Katia Mann
Meine ungeschriebenen Memoiren
FISCHER E-Books
Herausgegeben
von Elisabeth Plessen
und Michael Mann
Mit zahlreichen Fotos,
biographischen Daten und ergänzenden Texten
Katia Mann wurde 1883 in München als Tochter von Hedwig und Alfred Pringsheim geboren. Sie hatte im Alter von siebzehn Jahren Abitur gemacht und ein Studium der Mathematik und Physik begonnen, als sie Thomas Mann begegnete und ihn am 11. Februar 1905 heiratete. Zugunsten der Familie - die Manns hatten sechs Kinder - und der Unterstützung des weltberühmten Autors und Ehemanns verzichtete Katia Mann auf eine eigene Karriere als Wissenschaftlerin. Sie lebte zuerst in München, ab 1933 in der Schweiz und in den USA, schließlich kehrte sie 1952 mit Thomas Mann zurück in die Schweiz. Am 30. April 1980 starb sie in ihrem Haus in Kilchberg bei Zürich.
Copyright:
Thomas Manns Briefe an Katia Pringsheim,
in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 21, Briefe III.
© 2002 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Mann:
[Katia Mann zum siebzigsten Geburtstag],
in: Essays, Band 6: »Meine Zeit«, hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski.
© 1997 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Golo Mann: Erinnerungen an Katia Mann,
in: Golo Mann: »Man muss über sich selbst schreiben.«
Erzählungen, Familienporträts, Essays.
© 2009 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400219-4
Herwarth Walden (eigtl. Georg Levin), Musiker, Kunstkritiker, Schriftsteller (1871 geb.; seit 1941 in der UdSSR verschollen). Gründer der expressionistischen Zeitschrift ›Der Sturm‹.
Dem diesem Band vorangeschickten »Motto« gibt es, seitens der Herausgeber, kaum noch etwas hinzuzufügen. Nur davon, wie diese ungeschriebenen Memoiren schließlich doch noch zur schriftlichen Mitteilung gelangten, soll die Rede sein.
Von selbst versteht es sich dabei, daß verschiedene Versuche, der Erzählerin in Form von Interviews ihre Lebensgeschichte zu entlocken, gescheitert waren, ehe es Elisabeth Plessen gelang, die Widerstände Frau Katia Manns zu überwinden. Einmal in Fluß geraten, gedieh die Erzählung in wenigen, allerdings mehrstündigen Sitzungen. Zum Teil wurden daraus Fernsehsendungen, zum anderen Teil wurden die zerstreuten Mitteilungen in eine chronologische Erzählung umgegossen. Das geschah schon vor einigen Jahren. Dann blieb, gemäß der Einstellung der Erzählerin, die Sache halb ausgearbeitet liegen. Anläßlich des 90. Geburtstags, im Sommer 1973, kam das Manuskript wieder in die Hände des Sohnes. In traulichem Beisammensein mit der Mutter, im Engadin, wurde die Erzählung einer weiteren Bearbeitung unterzogen. Mit täglich neuer Erfindungsgabe mußte die Erzählerin dazu bewegt werden, sich des Manuskripts anzunehmen: während der Teestunde etwa, auf der Terrasse, irgendeine spezifische Frage, irgendeine Textstelle betreffend, beflissenes Herbeischaffen von Brille und Bleistift – und das Spiel war gewonnen. Dann saß die Autorin oft bis zum Abendessen über den Blättern, kopfschüttelnd, von Brille und Bleistift eifrig Gebrauch machend; und nicht selten mit der abschließenden Bemerkung, daß das doch eine recht amüsante Erzählung sei.
Der Leser, hoffen wir, pflichtet dem bei.
Die Herausgeber. 1974
Ich habe tatsächlich mein ganzes, allzu langes Leben immer im strikt Privaten gehalten. Nie bin ich hervorgetreten, ich fand, das ziemte sich nicht.
Ich sollte immer meine Erinnerungen schreiben. Dazu sage ich: in dieser Familie muß es einen Menschen geben, der nicht schreibt.
Daß ich mich jetzt auf dieses Interview einlasse, ist ausschließlich meiner Schwäche und Gutmütigkeit zuzuschreiben.
1970
Mein Vater war Professor der Mathematik an der Universität in München, und meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Ich bin eigentlich ein ganz unerwartetes Anhängsel gewesen. Meine Eltern waren mit meinen drei älteren Brüdern zur Sommerfrische am Starnberger See. Da hatten sie ein kleines Haus gemietet in Feldafing. Mein Vater fuhr zwei-, dreimal die Woche nach München in sein Kolleg, er war Privatdozent, und dann kam er zurück.
Meine Mutter erwartete das vierte Kind, und als es dann kam, auch noch zu früh, waren es zwei, mein Zwillingsbruder und, ganz unerwartet, ich. Niemand war da außer der Bauersfrau, und es gab ja kein Telefon. Da sagte sie: Jessas! Es kommt noch eins! Das war dann ich.
Als mein Vater an dem Tag nach Hause kam, wurde er von der Bauersfrau aufgeregt empfangen: Herr Doktor! Herr Doktor! Zwillinge san ankommen! Ihn rührte fast der Schlag.
Das war der Anfang, und dann wuchs ich auf. Zunächst stand mir natürlich mein Zwillingsbruder Klaus sehr nah, weil wir alles immer gemeinsam machten. Den Privatunterricht, die ersten drei Jahre, hatten wir zu Hause. Ich weiß nicht, warum. Ich war vielleicht ein bissel zart, und wir sollten nicht in die Schule gehen. Sonst ging man ja in die Volksschule. Da kam jeden Tag für eine Stunde ein Lehrer, ein Herr Schülein. Bei ihm lernten mein Zwillingsbruder und ich den ganzen Primarunterricht bis zum neunten Jahr. Dann machte Klaus die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium, und ich war allein. Es war eine Idee meiner Mutter oder auch meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter, Hedwig Dohm, die ja bekanntlich Frauenrechtlerin war, daß ich das Gymnasium machen sollte. Es gab damals kein Mädchengymnasium in München und natürlich keine gemischten Schulen wie heute; infolgedessen hatte ich Privatunterricht bei verschiedenen Gymnasialprofessoren, die sich ablösten. Die ersten Jahre bis zur Tertia hat mich noch ein Student, der ins Haus kam, um meine vier Brüder bei ihren Aufgaben zu beaufsichtigen, in den Fächern, die man bis zur Unter- oder Obertertia nimmt, unterrichtet; und das war eine Kleinigkeit. Von da ab hatte ich dann Gymnasiallehrer. Jeder kam die Woche vielleicht zwei Stunden; einer für die alten Sprachen, einer für Mathematik und einer für Deutsch und Geschichte. Das Ganze war ja furchtbar leicht, und ich lernte nicht schwer. Es ging sehr schnell. Wenn man allein ist, lernt man viel schneller. In der Schule muß man sich immer nach dem Durchschnitt oder dem Unterdurchschnitt richten, und ich gehörte zum oberen Durchschnitt. Im letzten Jahre hatte ich dann noch Unterricht bei einem Religionsprofessor des Gymnasiums, einem Dr. Engelhardt. Mit dem las ich das Neue Testament auf Griechisch. Religion war ja Pflichtfach am Gymnasium.
Ich kann mich erinnern, daß wir einmal zu der Geschichte kamen, wie Jesus die Samariterin trifft und zu ihr sagt: Fünf Männer hast du gehabt, und der, mit dem du jetzt lebst, ist nicht dein Mann. Da wurde der Lehrer etwas verlegen und er kommentierte: Das findet man so in der Vorstadt.
So ging es bis zu meinem siebzehnten Jahr. Dann machte ich gemeinsam mit dem Zwillingsbruder als Externe das Abitur am Wilhelms-Gymnasium. Es verlief glänzend. Nun sollte ich auch etwas studieren. Ich ging auf die Universität und hörte vor allem Naturwissenschaften. Bei Röntgen Experimentalphysik und bei meinem Vater Mathematik: Infinitesimal-, Integral- und Differentialrechnung und Funktionstheorie. Aber ich bin noch immer der Meinung, daß ich für diese Fächer keine besondere Veranlagung hatte.
Einer meiner Brüder, Peter, der zweitälteste, studierte auch Physik. Er ist ein sehr guter Physiker geworden. Ich war gar nicht dafür prädestiniert, und Röntgen hielt auch gar nichts von mir. Beim Experimentieren passierte mir einmal etwas sehr Mißliches. Ich warf einen Apparat hin. Das hat Röntgen mir sehr übelgenommen. Ich hätte es wahrscheinlich in diesem Fach nie zu etwas gebracht, und auch für Mathematik fand ich mich gar nicht sehr begabt. Ich hätte es auch da nicht sehr weit gebracht. Es war eigentlich mehr so töchterliche Anhänglichkeit. Ich hab’s auch alles vergessen.
Vielleicht hätte ich zu Ende studiert und auch Examina gemacht. Ich hatte ja erst vier oder sechs Semester studiert, als ich heiratete, und wie ich dann verheiratet war, kam bald das erste Baby, und dann sofort das zweite Baby, und sehr bald kam dann das dritte und vierte. Da war’s aus mit dem Studium.
Meine Eltern machten, wie man sagt, ein ziemliches Haus. Sie hatten ein ganz angesehenes und vielfältig besuchtes Haus und gaben große Gesellschaften. Durch den Beruf meines Vaters und seine persönlichen Neigungen war es ein wissenschaftliches Haus mit musikalischen Interessen. Zur Literatur hatte er kein sehr lebhaftes Verhältnis, im Gegensatz zu meiner Mutter. Es kamen sehr viele Leute in die Arcisstraße, auch Literaten, besonders aber Musiker und Maler. Richard Strauss kam zu uns und Schillings, es kamen Fritz August Kaulbach, Lenbach, Stuck und viele andere aus Münchens gesellschaftlich-künstlerischen Kreisen.
Mein Vater war ein begeisterter Früh-Wagnerianer und hatte auch seine Eltern veranlaßt, Anteilscheine, Patronatsscheine nannte man sie, für den Bau des Theaters in Bayreuth zu nehmen. Er kannte Wagner persönlich und besaß einen oder zwei Briefe von ihm, die seine Heiligtümer waren. 1876 bei den Proben für den ›Ring‹ war er in Bayreuth, aber er hat nie intim in Wahnfried verkehrt. Weil er sich einmal Wagners wegen in Bayreuth duellierte, hatte er sich seine persönliche Beziehung zu Wahnfried verscherzt. Es hatte sich in einem Restaurant irgend jemand in seiner Nähe abschätzig über Wagner geäußert, und da mein Vater sehr jähzornig war, schlug er diesem Mann mit seinem Bierglas auf den Kopf und wurde darauf der »Schoppenhauer« genannt. Der andere forderte ihn, es kam zu einem Pistolenduell, welches aber unblutig verlief. Nun, in Wahnfried haben sie sich darüber furchtbar geärgert. Das wollten sie nicht; sie wollten keinen Skandal. Aber mein Vater blieb zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Wagnerianer und hat eine Menge Sachen für Klavier, auch zu vier Händen, gesetzt. Diese Arrangements wurden dann bei uns zu Hause gespielt. Bei uns wurde sehr viel und sehr oft Hausmusik gemacht. Wir hatten einen sehr hübschen Musiksaal. Es kamen oft erste Sänger von der Oper. Da gab es eine hervorragende Wagnersängerin, die Primadonna, sie nannte sich Ternina, und mein Vater verehrte sie über alle Maßen. Die sang an den musikalischen Abenden.
Mit elf Jahren war ich zum erstenmal in den ›Meistersingern‹, und alle dachten: Ach, da wird das Kind ja einschlafen. Dabei war ich betrübt, als es aus war. Ich bin eigentlich ganz mit der Wagnerischen Musik aufgewachsen, mit der Idee, daß sie das Herrlichste sei.
München war damals eine Kunststadt; weniger eine literarische Stadt, die Schriftsteller zählten nicht so viel. So wurde mein Mann, wenn er in ein Geschäft ging, immer »Herr Kunstmaler« genannt. Daß ich ein frühes Training im Umgang mit Schriftstellern hatte, kann ich eigentlich nicht sagen. Ich kannte natürlich diverse Schriftsteller schon als Kind. Es hat mir aber keinen großen Eindruck gemacht.
Der erste Schriftsteller, den ich gekannt habe, war meine Großmutter Hedwig Dohm, die Frau von Ernst Dohm, der den ›Kladderadatsch‹ gegründet hat. Sie schrieb Romane, die heute wahrscheinlich nicht sehr aktuell wären. Wie früh ich etwas von ihr las, könnte ich überhaupt nicht sagen. Ein Buch von ihr hieß ›Der Frauen Natur und Recht‹. Sie war eine leidenschaftliche Vorkämpferin für Frauen, die damals wirklich noch gar nicht sehr viele Rechte hatten. (Wie gesagt, es gab nicht einmal Gymnasien für Mädchen.) Unter ihren vielen Romanen hatte sie ein Buch geschrieben, das einen großen Skandal in München erregte. Es hieß ›Sibilla Dalmar‹. Meine Großmutter liebte ihre älteste und begabteste und schönste Tochter, meine Mutter, heiß, und sie korrespondierten miteinander, ich glaube, mindestens zwei- bis dreimal die Woche. Meine Mutter schrieb ihr lange Berichte aus München nach Berlin, und meine Großmutter bewahrte sie alle auf. In den Roman ›Sibilla Dalmar‹ hat sie dann alles, was in den Briefen über die Münchner Gesellschaft stand, übernommen, und das hat in dieser Gesellschaft ein furchtbares Ärgernis gegeben, wirklich einen richtigen Skandal. Um so mehr, als die Figur, die meiner Mutter entsprach, ein Verhältnis mit einem baltischen Adligen hatte, das es in Wirklichkeit nicht gegeben hatte. Das war für meinen Vater besonders ärgerlich. Meine Großmutter war eine sehr naive, dabei begabte Frau. Sie hatte sich gar nichts dabei gedacht.
Sie war später eigentlich eine richtige Märchenfigur. Sie war sehr klein und wurde immer kleiner. Lenbach hat ein sehr schönes Porträt von ihr gemacht, das wir besitzen. Sie hatte einen guten Kopf, und alle Enkel hingen sehr an ihr. Wir fuhren zusammen nach Meran, mein Mann und ich und Urmiemchen. So nannten wir sie, weil meine Kinder sie Urmiemchen nannten. Urmiemchen fuhr mit, und da sagte sie: Ach, Tommy! Tommy! Komm doch bitte mal schnell in mein Coupé, denn weißt du, hier im Schlafwagen ist ja alles für Riesen eingerichtet.
Sie war eine sehr kleine, sehr putzige und in ihrer Art reizvolle, alte Dame.
Annette Kolb kannte ich lange, ehe ich Thomas Mann kannte. Ich kannte sie seit meinem zwölften Jahr. Sie verkehrte in meinem Elternhaus und schrieb damals schon. Wir standen uns immer sehr herzlich. Ich duzte mich auch mit ihr von Kindheit an. Dann verkehrte Paul Heyse bei uns, und er wollte es gar nicht glauben, daß ich noch nie etwas von ihm gelesen hatte; er war sehr enttäuscht. Damals war ich vielleicht vierzehn. Er besuchte meine Mutter, und da sagte sie: Ich muß Ihnen doch mal meine Tochter Katia vorstellen. Und dann sagte er: Na, Sie haben doch …? Ich sagte: Ja, ich denke doch …
Er war ein sehr eitler Mensch und hatte so eine sanfte Stimme und einen weichen kleinen Vollbart und schöne blaue Augen.
Max Halbe kannte ich, Wolfskehl, die Gräfin Reventlow. Aber näher habe ich sie alle nicht gekannt.
Mein Vater war nicht so sehr dafür, daß ich einen Schriftsteller heirate. Er dachte immer: ein Schriftsteller ist doch nicht so ganz das Richtige, nicht wahr? Das ist doch eher etwas Unseriöses. Er dachte, es müßte ein junger Gelehrter, ein Universitätsprofessor sein, und ich hatte damals, neben anderen, sogar einen Bewerber, der Professor war. Meine Mutter war gleich für eine Heirat mit Thomas Mann, ihr leuchtete es sofort ein. Meinem Vater nicht in dem Maße; aber er hat die Heirat mit Thomas Mann auch nicht verhindert. Er hätte es auch gar nicht gekonnt. Gern sah er es nicht, auch deshalb: als das einzige Mädchen mit den vier Buben war ich so ein kleiner Sonnenschein, nicht? Ich sollte nicht so früh aus dem Haus. Es war ihm nicht recht, wie Väter so sind. Thomas Mann hat das auch ein bißchen in ›Königliche Hoheit‹ geschildert. In meiner Jugend war ich, glaube ich, recht hübsch. Das Traurige ist, daß ich es gar nicht wußte. Es hat eigentlich nie jemand in meiner Familie die Freundlichkeit gehabt, es mir zu sagen. Da meine Mutter eine berühmt schöne Frau war und eine meiner beiden Großmütter, die Mutter meines Vaters, immer, wenn sie mich sah, mir nur sagte: Ach, die Mutter erreichst du ja nie! habe ich mich auch damit abgefunden. Ich hatte gar keine hohe Meinung von meinen äußeren Reizen und wußte nichts davon. Schade eigentlich. Else Lasker-Schüler hat mich einmal irgend jemandem gegenüber eine »morgenländische Prinzessin« genannt, das halte ich für sehr übertrieben.
Natürlich fanden sich viele Bewerber ein. Es verkehrten viele junge Leute bei uns, die mir alle mehr oder weniger den Hof machten, und der eine oder andere hätte mich wohl auch gewiß ganz gern geheiratet. Aber ich dachte nicht daran zu heiraten, selbst nicht, als ich Thomas Mann kennenlernte und er sich für mich interessierte. Ich habe das nicht so sehr ernst genommen und wäre nicht auf den Gedanken gekommen, ihn zu heiraten. Es ging von ihm aus.
Ein junger Mann, der auch aus Schlesien stammte, auch den Namen Pringsheim trug und bei uns verkehrte, liebte mich offenbar sehr. Er war vielleicht um fünf bis zehn Ecken mit uns verwandt, aber das ließ sich gar nicht nachweisen. Er war ein besonders leidenschaftlich interessierter und sehr nett aussehender Student. Wir gingen zusammen auf die Universität und fuhren immer mit dem Fahrrad hin, wenn es die Jahreszeit erlaubte, und dann stellte man sein Rad in dem sogenannten Radstall ab. Wenn die Kollegien vorbei waren, holte man es wieder. Da kann ich mich erinnern, daß ich einmal in den Radstall ging, nichts Böses ahnend, mein Rad zu holen, und da erschien dieser gleichnamige junge Mann und machte mir eine Liebeserklärung, quasi einen Heiratsantrag – im Radstall! Ich war vollkommen flabbergasted, wie die Amerikaner sagen, vollkommen sprachlos, und sagte nur immer: Ja, aber wieso denn? Wie kommen Sie denn nur darauf? Darüber muß ich doch erst nachdenken, ich meine, das geht doch gar nicht so plötzlich. Ich habe eigentlich im Moment gar nicht an so etwas gedacht. Ich will ja, ich meine, ich habe Sie ja sehr gern, aber ich dachte doch gar nicht daran, Sie zu heiraten. Wir können doch mal abwarten, und so. Dann war er etwas beschnien und zog ab.
Ich habe ihn später noch einmal aus Versehen sehr gekränkt. Sonntags hatten wir immer viele junge Leute zum Tee, und er war auch da. Es war die Rede davon, daß es doch eigentlich komisch ist, daß Mädchen plötzlich ganz anders heißen, wenn sie verheiratet sind. Bei Männern kommt das doch nicht vor. Und dann sagte ich: Ich wäre ja nun in der glücklichen Lage, daß ich meinen Namen gar nicht zu wechseln brauchte, und lachte. Darauf schrieb er mir einen acht Seiten langen Brief: es sei entsetzlich für ihn gewesen, und nie wieder dürfte ich Scherze machen über Dinge, die ihm heilig seien und über die er niemals wegkommen könnte.
Ich hatte mir nichts Böses gedacht, aber ich habe mich dann sehr entschuldigt.
Das war einer meiner Bewerber. Ich hatte auch andere, aber sie waren alle recht jung und unbedeutend. Da fällt mir ein: Alfred Kerr hatte die Absicht, mich zu heiraten, und diese Absicht bestand bei mir nie. Er hat es Thomas Mann zeit seines Lebens furchtbar übelgenommen, abgesehen von seinen sonstigen Gehässigkeiten gegen ihn. Ich habe sie alle nicht geheiratet, weder den Professor noch den schwer gekränkten Pringsheim noch Kerr und die übrigen, sondern, nach einigen Sperenzchen meinerseits, doch Thomas Mann. Wir haben uns auf sehr komische Weise kennengelernt. Thomas Mann »kannte« mich von einem Kinderbildnis her, aber ohne zu wissen, daß seine zukünftige Frau auf der Leinwand abgebildet war.
Es war ganz drollig. Als meine Brüder und ich Kinder waren – wir waren sehr nah im Alter, alle zusammen nur vier Jahre auseinander –, gingen wir fünf in München einmal auf einen Kindermaskenball: die vier Buben als Pierrots und ich als Pierrette verkleidet. Wir trugen weiße Kostüme mit schwarzen Pompons, hatten lange schwarze Strümpfe an und hohe weiße Mützen auf. Die Buben gingen in ihren Pluderhosen und ich im Röckchen. Auf diesem Ball war auch der Maler Fritz August Kaulbach, damals in München und über München hinaus in ganz Deutschland sehr en vogue. Er war Hofporträtist und neben Lenbach der Malerfürst jener Zeit. Kaulbach war mit der den Kinderball veranstaltenden Familie befreundet, kannte auch meine Eltern, und da sah er uns fünf Kinder an jenem Abend und war ganz vernarrt in die fünf Pierrots. Dann besuchte er meine Eltern, erzählte ihnen, er habe uns auf dem Ball gesehen, es sei so nett anzuschauen gewesen, er müsse uns in unseren Kostümen malen. Nun, er malte uns zu fünft, und das Bild war ein kolossaler Erfolg, wie Genre-Bilder ihn seinerzeit oft hatten. Das Pierrotbild wurde dann auch in vielen Städten Deutschlands ausgestellt und in verschiedenen Illustrierten reproduziert. Sogar Freunde von uns, die aus Petersburg kamen, brachten Papierservietten, auf denen dieses Bild zur Dekoration in einer Ecke abgebildet war. Nun, und der junge Thomas, der damals vierzehn Jahre alt war, als ich sechs war, wohnte noch in Lübeck und hat wie viele andere das Bild in einer illustrierten Zeitschrift gesehen. Es hat ihm so sehr gefallen, daß er es sich ausgeschnitten und mit Reißnägeln über seinem Pult befestigt hat. So hatte er es immer vor Augen gehabt, hatte aber keine Ahnung, wer diese Kinder waren, denn der Name der Familie stand natürlich nicht darunter; das Bild hieß einfach ›Kinderkarneval‹. Diese Geschichte hat er mir später erzählt. Das Bild hing in unserem Wohnzimmer, und als Thomas Mann dann in meinem Elternhaus verkehrte, hat er es natürlich dort gesehen, und auch bemerkt, daß ich das eine von den Kindern bin. Aber zu welcher Zeit er die Identität erkannt hat, könnte ich nicht sagen. Ob sein Interesse für mich damit zusammenhing, daß er das Bild als Junge besessen hatte, weiß ich nicht. Ich habe ihn nie danach gefragt. Sein Interesse wird schon meiner Person gegolten haben, wie sie damals war, als ich zwanzig Jahre alt war, und er mich in München sah. Thomas Mann hatte mich schon eine ganze Weile aus der Ferne und von »oben« beobachtet, bevor wir uns persönlich kennenlernten. Wenn ich ausging, war ich eigentlich immer von meinen vier Brüdern umgeben. Ich trat nie allein auf. Damals durfte ein junges Mädchen überhaupt nicht allein auf die Straße. Wir besuchten viele Gesellschaften und gingen sehr viel in Konzerte.
Es gab in München neben den schon bestehenden Akademiekonzerten im Odeon ein neugegründetes Konzertunternehmen, die sogenannten Kaimkonzerte, die neben den Odeonkonzerten das Musikleben in München erweitern sollten. Ein Mann namens Kaim war der Unternehmer. Er hatte ein Orchester gegründet, einen Konzertsaal gebaut, den Kaimsaal, sich dabei verbaut und war dem Bankrott nahe. Daher wurden die Kunstfreunde Münchens sehr angehalten, Abonnements zu nehmen: sie sollten dieses zweite Münchner Konzertsaal-Unternehmen unterstützen. Auch mein Vater war auf diese Konzerte abonniert. Er hatte gleich fünf Abonnements genommen, und in diese Konzerte ging ich immer mit meinen vier Brüdern. Weingartner war dort Dirigent. Mein Mann, der sehr musikalisch und immer musikliebend war und auch diese Konzerte regelmäßig besuchte, sah mich dort mit den Brüdern, beobachtete von oben die Familie, vor allem aber das Mädchen und fand Wohlgefallen an ihm. So kannte er mich vom Sehen schon eine ganze Weile, aber ich kannte ihn nicht. Ich hatte damals die ›Buddenbrooks‹ gelesen.
Meine Eltern waren in München wohlbekannt, und diese fünf Kinder, die ständig zusammen auftraten, fielen auf und waren auch ziemlich bekannt. Da kann ich mich erinnern, daß einmal, in der Pause dieser Konzerte, ein bayrischer Prinz, der Prinz Luitpold, mich ansprach und mich so fragte: Ja, sind Sie nicht Fräulein Pringsheim? und so. Er war sehr huldvoll und ich sehr verlegen, und dann sagte ich: Jetzt fängt’s ja wohl wieder an, und zog mich zurück. Da rief man mir nach: Ja, wo bleibt denn der Hofknicks? Aber ich hatte keine Ahnung, wie man einen Hofknicks macht. Ich sprach auch sehr selten mit Prinzen. Ich weiß nicht, ob mein Mann dieses prinzliche Rencontre auch beobachtet hat, da er das Mädchen doch ständig mit den Augen verfolgte.
Als wir dann schon verheiratet waren, traten meine vier Brüder auch weiterhin in geschlossener Phalanx auf. Ich weiß noch, daß Hofmannsthal, der öfters nach München kam, zu irgendwem sagte, als er auch einmal im Konzert war und meine Brüder beobachtete: Zu nett, die Brüder von der Katia! Immer sprechen’s miteinander! Wir kannten ihn ganz gut, und ich stand sehr herzlich mit ihm. Ich war zwar nie in Rodaun, aber mein Mann war da und war ganz entzückt davon. Er verstand sich sehr gut mit Hofmannsthal, hielt sehr viel von ihm und hat ihn auch menschlich immer sehr geschätzt. Sein Tod ist ihm außerordentlich nahegegangen.
Aber zurück in die Jahre 1903, 1904. Kennengelernt habe ich Thomas Mann überhaupt erst nach dem Abenteuer in der Trambahn. Ich fuhr, wenn nicht mit dem Rad, immer mit der Trambahn vor- und nachmittags ins Kolleg, und Thomas Mann fuhr auch oft mit derselben Bahn. An einer bestimmten Stelle, Ecke Schelling-/Türkenstraße, mußte ich aussteigen und ging dann zu Fuß, mit der Mappe unterm Arm. Als ich aussteigen wollte, kam der Kontrolleur und sagte:
Ihr Billet!
Ich sag: Ich steig hier grad aus.
Ihr Billet muß i ham!
Ich sag: Ich sag Ihnen doch, daß ich aussteige. Ich hab’s eben weggeworfen, weil ich hier aussteige.
Ich muß das Billet –. Ihr Billet, hab ich gesagt!
Jetzt lassen Sie mich schon in Ruh! sagte ich und sprang wütend hinunter.
Da rief er mir nach: Mach daß d’ weiterkimmst, du Furie!
Das hat meinen Mann so entzückt, daß er gesagt hat, schon immer wollte ich sie kennenlernen, jetzt muß es sein.
Aber wo? Denn wir hatten viele gemeinsame Freunde und Bekannte in München, und an manche hätte Thomas Mann sich wenden können mit der Bitte, ihn zusammen mit mir einzuladen und uns nebeneinanderzusetzen. Bei Stucks, zum Beispiel, hätten wir uns ganz gut kennenlernen können. Franz Stuck, eigentlich bäurischer Herkunft, ein sehr erfolgreicher Maler mit seinen symbolischen Bildern – später wurde er geadelt –, hatte sich nach eigenen Plänen ein sehr schönes Haus in römischem Stil erbauen lassen, die Villa Stuck. Sogar das Mobiliar dazu hat er entworfen.
Frau Stuck war eine sehr schöne Frau. In dieser Villa gaben sie große Gesellschaften, und weil sie eine merkwürdige Auffassung von einer Tischordnung hatten, wäre es für Thomas Mann ein leichtes gewesen, mit mir Bekanntschaft zu machen. Wir hätten uns da automatisch an einem Tisch befunden, vielleicht auch nebeneinander. Stucks arrangierten sich mit ihren Gästen nämlich so: An einen Tisch setzten sie alle Aristokraten, an den zweiten setzten sie alle besseren Leute, auch meine Eltern und mich – Thomas Mann hätte und hat, wenn er dort eingeladen war, auch dort gesessen –, und an den dritten Tisch setzten sie den Abhub, Leute, die sie meinten, niemandem zumuten zu können. Das war eigentlich keine sehr gute Einteilung. Einmal hatten sie einen Universitätsprofessor und seine Frau eingeladen. In der Villa Stuck zählten sie zum Abhub. Sie waren beide rein jüdisch, und die Frau war ziemlich abschreckend häßlich. Nun, man hätte sie dann gar nicht einladen sollen. Aber so ging es dort zu.
Thomas Mann überlegte, wie er es am besten anstellte, und wandte sich endlich mit seiner Bitte an das Ehepaar Bernstein. Der Justizrat Bernstein war ein sehr bekannter Anwalt in München, hatte auch Maximilian Harden im Eulenburg-Prozeß vertreten, und sie war Schriftstellerin und hatte unter dem Namen Ernst Rosmer das Textbuch zu Humperdincks ›Königskinder‹ geschrieben. Es war ein kultivierter, intellektueller Salon, den Elsa Bernstein führte. Thomas Mann wandte sich also um Vermittlung an Frau Bernstein: Sie sind doch mit Pringsheims gut bekannt. Könnten Sie mich nicht einmal zusammen mit Katia Pringsheim einladen, daß ich sie endlich einmal kennenlerne?
Frau Bernstein sagte: Nichts einfacher als das! Ich lade Sie zusammen zum Abendessen ein.
Darauf wandte sie sich an meine Eltern: sie möchte doch die Katia einmal einladen – ohne böse Hintergedanken. Nun hatten Bernsteins aber auch Thomas Mann eingeladen und uns geschickt nebeneinandergesetzt. Das war sehr nett.
Frau Bernstein, die unsere Bekanntschaft eifrig begünstigte und offenbar gerne ehestiftete – ich will nicht den stärkeren Ausdruck gebrauchen –, lud uns auch fleißig wieder zusammen ein, und von da ab kannten wir uns gut, und die Sache gedieh so weit. Seit dem Abenteuer in der Trambahn war Thomas Mann entschlossen: Diese oder keine – ich habe das zunächst gar nicht so ernst genommen. Aber es kam eben doch dazu.
Dann hat er auch bei uns Besuch gemacht. Meine Mutter hat schon ziemlich bald gemerkt, was von seiner Seite gespielt wurde, und hatte nichts dagegen. Ihr gefiel er sehr gut. Sie hatte gleich eine sehr hohe Meinung von Thomas Mann, sie wußte auch seine literarischen Verdienste gebührend zu schätzen.
Dann kam er eines Morgens und sagte, ich hätte doch gesagt, wir wollten zusammen eine Radtour machen. Ich hatte aber gar nichts dergleichen gesagt. Doch es war sehr schönes Wetter, und da sagte ich: Wir können es ja machen. Also machten wir unsere Radtour. Ich hatte ein sehr gutes, schnelles amerikanisches Cleveland-Rad und fuhr ihm dann sogar davon. Unsere Tour hat er ein bißchen in ›Königliche Hoheit‹ geschildert, nur daß es dort vom ordinären Fahrrad aufs Pferd transponiert ist: Imma Spoelmann reitet dem Prinzen Klaus Heinrich davon.
Kurzum, wir sahen uns oft und schlossen nähere Bekanntschaft und Freundschaft.
Wir hatten einen Diener, der aus den österreichischen Ostprovinzen kam, die es damals noch gab. Ignatz nannte mich immer Fräulein Katju. Ich weiß nicht warum. Und immer, wenn Thomas Mann kam, flüsterte er ihm zu: Fräulein Katju sind im Garten. Vom Diener wurde die Sache also auch begünstigt, und die Meinung von unserem sehr netten Familienbuchhändler Buchholz war für meine Eltern ebenfalls ganz tröstlich, besonders für meinen Vater, der sich mit literarischen Büchern ja nicht viel befaßte, sondern hauptsächlich wissenschaftliche Dinge las. Ich weiß gar nicht einmal, ob er die ›Buddenbrooks‹ gelesen hatte, auf alle Fälle kannte er sie nicht so sehr genau, und von Schopenhauerischer Philosophie hielt er nicht sehr viel. Dagegen trafen sich Vater und Schwiegersohn in ihrer leidenschaftlichen Verehrung für Richard Wagner.
Mein Vater hatte ein kritisches Verhältnis zu Schopenhauer, weil letzterer sich wiederholt abschätzig über die Mathematik geäußert hat. Als Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hatte er auf einer ihrer Tagungen einmal einen Vortrag gehalten: ›Schopenhauer und die Mathematik‹, und nachgewiesen, daß Schopenhauer von der Mathematik eigentlich nichts verstand und seine Äußerungen falsch waren. Mein Mann kannte jedoch diesen Vortrag nicht, und ich habe ihm auch nie davon erzählt. Mein Vater hatte ihn gehalten, ehe wir uns kannten.