hätte Borchert also stolz auf seine Frau sein können, wenn da nicht dieses Problem gewesen wäre: Die schöne Frieda, sie war zehn Jahre jünger als Borchert, fühlte sich nämlich von starken Männern, von so richtigen Kerlen, angezogen wie die Motte vom Licht. »Ick kann doch nischt dafür«, heulte sie, wenn Borchert sie mal wieder ob ihrer Untreue verprügelte. »Wat soll ick denn machen, wenn’s mir zu so ’nem Kerl hinzieht. Det is nu mal in meene Natur.«

An jenem Novemberabend war die schöne Frieda nun schon wieder aushäusig, und Borchert hatte keinen Schimmer, wo und vor allem mit wem sie sich rumtrieb. Er kochte vor Wut.

»Wenn ick die wieda mit’n Kerl erwische, denn mach ick jleich beede kalt«, drohte er und bestellte sich noch einen Korn.

»Na denn jeh mal jleich hin«, lästerte einer seiner Kneipenkumpane und grinste gehässig. »Deine süße Püppi is mit dem Otto Berndt in seine Wohnung ruff. Jeh doch mal nachkieken, wat se da beede machen.«

Bruno Borchert knallte das Glas auf den Tisch und sprang so hastig auf, dass sein Stuhl umkippte. Sein Gesicht hatte inzwischen die Farbe eines frischlackierten Feuermelders angenommen. »Det is det Ende«, schnaufte er, rannte aus dem Lokal und hastete in die Mulackstraße 35. Ausgerechnet der Otto, dachte Borchert, als er, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, die drei Treppen hinaufhetzte. Seinem Erzfeind gönnte er die schöne Frieda nun schon gar nicht. Borchert stürmte in Berndts Wohnung, die unvorsichtigerweise nicht abgeschlossen war, und brüllte: »Wo is meene Frau, wo haste ihr versteckt, du Drecksau?«

Otto Berndt kam, nur mit einer Unterhose bekleidet, aus einem der drei Zimmer und fragte mit Unschuldsmiene: »Wovon redest du eigentlich? Wat soll ick wo versteckt haben?«

»Du Mistkerl machst mit meene Frau rum. Wo isse? Wo haste ihr versteckt? Du Zuhälter, du verdammter!«

»Nun mach hier mal nich so ville Wind«, brüllte Berndt zurück. »Ick habe deine Frau schon seit Tagen nich mehr gesehen. Musst halt besser uff se uffpassen.«

»Lüg nich! Ick weeß, dass se hier is!«

Rabiat stieß Borchert den Nebenbuhler zur Seite und stürmte ins Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt, von seiner Frau fehlte aber jede Spur. Inzwischen hatte er seine Waffe gezogen und stand drohend vor dem Kleiderschrank.

»Komm raus!«, schrie er. »Ick weeß, dass de hier bist.«

Als sich nichts rührte, riss er die Schranktüren auf. Zwar fiel ihm nicht seine Frau entgegen, dafür aber wenigstens ihre Sachen. Ihr neues rotes Kleid, ihr schwarzer Mantel, der neue Hut und – ihre Unterwäsche.

Borchert tobte, warf sich auf den Fußboden und entdeckte unter dem Bett seine vor Kälte und Angst zitternde nackte Frau. Er zog sie ein Stück hervor und jagte ihr aus nächster Nähe mehrere Kugeln in den Kopf. Als Otto Berndt ihm die Waffe entreißen wollte, schoss er diesem in den rechten Arm und flüchtete.

Doch Borchert irrte nicht etwa kopflos durch die Straßen, sondern ging zurück in die Linienstraße in seine Stammkneipe, legte seine Pistole auf den Tisch und verkündete nicht ohne Stolz: »Det ha’m se nu davon. Nu hab ick se jleich beede über’n Jordan jeschickt.« Die übrigen Gäste starrten ihn fassungslos an.

»Erzähl doch keene Märchen«, sagte Lumpen-Kalle, der an der Theke lehnte. »Deine hübsche Püppi abknallen, so wat machste doch nich.«

»Jleich beede hab ick se kalt jemacht«, brüstete sich Borchert.

»Also det will ick sehen«, meinte ein anderer mehr zum Spaß, doch Borchert nahm die Bemerkung offenbar für bare Münze.

»Na denn macht mal hinne und kommt. Ick zeig’s euch.«

Allgemeines Stühlerücken. Tatsächlich standen gut zwei Drittel der Gäste auf, und schweigend zog die kleine Karawane Neugieriger in die Mulackstraße, um sich von der Wahrheit der Worte Borcherts zu überzeugen. An der Kleinen Hamburger Straße machte Borchert plötzlich halt.

»Jeht mal alleene weiter«, forderte er seine Begleiter auf. »Ick hab noch wat janz, janz Wicht’jet zu erledigen.«

Seine verdutzten Begleiter sahen nur noch, wie Borchert mit schnellen Schritten in die andere Richtung verschwand. Kopfschüttelnd gingen sie weiter und fanden in der besagten Wohnung tatsächlich die Leiche der Frieda Borchert und den verletzten Otto Berndt, der offenbar unter Schock stand.

Die Aktive Mordkommission unter der Leitung von Dr. Ludwig Werneburg übernahm den Fall und schrieb sofort die Fahndung aus, denn Borchert war ein »guter Kunde« bei der Polizei und wegen seiner Gewalttätigkeit berüchtigt. 1910 war er schon einmal wegen Totschlags zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt worden, und Anfang 1926 stand er erneut vor Gericht. Ihm wurde vorgeworfen, einen Rivalen im Streit erschlagen zu haben. Das Verfahren musste jedoch aus Mangel an Beweisen eingestellt und Borchert aus der Haft entlassen werden.

Zwei Tage später erlebte Kommissar Werneburg eine Überraschung, die ihm buchstäblich die Sprache verschlug. Im Büro der Mordinspektion erschien Borcherts Anwalt und erklärte, dass der Flüchtige bei ihm gewesen sei und den Mord an seiner Frau eingestanden habe. Er habe im Affekt gehandelt, bereue die Tat auch außerordentlich und werde umgehend, so habe er seinem Anwalt versprochen, zur Polizei gehen und sich freiwillig stellen.

Werneburg war fassungslos. Der Mörder hatte also tatsächlich das Anwaltsbüro unbehelligt verlassen und sich in seinen Schlupfwinkel zurückziehen können.

Am Abend, Werneburg wollte gerade Feierabend machen, klingelte sein Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Borchert. Er könne sein Versprechen leider nicht halten, bedauerte er. Erst müsse er noch ein paar wichtige Dinge erledigen. Die Polizei möge ihm sein Fernbleiben also bitte nicht allzu übelnehmen. Er werde aber versuchen, sein Versprechen einzulösen, und sich freiwillig stellen. Bis dahin möge die Polizei doch aber bitte so freundlich sein und darauf verzichten, nach ihm zu fahnden …

Soviel Dreistigkeit war Werneburg bisher noch nicht untergekommen; er setzte alle Hebel in Bewegung, um den Flüchtigen zu finden. Ob es ihm gelang, Borchert zu fassen, oder ob dieser sich tatsächlich aus freien Stücken der Polizei stellte, ist leider nicht bekannt.