Sheila Bugler

Schattenfänger

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Schädlich

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Sheila Bugler

Sheila Bugler, gebürtige Irin, bereiste nach einem Studium der Psychologie an der Universität Europa und Südamerika. Danach ließ sie sich in London nieder, wo sie heute mit ihrem Ehemann und den beiden Kindern lebt. 2008 wurde sie als Nachwuchsautorin für das renommierte Mentorenprogramm von »Arts Council England« auserwählt. Nach ihrem beeindruckenden Thriller-Debüt Nebelspiel, welches euphorische Lobeshymnen aus der Presse erhielt, ist Schattenfänger nun der zweite Band um die toughe wie feinfühlige Ermittlerin Ellen Kelly.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Waiting Game« bei The O'Brien Press Ltd.

 

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2014 Sheila Bugler

Original Title: THE WAITING GAME

Published in agreement with The O'Brien Press Ltd.

Originally published under the Brandon imprint

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Dr. Kirsten Reimers

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH, München

Coverabbildung: © David & Jan Harris / Trevillion Images

ISBN 978-3-426-43866-4

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Seán – es gibt niemanden, mit dem ich lieber unrühmlich alt werden möchte.

August – Brighton

Es machte ihr Spaß, Menschen zu beobachten. Erst recht, wenn diese es nicht merkten. Sie sah ihnen zu, wie sie sich durch ihr mittelmäßiges Leben schlugen und nicht realisierten, wie unbedeutend, unwichtig es war.

Heute war es anders. Heute hatte sie Angst. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, bevor sie die Straße überquerte, denn sie fürchtete sich vor der Zurückweisung. Es war absurd. Das wusste sie. Nach all der Zeit wäre ihre Mutter sicherlich ebenso erfreut wie sie.

Vielleicht lag es an dem Haus. Sie hatte etwas anderes erwartet. So oft hatte sie sich das Leben ihrer Mutter vorgestellt, nachdem sie sie verlassen hatte. Ein besseres Leben mit einem besseren Mann als mit dem, den sie fatalerweise geheiratet hatte. Eine Frau wie sie, die ein Leben mit diesem Versager ertragen musste … konnte man ihr da übelnehmen, was sie getan hatte?

Die schmuddeligen Stores erschwerten die Sicht. Noch mehr von der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf etwas, einen Schatten, der an der schmutzigen Scheibe vorbeihuschte. Es war unmöglich, Einzelheiten zu erkennen.

Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Das kitzelte. Es war heiß, selbst für August. Angeblich war es der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Sie suchte Schatten unter den Zweigen eines halbtoten Baumes, das einzige bisschen Natur auf dieser Straße.

Aus dem Haus neben dem ihrer Mutter drang laute Musik durch ein offenes Fenster in der oberen Etage. Ein junger Schwarzer beobachtete sie. Als sie seinen Blick erwiderte, berührte er mit der Zunge seinen Mundwinkel und machte gleichzeitig eine einladende Geste mit der Hand.

Sie stellte sich vor, wie sie über die Straße ging, an die Tür des Wichsers klopfte und ihm eine Lektion erteilte. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Der blöde Wichser lächelte zurück. Hatte es in den falschen Hals gekriegt, wie Männer es immer taten.

Sie sah wieder zum Haus ihrer Mutter. Eines von etlichen identisch aussehenden schmutzig weißen Reihenhäusern. Billig und hässlich. Ganz und gar nicht das, was sie sich für ihre Mutter ausgemalt hatte. Vielleicht hatte sie ja eine plausible Erklärung dafür, was sie an diesem entsetzlich deprimierenden Ort suchte. Bei dem Gedanken richtete sie sich auf, er holte sie aus ihrer düsteren Stimmung, die alles zu ruinieren drohte.

Sie strich ihr Kleid glatt – schwarz, ärmellos, klassisch – und zog den Seidenschal zurecht. Der Schal ihrer Mutter. Das Einzige, was sie ihr dagelassen hatte. Der Schal war mit tausend kleinen Schmetterlingen bestickt. Sie konnte sie fühlen, wenn sie mit dem Daumen über die zarten Fäden fuhr. Sie sah schon die Freude ihrer Mutter, dass sie ihn all die Jahre aufbewahrt hatte.

So oft hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt, ihn all die Jahre in unterschiedlichen Variationen durchgespielt. Jetzt war sie hier, und die verzweifelte Sehnsucht würde keine Sehnsucht mehr sein, sondern Wirklichkeit werden.

Sie trat vom Bürgersteig auf die Straße, ließ das Haus nicht aus den Augen. Plötzlich stand sie vor der Tür, drückte die Klingel, hörte sie von innen. Einen Augenblick später Schritte …

Oktober – London

Eins

Hush, little baby, don’t say a word,

Mama’s gonna buy you …

Jemand war im Haus. Chloë riss die Augen auf. Die Stimme ihrer Mutter wurde schwächer und von anderen Geräuschen übertönt. Rascheln von Seidenpapier. Wasser, das in einen Kessel lief. Ledersohlen auf dem Linoleumboden. Sanftes Brodeln des Wasserkessels.

Er war wieder da.

Sie öffnete den Mund, wollte schreien. Nichts. Ihr Geist war hellwach, aber ihr Körper schlief noch. Sie ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, bewegte die Zehen. Langsam kam das Gefühl zurück.

Unten fing das Wasser an zu kochen. Das Geräusch war laut, selbst hier oben im Schlafzimmer. Sie riskierte es, warf die Decke zurück, sprang aus dem Bett, griff nach ihrer Tasche und rannte aus dem Schlafzimmer, den Korridor entlang ins Bad. Es gab keinen Riegel. Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen, vielleicht konnte sie mit ihrem Gewicht die Attacke abwehren.

Sie zitterte. Ihre Zähne klapperten aufeinander, vor Angst und vor Kälte. Sie presste die Kiefer zusammen. Eine Diele knarrte, zu laut und zu nah. Sie kannte das Geräusch. Es war die zweite Stufe. Er kam die Treppe herauf, bewegte sich in Richtung Badezimmer.

Leise, sehr leise stieg sie in die Badewanne, zog den Duschvorhang vorsichtig zu. Sie legte sich hin, verschränkte die Arme vor ihrem zitternden Körper, hielt den Atem an und wartete.

Durch die dünne Wand zwischen Schlaf- und Badezimmer konnte sie ihn hören. Das Schlurfen seiner Schritte, das schwere Ein- und Ausatmen. Es klang nicht nach Ricky. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie wütend er werden konnte. Hochroter Kopf, das pfeifende Atmen durch die Nase. Wütend, weil sie nicht da war, wo er sie erwartete. In ihrem Bett.

Sie durchwühlte ihre Tasche. Ihre Finger fanden das Handy, konnten es aber nicht festhalten. Es rutschte tiefer in die Tasche. Sie kippte die Tasche aus, der Inhalt fiel laut klappernd in die Wanne.

Ein Lichtblitz auf dem Korridor. Die Schritte wurden schneller. In das kleine separate Schlafzimmer und wieder raus.

Neben dem Lippenstift das Handy. Die Finger drückten die 999. Sekunden später eine Frauenstimme: »Notrufdienst. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Polizei«, flüsterte sie. »Verbinden Sie mich mit der Polizei. Jemand ist in meinem Haus.«

Die Tür zum Badezimmer wurde aufgerissen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Die Frau am anderen Ende redete weiter, fragte Chloë nach ihrer Adresse. Sie drückte die Auflegetaste.

Er kam näher. Vor dem Duschvorhang war sein Schatten riesig und verschwommen. Er würde sie umbringen, hatte er gesagt, sollte sie ihn jemals verlassen.

Finger umfassten den Duschvorhang.

Jetzt brach der Schrei aus ihr heraus und überblendete alles andere. Sie tauchte am anderen Ende des Vorhangs aus der Wanne, dabei fiel ihr das Handy aus der Hand, egal, sie rannte vorwärts, rutschte mit den nackten Füßen auf dem kalten Boden aus. Eine Hand packte sie am Arm. Sie schüttelte sie ab, schrie, rannte schneller.

Sie stolperte die Stufen hinunter und durch den Flur auf die Haustür zu. Das Schwein hatte sie abgeschlossen. Ruckartig drehte sie sich um. Sein Schatten bewegte sich die Treppe hinunter. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Mit beiden Händen schob sie den Riegel der Hintertür zurück. Fast geschafft.

Irgendetwas traf sie am Hinterkopf. Sie taumelte gegen die Tür. Ihre Finger umklammerten noch immer die Klinke. Sie konnte es schaffen. Sie drückte die Klinke hinunter, die Tür öffnete sich.

Noch ein Schlag. Sie fiel. Mit dem Gesicht voran. Das schwarz-weiße Muster des Linoleumbodens raste auf sie zu.

Zwei

Ellen stand am Schlafzimmerfenster und beobachtete, wie sich die Bäume allmählich schwarz färbten – die Nacht legte sich über die Skyline von Greenwich. Dieses langsame Versinken in der Dunkelheit stimmte sie traurig. Es war verkehrt, das wusste sie, jeden kürzer werdenden Tag in die Länge ziehen zu wollen. Die Bäume waren schuld, beschloss sie. In der herbstlichen Glut waren sie einfach am schönsten. Es war ungerecht, sie nicht ein Weilchen länger betrachten zu dürfen.

»Moo-oom.«

Die Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Schönheit der Natur auf eine andere endlose Faszination. Eilish stand in der Tür und wartete, bis sie sich der vollen Beachtung ihrer Mutter gewiss war.

»Ja, Liebling«, sagte Ellen. »Was gibt es?«

Eilish lief durch das Zimmer und setzte sich auf das Ende von Ellens Bett. Ein ratloser Ausdruck lag in ihrem kleinen Gesicht. Ellen kannte ihn nur zu gut. Ein Stirnrunzeln, die braunen Augen halb geschlossen vor Konzentration, während sie überlegte, wie sie die Frage formulieren sollte, die ihr auf der Zunge lag. War die Entscheidung getroffen, strahlten die Augen plötzlich, und sie legte los.

»Pat sagt, Babys kommen hinten raus. Aber das kann nicht sein, oder? Ein Baby ist viel zu groß und passt nicht durch das Popoloch.«

Sie neigte den Kopf und wartete. Es war die Aufforderung an Ellen, eine zufriedenstellende Antwort zu geben. In diesen Momenten sah sie Vinny so ähnlich, dass es schmerzte. Ein physischer Schmerz; erst in der Brust, dann im Magen, ein Schmerz, der sie auch jetzt noch, fast fünf Jahre nach seinem Tod, aufzehrte.

»Nicht durch das Poloch«, sagte sie. »Frauen haben ein spezielles Babyloch. Das weißt du doch schon, Eilish.«

»Aber das ergibt keinen Sinn«, sagte Eilish. »Ich meine, wie soll da denn ein Baby durchpassen? Und außerdem hast du mir immer noch nicht gesagt, wie das Baby überhaupt in den Bauch reinkommt.«

Zweifellos war Eilish mit ihren gerade mal acht Jahren noch zu klein für die harten Fakten des Lebens.

»Mit dem speziellen Babykuss«, sagte Ellen. »Genau, wie ich es dir gesagt habe. Wenn Mommy und Daddy ein Baby haben wollen, geben sie sich einen speziellen Kuss, und das Baby fängt an, in Mommys Bauch zu wachsen.«

»Gehst du heute Abend noch weg?«

Der plötzliche Themawechsel hätte Ellen eigentlich erleichtern sollen, wenn sie nicht gewusst hätte, was gleich kommen würde.

»Ja«, sagte sie. »Ich werde aber nicht lange bleiben.«

»Mit Jim?«

Ellen nickte. »Ich muss mich wirklich fertig machen. Wollen wir zusammen ein Oberteil aussuchen?«

Sie entzog sich dem fragenden Blick ihrer Tochter und ging zum eingebauten Kleiderschrank.

»Das hier?«, fragte sie. »Oder das? Welches gefällt dir besser?«

»Ist er jetzt so was wie dein Freund?«

Ellen nahm die blaue Leinenbluse mit zum Bett und setzte sich neben Eilish.

»Er ist ein Freund, Eilish. Nicht mehr.«

»Pat sagt, er ist dein Freund und dass du ihn wahrscheinlich heiraten wirst und er hier einzieht oder wir in sein Haus ziehen müssen. Aber das würden wir hassen, denn Jims Haus ist viel kleiner. Das hier ist unser Zuhause, und wir wollen nicht ausziehen. Wirklich nicht, Mom. Es ist nicht fair.«

Lieber Gott, dachte Ellen, gib mir Kraft.

»Eilish. Hör mir zu.« Sie nahm die kleine Hand ihrer Tochter und drückte sie. »Jim ist ein Freund. Weiter nichts.« Lügner. Lügner. »Selbst wenn er mein Freund wäre – doch das wird nicht passieren«, bist ein Betrüger, »würde ich von dir und Pat niemals verlangen, aus diesem Haus auszuziehen. Das ist euer Zuhause. Und es bleibt euer Zuhause. Verstehst du mich?«

Eilish lächelte, und die Spannung fiel von Ellen ab.

»Wirst du ein Baby mit ihm haben?«

»Nein.«

»Aber das wär so süß«, sagte Eilish. »Ihr könntet es heute Abend machen. Du weißt schon, mit einem dieser speziellen Babyküsse.«

Ellen war sich nicht sicher, ob sich ihre Tochter über sie lustig machte.

»Egal«, fuhr Eilish fort. »Es ist gar kein Kuss, Mommy. Maria hat mir verraten, wie es richtig geht.«

»Ach ja?«

Eilish nickte voller Selbstvertrauen. »Ja. Daddy und Mommy müssen sich ausziehen, sich nebeneinanderlegen und Geräusche machen. So werden Babys in echt gemacht, stimmt’s?«

Manchmal vermisste sie es so sehr, jemanden an ihrer Seite zu haben, mit dem sie diese Unterhaltungen teilen konnte. Sie stellte sich vor, dass sie Jim später davon erzählte, doch es fühlte sich nicht richtig an. Sie wusste nicht genau, warum. Er war wunderbar zu den Kindern und ehrlich interessiert an ihnen. Doch er war nicht ihr Vater.

Nachdem Eilish davongezogen war, machte sich Ellen für den Abend zurecht. Blaue Bluse zu einer neuen Jeans, Make-up und Lippenstift. Sie hatte ihn heute gekauft. Ein sattes Rot. Sie zögerte und fragte sich, ob das nicht ein wenig übertrieben war für einen unverfänglichen Drink.

Nur war es mehr als nur ein unverfänglicher Drink. Sie fing an, diesen Typen richtig zu mögen. Und es deutete alles darauf hin, dass er dasselbe für sie empfand. Sofern sie überhaupt fähig war, irgendwelche Zeichen zu deuten. Seit ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr war sie mit Vinny zusammen gewesen. Sie war, was das ganze Dating anging, so aus der Übung, wie jemand nur sein konnte.

Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Das Make-up konnte die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln nicht kaschieren, abgesehen davon sah sie nicht schlecht aus.

Blaue Augen, klar und hell. Dunkles, kurz geschnittenes Haar umrahmte ihr Gesicht, das einen Hauch zu blass war. Vielleicht mehr Rouge? Nein, besser nicht. Am Ende sah sie aus wie ein Clown.

Genug. Zeit zu gehen. Sie schob den Stuhl vor dem Schminktisch zurück und stand auf. Bevor sie das Schlafzimmer verließ, streifte ihr Blick wie stets noch einmal das Familienfoto auf dem kleinen Nachttisch. Sie, Vinny und die Kinder. Vinny hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und lächelte wie der glücklichste Mann auf der Welt.

Sie lächelte zurück und sah den zusammengefalteten Zettel neben dem Bild. Sie wusste, was darauf geschrieben stand. Sie hatte ihn nur zusammengefaltet, damit sie nicht wieder und wieder die Worte lesen musste.

Sie blickte zurück in Vinnys lächelndes Gesicht. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte sie.

Natürlich kam keine Antwort von ihrem toten Ehemann. Sie sah das Bild noch einen Moment lang an und wandte sich schließlich ab, verließ das Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Kaum war sie an der Treppe angelangt, klingelte es. Pat rannte zur Tür. Ellen hörte Jim O’Dwyers Stimme und bekam eine Gänsehaut.

Sie blieb einen Augenblick stehen, sah ihn von oben an. Er blickte zu ihr hinauf, ihre Blicke trafen sich. Sie ging die Treppe hinunter, um ihn zu begrüßen. Ihr wurde schwindelig bei der Aussicht auf den Abend mit ihm. Ihr ganzer Körper kribbelte. Sie grinste wie ein Idiot. Egal. Er grinste genauso. Zwei liebestrunkene Teenager und nicht zwei Menschen mittleren Alters, die sich auf einen Drink verabredet hatten.

Er legte seine Hände auf ihre Schultern, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.

»Du siehst umwerfend aus«, sagte er.

Plötzlich wurde sie verlegen. Sie überlegte krampfhaft, was sie erwidern sollte, irgendetwas Zwangloses und dennoch Amüsantes, da fing ihr Handy an zu vibrieren. Sie hatte es in die Hosentasche gesteckt.

»Sorry«, murmelte sie und trat einen Schritt zurück. »Ich geh da kurz ran.«

Sie erkannte die Nummer nicht. Mit einem leichten Stirnrunzeln drückte sie die Annahmetaste und hielt das Telefon ans Ohr.

»DI Kelly? Martine Reynolds am Apparat. Evening Star. Ich hätte gern ein Statement von Ihnen zu einer Story, die wir Ende der Woche bringen. Eine Frau wird von ihrem gewalttätigen Ex terrorisiert. Sie behauptet, die Polizei – insbesondere Ihr Team – unternehme nichts. Wollen Sie das kommentieren?«

Martine Reynolds. Schmierfink von der Lokalpresse mit etwa so viel Integrität wie ein durchschnittlicher Psychopath. Ellen legte auf und drehte sich zu Jim.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich muss das kurz klären.«

Drei

Das Treffen fand in einem Hotelzimmer statt. Im Novotel in Greenwich. Sie hatten sich für fünf Uhr nachmittags verabredet. Nathan schloss das Büro früher als sonst und fuhr sie dorthin. Im Feierabendverkehr kamen sie nur langsam voran.

Von Lewisham aus dauerte es eine halbe Stunde. Genug Zeit, darüber nachzudenken, was sie vorhatte, und sich zu wünschen, sie hätte dem nie zugestimmt. Sie versuchte, Nathan zu vermitteln, wie ihr zumute war, aber er wollte nichts davon hören, erklärte ihr dauernd, sie habe keine andere Wahl. Nur so konnte sie verhindern, dass alles nur noch schlimmer wurde.

Die Journalistin wartete im Foyer. Groß, dünn und blond mit viel zu gebräunter Haut und einem harten Gesichtsausdruck. Chloë mochte sie nicht. Wäre sie allein hier, sie würde wieder gehen. Aber Nathan schüttelte der Journalistin schon die Hand und sagte, wie gut es war, dass sie dies für sie tat.

Bevor Chloë sich besann, standen sie im Lift und fuhren hoch zu einem beigefarbenen Raum.

»Sind Sie so weit?«, fragte Martine und zog ein kleines digitales Diktiergerät aus der Tasche.

Chloë warf Nathan einen flüchtigen Blick zu. Der nickte. Sie schluckte. »Meinen Sie wirklich, es funktioniert?«

»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Martine. Sie sprach sanft und langsam wie zu einem dummen Kind. Chloë ließ sich keinen Augenblick etwas vormachen. Die Journalistin war eine Zicke, eine dieser kalten, voreingenommenen Frauen, denen Chloë normalerweise aus dem Weg ging.

»Es ist nur …« Chloë hörte das Zittern in ihrer Stimme und hasste sich dafür. Wusste, die andere hörte es auch und würde die Schwäche ausnutzen.

»Ich frage mich dauernd«, fuhr sie fort, »was, wenn es gar nicht Ricky ist?«

Nathan setzte sich neben sie. Das Bett gab unter seinem Gewicht nach, und ihr wurde übel.

»Das haben wir doch schon besprochen«, sagte Nathan. »Wer soll es sonst sein? Du musst ihm zeigen, dass du keine Angst vor ihm hast. Du schaffst das, Chloë. Ich weiß es.«

»Wir können Ihren Namen rauslassen, wenn Sie wollen«, sagte Martine. »Das Augenmerk liegt auf dem Versagen der Polizei. Wir müssen Ihren Namen nicht erwähnen.«

Chloë fragte sich, warum sie nicht selbst auf diese Idee gekommen war. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob Nathan es bereits vorgeschlagen hatte, aber alles lag dieser Tage im Nebel. Es fiel ihr schwer, sich an irgendetwas zu erinnern. Schuld war der Stress. Sie wusste das. Sobald sie gestresst war, funktionierte ihr Hirn nur mit halber Kraft, als sei der Akku zu schwach.

»Welchen Namen möchten Sie denn verwenden?«, fragte die Journalistin.

Ivy. Der Name kam ihr plötzlich in den Sinn. Als sie noch ein kleines Mädchen war, wollte sie immer Ivy heißen. Sie hatte ihre Eltern und jeden anderen bekniet, sie Ivy zu nennen, nicht Chloë. Komisch, das hatte sie vollkommen vergessen.

Na ja, es war lange her. Jetzt wollte sie nicht mehr Ivy sein.

»Nehmen wir meinen richtigen Namen«, sagte sie. »Wenn Ricky die Botschaft verstehen soll, ist es doch das Beste, hab ich recht?«

Das Lächeln der Journalistin und von Nathan verrieten ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Steve, unser Fotograf, wird bald hier sein«, sagte Martine. »Wir machen noch ein paar tolle Fotos für den Artikel. Die Polizei soll begreifen, dass sie es mit jemandem zu tun hat, der sich nicht schikanieren lässt.«

»Und Ricky«, sagte Chloë.

»Selbstverständlich.« Martine nickte, aber Chloë sah, dass sie nicht hinhörte. Sie befingerte das Diktiergerät, testete, ob es funktionierte, bevor sie es auf den Tisch legte. Ein rotes Licht blinkte.

Die Aufnahme lief, dachte Chloë. Gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Vielleicht hatten die beiden recht. Vielleicht hatte sie keine Wahl.

Martine lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lächelte Chloë an.

»Wollen Sie anfangen? Mal sehen, ob wir die Polizei dazu bringen können, ihre Arbeit richtig zu machen und das Arschloch festzunageln, bevor es echten Schaden anrichtet.«

Chloë hasste Kraftausdrücke, besonders bei einer Frau. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln, wollte ihre wahren Gefühle nicht zeigen. Drei Jahre mit Ricky hatten aus ihr eine Expertin gemacht, wenn es darum ging, ihre Gefühle zu verbergen.

»Okay«, sagte sie. »Was wollen Sie wissen?«

 

Anschließend fuhr Nathan sie nach Hause. In der Nähe von Hither Green schlug er vor, anzuhalten und etwas zu essen.

»Wir könnten zu dem Italiener in Lee gehen«, sagte er. »Auf meine Rechnung. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich verhungere.«

Verhungern war übertrieben, dachte sie. Sein Bauch war riesig. Er hätte leicht mehrere Wochen ohne Essen auskommen können. Ihr war nicht nach einem Restaurant. Nach dem Treffen mit der Journalistin fühlte sie sich schmutzig. Als hätte sie etwas getan, was sie nicht hätte tun sollen. So viele persönliche Dinge einer Fremden anzuvertrauen, das war schrecklich. Sie wollte nach Hause, sich in eine volle, warme Badewanne legen und sich vorstellen, es habe diesen Abend nie gegeben.

Doch zu Hause war sie allein, und das ertrug sie nicht. Einen Moment lang überlegte sie, Nathan zu fragen, ob sie bei ihm übernachten könnte. Nur für eine Nacht. Aber sie befürchtete, er könnte es missverstehen, denken, sie wäre auf etwas anderes aus. Und wenn er das dachte, würde es zwischen ihnen unangenehm werden.

Er war nicht interessiert. Das wusste sie. Sie kannte die Männer. Wusste, wie sie sich verhielten, wenn sie eine Frau mochten. Nathan benahm sich nie so. Deutete nie an, mehr sein zu wollen als nur ein Freund. Sie wusste natürlich, warum. Nathan hatte Prinzipien. Ein Mann wie Nathan, ein guter moralischer Mann, was um alles in der Welt sollte er von einer Frau wie ihr wollen? Nathan kannte nämlich die Wahrheit. Wusste, was für eine Sorte Frau sie wirklich war.

Sie hatte es ihm bei ihrem ersten Treffen erzählt. In dem kleinen Haus auf der Nightingale Grove, wo sie jetzt wohnte, war alles aus ihr herausgesprudelt. Er bat um Empfehlungen ihres früheren Vermieters, und sie hatte ihm die ganze Geschichte erzählt, jedes schäbige Detail. Am Ende weinte sie. Er hatte ein blaues Seidentaschentuch aus seiner Brusttasche gezogen und es ihr gegeben.

»Klingt, als ob Sie einen Freund gebrauchen könnten.« Mehr hatte er nicht gesagt. Hatte nie wieder ein Wort über das verloren, was sie ihm anvertraut hatte.

Nur darum lächelte sie jetzt und sagte, essen gehen sei eine gute Idee.

»Aber nur, wenn du mich bezahlen lässt«, sagte sie. »Das ist das mindeste.«

Sie aß wenig, trank dafür mehr Wein als sonst. Sie redeten über alles und nichts. Anschließend war sie erschöpft und entspannt zugleich. Ein solches Gefühl kannte sie gar nicht mehr.

Fünfzehn Minuten später parkte Nathan vor ihrem Haus und fragte, ob er bei ihr auf der Couch schlafen solle. Sie konnte lächeln und ihm ehrlich antworten, ja, das wäre großartig.

Vier

Die Praxis ihrer Therapeutin war in einem hellen Glasanbau hinter dem Lewisham-Krankenhaus. Vom Wartezimmer blickte Ellen über die Ladywell Fields. Wahrscheinlich sollten sich die Patienten bei all dem Licht und der grünen Aussicht weniger schlecht fühlen. Fehlanzeige.

Sie war zu früh gekommen und hoffte, vor zehn wieder draußen zu sein. Die große Bekanntmachung war für zehn Uhr fünfzehn angesetzt. Ellen wollte nicht zu spät kommen. Gott sei Dank glaubte Briony Murray, ihre neuseeländische Seelenklempnerin, noch an Pünktlichkeit.

Um Punkt neun öffnete sich die Tür zu Brionys Behandlungsraum, und die Therapeutin bat Ellen herein. Die beiden Frauen saßen auf ihren angestammten Plätzen, auf niedrigen blassgelben, sich gegenüberstehenden Sofas am Fenster.

»Also«, begann Briony. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut«, sagte Ellen. »Glaube ich zumindest. Ja. Es war eine gute Woche. Na ja, die Arbeit war nervig. Abgesehen davon ist alles prima.«

»Warum?«

Briony hatte blaue Augen. Ein Blau, das Ellen an japanische Porzellanmalerei erinnerte. Blaue Augen, klarer Teint und kurze blonde Haare. Ellen wusste nicht, wie alt die Therapeutin war. Vielleicht Mitte dreißig, schätzte sie. Ellen fragte sich, wie jemand so Junges so weise sein konnte.

»Nun ja«, sagte Ellen langsam. »Ich habe Jim ziemlich oft getroffen. Es läuft gut. Ich mag ihn.«

Sie musste an letzte Nacht denken. Er war so einfühlsam gewesen. Hatte geduldig gewartet, während sie telefonierte. Erst mit Chief Superintendent Paul Nichols, danach mit Jamala Nnamani, der Pressesprecherin. Sie hatten die möglichen Konsequenzen der Story erörtert und wie die Polizei darauf reagieren sollte.

Briony lächelte. »Das erzählen Sie mir bereits seit drei Wochen. Schön, dass es gut läuft. Letzte Woche erwähnten Sie Schuldgefühle. Wollen Sie heute darüber reden?«

Nicht wirklich.

»Das ist doch normal, oder?«, sagte Ellen. »Natürlich fühle ich mich schuldig, dass ich einen anderen Mann treffe. Besonders, da ich anfange, ihn zu mögen.«

»Ist das wirklich normal?«

»Ja«, sagte Ellen. »Ich meine, wer würde sich nicht so fühlen? Ich habe Vinny geheiratet. Ich habe ihm und mir versprochen, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringe. Und ich breche das Versprechen, wenn ich mich, kaum dass Vinny fort ist, in einen anderen verliebe.«

»Aber so ist es nicht«, sagte Briony. »Oder?«

»Sie meinen, weil es schon fast fünf Jahre her ist?«, fragte Ellen. »Sie meinen, das macht es vertretbar? Nein. Egal, was Sie sagen, Briony, es fühlt sich noch immer so an, als würde ich ihn betrügen. Und Pat und Eilish? Sie glauben, dass ich Vinny vergessen habe, Jim heirate und Kinder mit ihm bekomme. Was macht das für eine Mutter aus mir, wenn sie die Dinge so interpretieren? Ich bin egoistisch. Na bitte. Jetzt ist es raus. Eine egoistische, dumme Frau, die es gar nicht erwarten kann, sich vor dem erstbesten Mann, der einen Hauch Interesse zeigt, die Kleider vom Leib zu reißen.«

»Wow«, sagte Briony. »Er gibt Ihnen das Gefühl, sich die Kleider vom Leib reißen zu wollen? Den Mann möchte ich kennenlernen. Klingt ziemlich heiß.«

Ellen stöhnte. Wieso passierte ihr das jedes Mal? Sie wusste nicht einmal, dass sie so dachte. Na ja, vielleicht den Teil mit den Kleidern schon. Aber den Rest. Diese wehleidige Schuld. Woher zum Teufel kam das? Sie wusste – wusste –, das Letzte – das Allerletzte –, was Vinny gewollt hätte, war, ihr Leben aufzugeben. Er würde sich freuen, dass sie jemanden kennengelernt hatte. Umgekehrt würde sie ihm genau dasselbe wünschen. Was zur Hölle war nur los mit ihr?

»Ich mache immer alles so kompliziert«, sagte sie leise. »Warum?

Briony langte über den Tisch und klopfte mit der Hand leicht auf Ellens Knie. »Das Komplizierte macht uns interessant, Ellen. Problematisch wird es, wenn Sie diese Gefühle unterdrücken. Darum sind Sie hier. Es soll Ihnen helfen, in Ihr Innerstes zu schauen und sich nicht vor dem zu fürchten, was Sie sehen.«

Das klang beruhigend. Es war beruhigend. Irgendwie. Dann erinnerte sich Ellen wieder, warum sie die Therapie überhaupt machen sollte. Sie hatte einen Mann getötet. Ellen wusste genau, blickte sie zu tief in sich hinein, würde sie etwas finden, das sie zu Tode erschreckte.

 

Vom Krankenhaus bis zum Polizeirevier von Lewisham waren es zehn Minuten zu Fuß. Ellen schaffte es in fünf. Sie bahnte sich ihren Weg über den vollen Straßenmarkt und rannte das letzte Stück bis zu dem imposanten weißen Gebäude, in dem sie arbeitete. Europas größtes Polizeirevier mitten in Lewisham. Die Gegend war erst kürzlich zur gefährlichsten von England gekürt worden. Keine Überraschung für Ellen und ihre Kollegen. Sie hatten tagtäglich das Gefühl, beim Kampf gegen das Verbrechen auf der Verliererseite zu stehen.

Ellen nahm nicht den Fahrstuhl in den dritten Stock, wo sich ihr Büro befand, sondern ging geradewegs in den Sitzungssaal im ersten Stock, in dem Chief Superintendent Paul Nichols das Treffen anberaumt hatte.

Die vier aus Ellens Team waren schon anwesend, dazu noch einige andere Beamte. Die Stühle waren aufgereiht wie in einem Konferenzsaal. Ellens Team saß in einer der hinteren Reihen. Sie setzte sich neben Abby Roberts, sagte hallo und erkundigte sich nach den jüngsten Gerüchten zu Nichols großer Ansprache. Sie wurde von Raj Patel unterbrochen, der sich vor Abby zu ihr hinüberbeugte.

»Der Star erscheint um elf«, sagte Raj. »Ich habe Malcolm gebeten, ein Exemplar zu besorgen, sobald die Ausgabe in die Regale kommt.«

Ellen nickte. »Gut. Was, glauben Sie, will Chloë damit erreichen?«

»Dass man sie ernst nimmt«, sagte Raj. »Ich kann es ihr nicht verübeln. Aus ihrer Sicht haben wir nichts zu ihrem Schutz unternommen.«

»Bis zu jener Nacht hatten wir nichts in der Hand«, sagte Ellen. »Der Überfall in ihrem Haus hat die Lage verändert. Aber das weiß sie, warum also wendet sie sich an die Presse?«

Bevor Raj antworten konnte, öffnete sich die Tür. Nichols ging in Richtung Rednerpult. Er stand einen Moment lang still da, blickte abschätzig in die Runde und wartete, dass das Geschnatter aufhörte. Er ließ seinen Blick schweifen. Bei Ellen hielt er inne, wanderte dann zu Abby. Flüchtig, so flüchtig, dass niemand außer Ellen es bemerkte, verweilten seine Augen auf Abbys Busen. Dann hob Nichols seinen Kopf und nahm den Rest der im Raum Anwesenden in Augenschein.

Es wurde still. Nichols räusperte sich – vorsichtig – und begann.

»Ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung heute Morgen so kurzfristig gefolgt sind. Wir alle haben jede Menge um die Ohren. Darum werde ich keinen von Ihnen länger als notwendig festhalten. Ich halte es allerdings für wichtig, Sie heute Morgen hier zu versammeln, um Ihnen aufregende Neuigkeiten mitzuteilen. Gestern Nachmittag haben wir das Einstellungsverfahren für einen neuen Detective Chief Inspector beendet.«

Nichols legte eine dramatische Pause ein, machte etwas mit seinem Gesicht, das aussah wie ein Lächeln, und fuhr fort.

»Wie Sie alle wissen, ist unser geschätzter Detective Chief Inspector Edward Baxter in diesem Jahr aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig in Pension gegangen. Einen geeigneten Ersatz zu finden, hat Zeit in Anspruch genommen. Es war unbedingt notwendig, die richtige Person zu wählen. Sie muss die Polizeibehörde durch die turbulenten Zeiten der finanziellen Überprüfungen und wachsenden Verbrechensraten führen. Wir haben viele Bewerbungen erhalten«, sein Blick fiel erneut auf Ellen, »und den besten Kandidaten aus der Vielzahl der hochkarätigen Bewerber auszuwählen, war eine echte Herausforderung.

Nun bin ich erfreut, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir eine Entscheidung getroffen haben. Ohne weitere Verzögerung möchte ich Ihnen das neueste Mitglied unserer Abteilung vorstellen …«

Nichols legte wieder eine Pause ein und wandte sich zur Tür. In dem allgemeinen Schweigen sah Ellen eine große blonde Frau hereinkommen, die neben Nichols an das Pult trat.

Wie Nichols ließ sie ihren Blick über die Männer und Frauen im Raum schweifen. Im Gegensatz zu ihm bekam ihr Gesicht bei Ellens Anblick einen weichen, freundlichen Ausdruck. Vielleicht hätte Ellen zurückgelächelt. Sie war sich nicht sicher. Doch der Schock beim Anblick ihrer neuen Vorgesetzten überwog alles andere.

Nichols war ein großer Mann, die Frau neben ihm war genauso groß. Das lag zum Teil an den roten Stöckelschuhen. Ellen konnte unter den maßgeschneiderten schwarzen Hosen die Schuhspitzen sehen. Vivienne Westwoods, so viel war klar. Ellen hatte sie schon einmal gesehen.

»Hallo«, sagte die Frau. »Mein Name ist DCI Geraldine Cox. Es freut mich, Sie alle kennenzulernen.«

Fünf

Nathan würde keine zweite Nacht auf dem Sofa überstehen. Sein ganzer Körper tat ihm weh, sein Nacken war steif. Er drehte den Kopf hin und her. Es war die reinste Tortur. Trotzdem, es hatte sich gelohnt, die ganze Nacht lang hierzuliegen und zu wissen, dass sie in seiner Nähe schlief. Er hatte ihren Atem hören können. Der gleichmäßige Rhythmus beruhigte ihn auf dem unbequemen Sofa. Außerdem war er gewohnt, ohne viel Schlaf auszukommen.

Als es anfing zu dämmern, hatte er eine Idee. Eine Überraschung für sie. Eine Alarmanlage. Gleich heute würde er sich darum kümmern. Ohne Widerrede. Eine dieser neumodischen, die direkt mit der Polizei verbunden waren. Wenn das kein Beweis dafür war, wie viel er für sie zu tun bereit war, dann wusste er auch nicht weiter.

Er stand früh auf – eine Leichtigkeit, er hatte ohnehin kaum geschlafen – und machte Frühstück für sie beide. Überlegte noch, eine Blume aus dem Garten auf den Tisch zu stellen. Gott sei Dank fiel ihm rechtzeitig ein, dass sie diese Geste falsch interpretieren könnte. Schlimmer noch, es könnte sie an die Blumen erinnern, die für sie in der Nacht draußen hingelegt worden waren. Auf keinen Fall wollte er sie daran erinnern. Er war hier, damit sie sich besser fühlte, nicht schlechter.

Er briet den ganzen Speck aus dem Kühlschrank und machte ein Käse-Zwiebel-Omelette. Danach hatte er einen Bärenhunger. Ohne sie wollte er aber nicht anfangen. Er klopfte an die Schlafzimmertür. Keine Antwort. Er öffnete die Tür, stand einen Moment lang da, beobachtete sie in ihrem Schlaf. Die Kopfschmerzen hatte sie gestern nicht mehr erwähnt. Er hoffte, dass sie weg waren. Er dachte nur ungern daran.

»Chloë?«

Sie bewegte sich, wachte aber nicht auf. Er ging zu ihrem Bett, berührte sie sanft an der Schulter und trat zurück. Sie sollte nicht das Gefühl haben, er komme ihr zu nahe.

Sie war ein wenig überrascht, ihn zu sehen. Dann hatte sie sich im Griff und setzte sich auf. Sie zog die Decke hoch, bedeckte ihren Körper. Unnötig. Sie hatte ja einen Schlafanzug an. Trotzdem, ihm gefiel diese Geste.

»Ich habe Frühstück für dich gemacht«, sagte er.

Sie lächelte, und sein Herz machte Luftsprünge.

»Frühstück?« Sie kicherte. »Ich frühstücke nie, Dummerchen. Ich habe nie Zeit dafür.«

»Nun, wir haben den ganzen Morgen«, sagte er. »Wir können später mit der Arbeit anfangen. Ein reichhaltiges Frühstück ist eine gute Grundlage für den Tag. Das hat Mom immer gesagt, und sie hatte recht.«

Er verließ das Zimmer, damit sie sich in Ruhe anziehen konnte, ohne dass er ihr dabei zusah. Dafür war später noch Zeit genug.

 

Ellen hatte geglaubt, Geraldine Cox zu mögen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie gemeinsam einen Fall bearbeitet. Cox hatte Ellen geholfen, ein vermisstes Kind zu finden. Sie hatten gut zusammengearbeitet, und Ellen hatte Cox als eine Art Freundin betrachtet. Was sie von Cox als ihrer neuen Chefin halten sollte, wusste sie noch nicht recht zu sagen.

Das Überraschungsmoment störte sie am meisten. Vielleicht ging es ihr besser, sobald sie es verwunden hatte. Oder herausfand, warum Cox sie nicht angerufen, sie nicht vorab über die große Neuigkeit informiert hatte. Abgesehen davon wäre Cox kein Zacken aus der Krone gefallen, wenn sie wenigstens erwähnt hätte, dass sie im Rennen für den Job war. Sie hatten erst vor wenigen Wochen miteinander telefoniert. Ger hatte angerufen, wollte »ein wenig plaudern«. Ellen vermutete jetzt, dass weniger der Wunsch nach einer Plauderei hinter dem Anruf steckte als vielmehr ein Aushorchen.

Zurück im Großraumbüro, gab jeder seine ersten Eindrücke über Cox zum Besten. Arrogant. Scharf. Mannweib. Eiskaltes Biest.

»Es reicht.« Ellen hielt die Hand hoch und stoppte den Schwall von Schmähungen.

»Sie ist ein guter Cop«, sagte Ellen. »Darauf kommt es an. Sie ein eiskaltes Biest zu nennen ist genau der sexistische Schwachsinn, von dem ich geglaubt habe, dass ihr ihn hinter euch gelassen habt, seit ihr eure Machoärsche in das einundzwanzigste Jahrhundert gehievt habt. Malcolm.« Sie drehte sich zu dem kleinen gedrungenen Malcolm McDonald um. »Sollte ich noch einmal hören, dass Sie eine weibliche Beamtin ein eiskaltes Biest nennen, sind Sie hier schneller draußen und wieder in Uniform, als Sie sich eine dieser ekelhaften Cornish Pastys in Ihren Mund schieben können, haben Sie mich verstanden?«

Malcolm wurde rot, schob die Pasty unter einen Papierstapel und murmelte eine Entschuldigung. Ellen wollte noch mehr sagen, doch etwas auf ihrem Schreibtisch lenkte sie ab. Raj hatte Wort gehalten und eine Ausgabe des Evening Star in die Hände bekommen. Die Zeitung lag mit der Titelseite nach oben auf Ellens Tisch. Chloë Dunbars angsterfülltes Gesicht starrte sie an. Sie wappnete sich gegen das reißerische Geschreibsel, nahm die Zeitung und fing an zu lesen.

Raj zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Was halten Sie davon?«

Ellen überflog die Story noch einmal:

 

»Es geschah in der Nacht zum Dienstag«, sagt Chloë. »Jemand war in meinem Haus. Ich wachte auf und hörte ihn unten herumlaufen. Ich war zu Tode erschrocken. Wissen Sie, ich wusste, dass er es war.«

»Wer?«

»Mein Ex. Er verfolgt mich seit Monaten. Ein Stalker. So sagt man doch.«

»Und Sie haben es der Polizei gemeldet?«

Bei dieser Frage steigen Chloë Tränen in die Augen.

»Ich weiß, es fällt Ihnen nicht leicht«, sage ich. »Aber es ist wichtig, dass die Leute davon erfahren, Chloë. Denken Sie doch nur daran, wie viele Menschen von jenen im Stich gelassen werden, die dafür bezahlt werden, dass sie uns beschützen.«

»Die Polizei macht gar nichts«, sagt sie. »Natürlich habe ich es gemeldet, aber sie nehmen es nicht ernst. Oh, sie haben so getan, als ob. Haben einen Detective vorbeigeschickt. Er hat gar nichts gebracht.«

»Er?«

»DC Patel. Er war sehr freundlich. Geholfen hat er mir nicht.«

Zur Information für die Leser: DC Raj Patel gehört zum Team der in Ungnade gefallenen Detective Inspector Ellen Kelly. Sie hat ihren Dienst wieder angetreten, als sei nichts vorgefallen.

»Kommen wir noch einmal auf Dienstagnacht zurück«, sage ich.

»Ich habe mich im Badezimmer versteckt«, sagt sie. »Ich konnte ihn hören. Er kam die Treppe rauf. Ich hatte solche Angst, Martine. Sie haben gar keine Vorstellung.«

»Was passierte dann?«

»Ich dachte, er bringt mich um«, flüstert Chloë. »Ich rannte los. Er kam hinter mir her. Ich versuchte, aus dem Haus zu laufen, konnte jedoch die Tür nicht öffnen.«

Sie verstummt, und ich muss sie ermutigen, weiterzureden. Es fällt ihr nicht leicht.

»Er hat mich geschlagen, hat mich k. o. geschlagen und einfach liegen lassen, hat angenommen, ich sei tot. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen habe, bewusstlos. Und ich weiß auch nicht, was er mir noch alles angetan hat.«

Sie schweigt, und für einen Moment schweige ich auch. Versuche, mir ihre Todesangst vorzustellen.

»Sie glauben, es handelt sich um Ihren Ex«, sage ich dann. »Sind Sie sicher?«

Sie nickt. »Ich habe es denen gesagt. Aber sie unternehmen nichts. Darum spreche ich jetzt mit Ihnen. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Er wird zurückkommen. Und das nächste Mal werde ich nicht so viel Glück haben.«

 

»Er hat sie nicht umgebracht«, sagte Ellen.

»Vielleicht will er sie gar nicht umbringen«, sagte Raj. »Wenn sie tot ist, ist alles vorbei. Sie kam wieder zu sich. Das ist noch nie passiert. Ich glaube, er hat sie geschlagen, weil er nicht wollte, dass sie ihn sieht.«

»Das bedeutet, sie kennt ihn«, sagte Ellen. »Aber es ist nicht ihr Ex?«

»Wir haben ihn bereits vernommen«, sagte Raj. »Er hat ein Alibi für Dienstagnacht. Er war mit ein paar Freunden unterwegs. Erst in einem Pub, dann in einem Club. Ist nicht vor vier Uhr morgens gegangen. Glaubt man den Türstehern, war er so besoffen, dass er nicht einmal mehr stehen konnte.«

»Chloë glaubt das nicht?«, fragte Ellen.

»Ich kann sie verstehen«, sagte Raj. »Solange sie davon überzeugt ist, es sei ihr Ex, ergibt die Sache wenigstens einen Sinn. Zu wissen, es ist ein vollkommen Fremder, muss noch beängstigender sein.«

Ellen begriff, worauf er hinauswollte. Opfer eines Verbrechens wollten oft dessen Bedeutung verstehen. Es gab nur ein Problem. Manchmal hatte es keine Bedeutung. Außer, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort war.

»Gibt es noch andere Verdächtige?«, fragte Ellen.

Raj schüttelte den Kopf. »Sie arbeitet in einem Maklerbüro. Kommt tagtäglich mit vielen Leuten zusammen. Wir haben ihre beiden Kollegen befragt. Beide männlich. Sie sind noch nicht raus aus der Sache, aber nichts deutet darauf hin, dass einer von den beiden dahintersteckt. Ich bin auch die Liste von Kunden durchgegangen, mit denen sie in den letzten vier Monaten zu tun hatte. Wir haben jeden befragt. Nichts.«

»Reynolds hat das schlau eingefädelt«, sagte Ellen. »Chloë kommt sehr glaubwürdig rüber, und wir stehen total inkompetent da.«

Sie rief sich noch einmal ins Gedächtnis zurück, was sie über Chloë Dunbar wusste. Zweiundzwanzig Jahre alt, ledig, wohnte in Hither Green. In den letzten Monaten war sie ein paarmal bei der Polizei gewesen, hatte sich beklagt, dass jemand nachts, wenn sie schlief, in ihr Haus eindrang. Es gab keine Anzeichen für einen Einbruch, nichts war gestohlen worden. Der Fall hatte keine hohe Priorität. Das änderte sich in der letzten Woche, nachdem Chloë in ihrem Haus niedergeschlagen worden war.

»Das andere hat sie nicht erwähnt«, sagte Raj. »Wieso nicht? Was glauben Sie?«

»Vielleicht hat Martine es absichtlich ausgelassen«, sagte Ellen. »Sie hat den Artikel simpel gehalten, damit die Leute sich mit Chloë identifizieren können. Und damit wir irgendwelche Trittbrettfahrer leichter aussortieren können, die nach der Lektüre zu uns kommen und behaupten, ihnen ginge es wie Chloë.«

»Mag sein.« Raj klang nicht sehr überzeugt. »Wie dem auch sei, Chloë kommt später her. Dann kann ich sie selbst fragen.«

»Gut.« Ellen blickte wieder auf die Zeitung. »Sie wissen, dass das hier ernst ist, oder? Sie könnte wirklich in Gefahr sein.«

»Ich bleib dran«, sagte Raj.

Sechs

Am frühen Nachmittag erhielt Ellen einen Anruf vom Empfang. Eine Frau wollte sie sprechen, bestand darauf, nur sie sehen zu wollen.

»Wie ist ihr Name?«, fragte Ellen.

»Sie sagt, sie heißt Monica Telford«, antwortete der diensthabende Beamte.

Ellen blickte mit Bedauern auf den Stoß Akten auf ihrem Tisch, der darauf wartete, gelesen zu werden. Sie hatte sich die nächsten Stunden dafür freigeschaufelt und konnte eine Unterbrechung jetzt nicht gebrauchen. Aber sie kannte den Namen, und ihr Pflichtgefühl erlaubte es ihr nicht, die Sache jemand anderem zu übertragen.

»Sagen sie ihr, ich bin gleich da«, sagte sie.

Eine große, attraktive Frau, langes dunkles Haar, marineblauer Trenchcoat und roter Seidenschal mit einem hübschen Schmetterlingsmuster, wartete im Empfangsbereich. Monica Telford. Eine Künstlerin. Ellen hatte sie vor ein paar Monaten auf einer Ausstellung kennengelernt. Ihr gefielen Monicas Arbeiten, und sie kaufte eines ihrer Bilder.

Monica erblickte Ellen, erhob sich und lächelte.

»Ellen, danke, dass Sie sich Zeit nehmen.«

Während der Ausstellung waren Ellen und Monica nur kurz ins Gespräch gekommen. Ellen konnte sich nicht daran erinnern, Monica gesagt zu haben, dass sie Polizistin war. Sie sollte sich geschmeichelt fühlen, nahm sie an, dass sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Schmeichelhaft oder nicht, Ellen hatte keine Lust, das hier in die Länge zu ziehen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.

Monica sah sich misstrauisch im Wartebereich um.

»Könnten wir irgendwo anders hingehen?«, fragte sie.

Ellen nickte. »Sicher. Folgen Sie mir.«

 

»Jemand verfolgt mich.«

Ellen wartete. Ihr graute vor dem, was sie gleich hören würde.

»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte Monica. »Wahrscheinlich wäre ich auch nicht gekommen, hätte ich nicht von der Sache im Star gelesen. Vielleicht hatten Sie noch nicht die Gelegenheit? Da ist diese Frau …«

Ellen hob ihre Hand. »Ich hatte Gelegenheit.«

»Natürlich«, sagte Monica. »Sorry. Oh, Gott. Sie glauben, ich sei einer dieser bedauernswerten Einfaltspinsel, die sich all das ausdenken, weil sie es in der Zeitung gelesen haben? Scheiße. Ich hätte wissen sollen, dass Sie das denken.«

»Ich denke gar nichts«, sagte Ellen. »Sie haben mir ja noch nichts erzählt.«

Monica lächelte. »Das habe ich nicht, stimmt. Ich mache ein ziemliches Durcheinander. Okay. Ich fang noch mal von vorne an.«

Die Story glich im Wesentlichen dem, was Ellen über Chloë Dunbar gehört hatte und was in der heutigen Zeitungsausgabe für den Rest der Welt zu lesen war. Monica fühlte sich seit Monaten verfolgt.

»Zuerst war es nur ein Gefühl«, sagte sie. »Auf der Straße oder im Park glaubte ich, jemand geht mir nach. Doch wenn ich mich umdrehte, war niemand da. Zumindest niemand, den ich kannte.

Plötzlich bemerkte ich merkwürdige Veränderungen im Haus. Gegenstände bewegten sich. Oh, schauen Sie mich nicht an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich meine nicht, dass sie sich von selbst bewegt haben. Sie wurden bewegt. Von jemandem.«

»Was für Gegenstände?«

Ellen heuchelte ihr Interesse inzwischen nur noch. Monicas Bericht ähnelte zu sehr Chloës Geschichte, sie konnte sie nicht ernst nehmen.

»Die Kissen im Wohnzimmer«, sagte Monica. »Ich plaziere sie immer auf eine bestimmte Weise. Sie kennen mein Haus nicht. Wenn ja, wüssten Sie, was ich meine. Ich lege sehr viel Wert auf das Aussehen. Ich habe mein Haus so eingerichtet, wie es mir gefällt. Alles ist wunderschön und hat seinen Platz. Ich merke sofort, wenn etwas anders ist. Das können Sie mir glauben.«

Ellen dachte an ihr kinderfreundliches Zuhause, wo nichts an seinem Platz war, und wurde einen Moment lang neidisch. Ihr Verlangen nach Sauberkeit und Ordnung stand im ständigen Widerstreit zur grenzenlosen Begeisterung ihrer Kinder für Chaos und Unordnung.

»Meine Küche nicht ausgenommen«, sagte Monica. »Eine Packung Nudeln im falschen Schrank, das Salzfass im Kühlschrank. So etwas. Und heute Morgen etwas anderes. Ich war total erschrocken.«

»Ja?«

Monica beugte sich vor, wollte sich Ellens ganzer Aufmerksamkeit vergewissern. Sie sah aufgeregt aus. Als genieße sie das alles hier.

»Er hat etwas für mich dagelassen«, sagte Monica. »Eine Tasse Tee und eine Blume. Eine Rose. Auf der Arbeitsplatte in der Küche. Der Tee war noch warm.« Sie zitterte. »Er war noch nicht lange fort.«

Ellen rekapitulierte Chloës Interview, ging es im Geiste Wort für Wort durch. Wollte sicher sein, dass sie es nicht übersehen hatte. Obwohl sie es schon wusste.

Ein Detail hatte Martine Reynolds nicht erwähnt. Etwas, was niemand wissen konnte. Chloës Stalker hatte eine einzigartige Methode. Jeden Morgen, wenn er im Haus gewesen war, stand eine Tasse Tee auf der Arbeitsplatte und daneben lag eine einzelne, in schwarzes Krepppapier gewickelte Rose.