Dieter Hein
DEUTSCHE GESCHICHTE
IM 19. JAHRHUNDERT
Verlag C.H.Beck
Das 19. Jahrhundert begann mit dem revolutionären Beben des Jahres 1789 in Frankreich und endete mit dem Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit erlebte Deutschland den Zusammenbruch der ständischen Welt, die bürgerliche Revolution von 1848/49 mit ihren sozialrevolutionären Unterströmungen sowie eine industrielle Revolution, die gewaltige wirtschaftliche Kräfte freisetzte und in die Entstehung einer Klassengesellschaft mündete. Mit der Nationalstaatsgründung in Form eines preußisch-kleindeutschen Reiches 1871 beschleunigte sich der dynamische Wandel und steigerte sich zu einem globalen Konkurrenzkampf der europäischen Mächte, der 1914 in den Ersten Weltkrieg führte.
Dieter Hein, Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, bietet in seinem Buch eine exzellente Kurzdarstellung und eine kluge Analyse des «langen Jahrhunderts» der deutschen Geschichte. Von demselben Autor ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: Deutsche Geschichte in Daten (2005); Die Revolution von 1848/49 (52015).
Einleitung
I. Das revolutionäre Zeitalter (1789–1849)
1. Aufbruch aus der ständischen Welt
2. Revolution, Reform, Restauration
Die Französische Revolution und Deutschland
Die Revolutionskriege
Reformen in Preußen und im Rheinbund
Der frühe Nationalismus
Der Wiener Kongress
Restauration?
3. Die neue bürgerliche Gesellschaft
4. Vormärz und Revolution
Die Julirevolution und ihre Nachwirkungen
Das Scheitern der Repressionspolitik
Nation und nationale Bewegung
Am Vorabend einer Revolution?
Die Märzrevolution
Zwischen Reform und Radikalisierung
Nation und Revolution
Die Reichsverfassung
Erfolg und Scheitern der Revolution
II. Das industrielle Zeitalter (1840–1880)
1. Industrie und Marktwirtschaft
2. Auf dem Weg zur Klassengesellschaft
3. Das Werden des Nationalstaats
III. Das imperiale Zeitalter (1871–1914)
1. Das Reich in Europa und der Welt
2. Obrigkeitsstaat und Demokratisierung
3. Durchbruch der Moderne
Literaturhinweise
Personenregister
Für Karin
Was hat uns die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts (noch) zu sagen? Viele Jahrzehnte lang stand nach 1945 für die Geschichtswissenschaft wie auch für eine breitere Öffentlichkeit fest, dass die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert gewissermaßen die Königsdisziplin der Historie sei: Mit Blick auf diese Epoche wurden die zentralen methodischen Innovationen entwickelt und erprobt, in der Auseinandersetzung mit ihr ergaben sich die großen Grundsatzdebatten des Faches. Angeregt wurde das Interesse zunächst von der Suche nach den Wurzeln der neuen demokratischen Ordnung, dann in einem umfassenderen Sinn nach den Grundlagen der Moderne, insbesondere nach ihren wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen in Ergänzung zur älteren vorwiegend politischen Geschichtsschreibung. Eine Art abschließende Bilanz dieser intensiven Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert zogen dann die seit den 1980er Jahren erschienenen mehrbändigen Gesamtdarstellungen von Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler.
Parallel hierzu war jedoch bereits eine deutliche Schwerpunktverlagerung hin auf das 20. Jahrhundert, auf die Zeitgeschichtsschreibung, zu beobachten. Eine ganze Reihe von zunächst voneinander unabhängigen Impulsen kam hier zusammen und verstärkte sich teilweise gegenseitig: das trotz oder wegen des zunehmenden zeitlichen Abstandes wachsende Interesse an der Geschichte der NS-Epoche, die Historisierung der Bundesrepublik, die 1989/90 mit Wucht einsetzende Aufarbeitung der DDR-Geschichte, aber auch konzeptionelle Überlegungen wie die kritischen Zweifel an der Deutung der beiden letzten Jahrhunderte als einer durchgängigen Modernisierungsentwicklung.
Erst recht rückte das 19. Jahrhundert mit der Wende zum 21. Jahrhundert nicht nur kalendarisch in weitere Ferne. Die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert schien mehr antiquarischen Charakter zu bekommen, ähnlich dem der anderen älteren Epochen, aber ohne dass sich die Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert schon – wie die Mittelalter- und die Frühneuzeithistoriographie – methodisch und inhaltlich gerüstet hätte für diesen veränderten Blick auf die Epoche. Und sehr weit sind Überlegungen, das 19. Jahrhundert weniger als Vorgeschichte der eigenen Gegenwart denn als eine fremde, andersartige Zeit zu begreifen, bislang nicht gediehen: also etwa den Untergang der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts zu betonen oder nach gesellschaftlichen Strategien für den Umgang mit ökonomischer Stagnation zu fragen.
Zudem tritt, wenn nicht alles täuscht, allmählich bereits wieder eine Wende ein, nicht zuletzt durch die großen Wandlungstendenzen und Konflikte, die weltweit unsere Gegenwart bestimmen. Ja, der Blick wird dadurch nicht nur wieder stärker auf das 19. Jahrhundert gelenkt, sondern er wird durch die aktuellen Entwicklungen noch zusätzlich geschärft. Gemeint sind damit weniger die wachsenden Erwartungen an die Geschichtswissenschaft, ihre Themen und Fragestellungen sowohl zu europäisieren als auch zu globalisieren, obwohl zweifellos von beiden Tendenzen wichtige Impulse auch zur Erforschung des 19. Jahrhunderts ausgegangen sind und ausgehen. Vielmehr ist für eine Überblicksdarstellung zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts die Überlegung wichtiger und anregender, dass sich teilweise im europäischen, vor allem aber im weltweiten Rahmen heute eine Reihe von Problemen und Konflikten als fundamental erweist, die in Deutschland in besonderer Schärfe im 19. Jahrhundert auf der Tagesordnung standen.
Fünf Problemkreise erscheinen in diesem Zusammenhang als zentral:
1) Besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Modernisierung beziehungsweise Liberalisierung? Oder sind beide Entwicklungen voneinander zu trennen und damit auch unabhängig voneinander zu realisieren? Sind – allgemeiner gesprochen – überhaupt die europäischen Wege der Modernisierung im 19. Jahrhundert alternativlos und zwangsläufig?
2) Wer soll das Subjekt, der Träger einer neuen, auf verstärkter Partizipation gründenden und letztlich demokratischen Ordnung sein? Wie wird dieses Subjekt definiert, welche zeitbedingten Einschränkungen – etwa im Hinblick auf das Geschlecht – prägen die Definition? Wie kann es geschaffen und gestärkt, wie unter sich verändernden Bedingungen erhalten werden? Welche Wege führen eher zum angestrebten Ziel der Demokratisierung: die frühzeitige Öffnung oder die vorübergehende Beschränkung von politischer Mitbestimmung, von Bildung und von sozialer und kultureller Teilhabe?
3) Was für ein staatliches Gehäuse erfordert eine moderne partizipative politische Ordnung? Wird ihr nur der Nationalstaat gerecht? Welche Alternativen sind im 19. Jahrhundert entworfen worden, welche Realisierungschancen hatten sie? Welche unterschiedlichen Ausformungen von Nationalismus und Nationalstaatlichkeit waren denkbar?
4) Wie können die Gebote der Religion und die religiösen Orientierungen einer großen Zahl von Menschen in Einklang gebracht werden mit den Erfordernissen der modernen Welt? Geht das nur über eine Säkularisierung der Gesellschaft oder auch über eine Modernisierung der Religion?
5) Schließlich der Charakter des Wandels selbst, sprich: die grundlegende Alternative von Revolution und Reform: Wie kann eine Gesellschaft mit dem historisch Gewordenen, mit den Traditionen, auch mit den fortwirkenden Kräften der alten Ordnung umgehen? Eröffnet nur der radikale Bruch die Chance zum durchgreifenden Wandel, oder sind dessen Kosten deutlich höher als die eines gleitenden Übergangs und einer reform- und kompromissorientierten Politik?
Sicherlich kann ein knapp gefasster Überblick über die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts keine fundierten Antworten auf diese Fragen geben. Sie können und sollen auch nicht die Darstellung strukturieren. Wohl aber werden sie stets mitgedacht sowie an einzelnen Stellen auch explizit angesprochen, so dass die historische Entwicklung als Argument bei den Erörterungen der Herausforderungen unserer Gegenwart herangezogen werden kann.
Insgesamt ergibt sich daraus für die Darstellung ein kritisch reflektierter und aktualisierter modernisierungshistorischer Ansatz. Denn trotz aller bedenkenswerten methodischen und inhaltlichen Kritik, die an dieser Deutungsperspektive geäußert worden ist, gibt es bislang keine begriffliche Alternative, die die einzelnen Teilbereiche des Wandels in ähnlicher Weise aufeinander bezieht und bündelt. Der Weg in die Moderne kann freilich keine lineare Fortschrittsgeschichte im Sinne des 19. Jahrhunderts mehr sein; zu deutlich sind die Schattenseiten und Ambivalenzen. Und die Definition der Moderne darf nicht normativ verengt und damit enthistorisiert werden, sondern muss in der Deutung stets die Wandelbarkeit des Fluchtpunkts mitbedenken und reflektieren.
Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts auf knappstem Raum zu schreiben, erfordert zwangsläufig eine radikale Verkürzung. Vieles von dem, was gerade auch die jüngere Historiographie intensiv beschäftigt und zu einem besonders facettenreichen, oft geradezu widersprüchlichen Bild des Jahrhunderts beigetragen hat – von der Kultur- und Wissensgeschichte über die Geschichte des Alltags und der Mentalitäten bis hin zur Religions- und auch Geschlechtergeschichte –, kann kaum oder gar nicht angesprochen werden.
Im Vordergrund steht vielmehr – gerade auch im Unterschied zu einigen anderen knappen Gesamtdeutungen des 19. Jahrhunderts, die systematisch angelegt sind – der Versuch, sowohl für das Jahrhundert insgesamt als auch für einzelne Phänomene wie die Industrialisierung, den Aufstieg des Bürgertums oder die Nationsbildung die historischen Abläufe und die unterschiedlichen Entwicklungsphasen besonders zu verdeutlichen. Mit anderen Worten: das Jahrhundert als ein Durchgangszeitalter, als eine Epoche des fundamentalen, konfliktreichen Wandels und der sich beschleunigenden Bewegung zu akzentuieren.
Schließlich besteht trotz mancher abweichender Vorschläge kein Anlass, von der seit langem in der Geschichtswissenschaft etablierten zeitlichen Eingrenzung des 19. Jahrhunderts auf die Zeitspanne 1789 bis 1914 abzugehen. Vielmehr bietet die große zeitliche und inhaltliche Spannweite der Periodisierung als «langes» 19. Jahrhundert erhebliche Vorteile: Die Kontraste zwischen Beginn und Ende werden schärfer, die Gefahr, die Epoche zu geschlossen und einheitlich zu charakterisieren, wird gebannt; nicht zuletzt wird die beschleunigte Modernisierung der Zeit um 1900 und deren kontroverse Deutung durch die Zeitgenossen und die Geschichtswissenschaft noch in die Darstellung einbezogen und für das Gesamtbild der Epoche berücksichtigt.
Wenn die Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den hervorstechenden Charakter ihrer eigenen Zeit zu bestimmen suchten, so kreisten ihre Überlegungen vor allem um den Begriff «Revolution». Indem sie ihr Zeitalter als revolutionär definierten, unterstrichen sie zunächst einmal das Neuartige und die Tiefe der Zäsur, die ihre Gegenwart und jüngere Vergangenheit von den älteren Epochen trennte – getrennt in erster Linie durch die Französische Revolution und, teils mehr, teils weniger betont, die vorangegangene Amerikanische Revolution.
Sie akzentuierten damit zugleich das Ausmaß des Wandels, der seither die Zeitgenossen in Bann hielt und der für sie vor allem die Erschütterung der zuvor als ewig gedachten monarchischen Ordnung und deren Herausforderung durch das Prinzip der Volkssouveränität bedeutete. Damit einher gingen das Gefühl ständig drohender neuer revolutionärer Umbrüche und die Sorge vor plötzlich wiederkehrenden Gewaltausbrüchen. Mehr als je zuvor schienen alle Dinge in Bewegung geraten zu sein, und sie veränderten sich in dramatisch beschleunigtem Tempo, ja, die Zeit selbst schien schneller zu vergehen – mit ungewissem Ausgang und einer offenen, noch zu gestaltenden Zukunft. Gerade auch die politischen Auseinandersetzungen schienen dadurch bestimmt zu sein, dass nun nicht mehr um die Wiederherstellung einer gerechten Ordnung, sondern um die Zukunft gerungen wurde, dass Politik von Ideen getragen wurde, die für sich in Anspruch nahmen, eine adäquate Antwort nicht allein auf konkrete aktuelle Probleme, sondern auf alle Fragen der Zukunft und damit letztlich für die gesamte Menschheit bereitzuhalten.
Alle diese Diagnosen und Deutungen der Epoche werden auch von den heutigen Historikern im Kern noch geteilt. Hinzu gekommen ist, obwohl bereits im 19. Jahrhundert «die unendliche Entfaltung der materiellen Kräfte» (Leopold v. Ranke) als weitere fundamentale Neuerung registriert und gewürdigt wurde, neben der politischen Revolution den revolutionären Charakter des ökonomischen Umbruchs zu betonen, wie dies insbesondere mit dem Begriff der «Doppelrevolution» geschieht. Gerade für den deutschen Fall verdeckt dieser Begriff aber das Eigentliche, dass es sich nämlich um ein Nacheinander handelt, dass für die revolutionären Herausforderungen und Veränderungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht primär ein ökonomischer Strukturwandel als Anstoß und Ursache identifizierbar ist. Das revolutionäre Zeitalter endete in den Erhebungen von 1848/49, bevor die industrielle Revolution in Mitteleuropa zum vollen Durchbruch kam.
Gerade aus der rückblickenden Perspektive des revolutionären Umbruchs zu Beginn des 19. Jahrhunderts erscheinen das Mittelalter und die Frühe Neuzeit als Einheit, als eine in sich geschlossene vormoderne Welt. Geprägt war sie durch das ständische, genauer: das geburtsständische Prinzip, nach dem die durch die Geburt gegebene Zugehörigkeit zu einem Stand in einer allumfassenden Weise das Leben allgemein wie auch den Lebensweg des Einzelnen bestimmte: seine Rechtsstellung, seinen Beruf, seinen sozialen Rang, selbst seine Kleidung und sein Auftreten, seine Feste und Vergnügungen.
Diese ständische Ordnung war in einem doppelten Sinne statisch, darauf ausgerichtet, die vorhandenen gesellschaftlichen Hierarchien zu zementieren und in einer Welt der relativen ökonomischen Stagnation die vorhandene Nahrung und die gegebenen Erwerbsmöglichkeiten angemessen zu verteilen.
Das ist gewiss ein idealtypisch zugespitztes Bild, dem die historische Realität kaum je entsprach. Zu groß waren sowohl regional als auch über die Epochen hinweg die Varianten und Abweichungen von dem postulierten Grundmuster. Zudem sollte nicht übersehen werden, dass die Regelungsmechanismen der ständischen Ordnung durchaus in der Lage waren, flexibel auf äußere Störungen wie Kriege, Epidemien, Missernten oder Klimaschwankungen und auf neue wirtschaftliche Gegebenheiten wie etwa neue Kulturpflanzen zu reagieren.
Dennoch besteht in der Geschichtswissenschaft weitgehend Einigkeit darin, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein sich beschleunigender und verdichtender Prozess dynamischen Wandels in Gang gekommen ist. Die ältere historische Forschung hat im Rahmen ihrer weitgehend auf das staatliche Handeln beschränkten Perspektive in den Reformen der absolutistischen Monarchien, vor allem in der späten Phase des aufgeklärten Absolutismus, insbesondere in Preußen unter Friedrich II. und Österreich unter Joseph II., den entscheidenden Anstoß sehen wollen.
Wir müssen jedoch heute sagen: Ein spezifischer Auslöser und eine eindeutige Ursache sind nicht auszumachen. Vielmehr griff eine Fülle von Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen so ineinander, dass sich insgesamt eine zunehmende Auflösung der ständischen Ordnung und der Aufbruch in eine neue Gesellschaft abzuzeichnen begannen. Wie sehr den Zeitgenossen um 1780 bewusst war, in einer Epoche starken Wandels und wachsender Dynamik zu leben, klang bezeichnenderweise häufig in den ersten Äußerungen an, mit denen auf deutscher Seite die Ereignisse der Französischen Revolution kommentiert wurden: «Uns alle reizt jetzt das große Schicksal von Frankreich», schrieb etwa der Sachsen-Weimarer Prinzenerzieher Karl Ludwig von Knebel an seine Herzogin Anna Amalia, und weiter: «In der Tat setzt dieses der Aufklärung und den Fortschritten dieses Jahrhunderts gleichsam die Krone auf.» Die Revolution erschien also als konsequente Fortführung einer längst in Gang gekommenen Entwicklung.
In Knebels Worten klingt zugleich an, dass die Zeitgenossen den zentralen dynamisierenden Faktor in der Aufklärung sahen. Mit ihrem Streben nach rationaler Welterkenntnis, mit ihrem Vorgehen, alles und jedes der vernunftgeleiteten Kritik zu unterziehen, schuf die Aufklärung die entscheidenden Voraussetzungen für Veränderung oder, wie es Immanuel Kant 1783 in seiner berühmten Definition formulierte, für den «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit». Daraus leitete sich im Grunde alles Weitere ab, das sich in einem langen Diskussionsprozess mehr und mehr klärte und zuspitzte: das Infragestellen der christlichen Glaubenswahrheiten, die fundamentalen Zweifel an der Idee einer gottgewollten gesellschaftlichen Ordnung, sprich, an der dominierenden Stellung des Adels und der Kirche, die Kritik am Gottesgnadentum des Monarchen und die Suche nach neuen Legitimationen politischer Herrschaft.
Nicht vergessen werden darf über diesen Grundsatzfragen, dass die Aufklärung immer auch ihre praktischen Seiten und Wirkungen hatte. Das Rationalitätspostulat beförderte den wissenschaftlichen, gerade auch naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess, es trieb dazu an, die ökonomische Praxis auf den Prüfstand zu stellen und experimentell weiterzuentwickeln: die landwirtschaftlichen Anbaumethoden, die technische Nutzung der Naturkräfte und Bodenschätze, die Formen der Betriebsführung etwa im Handel, aber auch die gesamtwirtschaftlichen Theorien beispielsweise eines Adam Smith.
Dabei spielten auch staatliche Reformen unter der Ägide des aufgeklärten Absolutismus eine nicht unerhebliche Rolle: die Anfänge der Bauernbefreiung auf den landesfürstlichen Domänen in Preußen, gewerbepolitische Maßnahmen wie die Begünstigung von Manufakturen, die Förderung der wirtschaftlichen Aktivitäten religiöser Minderheiten. Im Ergebnis zeigten sich durchaus Fortschritte in der agrarischen wie in der gewerblichen Produktion, die einer wachsenden Zahl von Menschen Arbeit und Nahrung boten und damit auch eine Basis für ein Wachstum der Bevölkerung.
Unterstützt und begleitet wurde diese Entwicklung von einem Wandel, der einerseits bereits anzeigte, dass die überkommenen ständischen Muster der gesellschaftlichen Stabilisierung nicht mehr griffen, und der andererseits die Auflösung der ständischen Ordnung selbst wiederum vorantrieb: von der beginnenden demographischen Revolution. Bereits zwischen 1750 und 1800 wuchs die Bevölkerung im Alten Reich um circa 25 Prozent auf etwa 30 Mio. Einwohner. Das sind freilich Schätzungen, da genaue Zahlen aufgrund der noch in den Anfängen steckenden Bevölkerungsstatistik nicht vorliegen. Zugleich verdecken diese Zahlen auch die gravierenden regionalen Unterschiede, die von starkem Wachstum im Norden und Osten des Reiches bis hin zu stagnierenden, eventuell sogar rückläufigen Zahlen im Südosten, in Altbayern und weiten Teilen Österreichs, reichten.
Das frühe Einsetzen des Bevölkerungswachstums deutet an, dass es kaum aus Verbesserungen bei der Hygiene und der medizinischen Versorgung resultieren konnte, zu denen es erst später kam. Zwar gingen die früher oft verheerenden Seuchen zurück, aber die Säuglingssterblichkeit war nach wie vor extrem hoch. Wichtiger war die höhere Lebenserwartung der älteren Kinder und der Erwachsenen aufgrund der besseren Nahrungsmittelversorgung, durch die sich wiederum auch die Zahl der gebärfähigen Frauen erhöhte; zudem verloren die überkommenen Normen, die späte Heiraten begünstigten und illegitime Geburten zu verhindern suchten, an Wirkungskraft.
Mit dem Bevölkerungswachstum nahm auch die geographische Mobilität zu, zum einen die grenzüberschreitenden Wanderungen im europäischen Raum, zum anderen die Zuwanderung in die Städte, und zwar weniger in die Reichsstädte und andere Handels- und Gewerbezentren als vielmehr in die Residenzstädte der größeren Territorien: So erhöhte sich die Einwohnerzahl Berlins und Wiens zwischen 1750 und 1800 jeweils um rund 50 Prozent auf 172.000 beziehungsweise 232.000 Einwohner.
Zu den Auflösungserscheinungen der ständischen Ordnung gehörten zugleich neue Formen der sozialen Mobilität. Einhergehend mit der Aufklärung bildete sich eine neue Schicht von Gebildeten: Pfarrer, Schriftsteller, Professoren, Lehrer, Ärzte, Advokaten und andere aufgeklärte, meist juristisch vorgebildete Staatsdiener, die nicht mehr in die ständischen Schemata passten und die ihre gesellschaftliche Stellung allein ihrer Bildung und damit eigener Leistung verdankten. Doch auch im Handelsbürgertum der mittleren und größeren Städte verbreiteten sich Bildung und aufgeklärtes Denken sowie ein flexibleres, wagemutigeres unternehmerisches Handeln, das über die bestehenden Strukturen des durch ständisches Recht abgegrenzten älteren Stadtbürgertums hinausdrängte.
Mit diesem neuen Bürgertum begannen sich schließlich, wiederum in enger Verknüpfung mit der Aufklärung, nachständische Formen der Kommunikation und Interaktion und neue gesellschaftliche Leitbilder zu etablieren. Konkret organisierten sich die Reformbestrebungen in einem neuen öffentlichen Diskurs der Zeitschriften und der Literatur sowie in verschiedenen Formen von Aufklärungsgesellschaften, zuerst in Akademien und wissenschaftlichen Sozietäten, dann in Freimaurerlogen und patriotisch-gemeinnützigen Vereinen, schließlich im letzten Drittel des Jahrhunderts auch in Lesegesellschaften und literarischen Salons. Und so, wie sich in diesen Assoziationen gebildete Menschen freiwillig und aufgrund individuellen Engagements zusammenfanden, so sollte auch die Gesellschaft der Zukunft nach den Prinzipien der Vernunft, der Bildung, der individuellen Leistung und der rechtlichen Gleichheit gestaltet werden, eben eine – wie die Bezeichnung dann lautete – nicht mehr ständische, sondern bürgerliche Gesellschaft sein.
Ob und wann die verschiedenen dynamischen Entwicklungsansätze sich so beschleunigt und verstärkt hätten, dass ein fundamentaler Umbruch eingetreten wäre, ist freilich ungewiss. Der Impuls, der letztlich staatliche Reformen erzwang, der die Zukunftsvorstellungen konkretisierte und radikalisierte und der die politischen Fronten klärte, kam jedenfalls von außen, ging von der Französischen Revolution aus.