Friedrich Vollhardt
GOTTHOLD EPHRAIM LESSING
Verlag C.H.Beck
Als Student in Wittenberg schrieb er Rettungen verkannter Autoren der Reformationszeit, als Gouvernementssekretär unter preußischen Offizieren sammelte er Material für das Schauspiel Minna von Barnhelm, als Dramaturg in Hamburg verfasste er eine Wirkungsästhetik des Theaters und als Bibliothekar in Wolfenbüttel löste er mit der Publikation der offenbarungskritischen Fragmente eines Ungenannten eine der größten Kontroversen des 18. Jahrhunderts aus: Leben und Werk Gotthold Ephraim Lessings (1729−1781) sind vielschichtiger und abgründiger, als das zur Routine gewordene Porträt des «Repräsentanten der Aufklärung» vermuten lässt.
Friedrich Vollhardt ist Professor für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
I. Musteraufklärer?
II.Herkunft, Studium, literarische Anfänge (1729–1755)
Komödien
Journalismus
Anakreontik und Lehrdichtung, Pope ein Metaphysiker! (1755)
Rettungen
III. Schriftsteller und Kritiker (1755–1759)
Theorie und Praxis der Tragödie
Miß Sara Sampson
Faust
Briefwechsel über das Trauerspiel
Fabeln und Fabelabhandlungen
Literaturbriefe
Krieg und Patriotismus: Philotas
IV. Breslau und letzte Berliner Jahre (1760–1766)
Studien zur Geschichte der christlichen Religion
Laokoon
V. Das Nationaltheater in Hamburg (1767–1770)
Minna von Barnhelm
Hamburgische Dramaturgie
VI. Bibliothekar in Wolfenbüttel (1770–1781)
Emilia Galotti
Fragmentenstreit
Die Erziehung des Menschengeschlechts
Nathan der Weise
Literaturverzeichnis
Abkürzungen
Weitere Werkausgaben
Bibliographie
Forschungsstellen
Überblicksdarstellungen, Dokumentationen, Sammelbände
Forschungsliteratur
Register
Wer die Person und das Werk Gotthold Ephraim Lessings (1729−1781) zu beschreiben versucht, sieht sich mit einem Bündel von Fragen konfrontiert. Zum einen lassen sich die Stationen seines Lebens nicht − wie in den älteren Biographien − als die vom Nachruhm ausgehende Geschichte eines Klassikers darstellen; zu viel ist dem Autor misslungen oder versagt geblieben. Es ist von den Zufällen im Leben Lessings zu sprechen, den plötzlichen und unangekündigten Ortswechseln − seinen Fluchten −, die für ihn ebenso charakteristisch sind wie seine Abneigung gegen höfische Etikette, formelles Verhalten und Autoritäten. Nicht verschwiegen werden dürfen seine Leidenschaft für das Glücksspiel, der Hang zur Depression und eine Angst vor festen Bindungen (der späten und immer wieder verzögerten Heirat mit Eva König ging eine unglückliche Beziehung mit einer anderen Witwe, Ernestine Reiske, voraus). Zum anderen scheint seinen Schriften ein integrierendes Moment zu fehlen. Die Vielfalt der literarischen Formen, Streitschriften und Polemiken, altertumswissenschaftlichen Untersuchungen und religionsphilosophischen Abhandlungen ist nur schwer zu überschauen. Dazu kommen die vielen nicht verwirklichten Pläne und Entwürfe sowie die zwar in Druck gegebenen, aber Fragment gebliebenen Arbeiten. Diese Vieldimensionalität hat die neuere Forschung mit den Begriffen «Pluralismus» und «Perspektivismus» zu fassen versucht, wodurch das Werk unerwartet moderne Züge annimmt.
Steht ein Gedenkjahr bevor, werden dagegen die Erfolgsgeschichten wiederholt und aufgefrischt, die sich ebenfalls mit dem Namen Lessings verbinden lassen. Da ist dann von dem neuen, in Deutschland bis dahin unbekannten Typus des freien Schriftstellers und Intellektuellen die Rede, der sprachlichen Eleganz seiner Schriften und der Unbestechlichkeit des Kritikers. Vor allem aber wird an den Kosmopolitismus Lessings erinnert, sein Eintreten für die Emanzipation der Juden und seine Freundschaft mit Moses Mendelssohn. Ganz in der Gegenwart angekommen ist man, wenn die von Nathan dem Weisen erzählte Ringparabel als noch immer gültige Anleitung zu einer Verständigung der Religionen beschworen wird. Es ist zur Routine geworden, Lessing als einen, vielleicht sogar als den Repräsentanten der Aufklärung in Deutschland zu porträtieren.
Doch stimmt diese Einschätzung? In den letzten Jahrzehnten ist wiederholt versucht worden, das aus den Festreden vertraute Lessing-Bild zu retuschieren, wobei das Misstrauen gegenüber der Aufklärung ein Leitmotiv bildete. Ein Theaterbesuch kann das leicht bestätigen. Dafür sind verschiedene Gründe anzuführen, etwa die immer noch geläufige Vorstellung von einer Dialektik der Aufklärung oder ein am Poststrukturalismus geschultes Denken, das in den Grundmustern der Modernisierung repressive Kontrollmechanismen aufzudecken versucht. Der Begriff der Aufklärung bleibt umstritten; zu erklären ist, ob er als Partei- und Programmname, Denkstil, Reformprozess oder Epoche verstanden wird. In einem zweiten Schritt wäre dann zu verdeutlichen, wie man Lessings poetische Entwürfe und sein historisch-kritisches Argumentationsverfahren jenen kulturellen Transformationen zuordnet, die sich im 18. Jahrhundert vollzogen haben − mit anhaltender Wirkung.
Sicher ist nur, dass der Autor nicht jenem Idealbild des Aufklärers entspricht, das der Historiker Robert Darnton für die französischen Zeitgenossen Lessings gezeichnet hat, die bei ihm als radikale Religionskritiker, stilbewusste Literaten und mondäne philosophes erscheinen, gut vernetzt im Zentrum der Macht. Für die deutschen Aufklärer lässt sich eine solche Kollektividentität nicht nachweisen, und die gelehrten protestantischen Theologen, zu denen Lessings Vater gehörte, waren andere Gegner als die katholische Kirche in Frankreich.
Diese Denkhorizonte können im Folgenden nur andeutungsweise beschrieben werden, wobei stets von den Situationen und Konstellationen auszugehen ist, in denen Lessing mit seinen Schriften auf bestimmte Problemlagen reagiert: Als Student in Wittenberg schreibt er Rettungen verkannter Autoren der Reformationszeit, als Gouvernementssekretär unter preußischen Offizieren sammelt er Material für das Schauspiel Minna von Barnhelm, als Dramaturg in Hamburg verfasst er eine Wirkungsästhetik des Theaters und als Bibliothekar in Wolfenbüttel löst er mit der Publikation der offenbarungskritischen Fragmente eines Ungenannten einen Sturm der Entrüstung und eine der größten Kontroversen des Jahrhunderts aus. Die Darstellung rekonstruiert die für Lessing wichtigen Kommunikationsräume, das Netz seiner Gesprächspartner und Freunde, aber auch die Strategien, mit denen er vor einem aufmerksamen Publikum seine Gegner seziert. Die Wirkung war unerhört und ist noch heute spürbar, vor allem in den theologischen Streitschriften der Wolfenbütteler Jahre. Der von Lessing entwickelte, auf Destruktion zielende Stil lässt sich nicht mit einer heutigen Floskel als kommunikative Auseinandersetzung verharmlosen oder unter den schon etwas abgestandenen Begriff der Streitkultur fassen. Es handelt sich um mehr als eine nur spielerische Infragestellung von Meinungen, denn es geht Lessing auch – ein gewisses Pathos lässt sich hier nicht vermeiden – um Wahrheit, die allerdings nicht leicht zu haben ist.
Vielleicht ist dieser Zug für sein Werk sogar charakteristischer als das Bekenntnis zum Streit. Das Konstruktive der Kritik zeigt sich von Beginn an im Medium der Rettungen, für die Lessing die methodischen Vorgaben bei Pierre Bayle findet. Und hier kommt zugleich die für seine großen Werke so charakteristische Skepsis ins Spiel, die seine Anschauungen «entschieden provisorisch» (Hugh B. Nisbet) erscheinen lässt. Hieraus folgt jedoch weder ein Relativismus noch eine Verantwortung abweisende Resignation, vielmehr fordert Lessing die Bewahrung tradierter und die Verteidigung pragmatischer Werte. Daher ist sein gesamtes Werk von den Fragen nach der Moral und der Selbstgewissheit des Individuums durchzogen. Nicht zu vergessen: das humane Ethos der Toleranz. Doch gerade bei der Thematisierung dieses Gebots sind Missverständnisse nicht selten. Wenn etwa der Bundespräsident bei seiner Ansprache zum 275. Geburtstag Lessings im Jahr 2004 betonte, er wolle über das Thema des Nathan sprechen, nämlich «über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen», dann liegt dem, vorsichtig formuliert, eine unterkomplexe Deutung des Stücks zugrunde. Lessings jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Christentum war eine intellektuelle, die auf die Wahrheitsfrage und nicht auf neue Formen der interkulturellen Verständigung oder einfache Handlungsmaximen zielte.
In diesem zur Einführung gedachten Buch kann nur eine beschränkte Auswahl der als profilbildend betrachteten Werke Lessings präsentiert werden. (Wer sich im Detail genauer informieren möchte, sei auf die im Jahr 2008 publizierte Biographie von Hugh B. Nisbet verwiesen, die seit 2013 auch in einer überarbeiteten englischen Fassung vorliegt.) Für die Charakterisierung des Autors war vor allem die Beobachtung von Bedeutung, dass Lessings Wissen um die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis − unser asylum ignorantiae − mehr mit dem Späthumanismus der Leibniz-Ära als mit dem Subjekt- und Freiheitsbegriff der Weimarer Klassik gemeinsam hat, auf den es gleichwohl vorausweist.
Lessing wird am 22. Januar 1729 in einem protestantischen Pfarrhaus geboren. Sein Vater, Johann Gottfried Lessing (1693–1770), ist Pastor Primarius an der Hauptkirche St. Marien in Kamenz, einer kleinen Stadt in der sächsischen Oberlausitz. Die frühesten Briefe Lessings zeigen, wie er in diesem Milieu aufwächst und mit welchem Elan er sich dieser Lebenswelt zu entziehen versucht, deren Einfluss für ihn gleichwohl bestimmend geblieben ist.
«Setze dich, nach Empfang dieses, sogleich auf die Post, und komme zu uns. Deine Mutter ist todkrank, und verlangt dich vor ihrem Ende noch zu sprechen.» (B XI/110) Mit dieser erfundenen Nachricht drängt Johann Gottfried seinen Sohn im Januar 1748 zur Heimreise nach Kamenz. Lessing hat zu diesem Zeitpunkt bereits einige Semester in Leipzig studiert und gerade die Uraufführung seiner Komödie Der junge Gelehrte erlebt. Den Eltern konnte nicht verborgen bleiben, dass der Student der Theologie sich in dieser Zeit mehr für das Theater, die Abfassung von Bühnentexten, literarische Zeitschriften und philosophische Vorlesungen als für sein eigentliches Studienfach interessierte. Die dringende Aufforderung zu einem Gespräch erscheint von daher verständlich, in ihrer Dramatik – hier wird zum Äußersten gegriffen – wirkt sie gleichwohl hilflos.
Nach der erzwungenen Aussprache gibt der junge Lessing sein Theologiestudium auf und kehrt im April 1748 als Student der Medizin nach Leipzig zurück. Seine Briefe an die Eltern unterschreibt er zwar weiterhin mit «Dero gehorsamster Sohn», doch diese Formel steht im Kontrast zu dem Selbstbewusstsein, mit dem er die bald danach getroffene Entscheidung für ein Leben als «Comoedienschreiber» rechtfertigt.
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es bei dem beschriebenen Konflikt im Hause Lessing zwei Themen gegeben hat, die das schriftstellerische Werk des Sohnes bestimmen sollten: die Frage nach der Wahrheit der christlichen Religion und die Leidenschaft für das Theater (Jürgen Stenzel). Erste Erfahrungen mit der Komödie und der modischen Poesie konnte Lessing bereits während seiner Schulzeit auf der Fürstenschule St. Afra in Meißen sammeln. Die Landesschule in Meißen gehörte mit denen in Grimma und Pforta zu den hohen Bildungseinrichtungen im Kurfürstentum Sachsen, wo vor allem der Nachwuchs an Theologen und Regierungsbeamten auf das Studium vorbereitet wurde. Nach der Reformation gegründet, war die Fürstenschule in einem ehemaligen Kloster untergebracht, das mehr als nur einen äußeren Rahmen für das Leben der Schüler abgab: Der Tagesverlauf, die Gebetszeiten und die Disziplin entsprachen mönchischen Idealen, selbst die Kleidung erinnerte an ein Leben im Orden, von dem es kaum Urlaub gab. Das Studienprogramm war ebenso streng geregelt, im Mittelpunkt stand neben der religiösen Unterweisung das Erlernen der alten Sprachen, alle Gespräche waren lateinisch zu führen.
Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts gab es allerdings Reformbestrebungen, die ihre Wirkung in Lessings Meißener Jahren zu entfalten begannen. Außer Frage steht, dass die Fürstenschule ein zum Studium befähigendes Wissen auf höchstem Niveau vermittelte und, wie von Lessing selbst erwähnt, die Zeit für eigene Lektüre und erste schriftstellerische Versuche im Bereich des Lustspiels − mit der antiken Typenkomödie als Vorbild −, der Anakreontik und des Lehrgedichts ließ. Ein deutlich aufklärerischer Akzent wurde mit der Vermittlung mathematischer und neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gesetzt. Allerdings konnte dieser Unterricht nur gegen Widerstand und auf den ausdrücklichen Befehl des Königs eingeführt werden. Der Mathematiker und Astronom Johann Albert Klimm, seit 1729 Vertreter des Faches in Meißen, musste lange um seine Anerkennung in dem von Theologen und Philologen beherrschten Kollegium kämpfen. Die begabteren Schüler schätzten dagegen den hochgebildeten Naturwissenschaftler, der es mit unkonventionellen Mitteln verstand, Interesse für seine Gegenstände zu wecken und das Wissen in einem kleinen Kreis zu vertiefen. Überdies hat er seine Schüler auf die deutsche Literatur der Zeit und aktuelle Journale hingewiesen. An diesen Gesprächen hat sich Lessing beteiligt und für seine Abgangsrede kaum zufällig ein in das neue Fach gehörendes Thema gewählt: De mathematica barbarorum. Unter Anleitung seines Lehrers hat er zudem einige Bücher des Euklid übersetzt und dabei vielleicht auch einen neueren Kommentar benutzt, den der Theologe und Mathematiker William Whiston (1667–1752), der Nachfolger Isaac Newtons in Cambridge, in den 1720er Jahren vorgelegt hat. Lessing hat sich in den folgenden Jahren immer wieder auf Whiston und bestimmte Fragen der New science bezogen. Seine spätere Entscheidung für die medizinische Fakultät wird erst vor diesem Hintergrund verständlich.
Will man das literarische und kulturelle Leben der sächsischen Metropole in der Mitte des 18. Jahrhunderts beschreiben, sind zwei Besonderheiten zu beachten. Zum einen stand die Handelsstadt mit ihrer reichen Kaufmannschaft nicht, wie zu vermuten wäre, im Gegensatz zur Residenz des Hofes, sondern war eng eingebunden in den Staatsverband des Kurfürstentums. Bei den Institutionen des bürgerlichen Gemeinwesens und der Verbreitung aufklärerischer Denkweisen in neuen Zeitschriften und auf dem Theater sollte daher nicht vorschnell auf antifeudale Einstellungen geschlossen werden. Zum anderen besaß Leipzig im Unterschied zu Frankfurt oder Hamburg eine alte Universität. Diese bestimmte jedoch weder das soziale noch das kulturelle Leben der Stadt und konnte auch den Studenten nicht das Bewusstsein vermitteln, eine eigene Korporation zu bilden. In der Jahrhundertmitte wird das Lehrangebot der protestantischen Hochschule zwar nicht mehr ausschließlich von den als konservativ geltenden Theologen bestimmt und kontrolliert, doch der Einfluss der Orthodoxie ist noch deutlich spürbar.
Neuerungen lassen sich zunächst außerhalb der Universität erkennen, etwa bei der seit 1740 in Leipzig ansässigen Societas Alethophilorum, einer der leibniz-wolffschen Philosophie verpflichteten Gesellschaft, zu deren Mitgliedern zahlreiche Adlige gehörten. Dieser Kreis richtete eine Eingabe an den Kurfürsten, um – gegen den Widerstand der Theologen – den aus Halle vertriebenen Philosophen Christian Wolff für die Universität zu gewinnen. Diese auch am Hof zu bemerkende Offenheit für die neue Philosophie hat mit der komplizierten politischen und konfessionellen Situation im Land zu tun. Nach der Konversion Augusts des Starken zum Katholizismus bestand bei der Regierung ein hohes Interesse an einer Verständigung mit den Funktionseliten über die Standes- und Konfessionsgrenzen hinweg.
Zu den Mitgliedern der Alethophilen zählte auch Johann Christoph Gottsched, der seit 1734 eine Professur für Logik und Metaphysik an der Leipziger Universität bekleidete. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Gottsched bereits einen Namen als Poetiker und Dichter (Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1730; Sterbender Cato, 1732), vor allem aber als Popularisator Wolffs gemacht (Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, 1733/34). Zudem war er als Herausgeber von Moralischen Wochenschriften und wissenschaftlichen Journalen, aber auch als Gründer und Organisator gelehrter Gesellschaften und anderer Sozietäten erfolgreich.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten in der Biographie Lessings, dass er keine Begegnung mit dem berühmten Universitätslehrer suchte. Stattdessen hörte er die Vorlesungen des Historikers, Philologen und Archäologen Johann Friedrich Christ (der ihm Anregungen zu den Rettungen gab) und besuchte die Veranstaltungen des Mathematikers, Philosophen und Epigrammatikers Abraham Gotthelf Kästner, in dessen Kolloquium «sich einige Studirende im Disputiren» übten; es handelte sich um das «einzige Collegium», das Lessing − wie sich Karl Gotthelf in seiner dem Bruder gewidmeten Biographie (1793) erinnert – längere Zeit besucht habe: «Die vom Disputiren nicht viel halten, werden vielleicht da den Grund zu Lessings gelehrter Streitsucht gelegt finden […].» Zu seinen Lehrern gehörte auch der Professor der Eloquenz Johann August Ernesti, der später zu einem führenden Theologen der Aufklärung werden sollte (Neue theologische Bibliothek, Leipzig 1760–69).
Nur an zwei Projekten Gottscheds hat Lessing intensiv Anteil genommen. Da sind zum einen die von dem Wissenschaftsorganisator initiierten Übersetzungen aus dem Französischen zu nennen, die einen Zugang zur westlichen Aufklärung eröffnen sollten. Von größter Bedeutung war hier das Dictionnaire historique et critique Pierre Bayles (1647–1706), mit dessen methodischen Vorgaben sich Lessing auseinandergesetzt hat. Gottsched hat das Werk mit Erläuterungen versehen und eine deutsche Fassung 1741/44 in Leipzig veröffentlicht – kurz vor der Immatrikulation des Fürstenschülers an der Universität. Zum anderen zeigte sich Lessing vom Theaterleben der Stadt angezogen, das noch ganz im Zeichen der Reformbemühungen Gottscheds stand. Allerdings war es bereits zu einem Bruch mit Friederike Karoline Neuber gekommen, deren Schauspieltruppe bis dahin die programmatischen Ideen des Aufklärers auf dem Theater umgesetzt hatte.
In dieser von Konkurrenz und gegenseitigen Schuldzuweisungen bestimmten Situation kommt es zur Aufführung des Jungen Gelehrten durch die Neuberin. Da das Theater von vielen Studenten besucht wurde – was zu wiederholten Protesten der Universitätsleitung führte –, hat Lessings Milieuschilderung ihr Publikum sofort gefunden. Aber auch die Leipziger Bürger dürften sich über die Karikatur eines überstudierten Gelehrten amüsiert haben. Die Mischung des Publikums war jedoch nicht allzu bunt, da es zwischen den beruflichen Gruppen und Ständen Trennungen gab, die den sozialen Bewegungsraum und damit die Möglichkeiten des Gesprächs oder des Kulturkonsums beschränkten.