Slyvia Pranga
Liebe auf Irrwegen
Das Buch:
Sina hat das Gefühl, in den vergangenen Jahren immer wieder falsch abgebogen zu sein. Jetzt ist sie in einer Sackgasse gefangen. Ihr Beruf nimmt viel zu viel Raum ein, raubt ihr die Zeit für eine neue Liebe. Dabei sehnt sie sich so sehr danach. Zum Glück gibt es Bastian, ihren besten Freund, der ihr noch aus jedem Dilemma geholfen hat. Und das soll ihm auch dieses Mal gelingen.
Die Autorin:
Geboren als Kind der 68er-Generation und aufgewachsen in einer Kleinstadt in Niedersachsen, zog es Sylvia Pranga früh in die weite Welt der Bücher, wo sie die Abenteuer erlebte, vor denen sie ihre Eltern warnten. Aus Begeisterung für Literatur studierte sie Anglistik und Germanistik und machte meinen Abschluss auch in Russisch, weil sie Sprachen seit jeher faszinierten. Nachdem sie aus beruflichen Gründen einige Jahre im Ruhrgebiet lebte, ist sie nun wieder in ihrer alten Heimat als Übersetzerin für technische Dokumentationen tätig. Zwar macht ihr die Arbeit mit Texten aller Art Spaß, aber die Kreativität kommt bei der Übersetzung von Maschinenanleitungen zu kurz. Umso mehr genießt sie es, in ihrer Freizeit ihren Ideen die Zügel schießen zu lassen. Diese Ritte führen sie unweigerlich auf die britischen Inseln oder in die USA. Ihre zahlreichen Reisen dorthin spiegeln sich in ihren Manuskripte wider, die in England oder Irland spielen, wo sie sich unter Romanfiguren mit trockenem Humor und schrägen Eigenheiten wiederfindet und gern auf einen Nachmittagstee verweilt.
Sylvia Pranga
Roman
Liebe auf Irrwegen
Sylvia Pranga
Copyright © 2016 at Bookshouse Ltd.,
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Satz: at Bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: CPI books
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-53-357-2 (Paperback)
978-9963-53-358-9 (E-Book .pdf)
978-9963-53-359-6 (E-Book .epub)
978-9963-53-360-2 (E-Book Kindle)
www.bookshouse.de
Urheberrechtlich geschütztes Material
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Für Lina und Maja
1. Kapitel
»Hilfst du mir?«
Sinas Stimme klang vom Weinen belegt. Bastian goss Kaffee in die beiden Tassen und sah zu Sina hinüber, die mit hängenden Schultern an seinem Küchentisch saß. Ihren Blick hatte sie auf ein Taschentuch gesenkt, an dem ihre Finger unruhig zupften. Die Wimpern waren nass von Tränen.
»Natürlich, dafür sind Freunde da. Sag mir, was ich tun kann.« Er brachte die Tassen zum Tisch und versuchte krampfhaft, zu verbergen, dass er sich den Zeh an der Schrankkante gestoßen hatte. Langsam sollten seine Gliedmaßen die Positionen der Möbel kennen. Nach über einem Jahr in der neuen Wohnung, wie er sie immer noch nannte, wurde es langsam Zeit.
»Du kannst mich bei der Suche unterstützen.«
Bastian verschüttete beim Absetzen seiner Tasse erstaunlich wenig Kaffee. Als er sich setzte, bemühte er sich, dass seine langen Beine nicht in Konflikt mit Sinas schönen Pendants gerieten. »Was für eine Suche?«
Sina goss etwas Milch in ihre Tasse und rührte so lange, dass Bastian um die Standhaftigkeit des Porzellans zu fürchten begann.
»Dr. Kolbin meint, dass es gut für mich wäre, mich mit Marc auszusprechen.«
Bastian unterdrückte ein Seufzen, trank einen Schluck Kaffee und verbrannte sich die Zunge. Mit fest aufeinandergepressten Lippen, die nicht den kleinsten Schmerzenslaut entkommen ließen, stellte er fest, dass in letzter Zeit viele von Sinas Sätzen mit den Worten »Dr. Kolbin meint« begannen. Seit sie zu diesem Therapeuten ging, schien sie keine eigene Meinung mehr zu haben. »Aha. Und wo wohnt Marc?«
Sina hörte endlich auf, die Tasse mit ihrem Rühren zu malträtieren, und starrte ihn erbost an. Oje, was hatte er jetzt wieder falsch gemacht? Es gab so viele Möglichkeiten, dass er nicht erst zu überlegen begann. Sie würde es ihm sowieso sagen.
»Bastian, hörst du mir überhaupt zu? Das weiß ich nicht, sonst müsste ich ihn ja nicht suchen.«
Warum hatte sie nicht sagen können, dass es bei der erwähnten Suche um Marc ging? Sie bat ihn um Hilfe bei einer ominösen Suche, schien komplett das Thema zu wechseln und redete von Marc, den er nicht leiden konnte, und erwartete von ihm, dass seine grauen Zellen die für sie offensichtliche Verbindung herstellten. Den Gefallen taten sie aber nicht einmal Sina. »Ah, okay, verstehe. Warum ist es denn so wichtig, dass du mit dem Typen sprichst?«
Sina zog die schmalen Brauen hoch. »Nenn ihn bitte nicht so. Das hat einen negativen Beigeschmack.«
Bastian blinzelte. Das Wort war für ihn eine neutrale Bezeichnung für einen Mann, von dem er nichts hielt. Aber wenn Sina meinte, dass die Verwendung nicht in Ordnung war, würde er sich danach richten. Schließlich war sie es, die Germanistik studiert hatte und fünf Fremdsprachen beherrschte. Er zuckte zusammen, als sie ihre Hand auf seine legte und ihn zerknirscht ansah.
»Tut mir leid, Bastian. Ich bin dermaßen gestresst und frustriert, dass ich dich ohne Grund anschnauze. Das war nicht fair.«
Natürlich verzieh Bastian ihr sofort, wie immer. Er genoss das Gefühl ihrer Hand auf seiner und hätte noch stundenlang so sitzen bleiben können, zweifellos mit einem verzückten Gesichtsausdruck, doch leider klingelte Sinas Handy, und sie zog ihre Finger zurück.
Sie stand auf und ging in den Flur, um dort in Ruhe das Gespräch zu führen. Er hörte, dass es Judith war, Sinas Mädchen für alles im Übersetzungsbüro.
Bastian seufzte. Er wusste, was das bedeutete. In spätestens einer Minute würde Sina in die Küche stürmen und mitteilen, dass sie sofort wegmüsse, weil man sie im Büro brauche. Dabei hatten sie sich fest vorgenommen, heute gemeinsam essen und danach ins Kino zu gehen. Es war schon viel zu lange her, seit sie etwas unternommen hatten. Ständig kam ihnen ihre Arbeit dazwischen. Er wollte sich nicht davon freisprechen, dass auch er immer sofort zur Stelle war, wenn er einen Anruf aus dem Zoo bekam. Sie hatten eben Berufe, die noch Berufung für sie waren.
Sina eilte in die Küche zurück. Ihre eben noch tränenblassen Augen leuchteten wieder. Sie wurde gebraucht, und das genoss sie. Er kannte dieses Gefühl.
»Ich muss los. Ein Kunde hat uns mit einer langen Übersetzung beauftragt, und ich bin die Einzige, die Japanisch spricht. Da muss ich ran.« Sie biss sich auf die Lippen und senkte kurz den Kopf. Als sie wieder aufsah, konnte Bastian das schlechte Gewissen aus ihren Augen springen sehen. »Es tut mir leid, aber wir müssen unsere Verabredung schon wieder verschieben. Ich weiß, ich bin unmöglich.«
Bastian sprang auf und stieß sich an der Tischkante. Dieses Mal zog er eine Grimasse, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte und Sina antworten konnte. »Das verstehe ich. Mir ist es schließlich mehr als ein Mal ähnlich ergangen.«
Sina lachte, wobei ihre grünen Augen herrlich leuchteten. »Ja, aber es ist wesentlich dramatischer, wenn eine Giraffe Zwillinge bekommt oder ein ganzer Trupp Pinguine frei im Zoo herumläuft. Das klingt mehr nach einem echten Notfall als eine langweilige Übersetzung.«
»Beides ist wichtig, weil es unsere Arbeit ist. Mach dich auf den Weg, bevor Judith einen Nervenzusammenbruch bekommt.«
Sie lächelte, trat auf ihn zu und umarmte ihn. Der Duft ihres Haars machte süchtiger als Kokain. Sie flüsterte in sein Ohr, wodurch sich seine Nackenhaare mit einem Prickeln aufrichteten. »Ich mache das wieder gut. Wir finden einen neuen Termin, und dann zahle ich Essen und Kino.«
Bastian schaffte es gerade noch, »Okay« zu murmeln, dann war Sina schon aus der Wohnungstür, und er hörte ihre eiligen Schritte auf der Treppe.
Seufzend ließ er sich auf einen Stuhl sinken und nahm einen Schluck von seinem mittlerweile fast kalten Kaffee. In dem Moment klingelte sein Handy. Er zuckte zusammen und vergoss einen Teil des Tasseninhalts auf sein Hemd. Fluchend stellte er die Tasse ab und wischte über den Fleck, was es noch schlimmer machte. Mit einem resignierten Seufzen gab er auf und nahm den Anruf an.
»Gut, dass du da bist, Bastian. Hier ist die Hölle los, du musst mir helfen.«
Marcels aufgeregte Stimme ließ sein Trommelfell vibrieren. Bastian seufzte laut. Für Marcel war alles eine Katastrophe. Er rief ihn an, wenn ein Ast ins Löwengehege gefallen war, ein Wolf angeblich komisch knurrte oder sich ein Elefant seiner Meinung nach an einer Erdnuss verschluckt hatte. Mit einer ähnlichen Tragödie rechnete Bastian jetzt. »Du weißt, dass ich dieses Wochenende keine Bereitschaft habe. Was ist mit Verena?«
Einen Moment war es still in der Leitung, und Bastian sah bildlich vor sich, wie Marcel verschreckt sein Jungengesicht verzog. Er fürchtete sich regelrecht vor der Direktorin.
»Äh – ich habe sie nicht erreicht.«
Bastian schnaubte abfällig. »Natürlich nicht. Also gut, was ist passiert?«
Marcels erleichtertes Seufzen war deutlich zu hören. »Es ist wirklich schlimm, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ein Kind hat Roberta mit Bonbons beworfen.«
Bastian fuhr zusammen, sein Herzschlag beschleunigte sich. »Was? Hat sie sie gefressen? Dann musst du sofort den Tierarzt rufen.«
»Nein, nein, keine Sorge. Sie hat das Zeug zurückgeworfen – zusammen mit einer Handvoll Kacke. Der dämliche Junge hatte sie wohl eine ganze Zeit provoziert, indem er Zweige und Steinchen in den Käfig geworfen hat. Schließlich wurde es Roberta wohl zu viel. Da hat sie nicht mitbekommen, mit was er sie da beworfen hatte. Sie wollte sich nur noch rächen. Sie ist noch ganz außer sich, aber das ist nichts gegen die Wut der Mutter des Jungen. Sie tobt seit zehn Minuten bei Jan im Büro herum und will die Polizei rufen. Was sollen wir machen?«
Bastian bemühte sich krampfhaft, ein Lachen zu unterdrücken, als sein inneres Auge ihm einen fiesen, kleinen Jungen zeigte, dem gerade das Lachen vergangen war, weil ihm Schimpansenkacke in den Haaren klebte. Die Situation war tatsächlich ernst. Sie konnten sich keine Anzeige erlauben, nicht gerade jetzt, da die Ferienzeit mit ihrem Gästeansturm vor der Tür stand. »Ich bin in zehn Minuten da. Verhindert bis dahin irgendwie, dass die Frau die Polizei ruft.«
Dank grüner Welle brauchte Bastian sogar nur acht Minuten. Beim Aussteigen stellte er fest, dass er vergessen hatte, sein kaffeebesudeltes Hemd zu wechseln. Also zog er den Reißverschluss seiner braunen Lederjacke bis zum Kinn. Es war besser, zu schwitzen, als bei der erbosten Mutter den Eindruck eines schlampigen, unprofessionellen Angestellten zu erwecken.
Als er Jans Büro betrat, hallte eine schrille Stimme von den Wänden des Raumes wider. Bastian verzog das Gesicht, hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle. »Guten Tag, ich bin Bastian Peters, der Kurator des Zoos. Wie ich hörte, gibt es hier ein Problem?«, sprach er die wütende Frau mit einem freundlichen Lächeln und beruhigender Stimme an.
Die Frau wirbelte zu ihm herum. Ihr Gesicht war so verzerrt, dass es Bastian an einen Zombie erinnerte. Die Augen erweckten bei ihm das Gefühl, als würde er in die Läufe von zwei geladenen Pistolen sehen. Innerlich schrumpfte er auf Embryogröße zusammen, äußerlich hatte er sich zum Glück unter Kontrolle.
»O ja, Sie haben ein Problem, mein Lieber. In Ihrem Zoo gibt es wilde, gefährliche Tiere.«
Bastian konnte gerade noch ein ironisches Lächeln unterdrücken. »Das kann ich nicht bestreiten, doch ich darf Ihnen versichern, dass das für einen Zoo normal ist.«
Die Furie rauschte einige Schritte auf ihn zu und starrte zornig zu ihm herauf. »Was erlauben Sie sich? Mein Sohn ist gerade von einem Ihrer Tiere mit vielleicht giftigem Unrat beworfen worden.«
Es wurde immer lustiger, und er durfte nicht lachen. Das war unfair. Er biss sich auf die Lippe, um seine Erheiterung nicht deutlich werden zu lassen. »Die Exkremente von Schimpansen sind absolut ungiftig, das kann ich Ihnen garantieren.«
Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und durchbohrte ihn mit ihren Blicken. So etwas nannte man wohl eine Löwenmutter, obwohl ihm eine echte Löwin jetzt lieber gewesen wäre. »Ist mir egal! Sehen Sie sich meinen Sohn an, das ist widerlich!«
Bastian warf einen Blick auf den etwa zehnjährigen Bengel. Eine Schönheit war das dürre Kerlchen mit seiner Knollennase sicherlich nicht, aber ihn als widerlich zu bezeichnen, fand er etwas übertrieben. Bastian spürte, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln kräuseln wollten, und riss sich gerade noch rechtzeitig zusammen. »Er ist schmutzig geworden und riecht nicht gut, das will ich nicht bestreiten. Könnten Sie mir erklären, wie es dazu gekommen ist? Tatsächlich ist das nämlich der erste Zwischenfall dieser Art.«
Zu Bastians Überraschung wurde die Frau plötzlich still und wandte sich ab. »Ich habe es nicht gesehen, aber Kevin hat es mir erzählt.«
Die Anspannung fiel von Bastian ab. Er würde die Situation unter Kontrolle bringen. »Also, Kevin, wie ist das passiert?«, wandte er sich an den knollennasigen Jungen.
Der Bengel zog die Nase hoch und warf sich in Checkerpose, bevor er antwortete. Dass ihm die sommersprossige Nase lief, machte den von ihm gewünschten Effekt zunichte. »Der blöde Affe hat mich mit Scheiße beworfen.«
»Kevin, das Wort sagt man nicht!« Die schrille Stimme der Mutter zerschnitt ihren Dialog.
Der Bengel zuckte mit den Schultern und zog die Nase hoch. Bastian musste bei diesem Geräusch trocken schlucken.
»Okay, er hat mit Aa auf mich geworfen.«
Bastian hatte ernsthafte Probleme, ein Lachen zu unterdrücken. Er zählte mit angehaltenem Atem bis fünf. »Was ist passiert, bevor Roberta geworfen hat?«
Der Junge wich Bastians Blick aus und spielte am Reißverschluss seiner Jacke. Da Bastian oft genug Gelegenheit hatte, das Verhalten von Kindern zu beobachten, ging er davon aus, nun eine Lüge aufgetischt zu bekommen.
»Ich stand vor ihrem Käfig und habe sie angesehen. Sie ist echt hässlich.«
Bastians Erheiterung verschwand schlagartig. Seiner Meinung nach gab es keine hässlichen Tiere, allerdings zu viele überhebliche Menschen. »Du hast sie also nur angeguckt?«
»Was wollen Sie meinem Sohn da unterstellen?«
Das Kreischen der Frau begann, bei Bastian Kopfschmerzen auszulösen.
Der Junge ignorierte seine Mutter. »Na ja, ich fand den blöden Affen echt langweilig. Der saß nur rum. Also habe ich ein paar Steinchen nach ihm geworfen. Nur kleine, und getroffen habe ich auch nicht.«
In Bastian regte sich der Wunsch, mit Steinen nach der Knollennase zu werfen – und jeder Wurf würde ein Treffer sein. Er musste sich mit aller Gewalt zurückhalten, um den Bengel nicht anzuschreien. »Dir ist schon klar, dass das verboten ist, weil man die Tiere damit verletzen könnte? Ich habe außerdem gehört, dass du auch Bonbons in den Käfig geworfen hast.«
Kevin nickte unbekümmert. »Meine Mutter hat mir diese billigen Dinger gekauft, die ich nicht mag. Also wollte ich sie den Affen geben.«
Bastian schloss die Augen und atmete tief durch, um die Ruhe zu behalten. »Ich gehe davon aus, dass du schon lesen kannst. Es sind überall Schilder angebracht, auf denen steht, dass es verboten ist, die Tiere zu füttern. Sie könnten an falschem Futter sterben.«
»Warum hast du das gemacht, Kevin? Kann ich dich nicht eine Minute aus den Augen lassen? Komm, wir gehen. Weißt du eigentlich, wie peinlich mir das jetzt ist?«, mischte sich die Mutter, die bei dem Wortwechsel erstaunlich ruhig gewesen war, wieder ein. Dieses Mal war immerhin nicht Bastian ihr Angriffsziel.
Die Frau schnappte die kleine Knollennase am Arm und zerrte sie aus dem Büro. Bastian atmete auf und sah Jan und Marcel an, die verschüchtert in einer Ecke standen. Er riss den Reißverschluss seiner Jacke herunter, sein Hemd war nass von Schweiß.
»Hättet ihr das nicht allein regeln können?«
Marcel senkte den Kopf und trat von einem Bein aufs andere, während Jan es mit einer Antwort versuchte. Das war mühselig für ihn und unangenehm für Bastian, weil Jans Stottern in Stresssituationen überhandnahm.
»Ich habe es versucht, aber sie ließ mich nicht ausreden.«
Das glaubte Bastian ihm sofort. Diese Furie hatte mit Sicherheit keine Geduld, sich Jans unter Qualen hervorgepresste Sätze anzuhören.
»Okay, schon gut. Das Problem hat sich ja nun erledigt.«
Marcel wagte wieder Blickkontakt mit ihm. Seine Augen wirkten noch runder als sonst. Wie üblich hatte Bastian den Eindruck, einen Teenager vor sich zu haben, obwohl er wusste, dass Marcel gerade seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
»Äh, Bastian, wo du schon mal hier bist … wir haben noch ein paar andere Probleme.«
Bastian verdrehte die Augen und ächzte. Es war sein freies Wochenende, er hatte nicht einmal Bereitschaft. Aber dann fiel ihm ein, dass Sina keine Zeit hatte und nur eine leere Wohnung auf ihn wartete. »Okay, worum geht es?«
2. Kapitel
Das Klingeln ihres Handys riss Sina aus ihrem Gedankengang. Verärgert runzelte sie die Stirn. Gerade hatte sie eine passende Übersetzung für den schwierigen Satz gefunden, jetzt war sie wieder weg.
Beim Blick auf das Display des Telefons wurde sie noch wütender. Sie hatte heute schon zwei Mal mit Mutter telefoniert. Was war jetzt wieder? Am liebsten hätte sie den Anruf ignoriert, aber dann würde Mutter alle fünf Minuten erneut anrufen. Sina stellte die Verbindung her. »Hallo Mama.«
»Du bist im Büro, nicht wahr?«
Die Altstimme ihrer Mutter, die im Kirchenchor so beliebt war, klang vorwurfsvoll. Ein Ton, den Sina seit vielen Jahren kannte.
Sofort packte Sina das schlechte Gewissen. Sie hatte es sich bisher nicht abgewöhnen können, auf Kritik von ihrer Mutter wie ein kleines Mädchen zu reagieren. »Äh, wie kommst du darauf?«
Sie hörte ein ungeduldiges Schnauben.
»Ich habe gerade Bastian angerufen, weil ich wusste, dass ihr heute zusammen weggehen wolltet. Er versuchte, mir weiszumachen, dass du im Bad bist und daher nicht ans Telefon kommen könntest. Dabei stand er neben den Schimpansen, ich konnte das Gekreische deutlich hören. Was ist nur mit dir los?«
Sina seufzte. Ausflüchte hatten nun keinen Sinn mehr. Dann fiel ihr etwas ein. »Bastian ist im Zoo? Es ist doch sein freies Wochenende.«
»Lenk bloß nicht ab, Sina. Es geht hier um dich. Du arbeitest schon wieder, obwohl du dir endlich längere Pausen gönnen solltest. Denk daran, was die Ärzte sagen, besonders Dr. Kolbin. Ich will nicht, dass du ein Burn-out bekommst. Mir war schon immer klar, dass diese Selbstständigkeit eine blöde Idee ist. Du hast überhaupt keine Freizeit mehr und wirst krank.«
Sina ließ den Wortschwall, den sie bereits Dutzende Male gehört hatte, ergeben über sich ergehen. Wenn sie Mutter unterbrach, würde diese Teile ihrer Rede wiederholen, wodurch alles noch länger dauerte. Mutter machte eine erwartungsvolle Pause, und Sina wusste, dass das bedeutete, dass sie ihr zustimmen sollte. »Du hast recht, Mama, aber ich verdiene mit dem Übersetzungsbüro mein Geld. Außer mir spricht niemand Japanisch, also muss ich diese Übersetzung machen. Sie bringt viel Geld. Danach kann ich mir bestimmt ein paar Tage freinehmen.«
Das sarkastische Lachen ihrer Mutter gefiel Sina nicht. Warum konnte Mutter sie nie ernst nehmen?
»Kind, das hast du schon so oft gesagt. Und dann ruft jedes Mal irgendein Kunde an und will sofort eine Übersetzung, die nur du machen kannst. Jedes Mal. Wozu hast du eigentlich Nicole und Bea?«
Sina seufzte so leise, dass Mutter es nicht hören konnte. »Mama, die beiden sprechen nicht Japanisch. Sonst hätten sie mir die Übersetzung bestimmt abgenommen. Außerdem ist Bea auch hier und übersetzt einen dänischen Text.«
Die Überheblichkeit in der Stimme ihrer Mutter ärgerte Sina. Warum musste sie ihr immer den Eindruck vermitteln, dass sie ein unfertiger Mensch war?
»Na ja, die ist genau wie du Single, während Nicole und Judith ihr Wochenende mit ihren Ehemännern genießen. Was sagt dir das?«
Sina ächzte so gereizt, dass Mutter es hören musste. »Mama, was hat denn meine Arbeit damit zu tun, dass ich momentan Single bin? Als ich mit Lukas zusammen war, hatte ich das Übersetzungsbüro schon.«
Offenbar hatte sie ihrer Mutter Munition geliefert, so triumphierend, wie ihre Stimme klang. »Genau deswegen hat er sich von dir getrennt. Du hast ständig gearbeitet und dich nicht um ihn gekümmert.«
So war es nicht gewesen, aber Sina hatte weder die Geduld noch die Zeit, Mutter, die das genau wusste, alles noch einmal zu erzählen. »Mama, ich muss Schluss machen, sonst sitze ich an der Übersetzung auch noch den ganzen Sonntag. Ich rufe dich wieder an.«
»Meinetwegen. Aber nicht mehr dieses Wochenende. Dein Vater und ich fahren gleich weg. Wir machen einen Segeltörn mit den Eggerts.«
Erleichterung durchflutete Sina, wofür sie sich sofort schämte. Sie wusste, dass Mutter sich tatsächlich nur Sorgen um sie machte und wollte, dass sie glücklich war. Aber manchmal konnte sie mit ihrem Gluckenverhalten unglaublich nerven.
Sie legte das Handy beiseite und starrte auf den japanischen Text auf ihrem Monitor. Bastian war also schon wieder im Zoo. Ihnen beiden war wohl einfach keine Freizeit vergönnt. Mittlerweile fragte sich Sina, ob sie mit freier Zeit überhaupt noch etwas anzufangen wüsste – oder mit einem neuen Partner.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus diesen deprimierenden Gedanken.
Bea streckte den Kopf herein und grinste sie breit an. »Ich bin fertig, was für ein Segen. Es ging in meinem Text um Pharmazie, ich wäre fast verrückt geworden.« Bea schlenderte herein und ließ sich Sina gegenüber in einen Stuhl fallen. Sie pustete eine hellblonde Strähne aus ihrer Stirn und strahlte Sina an. »Mein Wochenende kann beginnen. Was ist mit dir?«
Ihre fröhliche Stimme ließ Sinas Mundwinkel nach oben wandern. Sie lehnte sich zurück und rieb sich die Nasenwurzel. Irgendwo lauerten Kopfschmerzen darauf, über sie herzufallen. »Wenn ich mich ranhalte, bin ich morgen Abend fertig.«
Das Lächeln verschwand aus Beas Gesicht. »Oh, nein. Schon wieder ein Wochenende hinüber. So kann es echt nicht weitergehen.«
Obwohl Sina wusste, dass Bea das nicht vorwurfsvoll meinte, wurde sie ärgerlich. Erst Mutter, jetzt ihre beste Freundin. Konnten die beiden nicht verstehen, dass es hier um ihre berufliche Zukunft ging, und dass Freizeit daher momentan nicht die höchste Priorität hatte? Wenn das Übersetzungsbüro erst einmal durchgängig schwarze Zahlen schrieb, konnte sie immer noch jedes Wochenende feiern gehen. »Ich finde es auch nicht toll, Bea. Aber wir brauchen das Geld, inklusive der Prämie, die ich erhalte, wenn ich die Übersetzung bis spätestens Sonntagmittag liefere.«
Beas hellblaue Augen weiteten sich bei Sinas gereiztem Ton. »Das weiß ich doch. Es sollte kein Vorwurf sein. Ich finde es nur so unfair, dass es immer dich trifft. Nicole deckt mit Mandarin und Finnisch auch zwei ungewöhnliche Sprachen ab, doch ich kann mich nicht erinnern, dass sie schon mal ein Wochenende im Büro verbringen musste.«
Sina entspannte sich und lächelte. Es war ungerecht gewesen, Bea anzumaulen und sie konnte froh sein, dass ihre Freundin so verständnisvoll war. »Das ist Zufall. Davon gehe ich jedenfalls aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Verschwörung unserer Kunden dahintersteckt.«
Bea schüttelte lachend den Kopf, wobei ihre zum Pagenkopf geschnittenen Haare flogen. »Wohl nicht, Japaner und Chinesen werden bestimmt nicht gemeinsame Sache machen. Musstest du Pläne fürs Wochenende aufgeben?«
»Ich wollte mit Bastian ins Kino.«
»Oh, wie schade. Aber für ihn ist es vielleicht besser so.«
Sina richtete sich kerzengerade auf, alles in ihr verkrampfte sich. Was war das schon wieder für ein Vorwurf? »Was meinst du damit? Schade ich meinem besten Freund irgendwie?«
Bea wurde noch blasser, als sie es ohnehin schon war. In ihren Augen stand der Schreck, weil sie offenbar etwas gesagt hatte, was sie lieber für sich behalten hätte. »Nicht absichtlich, nein.«
Langsam wurde Sina ernsthaft ärgerlich. Hatte sich heute alles und jeder gegen sie verschworen? Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte. »Wie soll ich das verstehen?«
Bea senkte die Augen und rutschte unruhig herum. »Bastians Problem kann dir ja nicht entgangen sein.«
Sina spürte, wie sich ihr Pulsschlag erhöhte. Das konnte sie nicht gebrauchen, für die Übersetzung benötigte sie innere Ruhe und Konzentration, nicht noch mehr Grübeln. Ihr Ton wurde daher ungeduldig und lauter. »Offensichtlich doch, denn ich weiß nichts von einem Problem. Mit mir hat er nie darüber gesprochen. Mit dir etwa?«
Mit gesenktem Blick schüttelte Bea den Kopf. Als sie ihn hob, sah Sina, dass sich inzwischen rote Flecken auf ihren blassen Wangen gebildet hatten.
»Er hat nichts gesagt, aber ich habe es sofort erkannt.«
Sina strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Was willst du erkannt haben?«
»Bastian ist total verliebt in dich.«
Einen Moment war Sina so überrascht, dass sie zu keiner anderen Reaktion fähig war. Dann begann sie, schallend zu lachen. Diese Vorstellung war so lächerlich, dass sie nicht anders konnte. Sie sah, dass Bea gekränkt war, konnte aber mehrere Sekunden nicht zu lachen aufhören. »Tut mir leid, Bea. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen, aber wenn du Bastian besser kennen würdest, wüsstest du, wie absurd deine Schlussfolgerung ist.«
Bea verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte sie an. »Warum? Ist Bastian schwul?«
»Wir kennen uns seit so vielen Jahren, dass wir praktisch wie Bruder und Schwester sind. Mit dem Unterschied, dass ich mich mit Bastian wesentlich besser verstehe als mit meinem Bruder. Da war nie mehr als Freundschaft zwischen uns. Bastian hat nie mit mir geflirtet oder mir gar seine Liebe gestanden. Du kannst also beruhigt sein, ich schade ihm mit meiner Gegenwart nicht.«
Bea lächelte zurückhaltend. »Mag sein, doch überzeugt bin ich nicht. Du bekommst nicht mit, wie er dich ansieht. Wie ein ausgehungertes Kind vor dem Süßigkeitenladen, das weiß, dass seine Eltern ihm nichts kaufen werden. Wahrscheinlich hat er dich nie darauf angesprochen, weil er meint, keine Chance bei dir zu haben.«
Sina schüttelte energisch den Kopf. Sie kannte Bastian. Was Bea da vermutete, war gänzlich unmöglich. »Er hat nie etwas gesagt, weil er nicht in mich verliebt ist, Bea. Während unserer Freundschaft hat Bastian zwei Beziehungen und, wie ich vermute, eine kleine Affäre gehabt. Warum hätte er das tun sollen, wenn er so verliebt in mich ist?«
Bea zuckte die Schultern. »Weil er meint, dass du ihn sowieso hättest abblitzen lassen und er nicht ständig allein sein wollte? Doch ich will das nicht vertiefen und dich damit ärgern und von der Arbeit abhalten.«
Bea stand auf und strich ihren Rock glatt. Sie schien sich wieder entspannt zu haben und lächelte Sina an. »Wie sieht’s aus? Rufst du mich an, wenn du die Übersetzung fertig hast? Wir könnten am Sonntag in den Zoo gehen.«
Sina nickte lächelnd. Sie war froh, dass Bea über ihre wahrscheinlich überheblich wirkende Reaktion nicht verärgert war. Außerdem mussten sie ihre Saisonkarten für den Zoo nutzen. »Gern. Wir richten es so ein, dass du bei der Fütterung deiner geliebten Pinguine zusehen kannst.«
Bea lachte und schnappte sich ihre Tasche. »Perfekt. Bis dann.«
Die Tür schloss sich hinter Bea, und Sina starrte nachdenklich auf das weiß lackierte Holz. Sie fragte sich, wie Bea auf einen solchen Gedanken kommen konnte. Sie war eine kluge Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, keinesfalls ein romantisch verklärtes Seelchen, das überall die große Liebe zu entdecken meinte.
Sina nagte an ihrer Unterlippe. Bastian war seit über zwei Jahren Single und hatte ihres Wissens auch keine Affäre. Vielleicht spielten seine Hormone verrückt, und er hatte ihr daher den einen oder anderen begehrlichen Blick zugeworfen. Das hatte Bea missverstanden. Ja, so musste es wohl sein.
Sina wandte sich wieder dem japanischen Text zu und begann zu tippen. Einige Minuten später hörte sie mit einem Fluch auf. Was sie geschrieben hatte, war kompletter Unsinn, weil sie zwei Wörter falsch interpretiert hatte. Verdammt. Wo war ihre Konzentration, die sie sonst nie im Stich ließ?
Schonungslose Ehrlichkeit mit sich selbst ergab, dass sie während der Übersetzung des letzten Absatzes ständig an Bastian gedacht hatte. Verflucht, daran war Beas Gerede über seine angebliche Verliebtheit schuld. Das bekam sie nicht mehr aus ihrem Kopf, obwohl es absurd war.
Sina überlegte kurz, dann griff sie zu ihrem Handy und wählte Bastians Nummer. Er meldete sich erst nach dem fünften Klingeln, und Sina konnte ihn wegen der lauten Hintergrundgeräusche kaum verstehen.
»Hallo Bastian. Was ist denn bei dir los? Ich kann dich nur schlecht hören.«
»Sina, hi. Moment mal. Marcel, lass das, sonst ist er gleich weg. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. So, da bin ich wieder.«
Sina lachte. Es war offensichtlich, dass Bastian noch im Zoo war und es wieder einmal Probleme gab. Für Sina waren diese Komplikationen meist lustig, für Bastian, der eine Lösung finden musste, eher weniger. »Was ist passiert? Sind die Elefanten auf dem Weg zur Reeperbahn?«
»So schlimm ist es zum Glück nicht. Trotzdem reicht es mir für heute. Rocky sitzt in den Kastanien.«
Sina konnte nicht anders, sie prustete los. Mit Rocky hatte sie früh Bekanntschaft gemacht. Er war ein Hyazinth-Ara, der größte Papagei, den es gab. Seine Federn waren leuchtend blau, sein Schnabel einschüchternd und seine Persönlichkeit die eines Rebellen. Er war das Maskottchen des Zoos, hatte daher viele Freiheiten und nutzte diese immer wieder zur Flucht. Dann saß er in den Kastanien des Zoos, sah auf die verzweifelten Tierpfleger herunter und kreischte hämisch. Trotzdem wollte Bastian nicht, dass ihm die Flügel gestutzt wurden.
»Rocky, sieh mal, lecker Erdnuss … komm, komm her«, hörte Sina im Hintergrund Marcels Stimme.
Der Vogel kreischte ohrenbetäubend und schien Marcel zu verspotten. Sina kicherte. »Das klingt so, als würde es länger dauern.«
Sie hörte Bastian seufzen. »Wir müssen ihn da runterkriegen, bevor Queen Verena merkt, dass ihr Liebling wieder getürmt ist. Marcel, das hat keinen Zweck. Hol Vroni, aber sei vorsichtig.«
Sina wurde neugierig. Diese Maßnahme kannte sie noch nicht. »Was hast du vor?«
»Rocky kann Vroni nicht ausstehen. Immer wenn er die Ärmste sieht, will er sie hacken. Also wird er wohl runterkommen, sobald er sie auf Marcels Schulter entdeckt. Dann muss Marcel allerdings rennen, wenn kein Unglück geschehen soll.«
»Das klingt nicht ganz ungefährlich.«
»Ist es auch nicht. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit, da du bestimmt keine Zeit hast, herzukommen.«
»Was könnte ich schon tun?«
Bastian lachte. »Rocky ist total verliebt in dich. Sobald er dich sieht, kommt er an und will mit dir schmusen.«
Sina zuckte zusammen. Einen Grund dafür gab es nicht, denn schließlich hatte Bastian gesagt, dass Rocky in sie verliebt sei, nicht er selbst. Beas Worte schienen mehr in ihr ausgelöst zu haben, als sie sich eingestehen wollte. Bastian sprach wieder mit ihr, daher verdrängte sie diese Gedanken schnell.
»Warum hast du mich eigentlich angerufen? Nur um die neuesten Anekdoten zu hören?«
»Natürlich nicht. Bea und ich kommen am Sonntag zur Pinguinfütterung. Wirst du auch da sein?«
»Wenn ihr kommt, ist das doch Ehrensache. Ich muss Schluss machen, Marcel kommt mit Vroni.«
Sina hörte noch gellendes Gekreisch bevor die Verbindung unterbrochen wurde. Sie legte das Handy beiseite und starrte nachdenklich auf ihren Monitor.
3. Kapitel
Bastian entdeckte Sina und Bea in der Menschentraube vor dem Gehege der Pinguine und winkte. In dem Moment rutschte sein rechter Fuß weg, er verlor das Gleichgewicht und landete hart auf den Knien. Der Schmerz schoss wie Hunderte Messer seine Beine hinauf, aber viel schlimmer war die Scham. Er spürte, dass seine Wangen heiß wurden, und biss sich auf die Lippe. Warum musste ihm so etwas immer vor Sina passieren?
Zumindest war er wieder auf den Füßen, als die beiden Frauen ihn erreichten und ihn mit besorgten Fragen noch mehr in Verlegenheit brachten. Hätten sie seinen Sturz nicht einfach ignorieren können? Bea klopfte ihm imaginären Staub vom Hemd, und Sina musterte ihn mitfühlend. Er wusste nicht, was schlimmer brannte, seine Wangen oder seine Knie.
Rasch versuchte er, sie von seinem Fauxpas abzulenken. »Mir ist nichts passiert. Lasst uns zu den Pinguinen gehen, sonst verpassen wir die Fütterung.«
Er wollte forsch ausschreiten, als beide Frauen ihn mit Warnrufen zurückhielten.
Sinas Stimme und ihr Arm stoppten ihn. »Pass auf, tritt nicht wieder in den Eismatsch.«
Bastian sah an sich hinunter. Tatsächlich war er nicht über seine eigenen Füße gestolpert, was bei ihm nicht unüblich war, sondern in ein halb geschmolzenes Eis getreten. Der Vanillematsch leuchtete auf seiner schwarzen Jeans. Bastian ächzte unterdrückt und machte einen Schritt über die Pfütze hinweg. Da lief eine Verschwörung gegen ihn, anders konnte es nicht sein. Er hatte nur noch nicht herausgefunden, wer schuld war: das Schicksal, seine Gene oder eine böse Gottheit.
Bedrückt folgte er den beiden Frauen zum Pinguingehege, wo sich Bea ungeachtet der Proteste der Leute ganz nach vorn drängelte.
Sina blieb zurück, wandte sich zu Bastian um und lächelte. »Ist wirklich alles in Ordnung? Du siehst so verkniffen aus.«
Bastian zuckte die Schultern. Er konnte es ihr ebenso gut sagen. Für sie würde er ohnehin immer nur der niedliche Tollpatsch bleiben. »Ich habe es geschafft, eine nagelneue Jeans am ersten Tag zu ruinieren und habe mich vor allen Leuten lächerlich gemacht.«
Sina legte einen Arm um ihn und gönnte ihm eine halbe Umarmung. Ihr Lächeln sollte wohl aufmunternd sein, aber Bastian hatte das Gefühl, dass sie so auch einen kleinen Jungen trösten würde. Dabei löste ihre Umarmung alles andere als kindliche Gefühle in ihm aus.
»So schlimm ist es nicht. Außer Bea und mir hat es kaum jemand gesehen. Und die Hose kann man waschen. Sind die Knie heil geblieben?«
Bastian nickte, obwohl es nicht so war. Er folgte ihr dichter zu den Pinguinen, sah aber kaum hin. Schließlich war das für ihn Alltag, und er konnte die Zeit viel besser zum Grübeln nutzen. Er musste unbedingt ungestört mit Sina reden. Seiner Meinung nach war es eine blöde Idee, ihren Ex Marc zu suchen. Was sollte das bringen? Der Typ hatte eine Macke, schließlich hatte er sich von Sina getrennt. Das sagte alles über ihn aus. »Bist du mit der Übersetzung fertig?«
Sina sah in die Sonne blinzelnd zu ihm hoch. Ihre Augen hatten in dem grellen Licht ein besonders intensives Grün. »Ja, zum Glück. Ich habe sie schon abgeschickt und die Prämienzusage.«
Bastian lächelte auf sie hinunter. »Das freut mich. Hast du heute Zeit für einen Kaffee?«
Er beobachtete, wie Sina eine glänzend braune Haarsträhne zurückschob, die ihr der Wind ins Gesicht geweht hatte. »Heute Abend, also eher Wein. Ich komme zu dir, dann muss ich meine Wohnung nicht aufräumen.«
Bastian musste bei ihren Worten schmunzeln, denn sie war wesentlich ordentlicher als er. »Einverstanden.« Er war so versunken in den Anblick von Sinas glänzendem dunkelbraunen Haar, das von einer Brise gegen seine Brust geweht wurde, dass er zusammenzuckte, als ihm jemand auf die Schulter tippte.
Simon stand neben ihm und lächelte entschuldigend. »Ich habe dich zweimal angesprochen, aber du hast nichts gehört.«
Das glaubte Bastian sofort. Er war wieder einmal viel zu tief in seiner Traumwelt versunken gewesen, als dass er den Tierarzt neben sich bemerkt hätte. »Schon gut. Bist du mit deiner Runde durch?«
Simon nickte, wobei ihm die Brille in Richtung Nasenspitze rutschte. »Bis jetzt ja. Aber Marcel fällt bestimmt noch etwas ein. Wenn nicht, kreieren er und der neue Praktikant die nächste Katastrophe.«
Bastian seufzte bei Simons Worten. Der gestrige Tag war der schreiende Beweis für die Gedankenlosigkeit der jungen Männer gewesen. Er würde mit Marcel reden müssen. »War etwas Bedeutendes dabei?«
Simon schüttelte den Kopf. »Nein. Roberta geht es gut. Nach dem Zwischenfall gestern habe ich vorsichtshalber nach ihr gesehen. Sonst gab es nur eingetretene Steinchen und ähnliche Lappalien.«
Bastian war beruhigt. Auf Simons tierärztliche Beurteilungen konnte er sich hundertprozentig verlassen. Allerdings schien der Tierarzt momentan abgelenkt zu sein. Er balancierte auf den Zehenspitzen, als versuchte er, die Fütterung der Pinguine zu sehen. Da er die in den letzten Jahren mindestens drei Mal in der Woche gesehen hatte, bezweifelte Bastian, dass es das war, was ihn so brennend interessierte. Jetzt stolperte Simon sogar gegen ihn und entschuldigte sich.
Bastian lächelte nachsichtig. »Was ist denn da vorn so interessant?« Er beobachtete, wie die Röte von Simons Hals bis zu seiner Stirn hinaufzog.
»Eigentlich nichts. Na ja, vielleicht doch. Ich sehe so gern, wie sich Bea über die Pinguine freut. Sie ist dann begeistert wie ein kleines Mädchen.«
Bastian war froh, dass nicht nur er wie ein Teenager schwärmen konnte. In Simon hatte er offensichtlich einen Leidensgenossen. »Bea gefällt dir natürlich nur in Kombination mit den Pinguinen?«
Simon zog eine Grimasse und versetzte ihm einen Klaps. »Nicht so laut, sonst hört sie dich noch.«
Ihn zwickte das Gewissen, denn er hätte auch nicht gewollt, dass Sina eine solche Äußerung über ihn hörte. Er nahm Simon am Ellbogen und führte ihn zur nächsten Bank. Sie setzten sich mit Blick auf das Gehege der Pinguine und die begeisterte Menschenmenge. »Sie war zu abgelenkt, das hat sie nicht gehört. Warum hast du nie gesagt, dass sie dir gefällt?«
Simon zuckte die Schultern und wich seinem Blick aus. »Du hast auch nie etwas über Sina gesagt. Da dachte ich, dass du nicht über Gefühle sprechen willst. Obwohl du ansonsten kein typischer Macho bist.«
Bastian erstarrte bei diesen Worten vor Schreck. Seine Hand schloss sich krampfhaft um Simons Unterarm. »Woher weißt du das?«
Simon zog eine gepeinigte Grimasse und zerrte seinen Arm aus der Umklammerung. »Also echt, Bastian, wie lange sind wir schon Freunde? Ich weiß es schon ewig, weil ich deine Blicke gesehen habe.«
Bastian schluckte trocken. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. »Meinst du, dass alle anderen es auch wissen?«, brachte er mühsam hervor.
Simon lächelte beruhigend. »Ich kann es mir kaum vorstellen. Sina hat keinen Verdacht, davon bin ich überzeugt. Und die Kerle, mit denen du ab und zu um die Häuser ziehst, sind alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
Bastian atmete keuchend aus. Die Erleichterung war körperlich fühlbar. »Gut. Ich habe keine Lust, von den anderen verspottet zu werden. Außerdem müsste ich fürchten, dass einer von ihnen es witzig fände, es Sina zu erzählen.«
Simon schnaubte sarkastisch. »O ja, das wäre schreiend komisch. Warum gibst du dich mit diesen Kerlen ab?«
Bastian zuckte die Schultern. »Ich weiß es selbst nicht so richtig. Vielleicht, weil ich sie schon aus der Schule kenne und nicht so viele Freunde habe. Außer dir und Sina eben nur diese drei.«
Simon runzelte die Stirn und schob zum dritten Mal innerhalb ebenso vieler Minuten seine Brille hoch. »Das sollte kein Grund sein, dich von ihnen schikanieren zu lassen.«
Bastian presste die Lippen aufeinander. So schlimm waren die drei nun auch nicht. Sie verhinderten zumindest, dass er jedes Wochenende allein zu Hause verbrachte. »Das ist übertrieben, Simon. Sie machen eben Scherze, wie sie Männer unter sich machen. Das ist Stammtischverhalten.«
»Die Scherze gehen immer auf deine Kosten.«
Bastian seufzte und strich sich durchs Haar. Das wusste er natürlich, doch er mochte es nicht offen vor Simon zugeben. »Ich stelle mich allerdings oft tollpatschig an. Da muss ich damit rechnen, dass die anderen lachen und spotten, wenn ich mein Bier verschütte, der Kellnerin auf den Fuß trete oder mich so an einem Stück Brezel verschlucke, dass mir die Tränen laufen.«
Simon schnaubte verächtlich. »Besonders Erstickungsanfälle sind saukomisch. Wahrscheinlich würden sie noch mehr lachen, wenn du mit dem Tod ringend auf dem Boden liegen würdest. Als Tom das Glas mit den Soleiern fallen ließ, wurde er sauer, als du gelacht hast.«
Bastian wurde langsam ungeduldig. Er fühlte sich von Simon schikaniert und wusste nicht einmal genau, warum. Schließlich hatte er nicht unrecht. »Was willst du mir damit eigentlich sagen?«
Simon sah ihm in die Augen. »Dass du bessere Freunde als die verdient hast.«
Bastian wusste nicht, ob er gerührt oder verärgert sein sollte. Er fürchtete, nur die Wahl zwischen diesen Freunden oder keinen zu haben und fühlte sich daher in die Ecke gedrängt, bemühte sich jedoch, sich das nicht anmerken zu lassen. »Ich habe doch dich. Tom und die anderen beiden sind nur Bekannte. Klar weiß ich, dass sie mich als eine Art komischen Trottel sehen und mich mitnehmen, um sich positiv von mir abheben zu können, aber irgendwie nutze ich sie auch aus. Ich muss nicht allein in Kneipen hocken und meine letzte Freundin habe ich auf einer Party von Steffen kennengelernt.«
Simon seufzte theatralisch und schob seine Brille weiter hoch. Dann spannte er sich an und sah aufmerksam zum Pinguingehege. Die Fütterung war vorbei, und Sina und Bea kamen auf sie zu.
Bea strahlte verzückt. »Das war genial. Jetzt möchte ich noch zu den Giraffen und danach ein Eis. Wer macht mit?«
Sina streckte wie ein Schulmädchen einen Arm in die Höhe. »Ich, ich! Was ist mit euch?«
Simon warf Bastian einen flehenden Blick zu. Er verstand. Ohne ihn würde sich Simon nicht trauen, die Frauen zu begleiten. Seine Verliebtheit war offenbar schon weit fortgeschritten. Bastian lächelte verständnisvoll.
»Wir kommen auch mit. Aber das mit dem Eis lasse ich lieber. Davon hatte ich schon genug.«
Die anderen lachten, während Bastian aufstand und betrübt seine Hosenknie betrachtete. Als er den Kopf wieder hob, sah er Marcel auf sich zulaufen. Alles in ihm zog sich zusammen. Den Ausflug zu den Giraffen konnte er wohl vergessen, außer die neue Katastrophe hatte etwas mit ihnen zu tun. Marcel kam keuchend vor ihm zum Stehen. Die anderen unterbrachen ihr Gespräch und musterten ihn verblüfft.
»Ich kann nichts dafür. Wirklich nicht. Wie sollte ich das wissen?« Marcel beugte sich vornüber und keuchte noch lauter.
Bei den atemlosen Worten verkrampfte sich Bastian noch mehr. Er hoffte, dass sich Marcel nicht übergeben würde, es waren noch zu viele Besucher in der Nähe. Trotzdem musste er wissen, was los war, bevor sie alle von einer Stampede überrannt wurden. »Wofür kannst du nichts? Sag schon.«
Marcel richtete sich wieder auf. Sein rotes Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ich habe es nur gut gemeint.«
Bastian verlor allmählich die Geduld. »Was hast du gemacht? Sag es mir.«
»Ich habe die Antilopen in ihr neues Gehege gelassen.«
»Was?« Das Entsetzen zuckte wie ein starker Stromschlag durch Bastians Körper.
Sina musterte ihn besorgt. »Wieso ist das schlimm?«
Er stöhnte verzweifelt und schlug die Hände vors Gesicht. »Weil das Gehege nicht fertiggestellt ist, was ich Marcel mehrmals gesagt habe. Eine Seite ist offen, die Antilopen hauen ab.«
Marcel zog eine Grimasse, er schien den Tränen nahe zu sein. »Sind sie schon. Als Alex und ich unseren Fehler erkannten, konnten wir nur noch drei an der Flucht hindern.«
Bastian hätte Marcel am liebsten auf der Stelle gefeuert, aber das Recht hatte nur die Direktorin Verena. Acht Antilopen liefen frei im Zoo herum, sprangen vielleicht in andere Gehege, erschreckten Mensch und Tier und standen Todesängste aus, weil sie furchtsame Fluchttiere waren. Wahrscheinlich mussten sie alle mit Betäubungspfeilen ruhigstellen, bevor sie sie wieder einsperren konnten. Er fluchte laut, und eine Mutter, die mit ihren beiden Kindern vorbeiging, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
Simon hatte schon mitgedacht. »Ich hole das Gewehr und die Pfeile. Anders wird es wohl nicht gehen.«
Bastian nickte und wandte sich an die Frauen. »Ihr müsst leider allein zu den Giraffen gehen.«
Sina blinzelte zu ihm hoch. »Können wir irgendwie helfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, trotzdem danke.« Ohne Marcel noch eines Blickes zu würdigen, rannte er in Richtung Antilopengehege, dicht gefolgt von Simon.
4. Kapitel
Der Wind riss das dichte, blonde Haar des Mannes zurück. Sein Lächeln ließ die blauen Augen leuchten und zauberte Grübchen in seine Wangen. Auf seinen nackten, braun gebrannten Schultern glitzerten unzählige Wassertropfen. Marc am Ostseestrand. Vor fast fünf Jahren. Sina hatte das Foto geschossen. Sie hatte es immer geliebt, weil es Marc genauso zeigte, wie er war: attraktiv, ausgelassen, lebenslustig.