MARTIN BOSSENBROEK
TOD AM KAP
Geschichte des Burenkriegs
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
VERLAG C.H.BECK
Angelockt von reichen Bodenschätzen drängen immer mehr Abenteurer in die Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal – viele von ihnen britische Uitlanders. Als die Buren ihnen die Gleichstellung verwehren, schickt die Regierung in London eine Viertelmillion Soldaten ans Kap, um die Region dem Empire einzuverleiben. Die Welt erhält einen Vorgeschmack auf den totalen Krieg: Während britische Truppen Schneisen der Verwüstung durch die Burenrepubliken ziehen, wird zugleich der Krieg gnadenlos auf die Zivilbevölkerung ausgeweitet. Die Aggressoren internieren über 200.000 Menschen in concentration camps, Zehntausende sterben, die meisten von ihnen Kinder.
Im Kampfgebiet waren damals etwa 200 Korrespondenten unterwegs und versorgten die Weltöffentlichkeit so gründlich mit Informationen wie noch von keinem Krieg zuvor. Dank intensiver Auswertung dieser reichen Quellen und durch sorgfältige historische Recherchen kann Martin Bossenbroek ein so genaues Bild des Burenkriegs entwerfen wie noch kein Autor vor ihm. Seine preisgekrönte Darstellung, die aus der Perspektive des niederländischen Juristen Willem Leyds, des britischen Kriegsberichterstatters Winston Churchill und des burischen Kämpfers Deneys Reitz geschrieben ist – deren Tagebücher, Briefe und Reportagen einen ganz unmittelbaren Einblick ins Geschehen gewähren –, informiert präzise und umfassend über Vorgeschichte, Motive, Verlauf und Folgen des Burenkriegs (1899–1902).
Der Historiker Martin Bossenbroek forscht und lehrt an der Universität Utrecht (NL). Für dieses Werk über den Burenkrieg wurde er 2013 in den Niederlanden mit dem Libris Geschiedenis Prijs ausgezeichnet.
Prolog: Erfenisdag – Bloemfontein, 24. September 2011
Erster Teil: Für die Gerechte Sache – Juni 1884 bis Oktober 1899
EINE NICHT ALLTÄGLICHE BEGEGNUNG – Amsterdam, Juni 1884
DENN DU BIST STAUB – Pretoria, Oktober 1884
LANDHUNGER – Veertienstroom, Januar 1885
GOLD – Johannesburg, Januar 1887
KONZESSIONEN – Pretoria, Juni 1887
BURENLIEBE, HOLLÄNDERHASS – Amsterdam, November 1889
RHODES & COMPANY – Pretoria, Juli 1892
LEBENSADER – Lourenço Marques, Juli 1895
ZU DEN WAFFEN – Berlin, Januar 1896
DIAMOND JUBILEE – London, Mai 1897
DIE GEISTER SCHEIDEN SICH – Pretoria, Februar 1898
LETZTE CHANCEN – Atlantischer Ozean, Januar 1899
Zweiter Teil: Wie ein Abenteuerbuch – Oktober 1899 bis Juni 1900
RULE, BRITANNIA! – Southampton, 14. Oktober 1899
VIERFRONTENKRIEG – Kapstadt, 31. Oktober 1899
KUGELHAGEL – Chieveley, 15. November 1899
KRIEGSRECHT – Pretoria, 18. November 1899
DIE VERLASSENE GRUBE – Witbank, 15. Dezember 1899
EIN WARMER EMPFANG – Durban, 23. Dezember 1899
TOTER WINKEL – Spionkop, 24. Januar 1900
DURCHBRUCH – Monte Cristo, 18. Februar 1900
FIEBERSCHAUER – Ladysmith, 3. März 1900
KOLONNEN IN BEWEGUNG – Bloemfontein, 16. April 1900
FARBKONTRASTE – Kroonstad, 12. Mai 1900
TRIUMPH – Pretoria, 5. Juni 1900
Dritter Teil: Tod und Verderben – Juni 1900 bis Mai 1902
AUSSER KONTROLLE – Pretoria, Juni 1900
TREIBJAGD – Bronkhorstspruit, Juli 1900
SONDERRECHT – Lydenburg, Oktober 1900
FREMDER BODEN – Warmbad, November 1900
SCHULDIGE LANDSCHAFT – Naauwpoort, Dezember 1900
TOTES PFERD – Ou Wapad, Februar 1901
HUNGERWINTER – Tafelkop, April 1901
EWIGE VERBANNUNG – Zastron, August 1901
SCHWARZER TOD – Herschel, September 1901
RAUBZUG – Zuurberge, Oktober 1901
VERGELTUNG – Leliefontein, März 1902
DAS BITTERE ENDE – Concordia, April 1902
Epilog: Gewinner und Verlierer – Bloemfontein, 6. Juli 2012
ANMERKUNGEN
Prolog
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Epilog
QUELLEN UND LITERATUR
PERSONENREGISTER
REGISTER DER ORGANISATIONEN, VEREINIGUNGEN, PARTEIEN, UNTERNEHMEN SOWIE (SÜDAFRIKANISCHEN) STÄMME UND VÖLKER
REGISTER DER GEOGRAPHISCHEN BEGRIFFE
Prolog
Bloemfontein, 24. September 2011
Wenn irgendwo die Erinnerung an den Burenkrieg lebendig erhalten wird, dann in Bloemfontein. In der dritten der drei offiziellen Hauptstädte Südafrikas – Pretoria ist Regierungssitz, Kapstadt der Sitz des Parlaments und Bloemfontein der des obersten Berufungsgerichts – haben sowohl das Apartheidregime als auch die heutige ANC-Regierung ihren Ursprung, doch auf beides weist hier auffallend wenig hin. Zur Erinnerung an den Krieg der Burenrepubliken Transvaal und Oranje-Freistaat mit Großbritannien in den Jahren 1899 bis 1902 wurde dagegen ein vollwertiger lieu de mémoire geschaffen, Denkmal und Museum in einem weiträumigen Park.
Dass niemand Wert darauf legt, Bloem (Blume), wie die Einwohner ihre Stadt liebevoll nennen, als Geburtsstätte der weltweit verabscheuten Apartheid zu brandmarken, ist begreiflich. 1914 wurde hier die Nasionale Party gegründet, die 1948 offiziell das System der Rassentrennung einführen sollte, das Symbol des weißen Rassismus schlechthin. Nichts, woran man gern durch Gedenktafeln oder Plaketten erinnert und erinnert wird.
Ganz anders steht es um die Geburt des ANC, jener Partei, die 1994 durch ihren Sieg bei den ersten freien Wahlen die «weiße» Vorherrschaft beendete und seitdem die Politik des Landes bestimmt. Der (South) African (Native) National Congress ist noch älter als die Nasionale Party und hat seine Wurzeln ebenfalls in Bloemfontein: Er wurde am 8. Januar 1912 in einer kleinen Kirche in der Fort Street nahe dem Bahnhof gegründet. Das Gebäude ist erhalten. Es gäbe also genügend Gründe, es zu einer Liberation heritage site zu machen, einem kulturhistorischen Erinnerungsort des «schwarzen» Nationalismus, wie Nelson Mandelas Zelle auf Robben Island, zumal in dreieinhalb Monaten das hundertjährige Bestehen des ANC ausgiebig gefeiert werden soll.
Die Einrichtung als Gedenkstätte ist auch geplant, nur muss das Vorhaben noch umgesetzt werden. Jahrelang hat sich niemand für das Gebäude interessiert; erst vor Kurzem wurde es bei den Vorbereitungen für die Jahrhundertfeiern «wiederentdeckt». Das Problem ist, dass es längst auf andere Weise genutzt wird, von einer Karosseriewerkstatt, in der offenbar noch Hochbetrieb herrscht und deren Gelände mit Autowracks und Abfällen übersät ist. Viel knapper könnte die Zeit nicht sein. Es heißt, der Eigentümer wittere Geld. Aber ANC-Offizielle versichern, dass die kleine Kirche demnächst geräumt und vor dem 8. Januar 2012 in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt sein wird.
Unter solchem Zeitdruck braucht in ein paar Kilometern Entfernung, an der Monument Road, nicht gearbeitet zu werden. Die beiden dem Burenkrieg gewidmeten Bauwerke stehen dort schon seit Jahrzehnten. Das Museum im Bauhausstil stammt aus dem Jahr 1931, das von einem 35 Meter hohen Obelisken dominierte Denkmal ist sogar fast so alt wie der ANC, es wurde 1913 enthüllt.
Der Park, in dem Museum und Denkmal stehen, ist eine Oase der Ruhe, der Rasen ist kurz geschoren, in den Bäumen flüstert der Wind. Es gibt feste Öffnungszeiten und am Eingang einen Schlagbaum. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, ein Eindruck, der sich bei der ersten Erkundung des Geländes bestätigt. Man merkt bald, dass der ganze Park eine einzige Erinnerungsstätte ist, allerdings im Geist der fünfziger Jahre, wenn nicht gar in dem von 1913. Die Aussage ist immer noch die gleiche. Die Kanonen und Eisenbahnwaggons, die Standbilder, die Ringmauer mit den Gedenktafeln, die Gedenksteine, die Reliefs und die Skulpturengruppe am Fuß des Obelisken, sie alle erzählen die eine Geschichte, von dem Kampf und dem Leiden des Burenvolks im «Zweiten Freiheitskrieg» – so nannten die Buren selbst diesen Krieg gegen die Briten, mit denen sie bereits 1880/81 einen militärischen Konflikt ausgetragen hatten.
Es ist die Geschichte von den beiden winzigen Burenrepubliken, denen der Krieg von der imperialistischen Supermacht Großbritannien aufgezwungen wurde. Zum allgemeinen Erstaunen wehrten sie sich so erfolgreich, zuerst in offenen Schlachten, später in einem hartnäckigen Guerillakrieg, dass die so herausgeforderten britischen Befehlshaber den Erfolg in systematischem Terror gegen die Zivilbevölkerung suchten. Das Burenvolk als Nation von Helden und unschuldigen Opfern zugleich, das ist der Gedanke, den dieser Park anschaulich macht.
Drei Statuengruppen neueren Datums repräsentieren ebenso viele Stadien des Krieges. Afskeid 11-10-1899 stellt den Abschied eines entschlossenen jungen Buren von Frau und Kind beim Ausbruch des Krieges dar. Die banneling besteht aus den Figuren eines alten Mannes und eines Jungen – Großvater und Enkel – an der Reling eines Schiffes, stellvertretend für viele Tausende von Buren, Kriegsgefangene wie Zivilisten, die im Laufe des Krieges von den Briten in Lager außerhalb Südafrikas verschifft wurden. Die bittereinder 31 mei 1902 steht für die Lage der letzten burischen Kämpfer bei Kriegsende: Auf einem fast zum Gerippe abgemagerten Pferd sitzt ein erschöpfter Bure, gezeichnet von jahrelangen Entbehrungen, aber ungebrochen; auch ein Haufen bereits abgelegter Gewehre und Patronengurte neben dem Sockel des Reiterstandbilds symbolisiert das «bittere Ende».
So sieht die hier gepflegte Erinnerung aus: David gegen Goliath, nur dass dieser David am Ende doch aufgeben musste, als das Leiden unerträglich wurde. Von diesem Unerträglichen berichtet das Denkmal innerhalb der Ringmauer, wo sich auf einer kreisförmigen Plattform der Obelisk erhebt. Die Aufschrift auf dem Sockel der Skulpturengruppe unmittelbar vor dem Obelisken – eine stehende und eine sitzende Frau, diese mit einem sterbenden oder toten Kind auf dem Schoß – lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Dieses nationale Denkmal wurde zum Gedächtnis der 26.370 Frauen und Kinder errichtet, die in den Konzentrationslagern ums Leben gekommen sind, wie auch der anderen Frauen und Kinder, die dem Kriege 1899–1902 an den unterschiedlichsten Orten zum Opfer fielen – enthüllt am 16. Dezember 1913.»
Für Besucher im 21. Jahrhundert klingt das teilweise befremdlich, ist doch der Begriff «Konzentrationslager» seit dem Zweiten Weltkrieg untrennbar mit dem von den Nazis geplanten und systematisch ausgeführten Völkermord an den Juden verbunden. Diese Vorstellung wurde 1913 selbstverständlich nicht damit verknüpft, und man darf das auch rückwirkend nicht tun. Aus heutiger Sicht erscheint die Bezeichnung «Internierungslager» sinnvoller. Denn genau das waren die damaligen britischen Lager, und tatsächlich erreichten die Internierungen ein gewaltiges Ausmaß. Der britische Oberbefehlshaber Lord Roberts und sein Nachfolger Lord Kitchener wollten die burische Zivilbevölkerung aus den Kriegsgebieten entfernen, um die Burentrupps zur Aufgabe zu zwingen. Insgesamt wurden 115.000 Personen interniert, hauptsächlich Frauen und Kinder. Unter wahrhaft erbärmlichen Umständen kam beinahe ein Viertel der Internierten, zum allergrößten Teil Kinder, zu Tode. Das entsprach mehr als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung der beiden Burenrepubliken.
Das Nasionale Vrouemonument (Nationales Frauendenkmal), so die offizielle Bezeichnung, erzählt also vor allem vom Leiden der Buren – und erklärt gleichzeitig, warum der Kampf schließlich nicht mehr fortgesetzt werden konnte. Aber auch das Leiden ist nicht ohne Heroik. Über der bereits zitierten Aufschrift steht die Widmung «Unseren Heldinnen und geliebten Kindern», darunter das «Dein Wille geschehe» aus dem Vaterunser als Ausdruck eines unerschütterlichen Vertrauens in Gottes Fügung. Auch die fünf später in die Plattform des Denkmals eingelassenen Gräber zeugen davon, wie das Leiden der Opfer mit Heldentum vermischt wurde. Außer der Asche von Emily Hobhouse, der britischen Aktivistin, die über die katastrophalen Zustände in den Lagern berichtete, sind dort die sterblichen Überreste einiger besonders hartnäckiger bittereinders bestattet. Es sind Marthinus Steyn, der letzte Präsident des Oranje-Freistaates, dessen Frau Tibbie, «Vader» John Daniel Kestell, der geistliche Ratgeber vieler burischer Kämpfer, und jener Burengeneral, der wie kein anderer zu einer legendären Gestalt geworden ist, Christiaan de Wet.[1]
All das kommt einem Niederländer in fortgeschrittenem Alter sehr vertraut vor. Die Buren als tragische Helden: Der romantische Nimbus ist den Buren im kollektiven Gedächtnis der Niederländer bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben. Und wer mit den Jugendbüchern von Louwrens Penning aufgewachsen ist, denkt sofort an Titel wie De Verkenner van Christiaan de Wet (deutsche Ausgabe: Der Kundschafter von Christian de Wet), einen der fünf Bände der berühmten Louis-Wessels-Reihe, die in den Jahren 1900 bis 1904 erschienen ist und bis in die siebziger Jahre hinein nachgedruckt wurde.
Die Buren in Pennings Büchern sind wehrhafte, unerschrockene Pioniere, die nur Gott, ganz gewiss aber keine «blutrünstigen Kaffern» oder «wilde Tiere» fürchten. Bärtige Männer, die mit einem Psalm auf den Lippen und dem Gewehr in der Hand gegen eine Übermacht heimtückischer Rooineks für ihre gerechte Sache kämpfen. Ganze Generationen niederländischer Jungen – weit über Pennings orthodox-calvinistische Kreise hinaus – haben diesen ungleichen, heldenhaften Kampf nacherlebt. Eine Konfrontation zwischen Gut und Böse, nichts anderes ist hier der Burenkrieg.
Die Abenteuer, die Penning seine Hauptpersonen, Feldkornett Louis Wessels und dessen treuen Gefährten Blikoortje, erleben lässt, sind eine Mischung aus Fakten und Fiktion, mit großem Einfühlungsvermögen zusammengebracht. Penning kannte zwar die Welt, die er beschrieb, nicht aus eigener Anschauung, wie ja auch sein Zeitgenosse Karl May noch nie in Amerika gewesen war, als er Winnetou und Old Shatterhand erschuf. Dennoch fehlte es ihm nicht an Informationen. Als er mit dem Schreiben der Wessels-Reihe begann, hatte eine glühende Liebe zu den Buren die Niederländer erfasst; das ganze Land hoffte und bangte mit den beiden in die Enge getriebenen Republiken in ihrem Freiheitskampf. Da die Verbindungen mit der Südafrikanischen Republik (Transvaal) und dem Oranje-Freistaat in der Anfangsphase noch nicht unterbrochen waren, bekam man laufend relativ aktuelle Meldungen von den Kampfhandlungen, und Penning konnte sich auf mehr als genug Augenzeugenberichte stützen.
Überall auf dem europäischen Festland gehörten die Sympathien großer Teile der Bevölkerung den Buren, doch nirgendwo waren dabei so starke Emotionen im Spiel wie in den Niederlanden. Durch den Krieg wurde das Gefühl der «Stammverwandtschaft» wiederbelebt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte man sich kaum für die entfernten südafrikanischen Verwandten interessiert. Die Buren oder Afrikaners, wie sie auch genannt werden (die übliche deutsche Form ist «Afrikaander»), waren zwar überwiegend Nachkommen niederländischer Kolonisten, die sich seit der Gründung des ersten Handelspostens am Kap der Guten Hoffnung durch Jan van Riebeeck im Jahr 1652 im südlichen Afrika niedergelassen hatten. Dennoch hatte man sich ihnen im Mutterland nie besonders verbunden gefühlt, eher belächelte man sie wegen ihrer archaischen Ansichten und Lebensweisen.
Das änderte sich grundlegend, als die Buren sich erfolgreich den britischen Annexionsversuchen widersetzten, zuerst 1880/81 und nun wieder seit dem 11. Oktober 1899, und zwar länger, als irgendjemand es für möglich gehalten hätte. Plötzlich wurden sie als Sprosse vom niederländischen Stamm entdeckt, als Verwandte, die das alte «Geusenblut» in den Adern hatten. Als verlorene Söhne, die man besonders liebevoll in die Arme schloss, gerade weil man sie erst so spät wiedererkannte. Ihre herzliche Aufnahme in die Familie erweckte außerdem ein allgemeines Verbrüderungsgefühl in den Niederlanden selbst. Jeder rechtschaffene Niederländer identifizierte sich mit dem Heldenkampf der Buren, von der jungen Königin Wilhelmina bis zu ihrem schlichtesten Untertan, nicht nur im Ballungsgebiet Randstad und im calvinistischen Mittelteil des Landes, sondern auch im katholischen Süden und liberalen Norden. Nicht wenige träumten laut von einem neuen Holland unter dem Kreuz des Südens.
Das Ausmaß der Identifikation mit den Buren erklärt sich auch durch den militanten Nationalismus, der gegen Ende des Jahrhunderts große Teile der niederländischen Gesellschaft erfasst hatte. Nach Jahrzehnten voller Rückschläge schien die Kolonialarmee endlich den Schlüssel zur definitiven Unterwerfung des indonesischen Archipels gefunden zu haben; Lombok und Atjeh (heute Aceh) waren Namen, die neuerdings nicht mehr mit Scham, sondern voller Stolz ausgesprochen wurden – und bald überall auf Straßenschildern zu lesen waren. Und die Machtdemonstration in Niederländisch-Ostindien weckte den Wunsch nach weiteren Großtaten dieser Art. In diesem nationalistischen Klima war es leicht, die Buren für ihren «gerechten» Kampf zu bewundern und ihre Erfolge zu vereinnahmen. Neben «ostindischen» Vierteln entstanden in zahlreichen niederländischen Städten «Transvaal-Viertel» mit Straßen, die nach politischen und militärischen Anführern der Buren benannt waren, nach «Oom Paul» Kruger, Louis Botha und vielen anderen, darunter natürlich auch Steyn und de Wet.
Nur gab es einen entscheidenden Unterschied zwischen Indonesien und Südafrika. In «Ostindien» konnten die Niederlande selbst handeln, und das taten sie mit großer Zielstrebigkeit. Innerhalb weniger Jahre wurde die niederländische Herrschaft in allen Teilen des indonesischen Archipels gesichert – abgesehen von Portugiesisch-Timor und dem britischen Norden Borneos –, so dass man bald mit Recht von «unserem Indien» sprach. Was die Ereignisse im südlichen Afrika anging, mussten sich die Niederlande von Anfang an mit der Rolle des begeisterten Zuschauers begnügen, mit einer Art abgeleitetem Heldentum. Zwar gab es etliche Niederländer, die als Kriegsfreiwillige nach Südafrika eilten oder sich auf andere Weise für die Sache der Buren einsetzten, aber die Niederlande als Staat waren vollkommen machtlos; gerade wegen der Erfolge in Indonesien fürchtete man den Zorn Großbritanniens, das damals noch unangefochten die Weltmeere beherrschte.
Als das Kriegsglück die Buren verließ und ihre Niederlage sich immer deutlicher abzeichnete, konnte nichts und niemand ihre Demütigung verhindern, denn auch die Großmächte schreckten davor zurück, Mighty England gegen sich aufzubringen. Ernüchterung trat ein, immer mehr Niederländer erwachten aus ihrem Traum, und die Liebe zu den Buren erkaltete ebenso schnell, wie sie die Menschen erfasst hatte. Nach Kriegsende blieb nur ein harter Kern von Getreuen am Schicksal der Buren interessiert; für die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung verschwanden sie wieder in den Nebeln der Geschichte. Die Burenhelden lebten nur noch in den Abenteuerbüchern fort, dies immerhin bis zu den siebziger Jahren, und bis heute in den Namen von Straßen und Plätzen, sofern sie nicht schon in Steve Bikoplein oder Nelson Mandelastraat umgetauft worden sind.[2]
Während also der Erinnerungspark selbst ein Überbleibsel aus längst verflossenen Zeiten zu sein scheint, erwartet einen im Museum so manche Überraschung. Hier ist die Zeit nicht stehen geblieben, jedenfalls nicht überall, wie man bereits im Eingangsbereich merkt. Dort gibt es zwei Blickfänge. Der eine ist ein originales Harmonium, das Prunkstück jedes besseren Burenhaushalts, um das sich täglich die ganze Familie zum Singen von Kirchenliedern versammelte; auch in den Niederlanden gehörte das Instrument bis weit ins 20. Jahrhundert zum Standardmobiliar orthodoxer Calvinisten. Doch genau über dem Harmonium hängt als Kontrast ein modernerer Gegenstand, der es als Zentrum des Familienlebens abgelöst hat, ein großer Flachbildfernseher. Er gibt in Form einer Bildershow einen Vorgeschmack auf die Ausstellung, und dabei ist schon das eine oder andere Neue zu entdecken.
Bis man dahin kommt, braucht man allerdings noch ein wenig Geduld, denn die ersten Säle scheinen ganz im ursprünglichen Zustand geblieben zu sein. Sie sind nach den bekannten burischen Politikern und Militärs benannt, nach Steyn und de Wet, Kruger, Botha und auch Koos de la Rey, «die Leeu van die Wes Transvaal» («der Löwe von West-Transvaal»). Dass der Saal zum Thema «Konzentrationslager» den Namen von Emily Hobhouse trägt, passt ebenfalls in das von Denkmal und Park her bekannte Muster. So weit nichts Neues. Das gilt auch für das museale Konzept, das dem alten Prinzip «plenty is beautiful» huldigt. Die Erklärungen sind in zwei der elf amtlichen Landessprachen gehalten, Afrikaans und Englisch. Bach folgt einem durch sämtliche Säle. Unverkennbar der Geist der fünfziger Jahre, und so gesehen wird hier ein großartiges Zeitbild präsentiert.
Aber dann kommt doch noch die Überraschung: der Sol-Plaatje-Saal. Er ist nach dem – soweit bekannt – einzigen schwarzen Südafrikaner benannt, von dem ein Tagebuch aus dem Burenkrieg erhalten ist, geschrieben in dem von Buren belagerten Ort Mafeking. Soloman Tshekisho Plaatje gehörte außerdem 1912 zu den Gründern des ANC. Eine glückliche Wahl also und ein Symbol für eine historische Wahrheit, die erst in den achtziger Jahren ins allgemeine Bewusstsein gebracht wurde. Der Burenkrieg mochte als white man’s war begonnen haben, doch die Feindseligkeiten blieben nicht auf die Weißen beschränkt. Auch die Nichtweißen – die autochthone schwarze und die sogenannte «farbige» (Misch-)Bevölkerung, außerdem die Immigranten aus Indien – wurden in den Konflikt hineingezogen. Als Aktive und Passive, als Teilnehmer an den Kämpfen und als Opfer. Je länger der Krieg andauerte, desto mehr wurde er zu einem Kampf zwischen Buren und Briten und Bantu – dies der damals gängige Sammelbegriff für die größte nichtweiße Bevölkerungsgruppe.
Zu verdanken ist diese Entdeckung dem Historiker Peter Warwick, der 1983 seine Studie Black People and the South African War, 1899–1902 veröffentlichte. Das Buch machte erstmals deutlich, auf welch vielfältige Weise und in welchem Umfang die nichtweiße Bevölkerung vom Krieg betroffen und an ihm beteiligt war – weshalb Warwick auch eine neue Bezeichnung einführte: Südafrikanischer Krieg.
So wurden die Burenkämpfer zu Beginn des Krieges von etwa 7000 bis 9000 sogenannten agterryers («Nachreitern» oder «-fahrern») begleitet, schwarzen und «farbigen» Knechten. Doch auch die Briten zogen von Anfang an unbewaffnete Nichtweiße für alle möglichen unterstützenden Aufgaben heran. In der Guerilla-Phase nahm die Anzahl nichtweißer Hilfskräfte auf burischer Seite stark ab, bei den Briten dagegen in noch viel stärkerem Maße zu. Außerdem setzten die Briten zahlreiche Schwarze und «coloureds» als Kuriere, Kundschafter und Wachpersonal ein, aber auch im Gefecht, also bewaffnet: Gegen Ende des Krieges standen etwa 30.000 bewaffnete Nichtweiße in britischen Diensten. Zum Vergleich: Die Gesamtstärke der britischen Truppen in Südafrika lag dann bei ungefähr 250.000 Mann, während die Anzahl der aktiven Burenkämpfer von 60.000 auf 15.000 gesunken war.
Außer im Dienst von Buren und Briten beteiligten sich Nichtweiße auch zunehmend in Stammesverbänden an den Kampfhandlungen, als Verbündete einer der beiden Parteien, oder besser gesagt: der Briten. Zu Anfang des Krieges nahmen auch die Buren ausnahmsweise, bei der Belagerung von Mafeking, die Hilfe der «befreundeten» Rapulana Barolong in Anspruch, doch das blieb ein Einzelfall. Dagegen riefen die Briten immer häufiger schwarze Völker als bewaffnete Unterstützer zu Hilfe. Zunächst beschränkten sie sich dabei auf die Nachbarländer von Transvaal und Oranje-Freistaat: Betschuanaland, Griqualand, Basutoland und Zululand. Nach und nach ermunterten sie aber auch Stämme innerhalb der Grenzen der beiden Burenrepubliken zum aktiven Eingreifen in den Krieg, besonders die Kgatla und die Pedi im Nordwesten und Osten von Transvaal.
Obwohl Buren und «Bantu» sich also im Laufe der Zeit immer öfter im bewaffneten Kampf gegenüberstanden, gab es eine Gemeinsamkeit. Auf Anordnung Kitcheners wurden auch schwarze und «farbige» Zivilisten, soweit sie nicht für die britischen Kriegsanstrengungen eingespannt waren, systematisch aus dem Operationsgebiet entfernt und wie die Burenfrauen und -kinder in – separate – Internierungslager gesperrt: zufällig ebenfalls 115.000 Personen, und unter ebenso erbärmlichen Bedingungen, weshalb auch in den «schwarzen» Lagern entsetzlich viele starben, vor allem Kinder. Nach offiziellen Angaben waren es insgesamt 14.000 Todesopfer, nach Warwicks Berechnungen müssen es jedoch mindestens 20.000 gewesen sein.[3]
Warwicks Erkenntnisse bilden den roten Faden in der Ausstellung im Sol-Plaatje-Saal. Und nicht nur hier beweist das Museum, dass es wenigstens zum Teil auf der Höhe der Zeit ist. In einem kleinen Nebengebäude wurde nach pädagogischen Gesichtspunkten ein für Schulklassen gedachter Raum gestaltet, in dem der Burenkrieg seinen Platz in der nationalen Geschichte des neuen, bunten Südafrika zugewiesen bekommt. Hier wird nicht nur der Ursprung des Afrikaander-Evergreens «Sarie Marais» erklärt, sondern auch vom elenden Schicksal weißer und schwarzer Kinder in den Internierungslagern berichtet. Und das in drei Sprachen: Afrikaans, Englisch und isiZulu, nach dem Englischen die zweite Lingua franca Südafrikas.
Es ist ein «inklusiver» Rückblick, der in einem auffälligen Kontrast zur «exklusiven» Geschichtsdeutung aus Afrikaander-Sicht in den meisten anderen Teilen des Museums und im Park steht. Beides will eigentlich nicht so recht zusammenpassen, aber im heutigen Südafrika tut es das offenbar doch. Durch die ungewöhnliche Kombination wird das Erinnerungsgelände an der Monument Road so etwas wie eine Ausgrabungsstätte, nur dass die verschiedenen Schichten hier nicht übereinander liegen, sondern wüst durcheinandergeraten zu sein scheinen.
Die Erinnerung an den Burenkrieg als archäologische Fundstätte – hier liegt wohl auch die Erklärung für das auffällige Engagement von ANC-Prominenten bei den Hundert-Jahr-Gedenkfeierlichkeiten in den Jahren 1999 bis 2002. Der Fund, den sie präsentierten, war das Leiden der gesamten Bevölkerung, die kollektive Erfahrung, eine Deutung, die perfekt zum damals noch quicklebendigen Ideal einer südafrikanischen Regenbogennation passte. Nelson Mandelas Präsidentschaft stand im Zeichen nationaler Versöhnung, und Thabo Mbeki, der im Juni 1999 Mandelas Nachfolge antrat, verfolgte diese Linie in seinen Äußerungen zum Burenkrieg weiter.
Bei der offiziellen Eröffnung der Feierlichkeiten am 9. Oktober 1999 in Brandfort, nicht weit von Bloemfontein, gedachte Mbeki im Beisein des Herzogs von Kent all der Menschen, die vom «Lauf der Geschichte» in einen «bitteren, kostspieligen, langen Krieg» hineingezogen worden seien, «Afrikaners [Afrikaander], Briten, Afrikaner, Farbige, Australier, Kanadier und Neuseeländer». Einen solchen Krieg dürfe es nie wieder geben. Mbeki drückte seinen Respekt vor den damals auf allen Seiten vollbrachten Heldentaten aus und rief dazu auf, fortan von neuen Helden und Heldinnen zu träumen, die «die Architekten eines nicht-rassischen, friedlichen und blühenden Südafrika sein werden».
Auch der damalige Vizepräsident, der heutige Präsident Jacob Zuma, trat als Botschafter der Versöhnung auf, einen Tag später in Mafikeng, wie der alte, wieder zu Ehren gebrachte Name von Mafeking lautet. Er sprach natürlich über Sol Plaatje und sein Tagebuch, das den Krieg «aus einzigartiger schwarzer Perspektive» schildere. Aber auch über «unsere historische Verantwortung dafür, dass die Versöhnung gelingt und die alten Wunden verheilen». Alle unterschiedlichen Erfahrungen, von Weißen wie von Schwarzen, müssten zu einer vollständigen Darstellung zusammengefügt werden: «So schmerzlich unsere Geschichte auch gewesen sein mag, es ist eine gemeinsame Vergangenheit, von der kein Südafrikaner ausgeschlossen ist.» Zur Unterstreichung dieses integrativen Ansatzes schlug er ebenfalls eine neue Bezeichnungsvariante für den Burenkrieg vor: Anglo-Boer South African War.[4]
Nach der heutigen Veranstaltung im Museum zu urteilen, hat Zumas Vorschlag keinen Anklang gefunden. Es ist Samstag, der 24. September 2011, der südafrikanische Heritage Day oder Erfenisdag (Tag des Kulturerbes). Aus diesem Anlass findet eine Matinee zu verschiedenen Aspekten des nun knapp hundertzehn Jahre zurückliegenden Anglo-Boer War oder Anglo-Boereoorlog statt: An diesem Namen hält man konsequent fest.
Bei den Bezeichnungen, unter denen sich das Museum selbst präsentiert, fehlt diese Konsequenz allerdings: einmal als Oorlogsmuseum van die Boererepublieke – der ursprüngliche Name –, dann wieder als Anglo-Boer War Museum – die offizielle Bezeichnung. Doch das verwundert mittlerweile ebenso wenig wie die «archäologische» Zusammensetzung des Programms. Ein wissenschaftlicher Vortrag über den (Anglo-) Burenkrieg als «ersten Medienkrieg» ist zwischen zwei auch auf DVD erhältlichen Informationsfilmen über das Nasionale Vrouemonument und das Museum eingeschoben, danach wird ein Sammelband mit Kriegserinnerungen präsentiert. Zum Abschluss der Matinee folgt die Enthüllung einer installasie des Johannesburger Künstlers Willem Boshoff.
Dieser Teil des Programms lässt sich nicht ohne Weiteres einer der schon bekannten «Schichten» zuordnen. Das Kunstwerk steht für das Leiden von Buren, zwar ohne das Leiden anderer auszublenden, aber auch ohne versöhnliche Tendenz. Es ist im Gegenteil eine leidenschaftliche Anklage, entstanden aus Zorn und Trauer über das Schicksal der zigtausend Kinder – weißer, schwarzer und «farbiger» –, die in den britischen Internierungslagern ums Leben gekommen sind. Formal verantwortlich dafür, so argumentiert Boshoff, sei das damalige britische Staatsoberhaupt Königin Victoria. Ihr und ihren Nachfolgern bis einschließlich Königin Elisabeth wirft er vor, für das, was er als regelrechtes Kriegsverbrechen betrachtet, nie um Verzeihung gebeten zu haben. Der Titel des Werks lautet 32.000 Darling Little Nuisances und verweist auf die nur annäherungsweise ermittelbare Gesamtzahl der umgekommenen Kinder, wobei der Ausdruck «Süße kleine Quälgeister» auf eine Äußerung Königin Victorias selbst zurückgeht. Das Kunstwerk konfrontiert die fünf in Lebensgröße porträtierten Monarchen von Victoria bis Elisabeth (Eduard VIII., 1936 nur elf Monate auf dem Thron, ist ausgelassen) mit den Namen aller 1142 jungen Todesopfer in Bethulie, einem der besonders berüchtigten Lager.
Nach der Enthüllung gibt der sechzigjährige Boshoff bereitwillig Auskunft. Mit seiner kräftigen Gestalt und dem langen Bart sieht er aus wie ein echter Bure, und das ist er auch, nur mit der Ausstrahlung eines Hippies. Bethulie lag nah bei der Farm seines Großvaters, und zwei der im Lager umgekommenen Kinder hießen genau wie Boshoff selbst. Die Familie ist bis heute geprägt von den damaligen Erlebnissen, die Berichte darüber haben ihn nie losgelassen. Doch Boshoff verabscheut rechtsextreme Gruppen wie die Afrikaner Weerstandsbeweging, die regelmäßig die Erinnerung an die Lager für Propagandazwecke missbrauchen. Er ist überzeugter Pazifist, hat unter dem Apartheidregime den Kriegsdienst verweigert und bezeichnet seine Motive als rein persönlich und humanitär.
Allerdings sieht er einen direkten Zusammenhang zwischen dem Burenkrieg und der verkrampft reaktionären Mentalität eines großen Teils der Afrikaander im 20. Jahrhundert. Die Angst davor, als Volk erneut an den Rand gedrängt, vielleicht sogar dezimiert zu werden, habe zu einer Überreaktion geführt; das kollektive Kriegstrauma sei verantwortlich für das Aufkommen von nationalistischen Bewegungen und Parteien wie der Nasionale Party, die eine vollständige Abschirmung der eigenen Kultur und die kompromisslose Festigung der eigenen Vormachtstellung zum Ziel hatten und schließlich der verführerischen Illusion von Sicherheit durch das «katastrophale Apartheidsystem» erlagen.[5]
Überlegungen wie diese finden schon seit längerer Zeit auch in wissenschaftlichen Kreisen Anklang. Der angenommene Kausalzusammenhang zwischen den Ereignissen um 1900 und der Einführung der Apartheid ist eines der fünf großen Themen in der Historikerdebatte über den Burenkrieg.
Das erste ist der Burenkrieg als atypischer Höhepunkt des britischen Imperialismus. Charakteristisch für den «Wettlauf um Afrika» in den Jahren 1880 bis 1914 war die gewaltsame Unterwerfung der schwarzen Bevölkerung fast des gesamten Kontinents durch die Armeen europäischer Mächte. Der Burenkrieg war die einzige große militärische Konfrontation zwischen Weißen. Wie groß, zeigen allein schon die Kosten auf Seiten Großbritanniens. Während die britische Regierung im Oktober 1899 noch mit 10 Millionen Pfund auszukommen glaubte, betrugen die Gesamtkosten bis Mai 1902 wenigstens 217 Millionen, was 12 Prozent des britischen Bruttonationaleinkommens im Jahr 1900 entsprach. Angesichts solch gewaltiger Ausgaben sind zahlreiche Historiker der Frage nachgegangen, was London eigentlich dazu bewog, den Krieg zu provozieren. Die Spannbreite der genannten Motive reicht von ökonomischen über politische, besonders geostrategische, bis hin zu psychologischen Beweggründen, wobei die Mehrheit der Forscher die Hauptverantwortung letztlich doch eher bei den Politikern in Whitehall als bei den Bankiers der City sieht.[6]
Das zweite Thema ist die Frage nach direkten oder indirekten Zusammenhängen zwischen dem Burenkrieg und dem Ersten Weltkrieg, politisch und militärisch. Für Großbritannien waren die Buren-Sympathien einer breiten kontinentaleuropäischen Öffentlichkeit ein Anlass, die eigene Position im internationalen Kräftespiel zu überdenken, neben dem Aufstieg neuer wirtschaftlicher und militärischer Großmächte wie der Vereinigten Staaten und Deutschlands. Die traditionelle Splendid Isolation reichte nicht mehr aus; stattdessen bemühten sich die Briten von nun an um Bündnisse. Es war der Anfang eines fragilen diplomatischen Gebäudes, das im Sommer 1914 in sich zusammenstürzte. Militärisch nahm der Burenkrieg in seiner Anfangsphase die sinnlosen Gemetzel des Ersten Weltkriegs in Gestalt verlustreicher Frontalangriffe auf eingegrabene Verteidiger vorweg.[7]
Noch in einer weiteren Hinsicht gab der Burenkrieg einen Vorgeschmack auf künftige militärische Konflikte. Das Thema des wissenschaftlichen Beitrags zu der Erfenisdag-Matinee – das dritte in dieser Aufzählung – war gut gewählt: Nie zuvor hatten die (Massen-)Medien in einem Krieg eine so bedeutsame Rolle gespielt, nie zuvor waren sie in einem Krieg so zahlreich vertreten. Insgesamt waren im Kriegsgebiet etwa zweihundert Korrespondenten aktiv, überwiegend aus Großbritannien, aber auch aus anderen Teilen des Empire und aus den Vereinigten Staaten. Ihre Mobilität und die Schnelligkeit der Berichterstattung war dem Dampfschiff, der Eisenbahn und vor allem den gut ausgebauten Telegrafenverbindungen zu verdanken. Außer Zeitungsjournalisten und anderen Beobachtern trugen Zeichner, Fotografen und Filmpioniere zur weltweiten Berichterstattung bei. Das in großer Menge gelieferte Material wurde von Anhängern beider Parteien in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit bald für eine Propagandaschlacht genutzt, in der manchmal nicht weniger verbissen gekämpft wurde als auf dem eigentlichen Kriegsschauplatz.[8]
Das vierte Thema ist bereits zur Sprache gekommen: die dramatischen Auswirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung der beiden Burenrepubliken in der zweiten Phase des Krieges. 230.000 Weiße und Nichtweiße wurden in Lager gesperrt, mindestens 46.000 von ihnen überlebten die Internierung nicht. Außerdem zogen britische Truppen systematisch breite Schneisen der Verwüstung durch Transvaal und den Oranje-Freistaat. In der Guerillaphase gab der Burenkrieg also einen Vorgeschmack auf die katastrophalen Auswirkungen von «totalen» Kriegen, wie es der Zweite Weltkrieg sein sollte.[9]
Das fünfte Thema schließlich, das auch Willem Boshoff berührt, ist der Burenkrieg als Ursprung des weißen Nationalismus und, in dessen Folge, der Apartheidideologie. Darüber ist schon viel gesagt und geschrieben worden, doch längst nicht alles. Das Gleiche gilt für das dazugehörige Thema, den Zusammenhang zwischen dem Burenkrieg und der Entstehung der Antiapartheidbewegung. Denn auch die Entwicklung des schwarzen Nationalismus ist nicht ohne diesen Krieg zu verstehen. Die großen Hoffnungen, die führende schwarze und «farbige» Persönlichkeiten in einen britischen Sieg gesetzt hatten, wurden schon durch den Friedensvertrag zunichte gemacht, und in den folgenden Jahren kam es noch schlimmer: Zu ihrer bitteren Enttäuschung wurden der nichtweißen Bevölkerung mit dem Einverständnis der britischen Regierung sogar immer mehr Grundrechte – nicht zuletzt das Recht auf Bodeneigentum – genommen. Ebenso wenig wie die Nasionale Party ist der ANC einfach vom Himmel gefallen.[10]
Der zuletzt genannte Themenkomplex hat bei weitem den höchsten Aktualitätswert, und entsprechend groß ist das Interesse sowohl in der südafrikanischen Gesellschaft als auch in der Geschichtswissenschaft. Grund genug, im Epilog darauf zurückzukommen.
Zunächst aber muss, wie Jacob Zuma es gefordert hat, ein möglichst vollständiges Bild des Burenkriegs entworfen werden. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint; Werke, die wirklich die ganze Geschichte erzählen, gibt es bisher nicht, wenn sich auch einige Autoren dies ausdrücklich zum Ziel setzen und ihm schon recht nahe kommen. Man kann grob zwei verschiedene Perspektiven unterscheiden. Manche Historiker, aus Großbritannien wie aus Südafrika, erzählen die Geschichte aus dem Blickwinkel der britischen Hauptakteure, andere wiederum gehen vom Denken und Handeln der burischen Elite aus. In den besten Werken werden abwechselnd beide Standpunkte eingenommen, und auch das Schicksal der nichtweißen Bevölkerung kommt zur Sprache.[11]
Doch all diese Darstellungen, so informativ und lebendig manche von ihnen auch sind, haben gemeinsam, dass sie eine Perspektive auslassen: Nirgendwo wird die Geschichte des Burenkriegs aus niederländischem Blickwinkel erzählt. Und damit fehlt ein entscheidendes Glied in der Kette von Ursachen und Folgen. Sowohl in der Vorgeschichte als auch während des Krieges spielte nämlich die Dutch connection eine wesentliche Rolle: nicht nur ganz konkret durch die Aktivitäten von Niederländern in südafrikanischen Schlüsselpositionen, sondern – und das ist mindestens ebenso wichtig – auch psychologisch. Obwohl die überschwängliche Zuneigung der Niederländer zu den Buren nicht zu riskanter politischer Parteinahme der Niederlande als Staat führte, wurde das alte Mutterland doch als Verfechter der burischen Sache in Europa empfunden, und das nicht nur in Transvaal und im Oranje-Freistaat, sondern auch in Großbritannien. Nicht von ungefähr sagte der britische Premierminister Lord Salisbury am Vorabend des Krieges in aller Deutlichkeit: «The real point to be made good to South Africa is that we, not the Dutch, are Boss.»[12]
Die niederländische Rolle vor allem in den Jahren vor dem Krieg ist ein Aspekt, der auch in der neueren niederländischen Literatur fast völlig übersehen wird. In einem Werk aus dem Jahr 1937, Pieter Jan van Winters Onder Krugers Hollanders. Geschiedenis van de Nederlandsche Zuid-Afriaansche Spoorweg-Maatschappij (Unter Krugers Holländern. Geschichte der Niederländisch-Südafrikanischen Eisenbahngesellschaft), wurde die Beteiligung von Niederländern am Aufbau der Burenrepubliken noch gerühmt – angesichts der strategischen Bedeutung der von der NZASM gebauten und verwalteten Bahnstrecken völlig zu Recht. Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten solche Aspekte aus dem Blick. Was die historischen Verbindungen zwischen den Niederlanden und Südafrika angeht, interessiert man sich seitdem vor allem für Fragen der ethnischen, sprachlichen und religiösen Verwandtschaft.[13]
Im vorliegenden Buch wird die Geschichte des Burenkriegs zum ersten Mal auch aus niederländischer Perspektive erzählt, natürlich nirgendwo ausschließlich. Damit ein vollständiges Bild entsteht, werden diese Teile der Geschichte ins größere Ganze eingefügt. Das bedeutet, dass die Erzählperspektive immer wieder wechselt, von den Buren zu den Briten und zurück und, wo es notwendig ist, zu den Niederländern.
Wir begleiten vor allem drei Personen, weil sie damals die drei verschiedenen Standpunkte exemplarisch zum Ausdruck gebracht haben und sie bis heute personifizieren. Der Burenkrieg hat sie größer gemacht, und sie bringen ihn uns näher. Unmittelbar durch ihre Tagebücher, Briefe oder Reportagen, aber auch rückblickend in ihren Erinnerungen und Betrachtungen. Es sind der niederländische Jurist Willem Leyds, der britische Kriegsberichterstatter Winston Churchill und der burische Kämpfer Deneys Reitz. Junge Männer am Anfang ihrer Laufbahn. Jeder von ihnen kämpfte für die gerechte Sache, denn jeder war davon überzeugt, moralisch im Recht zu sein. Im Anglo-Boer War Museum von Bloemfontein sind sie nah beieinander abgebildet, in Wirklichkeit hätten sie in ihrem Denken und ihren Erfahrungen kaum weiter voneinander entfernt sein können. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt im Juni 1884 im Amstelhotel in Amsterdam.
Erster Teil
Juni 1884 bis Oktober 1899
Willem Leyds