Oma geht campen

Regine Kölpin

Oma geht campen

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

Klack, Tür zu, und der junge Mann war weg.

Oma Bille schüttelte fassungslos den Kopf. Wie lange war er da gewesen? Fünf Minuten? Zehn?

Zumindest lange genug, um sie um 2000 Euro zu melken, zahlbar in drei Tagen. Geld, das Oma Bille weiß Gott nicht hatte, sie war ja schon froh, wenn sie ihre Miete und das tägliche Essen bezahlen konnte. Das würde nun noch schwieriger werden. Dafür türmten sich jetzt in ihrer kleinen Küche zwei dicke Lammfelldecken nebst Kopfkissen.

Lammfelldecken! Mitten im Juli bei 30 Grad im Schatten, ein echtes Schnäppchen. Verdammt, was hatte sie da eben geritten? Oma Bille starrte auf die Rechnung, die ihr der junge Mann zum Abschied mit einem breiten Grinsen in die Hand gedrückt hatte. Er war zuerst so nett gewesen, hatte lange auf sie eingeredet, ihr die Vorzüge solcher Decken wieder und wieder aufgezeigt, so dass sie später gar nicht mehr anders gekonnt hatte, als zu unterschreiben. Vor allem, weil es doch für ihn, den armen entlassenen Strafgefangenen, so wichtig war, dass man ihm etwas abkaufte. »An uns glaubt keiner mehr. Nur so zuvorkommende alte Damen wie Sie«, hatte er mit zitterndem Kinn gesagt, und Oma Billes Mitleid für seinen bedauernswerten Zustand war groß gewesen. Wie von selbst hatten ihre Finger ihren Namenszug unter den Vertrag gesetzt. Erst danach war ihr aufgefallen, dass die Decken keine 200, sondern 2000 Euro kosteten. Der Daumen des jungen Mannes hatte versehentlich eine Null verdeckt. Danach hatte sie einen Augenblick gestutzt, weil er ihr mit einem Mal so bekannt vorgekommen war. Sie meinte plötzlich, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber da spielte ihr wohl das Gedächtnis einen Streich. Das konnte gar nicht sein, sie kannte keine Leute, die schon einmal im Gefängnis gewesen waren.

»Jetzt werden Sie es im Winter immer schön kuschelig haben«, hatte er gesagt, und Oma Bille hatte die kritischen Gedanken gleich wieder verdrängt. Sie wollte ihm eigentlich noch eine Tasse Tee anbieten, weil er doch ein so netter Mensch war, aber er hatte es mit einem Mal sehr eilig gehabt. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und sie die tatsächliche Summe entdeckte, wusste Bille auch, wieso.

»2000 Euro«, wiederholte sie und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen. Das Teewasser hörte eben auf zu blubbern und hinterließ eine eigentümliche Stille. Sie würde trotz der Decken im Winter frieren, weil sie nun ihre Heizkosten nicht mehr zahlen konnte. Immerhin bestand die Möglichkeit, diese monströsen Gebilde über sich aufzutürmen und darunter in eine Art Winterschlaf zu fallen. Aber ob das etwas nützte? Bille bezweifelte das. Denn der junge Mann hatte noch etwas gesagt, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Und genau das hatte weniger freundlich geklungen. »In drei Tagen bin ich wieder da, Omi.« Er hatte seine tätowierten Muskeln spielen lassen. Der kleine, zuvor sympathisch wirkende Drache auf dem linken Unterarm schwoll plötzlich zu einem feuerspeienden Ungeheuer an. »Und wenn du nicht zahlst, nehmen wir dich und deine ganze Bude auseinander. Kapiert?«

Das hatte Bille kapiert, und wie. Ihr zitterten immer noch die Knie. Niemals war sie in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen, sie hatte ihre Rechnungen stets pünktlich bezahlt, nie etwas geklaut oder jemanden übers Ohr gehauen. Doch nun befand sie sich inmitten einer sehr unangenehmen Situation: Sie würde nicht zahlen können. Sie hatte keine 2000 Euro.

Bille strich den grauen Flanellrock glatt und zupfte die Rüschenbluse zurecht. Es war heiß, ihre Strümpfe klebten an den Beinen, ihr Oberteil hatte sie heute schon dreimal gewechselt. Obwohl sie das Fenster zum Hinterhof geöffnet hatte, durchzog keine frische Brise ihre Wohnung im zweiten Stock. Es war, als läge über ganz Oberhausen, ach was, über dem ganzen Ruhrgebiet eine zähe Schicht, unter der man kaum zu atmen vermochte. Die Fliegen schienen an den Wänden festzukleben, und auch vom gegenüberliegenden Schulhof drang kaum Kindergelächter herüber; selbst zum Spielen war es zu warm. Wer konnte, ging in eines der umliegenden Schwimmbäder und suchte sich dort ein schattiges Plätzchen. Die Übrigen dünsteten in ihren Wohnungen vor sich hin und hofften auf kühlere Abendstunden. Lammfelldecken aber kaufte sicher um diese Jahreszeit niemand.

Bille stand auf und kühlte ihre Handgelenke unter dem fließenden Wasser. Dabei bemühte sie sich, die Gedanken zu sortieren. Ein bisschen Geld hatte sie noch auf der hohen Kante, oder besser gesagt in ihrem Bierhumpen im Wohnzimmerschrank. Es waren genau 553,60 Euro. Gespart für Notfälle. Vielleicht ließ der Mann ja mit sich handeln. Waren Lammfelldecken überhaupt ein Notfall? Nun, wenn sie Gefahr lief, dass man ihr die Wohnung zerlegte, konnte man das wohl so nennen.

Sie hätte längst zum Amt gehen können, Gelder beantragen und schauen, was ihr zustand, dann würde es ihr finanziell nicht so schlechtgehen, doch sie mochte das nicht. Betteln war peinlich, sie hatte es bislang immer allein geschafft, und das sollte auch so bleiben. Ihr würde schon etwas einfallen, wie sie das Geld auftreiben konnte. Sie hatte noch nie aufgegeben, gleichgültig, welche Aufgaben das Leben ihr gestellt hatte. Nicht einmal, als ihr Karl gestorben war, nicht einmal da. Und auch jetzt würde sie eine Lösung für das Dilemma finden. Bille lachte bitter auf. Das war ja eine nette Vorstellung! Wie wollte sie denn innerhalb von drei Tagen an 2000 Euro kommen? Dazu müsste sie eine Bank überfallen oder einen Geldtransport. Zumindest die Supermarktkasse an der nächsten Ecke. Am besten gegen Abend, wenn die Einnahmen sich stapelten.

Bille drehte den Wasserhahn ab. Sie besaß ja nicht einmal eine Strumpfmaske, von einer Knarre ganz zu schweigen. Kriminelle Vorhaben waren bislang in ihrer Lebensplanung nicht vorgesehen gewesen. »Du und deine blöde Gutmütigkeit«, schimpfte sie. »Wie konntest du ihm glauben, dass er ein armer Kerl ist?«

Der junge Mann hatte ihr wirklich leidgetan. Natürlich hatte sie ihn unterstützen wollen. Arm sein, nichts haben, das kannte Bille. Und nun steckte sie in dieser vermaledeiten Klemme: Das Geld hatte sie einfach nicht. Und sollte sie tatsächlich vermummt im Supermarkt oder in der Bank auftauchen, würde man sie allenfalls ins nächste Demenzzentrum verfrachten. Wer nahm schon eine alte Schachtel als Gangsterin ernst? Sie war keine Bonnie, und Mr. Clyde fehlte ihr auch.

Bille nahm die Rechnung, ging ins Schlafzimmer und stopfte sie in ihren Kopfkissenbezug. Aus den Augen, aus dem Sinn. Es war eine unsinnige Handlung, aber so machte das Ganze ihr weniger Angst. Vielleicht konnte sie dem jungen Mann zumindest eine Decke zurückgeben, was sollte sie mit zweien? Sie lebte a) allein und b) in Oberhausen und nicht in Sibirien.

Oma Bille schüttelte resigniert mit dem Kopf. Der Mann war kompromisslos. Eher würde der Tattoo-Drache erneut Feuer spucken. Sie musste zahlen!

»Weil ich das Geld nicht habe und ein Überfall, wie auch immer geartet, gegen mein Naturell verstößt, wäre es am besten, unterzutauchen«, murmelte sie. Ihre Ideen wurden immer abstruser. Litt sie etwa schon an Demenz? Abtauchen mit einer neuen Identität, so hatte sie das im Tatort gesehen. Aber dafür musste man der Polizei Fakten gegen Verbrecher liefern, und das einzige Faktum, das es gab, war ihre Unterschrift auf dem Kaufvertrag. Und die war wohl rechtens. Der junge Mann hatte sie schließlich nicht gezwungen. Was war das alles ein Mist!

Als es klingelte, schlurfte Bille zur Tür. Sie warf einen Blick durch den Spion. Nicht, dass der Typ ihr passend zu den Decken nun auch noch ein Bett oder Spezialmatratzen andrehen wollte.

Aber es waren Annemie und Laura, die Zwillinge aus der Wohnung gegenüber. Ihre »Ersatz-Enkel«. Die Winterbergs waren ihr in all den Jahren zur Familie geworden. Das war gut, vor allem, wenn man keine eigene hatte. Bille atmete erleichtert aus und öffnete. Der Besuch würde sie ablenken.

»Mama ist so gemein, Oma!«, legte Annemie gleich los. »Richtig fies.«

»Stimmt!« Laura stampfte mit dem Fuß auf. Die beiden zwölfjährigen Mädchen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Ihre dunklen Haare hatten sie zu Zöpfen geflochten und mit bunten Spangen verziert. Obwohl Bille beide schon von klein auf kannte, hatte selbst sie hin und wieder Probleme, sie auf Anhieb voneinander zu unterscheiden. Jedenfalls so lange, bis sie redeten. Laura war erheblich forscher als Annemie und gestikulierte ständig wie wild, während ihre Schwester eher ruhig blieb und überlegt agierte.

»Kommt erst mal rein!« Oma Bille trat zur Seite. Dabei sah sie sich sicherheitshalber um, wer wusste schon, ob ihr Geldeintreiber sich nicht doch irgendwo versteckt hielt, auch wenn er gesagt hatte, sie habe drei Tage Zeit. Wer alten Damen das Geld aus der Tasche zog und sie mit Tattoo-Drachen bedrohte, hatte bestimmt eine andere Zeitrechnung.

Die Mädchen schlüpften an Oma Bille vorbei in die Küche, wo sie wie selbstverständlich auf ihren Kakao warteten. Es war ein Ritual, von dem sie nie abrückten: Die Zwillinge hatten etwas auf dem Herzen, und Oma Bille machte Kakao. Im Sommer eisgekühlt, im Winter warm, aber nicht mit Haut. Haut war ein Graus für Kinder, das tat sie ihnen nicht an.

Oma Bille stellte die Tassen zurecht und holte Milch aus dem Kühlschrank. Ihre Enkel waren eine willkommene Abwechslung. Sie mochte nicht weiter über Lammfelldecken und fehlende 2000 Euro nachdenken. Schließlich wollten die Winterbergs übermorgen verreisen, und sie würde die beiden Mädchen für zwei Wochen nicht sehen. Dieser Gedanke verschaffte ihr ein noch größeres ungutes Gefühl. Sie war völlig allein und ihrem Widersacher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Die Mädchen hatten mittlerweile Omas Einkauf entdeckt. »Hast du Schafe gekauft?« Annemie strich über das Fell.

»Tote Schafe«, sagte Laura und stieß den Stapel an. »Sind ja nur Decken.«

»Ziemlich tot.« Annemie nickte. »Warum kaufst du so was? Kleine Schäfchen sind so süß!« Sie runzelte die Stirn. »Und ganz ehrlich, Oma: Es ist heiß draußen, was willst du jetzt damit?«

»War günstig«, sagte Bille. Sie verspürte nur wenig Lust, mit den Mädchen über ihre Kaufentscheidung zu diskutieren, zumal sie ja selbst nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Immerhin besaß sie zwei wunderbare Daunendecken, deren Inletts sie erst im Frühjahr hatte reinigen lassen. »Der Kakao ist fertig«, lenkte sie ab. »Setzt euch doch! Ich dachte, ihr wolltet was loswerden?« Sie nahm die Decken und verfrachtete sie ins Schlafzimmer. Irgendwo musste sie die Dinger in ihrer kleinen Wohnung bis zum Winter lagern, vielleicht passten sie auf den Kleiderschrank. Oder sie spielte Prinzessin auf der Erbse und packte sie unter sich auf die Matratze.

Bille ging zurück in die Küche. »So, und warum ist Mama nun fies?«, fragte sie die Mädchen.

»Weil es wieder das Meer sein muss. Und wieder der Campingplatz am Strand. Der in Hooksiel. Dabei wollen wir so gern mal in die Berge. Ich möchte wandern.«

»Das gibt aber Blasen an den Füßen«, gab Oma Bille zu bedenken. Obwohl sie auch lieber in die Berge gefahren wäre als ans Meer, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Nur stellte sich diese Frage nicht, weil sie nie irgendwohin fuhr. Außer ins CentrO oder in den Zoo nach Duisburg. Vielleicht mal nach Köln an den Rhein, mit dem Seniorenticket.

»Seid froh, dass ihr überhaupt verreisen dürft. Gerade bei dieser Hitze ist es ein Segen, ins Meer springen zu können.« Sie fächelte sich mit der herumliegenden Zeitung Luft zu. »Außerdem wisst ihr doch schon länger, wohin die Reise gehen soll.«

»Ja, aber wir dachten, wir könnten unsere Eltern noch umstimmen, und deshalb haben wir extra aus dem Reisebüro Prospekte von Garmisch und der Zugspitze geholt.« Laura zupfte drei zerknitterte Hochglanzflyer aus der Hosentasche und schob sie zu Oma hinüber. Bille faltete sie auseinander und strich glättend darüber.

»Mama hat nicht mal reingesehen, sondern einfach die Strandlaken in den Wohnwagen gebracht. Sie hört nicht auf uns.« Annemie nahm einen Schluck Kakao und hatte sofort einen dunklen Bart. »Die Nordsee ist aber langweilig!«

»Weil sie nie da ist«, ergänzte Laura mit einer ausladenden Handbewegung. »Das Meer in Friesland hat Ebbe und Flut.«

»Genau«, bestätigte Annemie. »Das ist voll doof. Bei Flut ist das Wasser ganz hoch, und wir dürfen nur ein bisschen rein, damit wir nicht untergehen. Und bei Ebbe ist da nur Matsch. Darin dürfen wir uns aber nicht mal wälzen, weil der Schlick aus den Handtüchern nicht rausgeht. Vor allem der pechschwarze ist für jede Hausfrau eine Herausforderung. Sagt Mama.«

Oma Bille sah ein, dass dies alles in Bezug auf einen gelungenen Urlaub durchaus kontraproduktiv war. Dieses »Sich-nicht-im-Matsch-wälzen-Können« glich einer elementaren Katastrophe. Nur wollte sie Maja, der Mutter von Annemie und Laura, nicht in den Rücken fallen.

»Es weht immerhin ein frischer Wind dort. Das ist doch auch schön, wenn es so heiß ist wie im Moment.« Oma Bille stellte sich ans geöffnete Fenster. Es brachte keine Erleichterung.

»Wind ist doof. Steife Brise nennen sie es da. Man sieht aus wie ein Pudel«, sagte Laura. »Wir sind ja keine kleinen Kinder mehr und achten auf unsere Erscheinung.«

Langsam gingen Oma Bille die Argumente aus, aber offensichtlich waren die Zwillinge ohnehin nicht daran interessiert, auch nur einen Hauch von Meer gut zu finden. »Neben dem Campingplatz in den Bergen steht ein Hotel, da ist sogar schon Franz Beckenbauer abgestiegen«, erklärte Annemie.

Oma Bille sah sie erstaunt an. Franz Beckenbauer gehörte wie sie zum alten Eisen, wieso kannten die Zwillinge ihn, obwohl sie mitnichten fußballinteressiert waren?

»Wir wissen zwar nicht, wer das ist, aber er muss ja bekannt sein, wenn sie das extra im Prospekt erwähnen.« Laura sammelte die Flyer wieder ein. »Ist auch egal, Mama und Papa gehen lieber ans Meer campen.«

»Das gar nicht da ist. Oder nur manchmal«, ergänzte Annemie.

Die Mädchen waren, trotz des seelentröstenden Kakaos, heute Morgen auf Krawall gebürstet, und Oma Bille war gnadenlos überfordert. Was verstand sie schon von Urlaub?

»Noch was zu trinken? Eine Limo bei der Hitze?«, schlug sie vor, weil die Stimmung in den Keller zu rutschen drohte und ihr nichts Besseres einfiel.

Die Mädchen schüttelten die Köpfe. »Limonade hilft jetzt auch nichts, Oma. Spanien, ja das wär auch was gewesen«, sagte Annemie. »Wenn schon keine Berge.«

»Ja, Spanien«, schwärmte Laura. »Da scheint immer die Sonne. Und was tun wir? Wir fahren ins Wangerland nach Hooksiel. Allein wie das klingt! Das ist Friesland!«

»In Spanien ist es noch wärmer als hier.« Bille fand den Süden Europas generell nicht erstrebenswert. Wenn man doch schon in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Ruhrpott langsam vor sich hin garte. Im Süden musste es noch schlimmer sein. »Was sagt denn euer Bruder zu den Vorschlägen?«

»Ach, der!« Laura winkte ab. »Mit Felix ist nichts los. Der sitzt nur gelangweilt rum und quatscht dummes Zeug. Papa sagt, diese Phase muss man eben überstehen. Danach wären wir dran mit solchen Spinnereien. Wie Felix werden wir aber ganz sicher nicht. Der ist so blöd, vor allem, wenn er chillt.«

Er chillt?, wiederholte Oma Bille in Gedanken. Was das wohl bedeutete? Sie kannte Chinchillas, aber diese Tierchen hatten wohl kaum etwas mit Felix’ Gemütslage zu tun. Wobei seine momentanen Launen ohnehin nur selten mit irgendetwas was zu tun hatten. Der junge Herr pubertierte, das war in der heutigen Generation die Ausrede für alles und jedes, was man entweder nicht erklären oder nicht entschuldigen konnte. Zu Oma Billes Zeiten nannte man diesen Zustand noch »halbstark«.

»Ich denke trotzdem, dass es ein schöner Urlaub wird. Und ich freue mich, wenn ihr wieder zu Hause seid.«

Das dieses Mal garantiert noch mehr als sonst, dachte sie. Lieber gar nicht weiterdenken. Die Winterbergs fuhren immer 14 Tage lang weg, das glich einer gefühlten Unendlichkeit.

Laura trat neben Oma Bille und umarmte sie. »Na ja, dann freuen wir uns eben auch. Aber« – sie stockte – »jetzt musst du ja ganz allein in dieser Hitze ausharren, während wir am Strand rumliegen, Drachen steigen lassen, Souvenirs shoppen, Backfisch essen und so.« Laura ließ Oma Bille los. »Du wirst uns gewiss vermissen. Wer soll denn mit dir in den Zoo gehen?«

Oma Bille lächelte gequält. »Ich schaff das schon. Ich kann mit der Bahn hinfahren, zum Friedhof spazieren und ein paar Blumen ablegen und auf den Sterkrader Wochenmarkt gehen. Dort kaufe ich schöne Stoffe und nähe euch was. Das ist dann fertig, wenn ihr zurück seid.« Falls der Schlägertyp sie bis dahin nicht massakriert und ihre kleine Wohnung völlig zerlegt hatte.

»Super!«, sagte Laura strahlend. Sie liebte die bunten Kreationen, die Oma Bille für sie entwarf und dann mit geschickter Hand zusammennähte.

Gerade als die Zwillinge sich auf den Weg machen wollten, klingelte es erneut. Laura stürmte zur Tür. »Mama?«, fragte sie entgeistert, als sie sah, wer vor der Tür stand. Doch ihre Mutter wirkte keineswegs böse, sondern spazierte mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen in die Wohnung. »Puh, ist das heiß«, sagte sie. »Die ganze Stadt gleicht einer Sauna, das kann nicht gesund sein. Und genau deshalb bin ich hier.«

»Hast du für Oma Bille einen Ventilator gekauft?« Laura hüpfte auf und ab, doch ihre Mutter hielt kein Paket in den Händen.

Maja Winterberg lächelte noch immer. »Das nicht, aber ich habe etwas viel Besseres dabei als einen Ventilator.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Vor allem ihr älteren Leute leidet ganz schön unter der Hitze«, sagte sie an Oma Bille gewandt. »Manchmal bin ich deswegen richtig in Sorge.«

»Oma Bille ist nicht alt«, warf Laura ein.

»Nein, sie ist betagt«, sagte Annemie. »So nennt man das. Sie muss viel trinken, sonst fällt sie um vor Austrocknung.« Angesichts dieser nahenden Katastrophe stürzte sie zum Wasserhahn und füllte ein Glas bis zum Rand. »Trink mal was, Oma!«

Bille nahm folgsam einen Schluck. Nicht, dass sie tatsächlich kurz davor war, in sich zusammenzusacken, so wie der mit Luft gefüllte Schneemann, den ihre Nachbarn zur Weihnachtszeit auf dem Balkon gehabt hatten und der gleich am zweiten Tag tragischerweise von einem vorzeitig abgeschossenen Silvesterböller mitten in den Bauch getroffen worden war. Sie hatten die Reste des Verblichenen noch immer nicht beseitigt, und Bille wurde mit dem Drama Morgen für Morgen konfrontiert.

Das Leitungswasser schmeckte nach Chlor. Bille mochte es nicht besonders, aber es war eine Alternative zum Mineralwasser oder zur Limo, die sie nur für die Mädchen bereithielt. Wasser aus dem Hahn war gut, weil es nicht viel kostete. »Was hast du denn dabei?«, wandte sie sich an Maja, nachdem sie das Glas geleert hatte. Sie verspürte keine Lust, weiter über zusammengesackte Gestalten nachzudenken, schon gar nicht, wenn es sie selbst betraf.

»Es handelt sich eher um eine Überraschung. Jan und ich möchten uns damit bei dir bedanken.«

Bille winkte ab. Wofür wollten sie ihr danke sagen? Sie hütete ab und zu die Mädchen, doch das war keine Last, sondern eine willkommene Abwechslung. Dafür waren ihre Tage nicht so lang und trist wie bei anderen alleinstehenden alten Leuten. Und ihnen hin und wieder ein bisschen Kleidung zu nähen oder Marmelade zu kochen und Obst einzuwecken war ebenfalls eine Sache, bei der alle gewannen.

»Weißt du, Oma Bille«, sagte Maja, »du springst immer ein, wenn mich die Klinik spontan zur Nachtwache ruft, du bist da, wenn ich krank bin. Von deinen lieben Zuwendungen wie den selbstgebackenen Kuchen am Wochenende und den leckeren Marmeladen mal abgesehen. Für uns bist du unentbehrlich geworden.« Maja presste die Lippen aufeinander und runzelte zugleich die Stirn. »Ja, du hast sogar auf Felix ein Auge, und das ist im Moment alles andere als einfach.«

An der Stelle musste Bille Maja allerdings recht geben. Das war eine echte Herausforderung. Der Knabe sprach nicht. Oder wenn, dann in Ein-Wort-Sätzen, deren Kontext man sich zusammenreimen musste. Was es mit dem Chillen auf sich hatte, würde sie noch unauffällig herausfinden. Wozu gab es schließlich Google, und wozu hatte sie vor ein paar Wochen beim Seniorentreff am Computerkurs teilgenommen?

»Nun sag schon, Mami, was du Oma geben willst«, flehte Annemie. »Ich bin so neugierig!«

Maja lächelte. »Liebe Oma Bille, was hältst du von der Idee, mit uns an die Nordsee zu reisen und endlich mal Urlaub zu machen?«

Bille zuckte zurück. »Ich soll in den Urlaub fahren?«

»Ja! Hooksiel ist richtig schön. Ein ganz kuscheliger Ort mit einem romantischen Hafen und mit alten Fischkuttern, vielen Cafés und kleinen Geschäften. Dazu ein wunderbarer Sandstrand und das Hooksmeer, wo du auch spazieren gehen kannst.« Abwartend blickte Maja sie an. Bille war unsicher, was sie sagen sollte.

Ich soll in den Urlaub fahren?, wiederholte sie stumm. Ich weiß ja kaum noch, wie man das buchstabiert, dachte sie. Aber der Gedanke ließ sie innerlich auflodern. Wann hatte sie zuletzt Urlaub gemacht? Das war in den 70er Jahren gewesen. Damals hatte Bille mit ihrem Mann Karl das Allgäu bereist. Sie hatten den Grünten bestiegen und in dem kleinen Ort Kranzegg gewohnt. In einer winzigen Ferienwohnung mit rot-weiß karierten Gardinen, einem so dicken Federbett, dass man fast darunter erstickte, und einem Kruzifix an der Wand. Aber sie hatte neben Karl gelegen und nachts sein Schnarchen gehört. Obwohl sie deswegen unruhige Nächte gehabt hatte, war es dennoch ein vertrautes Geräusch gewesen. Das war vorbei. So war das Leben. Man merkte immer erst im Nachhinein, welchen Schatz man besessen hatte, weil man stets glaubte, der Reichtum ließe niemals nach. Seit diesem Urlaub liebte Bille die Berge als den Inbegriff von Glück.

Hooksiel war allerdings ganz weit weg davon, lag in der völlig anderen Richtung, um genau zu sein. Dazu war es dort flach, und es gab viel Wasser und viel Wind und Regen, wenn sie die Ausführungen ihrer Nachbarin Frau Meyer-Semmelmann für bare Münze nahm.

Bille musste jetzt etwas sagen, denn alle drei Augenpaare waren abwartend auf sie gerichtet. Hooksiel war nicht Kranzegg. Aber die Entfernung zwischen Oberhausen und diesem Fischerort war ihr sympathisch. Dort war sie unauffindbar für den jungen Mann, der ihr in drei Tagen den Marsch blasen würde, sollte sie nicht zahlen. Unter diesem Aspekt war eine Reise die Lösung!

»Du bist sonst so allein, und niemand bekäme mit, wenn dir etwas passiert«, argumentierte Maja weiter. Sie schien wirklich zu wollen, dass Bille mitfuhr. Es war kein Angebot, bei dem sie hoffte, dass die Beschenkte ablehnte. Das war ernst gemeint.

»Stell dir vor, du bekommst einen Schwächeanfall oder dich überfällt jemand. Nicht auszudenken! Und ein Tapetenwechsel würde dir sehr guttun.« Sie wischte sich erneut mit dem Handrücken über die Stirn. »Außerdem kann man dich bei dieser Hitze wirklich nicht hier allein lassen.«

Stimmt, dachte Bille. Wenn es die nächsten Wochen weiterhin so stickig blieb … Und dann die Sache mit dem jungen Mann … Der Plan mit Hooksiel klang nicht verkehrt. Es gab allerdings noch ein paar Details zu klären.

»Ihr fahrt mit eurem Wohnwagen auf einen Campingplatz. Wo soll ich denn schlafen?« Neben Felix im Zelt, der chillte, wovon sie noch nicht sagen konnte, ob sie das guthieß? Hinzu kam, dass Felix stets ein Doppelbett oder in dem Fall eine Doppelluftmatratze für sich allein beanspruchte. Er lag immer quer. Das hatte er schon als Baby getan.

»Wir haben für dich einen Leihwohnwagen organisiert, der gleich neben unserem Stellplatz aufgebaut wird. So hast du dein eigenes Reich. Die Mädchen schlafen bei uns im Wohnwagen, Felix hat sein Wurfzelt.«

Bille ging in sich, sie musste stets alles beleuchten, bevor sie eine Entscheidung traf. Das Ganze stellte sich folgendermaßen dar: Sie liebte die Berge und sollte nun an die Nordsee. Sie war 73 Jahre alt, träumte heimlich schon länger von einem feinen Hotel mit Schwimmbad und Sauna (so etwas hatte sie erst kürzlich als Reisetipp in einer Frauenzeitschrift beim Friseur gesehen) und würde stattdessen in einem Wohnwagen hausen. Sie sollte Urlaub machen, würde jedoch als Ersatzoma für quirlige Zwillinge und einen halbstarken Chiller fungieren (an dieser Stelle wurde ihr die Dringlichkeit des zeitnahen Googelns noch einmal sehr deutlich). Anstelle der angepeilten Seniorenwassergymnastik im gut temperierten Thermalbad würde sie sich entweder im Schlick (der nicht aus den Handtüchern zu waschen war) suhlen oder beim Baden in der Flut ihr Leben riskieren. Hinzu kam das wegen der steifen Brise nicht zu unterschätzende Frisurproblem. Der Wind wehte immer und überall und ständig von vorn. Das hatte Bille den Erzählungen der Winterbergs entnommen, wenn sie von ihren Radtouren erzählten. Bille legte aber großen Wert auf einen guten Sitz ihrer Dauerwelle. Da stimmte jede Locke.

Es gab bei dieser Reise also etliche Argumente dagegen, aber auch ein unschlagbares dafür: Das große Problem mit den zu zahlenden 2000 Euro würde in weite Ferne rücken. Dagegen waren ein Halbstarker und alle anderen Widrigkeiten eigentlich Peanuts, wie die Zwillinge es ausdrücken würden. Oma Bille grinste. Das Leben funktionierte manchmal perfekt.

»Wäre denn genug Platz für meine Bücher da?«

Maja lächelte, kannte sie doch Billes Vorliebe für dicke Schmöker. »Du wirst viel Zeit zum Lesen haben. Versprochen!«

»Und dann geht es also übermorgen wie geplant los?«

»So ist es, Oma Bille.« Maja strahlte übers ganze Gesicht, die Mädchen führten einen Freudentanz auf. »Es ist alles organisiert. Damit du dich wirklich gut erholen kannst. Wegen der Blumen, der Treppenhausreinigung und dem Briefkasten habe ich schon Frau Meyer-Semmelmann gefragt. Sie macht das liebend gern für uns.«

Bille nickte. Frau Meyer-Semmelmann waren diese Arbeiten wie auf den Leib geschnitten, es gab in ganz Oberhausen bestimmt keine Mittfünfzigerin, die so erpicht auf solche Hilfsdienste war wie sie. Darüber brauchte sich Oma Bille also nicht den Kopf zu zerbrechen.

»Übermorgen … Ich freue mich«, hörte sie sich sagen. In Gedanken packte sie bereits ihren Koffer und überlegte, welche Bücher sie sich noch aus der Stadtbücherei besorgen sollte, wo sie Stammgast war. In zwei Tagen lägen zwischen ihr und dem Geldeintreiber ungefähr 300 Kilometer. Das klang nach einer gesunden Distanz. Dennoch ließ ihr Magengrummeln nicht ganz nach. Aufgeschoben war nicht aufgehoben.