Carin Müller

Tage zwischen Ebbe und Flut

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Carin Müller

Carin Müller studierte Germanistik in München. Nach ihrem Studium volontierte sie bei verschiedenen Radiosendern sowie in einer PR-Agentur. Seit einigen Jahren arbeitet sie als freiberufliche Journalistin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund, dem dreijährigen Airedale-Terrier-Rüden Toni, in Frankfurt.

Impressum

© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2016 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Martina Vogl

Karte: Computerkartographie Carrle

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung: Robin Bartholick / Gettyimages; Sergey Novikov / Shutterstock

ISBN 978-3-426-44022-3

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Vergessen ist eine Form von Freiheit.

Khalil Gibran

Prolog

Frankfurt, 14. Mai:

Hier lief etwas grundlegend falsch!

»Hoch soll er leben, hoch soll er leben, drei Mal hoch!«

Ein Chor von Gratulanten hatte den kompletten Garten okkupiert, um Felix Kaufmann ein Ständchen zu bringen. Doch das siebzigjährige Geburtstagskind stand auf seiner Terrasse und blickte ein wenig ratlos lächelnd in die erwartungsvollen Gesichter seiner Gäste. Doch es war falsch! Musste er? Sollte er jetzt etwa …

»Sag danke, Felix!«, raunte ihm seine Frau Ellen ins Ohr und zupfte ihn am Sakko.

»Warum?«

»Weil die Leute das erwarten. Du hast Geburtstag, sie gratulieren dir. Du sagst dafür danke«, flüsterte Ellen mit wachsender Dringlichkeit.

»Mein Geburtstag war doch schon vor ein paar Tagen«, beharrte Felix. »Außerdem habe ich niemanden eingeladen. Ich will jetzt mit Leo Gassi gehen.« Er hob seine rechte Hand wie zum Gruß, winkte einmal den vielen Leuten zu und schickte sich an, ins Haus zu gehen. Dabei nahm er die zunehmend irritierten Blicke gar nicht wahr.

Ellen schon. Sie fühlte, wie sich ein leichter Schweißfilm auf ihrer Stirn ausbreitete. Warum musste Felix ausgerechnet heute einen seiner schlechteren Tage haben? Sie hielt ihn mit eisernem Griff fest und sagte leise, aber eindringlich zu ihm: »Schatz, der Hund ist seit drei Jahren tot! Du kannst jetzt nicht gehen. Wir haben Gäste, die wegen dir hier sind.« Dabei brachte sie es fertig, zeitgleich verbindlich in die Runde zu lächeln.

»Aber …«, setzte Felix an.

Sein Einwand wurde jedoch von einem lauten Schrei unterbrochen, dem gleich darauf wildes Gekreische folgte, das die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste vom Jubilar weg hin zum Pool zog. Offenbar war jemand ins Wasser gefallen. Ellen ließ Felix los und stürzte ebenfalls in Richtung Schwimmbecken. Einer ihrer kleinen Enkelsöhne hatte eine unfreiwillige Badeeinlage unternommen.

~~~

Von dem folgenden Chaos bekam Felix nichts mehr mit. Er hatte den unbeobachteten Moment genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. Ihm war das alles zu viel. Zu viele Menschen und vor allem zu viele Erwartungen. Er war doch nicht der Pausenclown dieser Leute. Unbemerkt verließ er sein Haus in der Holbeinstraße, lief am Städel vorbei, überquerte die Straße und ging hinunter zum Main.

An diesem milden Sonntagnachmittag herrschte einiger Betrieb. Jogger und Radfahrer schlängelten sich durch die Trauben von Spaziergängern. Kleine Kinder tollten auf der Wiese und stolperten über verliebte Pärchen, die dort knutschend in der Sonne lagen. Ein freilaufender Dackel hatte ein Kaninchen aufgescheucht und jagte es, aufgeregt kläffend, ins nächste Gebüsch. Felix fühlte, wie er sich entspannte. Hier kannte er sich aus. Hier verlangte niemand etwas von ihm. Er schritt forsch aus, weg von dem Trubel in Richtung Uniklinik, wo es deutlich ruhiger wurde am Ufer. Das war seine übliche Gassirunde mit Leo gewesen. Doch Leo lebte nicht mehr. Wie hatte er das nur vergessen können? Er seufzte und setzte sich auf eine Bank. Die Wahrheit war immer noch niederschmetternd: Er hatte den Tod seines geliebten Hundes genauso vergessen wie seinen Geburtstag. Dinge, die früher selbstverständlich waren, schienen mit einem Mal unerträglich kompliziert. Verdammter Alzheimer! Warum hatte es bloß ihn erwischt? Und warum ging die Krankheit nicht einfach wieder weg?

Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, zwei Achter glitten vorbei, ein Ausflugsdampfer und dann ein großer Frachter. Felix sah ihnen hinterher. Wohin das Containerschiff wohl unterwegs war? Früher war er immer mit seinen Kindern an den Fluss gegangen, und gemeinsam hatten sie sich die Abenteuer ausgemalt, die man auf einem Schiff mutmaßlich haben konnte. Er hatte sich am Ufer eines Gewässers schon immer besonders wohl gefühlt, und noch viel lieber hätte er eine Seereise gemacht, doch daraus war nie etwas geworden. Ellen hatte Angst vor dem Meer, und so beschränkten sich seine Erfahrungen mit der Seefahrt auf eine langjährige Mitgliedschaft im Ruderclub. Felix schloss die Augen und döste ein. Als ihn etwas am Knie berührte, schreckte er hoch. Neben ihm schnüffelte ein struppiger Mischling interessiert am Boden herum.

»Jack, komm her!«, rief eine energische Stimme. Der Hund hob kurz den Kopf, dachte aber nicht daran, der Aufforderung seiner Besitzerin Folge zu leisten, sondern kümmerte sich wieder um seine augenscheinlich aufwendige Recherche.

Felix tätschelte lachend das mittelgroße Tier und sagte zu ihm: »Ich würde mal lieber zu Frauchen laufen. Sonst bekommst du Ärger!« Der Hund wedelte und leckte ihm kurz über die Hand.

»Jack! Hierher!« Die Stimme wurde lauter und schärfer. Der Mischling zuckte mit den Ohren und entschloss sich schließlich, doch zu parieren. Er stupste Felix noch einmal zum Abschied an und rannte davon.

Was für ein Schlitzohr, dachte Felix – und dann fiel es ihm plötzlich auf: Leo war weg! Sein Jack-Russel-Terrier musste ausgebüxt sein, während er selbst in der Sonne geschlafen hatte. Das würde Ärger geben, wenn er mal wieder ohne Hund nach Hause kam. Ellen verstand in diesem Punkt wirklich überhaupt keinen Spaß. Dann würde er den kleinen Racker jetzt wohl besser suchen. Felix erhob sich von der Bank und machte sich mit lauten »Leo!«-Rufen auf den Weg.

Opa, der Terrorist

Auf dem Flug Köln – Rom, 24. Juli:

»… erwarten wir Turbulenzen. Bitte bleiben Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit während des gesamten Flugs angeschnallt.«

»Wenn wir abstürzen und sterben, bist du schuld«, maulte Fabienne ihre Tante Judith an, wandte ihren Blick aber gleich danach wieder ab und starrte nervös aus dem Fenster. Gleißend heller Sonnenschein blendete sie. Der Himmel war blau, und sie flogen über weißen Wolken, die wie ein watteweiches Daunenbett aussahen.

»Wir stürzen nicht ab. So viel Glück habe ich nicht«, entgegnete Judith angespannt. Was sie insgeheim leicht bedauerte, denn das würde all ihre Probleme auf einen Schlag lösen. Verglichen mit der Aussicht, die nächsten elf Tage zusammen mit ihrer störrischen Nichte und ihren Eltern auf einem ziemlich kleinen Segelkreuzfahrtschiff verbringen zu müssen, erschien ihr ein Absturz geradezu attraktiv.

»Du hast ja eine Laune«, beklagte sich ihre Nichte.

»Ach so, ich vergaß: Schlechte Stimmung ist für hormongebeutelte Teenager reserviert.«

»Ich bin kein Teenager, ich bin so gut wie erwachsen. Im Januar werde ich achtzehn, und dann kann mich keiner mehr zu so einem Scheiß zwingen.«

Judith seufzte. Sie hatte große Lust, ihrer Nichte hier an Ort und Stelle einfach den Hals umzudrehen, denn neben allen anderen Problemen war Fabiennes überraschender Auftritt gestern Morgen auf ihrer Türschwelle das Sahnehäubchen gewesen. Doch sie versuchte es mit Diplomatie: »Fabi, glaub mir bitte, dass ich es im Moment noch mehr als du bedaure, dass du nicht schon volljährig bist.« Okay, das war noch nicht superdiplomatisch, aber jetzt: »Doch da die Situation nun mal so ist, wie sie ist, sollten wir das Beste daraus machen. Meinst du nicht?«

»Und was ist das Beste?«, fauchte das Mädchen angriffslustig. »Ich wäre eher noch an die Nord- oder Ostsee gefahren, statt mit lauter Rentnern auf einem blöden Schiff rumzuhängen.«

»Es hat dich keiner gezwungen abzuhauen. Abgesehen davon werden nicht nur Rentner an Bord sein. Und selbst wenn, geschähe es dir recht.«

»Ja, ja, schon gut. Wie oft muss ich mir das noch anhören?« Fabienne verschränkte wütend die Arme vor ihrem schmalen Körper. Sie wusste nicht, worüber sie sich am meisten ärgerte. Darüber, dass ihr toller Plan so grandios gescheitert war und sie nun buchstäblich in der Falle saß, oder darüber, dass sie dieses Debakel hätte vermeiden können. Wäre sie statt nach Köln doch bloß nach Berlin zu den Freunden von Alinas Bruder gefahren! Nun konnte sie sich die Castings abschminken. Dabei hatte sie sich das alles so wunderbar ausgemalt: Gegenüber ihrer Mutter hatte sie behauptet, mit ihrem Vater an die Nordsee zu fahren; stattdessen war sie einen Tag vor der geplanten Abreise frühmorgens heimlich mit dem Bus nach Köln gefahren, um bei ihrer Tante unterzuschlüpfen. Sie war davon ausgegangen, dass ihr Vater nach kurzen Verhandlungen zähneknirschend zustimmen würde, dass Fabienne bei Judith bleiben dürfte, schließlich war sie seine Schwester und somit engste Familie. Fabienne war sich sicher gewesen, zwei Wochen Freiheit in Köln vor sich zu haben und in dieser Zeit in aller Ruhe die anstehenden Castings absolvieren zu können – ganz ohne dass ihre kritische Familie ihr ein schlechtes Gewissen einredete. Doch Tantchen hatte ein anderes Vorhaben. Die Chefredakteurin des erfolgreichen TV-Mittagsmagazins wollte verreisen! Während der Sommerferien. Mit ihren Eltern. Darauf konnte doch kein Mensch ernsthaft kommen, oder?

Minutenlang schwiegen Tante und Nichte, doch dann platzte es aus Fabienne heraus: »Ich hätte einfach niemals gedacht, dass du es ernst meinst mit dieser Kreuzfahrt. Und dass nicht nur Opa, sondern auch Oma mitfahren. Ich meine, das ist doch total untypisch.«

»Was ist untypisch?«

»Na alles! Dass Oma und Opa nicht zum Golfen fahren. Dass du überhaupt in den Urlaub fährst – du machst ja sonst auch nie Ferien. Und dass du dann auch noch mit den beiden zusammen verreist.«

Da hatte sie allerdings recht, gab Judith in Gedanken zu. Dass ihre Mutter mitkommen würde, hätte sie selbst im Leben nicht gedacht. Mit Grauen dachte sie an die letzten zwei Wochen.

Sie hatte schlicht Nägel mit Köpfen gemacht, als sie eine Kabine für sich und ihren Vater auf der Flying Cloud gebucht hatte. Natürlich war ihr klar gewesen, dass das ihrer Mutter nicht gefallen würde, aber sie hatte gehofft, dass diese es auch als Chance wahrnahm. Als Möglichkeit, ein paar Tage ohne ihren Mann verbringen zu können, der immer weniger Partner und immer mehr Patient wurde. Als Möglichkeit, Kraft zu tanken. Judith wusste aus dem Gespräch mit einer Alzheimer-Ärztin, das sie vor einigen Monaten für ihre Sendung geführt hatte, wie wichtig es für die engsten Angehörigen war, ab und zu eine Pause und Zeit für sich selbst zu bekommen. Ihre Mutter hätte sich in Griesbach beim Golfen entspannen – und sie selbst hätte ein wenig Zeit mit ihrem Vater verbringen können, so lange solche Aktivitäten mit ihm noch möglich waren. Doch Ellen hatte von all diesen Überlegungen nichts wissen wollen und auf ihrem gemeinsamen Golfurlaub mit Felix beharrt. Weil der sich aber plötzlich mit erstaunlicher Vehemenz und Klarheit für die Schiffsreise ausgesprochen hatte – »Das könnte mein letztes Abenteuer werden!« –, hatte sie beschlossen, ihn zu begleiten.

Das war der Moment, an dem Judith ihren Platz hätte räumen und ihre Eltern alleine fahren lassen können. Doch drei schwerwiegende Argumente hatten sie davon abgehalten, obwohl es in der Rückschau der einzig logische Schritt gewesen wäre: erstens die Tatsache, dass sie wirklich gern noch etwas Zeit mit ihrem Vater verbringen wollte. Zweitens brauchte sie dringend eine Auszeit vom Job, denn ihr letzter nennenswerter Urlaub lag schon fast anderthalb Jahre zurück. Und drittens wollte sie ihrer Mutter auf keinen Fall die Deutungshoheit über diesen Trip überlassen.

Sie war nicht stolz auf den letzten Punkt, aber es war die Wahrheit. Sie wollte sich nicht die nächsten Wochen und Monate irgendwelche kruden Geschichten ihrer Mutter über diese Reise anhören, die außerhalb jeglicher Überprüfbarkeit lagen. Jedenfalls hatte sie sofort bei der Reederei angerufen und eine weitere Kabine gebucht. Sie hatte, seit sie mit zwanzig ausgezogen war, nie mehr als maximal zwei Tage am Stück mit ihren Eltern verbracht. Wie sollte das nun elf Tage lang auf einem ziemlich kleinen Schiff funktionieren? Die eigene Kabine hätte ihr Rückzugsort werden sollen, falls ihr die Familiennähe zu viel würde. Doch aus diesem Refugium wurde nun nichts, weil ihre kapriziöse Nichte alle Pläne zunichtegemacht hatte.

Nachdem Fabienne gestern Morgen bei ihr aufgekreuzt war, hatte Judith in endlosen Telefonaten mit ihrem Bruder schließlich beschlossen, dass Fabienne mit auf Kreuzfahrt gehen sollte. Keiner wollte es riskieren, die Siebzehnjährige noch einmal alleine mit Bus oder Bahn zurück nach Frankfurt zu schicken. Und schließlich: Strafe musste sein! Judith fragte sich nur zum wiederholten Male, für wen genau.

»Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, unterbrach Fabienne die düsteren Gedanken ihrer Tante.

»Du findest es also untypisch«, knüpfte Judith an das vorherige Gespräch an. »Ist es nicht. Überraschende Aktionen sind sogar absolut typisch für die Familie Kaufmann! Keiner spricht richtig mit dem anderen. Man bekommt Bruchstücke von etwas mit und macht sich dann einen eigenen Reim drauf. Und wundert sich dann, wenn es am Ende ganz anders aussieht, als man es sich vorgestellt hat.« Sie lachte bitter auf. »Hättest du nur einmal in den letzten Tagen mit Oma und Opa über ihre Reisepläne gesprochen, hättest du gewusst, dass sie mit mir auf Kreuzfahrt gehen. Dann hättest du dir dein Abhauen sparen können und müsstest nicht die nächsten elf Tage …« Sie winkte ab, das hatten sie ja schon ein Dutzend Mal diskutiert. Doch als sie sah, wie sich Fabienne erneut aufplusterte, zweifellos um einen passenden Kommentar abzusondern, fuhr sie fort: »Und fang jetzt nicht wieder damit an, dass du sonst nach Berlin gefahren wärst. Glaub mir, das hätten sie auch rausgefunden, und dann wäre es für dich noch heftiger gekommen!«

Das bezweifelte Fabienne zwar aus tiefster Seele, sie zog es aber vor, nichts mehr dazu zu sagen. Wenigstens mit ihrer Tante wollte sie es sich nicht dauerhaft verscherzen.

»Du meinst also, dass es in unserer Familie ein Kommunikationsproblem gibt?«

»Um es vorsichtig zu formulieren.«

»Dann ist es doch gut, dass wir vier jetzt zusammen auf diesem Schiff sind. Da können wir so lange reden, bis alle Fragen geklärt sind.« Nach dieser erstaunlichen Ankündigung stülpte sich Fabienne die Kopfhörer über ihre Ohren und schloss die Augen.

Auf dem Flug Frankfurt–Rom, zwei Stunden später:

»Ich will das nicht!«, beschwerte sich Felix.

»Was willst du nicht, Schatz?«, fragte Ellen mit forciert ruhiger Stimme. Felix wollte schon den ganzen Tag nichts. Erst wollte er das Hemd nicht anziehen, das sie für ihn herausgelegt hatte. Dann wollte er nicht mit dem Taxi zum Flughafen fahren. In der Sicherheitskontrolle hatte er sich geweigert, Uhr und Gürtel abzulegen, und für ein mittleres Chaos gesorgt, weil die Sicherheitskräfte nicht verstanden, dass es sich bei dem virilen älteren Herrn um einen von der Umgebung völlig verwirrten Alzheimer-Patienten handelte. Stattdessen hatten sie Verstärkung angefordert und Felix tatsächlich erst einmal festgesetzt. Es dauerte fast eine Stunde, bis Ellen die Situation aufklären konnte. Danach hatten sie kaum noch Zeit gehabt, rechtzeitig zu ihrem Gate zu gelangen. Auch deswegen, weil Felix noch dringend zur Toilette musste und nicht wieder auftauchte. Nach gut zehn Minuten war Ellen beherzt in das Herren-WC gegangen, nur um zu sehen, wie Felix ratlos, aber durchaus fasziniert die selbstspülenden Urinale anstarrte.

Was war nun wieder?

»Das da.«

»Was, Liebling?« Nun schwang eine Spur Ungeduld und Frustration mit. »Ist es der Gurt, der dich stört? Oder blendet dich die Sonne?«

»Nein. Das da!« Auch Felix wurde immer gereizter. Er hasste es, wenn man ihn nicht verstand. Und noch mehr, dass er sich nicht verständlich machen konnte. Aber Ellen müsste das doch kapieren. Er machte eine unbestimmte Geste mit der Hand und wiederholte: »Das da. Das alles!«

»Das alles?«, kam es von Ellen. »Du meinst, dass wir hier in einem Flugzeug sitzen und nach Rom fliegen?«

»Ja.« Felix nickte. »Ich will nicht nach Rom.«

»Das hättest du dir früher überlegen müssen. Ich wollte mit dir zum Golfen nach Bad Griesbach. Mit den Neumanns. Wie jedes Jahr. Aber du wolltest ja partout mit deiner Tochter auf diese Segelkreuzfahrt gehen. Und jetzt sagst du mir, du willst das alles nicht?« Ellen wusste, dass diese Vorhaltungen sinnlos waren und unfair obendrein, denn Felix hatte es sich nicht ausgesucht, verwirrt und hilflos zu sein. Aber sie hatte das auch nicht verdient.

Einen winzigen Augenblick lang verfluchte sie ihre Entscheidung, mit auf diese Reise zu gehen. Hätte Judith das doch alleine regeln sollen. Nach elf Tagen wären ihrer Tochter die großspurige »Ich weiß alles besser«-Attitüde garantiert vergangen. Wie konnte sie es bitte schön besser wissen? Sie lebte nicht mit einem Alzheimer-Patienten zusammen. Sie musste nicht den Alltag mit ihm meistern. Judith hatte einmal ein Interview mit einer Demenz-Spezialistin geführt und tat seitdem so, als sei sie selbst eine Koryphäe auf diesem Gebiet.

Doch Ellen hatte es nicht übers Herz gebracht, ihren Mann allein reisen zu lassen. Er war doch schon im normalen Alltag völlig von ihr abhängig. Vater und Tochter allein auf Reisen wäre ein absolutes Desaster geworden.

»Das ist aber kein Schiff!« Felix sah sich noch einmal in der Flugzeugkabine um und schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist ein Flugzeug. Wir fliegen erst nach Rom, fahren von dort zum Meer und besteigen da das Schiff.«

»Ach so.« Felix klang, als höre er das zum ersten Mal. »Wir spielen nicht Golf?«

»Nein, kein Golf. Wir segeln«, bestätigte Ellen matt.

»Wie schön.« Ein breites Lächeln erhellte seine Gesichtszüge. »Aber du magst keine Schiffe.«

Toll, dass dir das jetzt einfällt, dachte Ellen, sagte jedoch: »Du wolltest doch so gern diese Schiffsreise machen, und es ist ja auch eine schöne Abwechslung.« Sie nahm seine Hand und drückte sie. Vielleicht würde es ja ganz nett werden? Ein winziges Hoffnungsflämmchen flackerte zaghaft auf. Elke Neumann hatte sie jedenfalls sehr beneidet, als sie von der Kreuzfahrt berichtet hatte. Dieses Schiff, die Flying Cloud, schien bekannt zu sein und ziemlich exklusiv. Bisher hatte Ellen sich nie mit Seereisen beschäftigt, weil ihr allein beim Gedanken daran, auf einer Nussschale über den Ozean zu treiben, ganz anders wurde, doch Elke war offensichtlich ein Fan.

Nun ja, sie würde diese Reise schon überstehen. Selbst mit dem verwirrten Felix an ihrer Seite, ihrer schwierigen Tochter und der derzeit schier unerträglichen Enkelin. Hauptsache, das Wetter war gut, damit die See ruhig blieb.

»Wir landen in dreißig Minuten planmäßig in Rom-Fiumincino. Dort herrschen derzeit achtundzwanzig Grad. Für den Abend und die Nacht sind allerdings schwere Gewitter und Regenfälle vorausgesagt.«

Ellen hatte fast den Eindruck, hören zu können, wie das zarte Hoffnungsflämmchen bei den launigen Worten des Copiloten starb – gelöscht von der Aussicht auf Gewitter und Regenfälle. Konnte es noch schlimmer kommen?

An Bord der Flying Cloud, fünf Stunden später:

»Sollten sie nicht längst auf dem Schiff sein?«, fragte Fabienne. Es war halb acht Uhr abends, und im Bordrestaurant wurde bereits das Abendessen serviert. Um zehn Uhr würde das Schiff ablegen, und ihre Großeltern waren bereits seit zwei Stunden überfällig.

»Ja, das sollten sie, aber bei deiner Großmutter läuft selten alles, wie es soll.«

»Denkst du, dass sie abgestürzt sind?«

»Quatsch, natürlich nicht, aber es gibt wohl Probleme mit dem Gepäck.« Judith hatte mehrfach versucht, ihre Mutter auf dem Handy zu erreichen, doch es meldete sich immer nur die Mailbox. Vorhin hatte sie dann von der Kreuzfahrtdirektorin Cathy erfahren, dass Ellen und Felix Kaufmann zwar sicher in Rom gelandet waren, nicht aber ihr Gepäck. Cathy hatte jedoch versprochen, dass ihre Eltern definitiv rechtzeitig vor dem Ablegen an Bord sein würden. Judith war sich nicht sicher, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war.

»Puh, dann wird Oma eine sagenhaft schlechte Laune haben, wenn ihr Koffer verschwunden ist«, kicherte Fabienne.

Ihre Stimmung war, seit sie das Schiff betreten hatten, massiv besser geworden. Was wohl nicht zuletzt an dem charmanten Schiffsjungen lag, der sie und Judith erst zu ihrer Kabine geführt und dann angeboten hatte, ihr auch noch das ganze Schiff zu zeigen. Wie sich herausstellte, war Gregor gar kein einfacher Schiffsjunge, sondern der »Ozeanpianist« an Bord und offensichtlich sehr angetan von der aparten Fabienne. Die hatte sein Angebot natürlich umgehend angenommen und war erst vor zwanzig Minuten von der Tour zurückgekommen.

»Das wird sie zweifellos …«, brummte Judith und vertiefte sich in die Speisekarte. Sie schwankte noch, ob sie lieber die gegrillte Dorade als Hauptgang essen sollte oder doch besser das Kalbsfilet, als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie der Maître mit ihren Eltern im Schlepptau das Restaurant betrat und zielstrebig auf ihren und Fabiennes Tisch zusteuerte. »Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte sie, legte die Karte beiseite und stand auf.

Fabienne aber war schneller und lief ihren Großeltern entgegen: »Hallo, Oma, hallo, Opa.« Sie umarmte beide kurz, küsste sie jeweils auf die Wange und plapperte dann ohne Punkt und Komma weiter: »Toll, dass ihr endlich da seid. Wir haben schon gedacht, dass wir ohne euch ablegen müssen. Habt ihr das Schiff gesehen? Es ist echt cool. Gregor hat mir sogar versprochen, dass er für mich eine Tour durch den Maschinenraum organisiert. Wusstet ihr eigentlich, dass wir wegen euch die Seenotrettungsübung erst morgen machen können? Na ja, nicht nur wegen euch. Auch eine Gruppe Engländer ist mit Verspätung angekommen. Eigentlich muss man die Übung unbedingt vor dem Ablegen machen. Falls wir heute Nacht sinken, weiß keiner von den Passagieren, wie er sich verhalten soll. Krass, oder?«

»Keine Sorge, so weit wird es nicht kommen«, erklärte der Kellner lächelnd und zog einen Stuhl heraus, damit Ellen Platz nehmen konnte. »Herzlich willkommen an Bord, darf ich Ihnen gleich ein Glas Wasser einschenken?«

»Das wäre nett«, entgegnete Ellen Kaufmann matt. »Für meinen Mann bitte auch.«

»Selbstverständlich. Und hier haben wir unser Abendmenü. Mein Kollege nimmt gleich Ihre Bestellung auf.«

Als der Kellner weg war, stand Judith auf und begrüßte endlich auch ihre Eltern. Dabei half sie ihrem Vater mit der elaboriert gefalteten Stoffserviette. »Hallo, ihr zwei. Was war denn nun los bei euch?«

»Die ultimative Katastrophe!«, schnaubte Ellen los, nachdem sie sich kurz versichert hatte, dass kein Kellner in Hörweite war. »Unsere Koffer sind immer noch in Frankfurt. Wie stellen die sich das vor? Ich kann doch nicht ohne Gepäck auf eine Kreuzfahrt gehen!«

»Aber das wird bestimmt schnellstmöglich nachgeliefert«, versuchte Judith, ihre aufgebrachte Mutter zu beruhigen. »Ich habe vorhin mit der Kreuzfahrtdirektorin gesprochen, und sie hat mir versichert, dass das kein Problem sein wird. Die Reederei kümmert sich darum. Wahrscheinlich könnt ihr eure Koffer morgen schon in Empfang nehmen.«

»Das hat deine Freundin Selma auch behauptet. Die ist am Flughafen zu uns gestoßen, mit ihren Stiefkindern im Schlepptau. Ich soll dir übrigens schöne Grüße ausrichten. Als ob ich keine anderen Probleme hätte«, entgegnete ihre Mutter schmallippig und fügte hinzu: »Es bleibt aber ein Skandal! Wir haben ja nicht mal Schlafanzüge oder frische Unterwäsche. Von Kosmetika ganz zu schweigen.«

»Mutter, das ist doch wirklich kein Drama. Erstens bekommt ihr, soviel ich weiß, eine Notausstattung, und bis morgen Mittag werdet ihr es auch ohne frische Kleidung aushalten. Ich freue mich übrigens sehr, dass Selma auch an Bord ist. Bis gestern war nicht klar, ob es klappt.« Judith versuchte lächelnd, das Thema zu wechseln. »Habt ihr schon eure Kabine gesehen? Ich bin mir sicher, sie wird euch gefallen. Sie ist wohl mehr oder weniger identisch mit unserer, nur auf der linken Seite des Schiffs und weiter vorne, während wir rechts und eher hinten sind.«

»Das heißt backbord und steuerbord, nicht links und rechts«, mischte sich plötzlich Felix ins Gespräch ein. Er hatte bisher noch gar nichts gesagt und überraschte nun seine drei Begleiterinnen mit akkurater nautischer Begrifflichkeit. Überhaupt schien er viel entspannter zu sein als seine Frau.

»Stimmt! Wir sind steuerbord«, bestätigte Fabienne. »Das hat mir Gregor auch schon erklärt. Vorne heißt es Bug und hinten ist achtern. Die Ausdrücke sind schon ziemlich strange, oder?« Fabienne glänzte mir ihrem frisch erworbenen Wissen. »Ich sterbe übrigens gleich vor Hunger. Können wir bitte schnell bestellen?«

Felix’ gute Stimmung verdüsterte sich merklich, als er in die Speisekarte sah. Während er sattelfest im Seemannsgarn war, überforderte ihn die Küchenprosa offensichtlich massiv.

Noch ehe seine Frau anfangen konnte, ihm die einzelnen Menüpunkte zu erklären, sprang Fabienne in die Bresche: »Ich nehme übrigens die Tomatensuppe und das Fleisch. Das schmeckt dir bestimmt auch, Opa. Dieses komische Sorbet-Zeugs dazwischen braucht doch kein Mensch, und Salat spare ich mir auch. Was meinst du?« Sie sah ihn erwartungsvoll an und ignorierte souverän das Stirnrunzeln ihrer Großmutter.

»Klingt gut. Das nehme ich auch. Du hast den besten Geschmack.« Felix grinste erleichtert.

»Sag ich doch! Darf ich auch Wein haben?«, bat Fabienne, als der Kellner mit zwei Flaschen und der Frage »Rot oder weiß?« an den Tisch kam.

»Auf keinen Fall!«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Ellen.

»Ein kleines Glas«, beschied zeitgleich Judith und fügte hinzu: »Sie ist schließlich fast achtzehn.«

»Ich finde das nicht gut!«

»Ich schon«, erwiderte Fabienne fröhlich. »Für mich bitte Weißwein«, bat sie den Kellner, der ihr ein halbes Glas voll einschenkte und anschließend auch die anderen mit Wein versorgte.

»Auf eine schöne Reise!« Judith hob ihr Glas, prostete ihrer Familie gespielt fröhlich zu und nahm einen tiefen Schluck. Kein Alkohol war auch keine Lösung.

 

Das Abendessen verlief einigermaßen friedlich – wenn man von Ellens regelmäßigen Seufzern absah, welche lebenswichtigen Dinge des Lebens sie wohl am meisten vermissen würde, bis ihr Gepäck »mit viel Glück« ankäme. Ihre Stimmung verbesserte sich auch nicht, als Judith den mutmaßlichen Grund für das Fehlen der Koffer erkannte.

»Wenn Papa am Flughafen bei der Sicherheitskontrolle als potenzieller Attentäter eingeschätzt wurde, werden sie euer Gepäck wieder aus dem Flieger rausgeholt haben. Wahrscheinlich haben sie die Koffer genauestens auf Bomben untersucht.«

»Du meinst, irgendwelche schmierigen Sicherheitsleute haben meine Wäsche durchwühlt?«, hatte ihre Mutter alarmiert ausgerufen. »Ich werde mich bei der Dienstaufsichtsbehörde des Flughafens beschweren. Erst Felix verdächtigen und sich dann an meinem Gepäck zu schaffen machen.«

»Die machen nur ihren Job«, setzte Judith zu einem Erklärungsversuch an. »Wir hatten vor ein paar Monaten mal einen Beitrag in der Sendung, wie sich die verschärften Sicherheitsvorkehrungen an den Flughäfen auf den allgemeinen Betrieb auswirken. Das Personal arbeitet komplett am Limit, um für Sicherheit zu sorgen.«

»Du und dein Boulevard-Fernsehen-Wissen. Wenn sich die Leute auf echte Kriminelle konzentrieren würden, hätten sie auch nicht so viel Stress – und ich meine Kleider!«

Sturmwarnung

Wow, das ist aber wirklich schön«, entfuhr es Judith, als sie wenige Minuten später mit ihrer Familie im Schlepptau auf dem Lidodeck ankam. Der Kapitän hatte alle Gäste eingeladen, bei einem Glas Champagner die Hafenausfahrt zu genießen. Es war kurz vor zehn Uhr und fast vollständig dunkel, da sich das letzte fahle Tageslicht nicht mehr gegen die spektakulären dunklen Wolkentürme durchsetzen konnte. Die Takelage des Viermasters war mit kleinen Lämpchen stimmungsvoll beleuchtet. Umherlaufende Kellner verteilten Champagner, und Pianist Gregor spielte einen soften Jazz-Standard auf dem Klavier.

»Da seid ihr ja!«, tönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen.

Judith fuhr herum und stand ihrer breit grinsenden Freundin Selma gegenüber, die die gleiche schicke dunkelblaue Uniform trug wie die Offiziere und die Hotelmitarbeiter.

»Ich freue mich so«, sagte Judith und schloss die große Blondine in die Arme. »Musst du hier etwa arbeiten?«

»Der Reeder war der Meinung, dass ich mich auch nützlich machen könnte, wenn ich schon mal hier bin. Ich werde also täglich Yoga-Stunden anbieten und die Landausflüge begleiten.«

»Hört sich ja nach einem echten Knochenjob an«, lachte Judith.

»Du hast ja keine Vorstellung …« Selma zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Das hier sind übrigens Molly und Jamie, Henris Kinder.« Sie schob die schlaksigen, fünfzehnjährigen Zwillinge ein Stück nach vorne, damit sie Judith begrüßen konnten. »Und du musst die phänomenale Fabienne sein«, sagte sie grinsend zu Fabienne. »Ich habe schon eine Menge von dir gehört – alles Dinge, für die du morden würdest.«

Fabienne lief knallrot an und stammelte: »Äh, also …«

»Selma macht nur Witze«, tröstete sie Judith. »Das ist eins ihrer liebsten Hobbys, andere Menschen in Verlegenheit zu bringen.«

Bevor Fabienne darauf antworten konnte, wandte sich Molly an sie. »Kommst du mit? Wir gehen auf die Brücke und sehen uns das Ablegen von dort aus an.«

»Ich dachte, bei Manövern dürfen Passagiere nicht auf die Brücke«, entgegnete Fabienne verwundert.

»Dürfen sie auch nicht. Aber es hat Vorteile, mit dem Kapitän verwandt zu sein«, sagte Jamie nun grinsend. »Komm schon, das ist cool.« Er nahm der noch zögernden Fabienne das halbleere Orangensaftglas aus der Hand, drückte es Selma in die Hand und schob das Mädchen in Richtung Brücke.

»Die wären also versorgt«, stellte Selma fest. Dann wandte sie sich an Ellen und Felix Kaufmann: »Haben Sie den Schock wegen des verschollenen Gepäcks inzwischen halbwegs verdaut? Ich hoffe, Sie haben sich schon ein bisschen an Bord eingelebt.«

»So schön hier!«, brach es regelrecht enthusiastisch aus Felix hervor. »Sie sind die Fußball-Freundin, stimmt’s?« Er strahlte Selma an und reichte ihr seine rechte Hand. Dass Judiths Freundin Sportreporterin war und schon für die WM und EM berichtet hatte, hatte Felix schon immer fasziniert, und das schien er auch nie zu vergessen. »Ich bin Judys Vater.«

»Schatz, wir haben Frau Anderson doch schon vorhin am Flughafen begrüßt«, erinnerte ihn Ellen mit einem gequälten Lächeln.

»Aber das macht doch nichts«, erwiderte Selma sofort. »Wenn’s nach mir geht, dürfen Sie mich gern dreimal am Tag so nett begrüßen. Nennen Sie mich doch auch einfach nur Selma.« Sie hakte sich vertraulich bei Felix ein und fügte hinzu: »Frau Anderson klingt so seriös, und Sie und ich wissen doch beide, dass ich alles Mögliche bin, aber bestimmt nicht seriös.«

Felix lachte laut auf. »Wer will schon seriös sein? Ellen sagt, ich bin auch nicht seriös. Dann sage ich: Ich bin ja auch bekloppt, ich muss nicht mehr seriös sein.«

»Großartig. Dann sind wir auf dieser Reise schon zu zweit und mischen alle anderen ordentlich auf.« Selma tätschelte Felix’ Arm, der sehr zufrieden grinste.

»Haben Sie auch Alzheimer?«, erkundigte er sich interessiert.

»Nein, bei mir ist der Irrsinn angeboren. Ich hab da jahrzehntelange Erfahrung und kann Ihnen noch ein paar Tricks verraten, wenn Sie wollen.«

»O ja!« Felix kicherte vergnügt, und ein schalkhaftes Blitzen zeigte sich in seinen Augen.

Judith war hingerissen und voller Bewunderung für ihre Freundin, die mit einer derart natürlichen Leichtigkeit auf ihren Vater zuging. Und Felix selbst wirkte viel entspannter, fast wieder so wie früher.

Ihre Mutter dagegen bebte regelrecht vor Wut.

»Was fällt Ihnen ein?«, zischte sie Selma an. »Wie reden Sie denn mit meinem Mann?«

Felix fuhr bei den harschen Worten seiner Frau erschrocken zusammen, während Selma nicht einmal mit der Wimper zuckte, sondern lächelnd so tat, als hätte sie das eben Gesagte schlicht nicht gehört.

»Mutter!«, fuhr Judith vollkommen entsetzt Ellen an. »Muss das sein?«

»Misch du dich da nicht ein!« Ellen ergriff nun ihrerseits Felix’ Arm und zog ihn ein Stückchen von Selma weg.

»Lass gut sein, Judy.« Selma lächelte tatsächlich immer noch vollkommen unbeeindruckt. »Es tut mir leid, wenn Sie meine Worte in den falschen Hals bekommen haben, Frau Kaufmann. Ich bin mir sicher, Sie sind einfach nur ein bisschen erschöpft von der anstrengenden Reise und den unglücklichen Umständen am Flughafen. Jetzt genießen Sie die Ausfahrt, und haben Sie dann eine gute erste Nacht an Bord. Ich muss mich leider für den Moment verabschieden.« Sie nickte einmal in die Runde und sagte an Felix gewandt: »Schlafen Sie gut, Herr Kaufmann, und merken Sie sich Ihren Traum. Alles, was man in der ersten Nacht an Bord träumt, wird wahr!« Damit drehte sie sich um und ging.

»Ich heiße Felix!«, rief er Selma hinterher.

»Gute Nacht, Felix!« Selma drehte sich noch einmal kurz um und winkte ihm zu.

»Ich werde mich beschweren!«, tobte Ellen. »So ein Verhalten kann ich nicht akzeptieren.«

»Mutter, jetzt beruhige dich«, beschwor Judith sie. Ihr war schleierhaft, was in ihre Mutter gefahren war. Derart mit den Nerven runter, hatte sie sie nur selten erlebt. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Normalerweise legte Ellen wenigstens im Umgang mit Außenstehenden größten Wert auf Haltung. Auch Felix wirkte zunehmend verunsichert. »Es ist doch alles gut. Papa hatte seinen Spaß, und Selma wollte nur freundlich sein.«

»Es ist vollkommen unangemessen, wie sie sich an Felix rangeschmissen und ihn wie einen Vollidioten behandelt hatte. Ich werde mich beschweren!«

»Das sagtest du bereits«, seufzte Judith. »Aber ich fürchte, du wirst hier keinen finden, den das interessiert. Schließlich ist Selma die Lebensgefährtin des Kapitäns und eine gute Freundin des Reeders.« Sie schüttelte resigniert den Kopf. Hatte sie vorhin wirklich kurz gedacht, dass alles gut sei?

»Sie hat mit mir geflirtet«, unterbrach Felix ihren Disput. »Und wenn ihr nicht aufhört, gehe ich zu ihr.«

»Guter Plan, Papa«, sagte Judith lächelnd. »Allerdings musst du da erst den Kapitän aus dem Weg räumen.« Felix lachte, und Judith warf ihrer Mutter einen »Siehste!«-Blick zu und bemerkte dann: »Ich glaube, es geht los!«

Ein leichtes Vibrieren war plötzlich spürbar geworden, und die Passagiere strebten zur Reling.

»Liebe Gäste, wir verlassen nun Civitavecchia«, tönte die Stimme von Kreuzfahrtdirektorin Cathy aus dem Lautsprecher. »Winken Sie noch einmal in Richtung der ewigen Stadt. Morgen werden sie ein ganz anderes, ursprüngliches Italien erleben. Der Wetterbericht für die kommende Nacht ist leider nicht so gut. Sie können vielleicht schon erkennen, dass am Horizont dunkle Wolken aufgezogen sind. Kapitän Hansen sagt, dass wir die Sturmfront nicht ganz umfahren können, aber machen Sie sich keine Gedanken, für Ihre Sicherheit an Bord ist jederzeit gesorgt. Wir rechnen auch nicht mit allzu schwerer See, doch wenn Sie Probleme mit Seekrankheit verspüren, zögern Sie nicht, sich bei der Rezeption zu melden. Unser Schiffsarzt wird sich dann sofort um Sie kümmern. Doch jetzt lassen Sie uns auf eine schöne Reise anstoßen und die Ausfahrt genießen.«

Es knisterte kurz durch die Lautsprecher, dann erklangen die ersten heroisch anmutenden Klänge der eigens für die Schiffe der Reederei Dream Clipper Cruises komponierten Hymne. Die Kellner schenkten den Gästen nach, und einige Passagiere applaudierten, als die elegante Viermastbark von der Kaimauer ablegte und sich gemächlich auf den Weg in die Nacht machte.

Felix verfolgte das Spektakel mit großer Begeisterung.

»Immer gewünscht!«, erklärte er. Ja, das hatte er sich immer gewünscht. Und als die erste kräftigere Brise durch sein Haar fuhr, lachte er glücklich wie ein Kind. Auch Ellen wirkte regelrecht ergriffen. Zumindest umklammerte sie Felix’ Hand und starrte in die Dunkelheit.

Judith fand die Inszenierung zwar ein bisschen sehr kitschig und pathetisch, konnte sich aber der Wirkung von Musik, Licht, würziger Meeresluft und dem auffrischenden Wind nicht entziehen. Jetzt ging sie also los, diese Reise, die nur vordergründig eine rund um den Stiefel Italiens war. Wie würde das werden, elf Tage zusammen mit ihren Eltern und ihrer Nichte auf engstem Raum? Ohne Chance, sich wirklich aus dem Weg zu gehen?

Sie hoffte, dass ihr Vater den Spaß haben würde, den er sich erhofft hatte, und auch, dass ihre Mutter ein wenig zur Ruhe kam. Fabienne schien ja bereits ihren Frieden mit dem Trip gemacht zu haben, wobei sich das bei ihrem flatterhaften Wesen jederzeit wieder ändern konnte. Judith trank einen Schluck Champagner.

Und sie selbst? Was erhoffte sie für sich von dieser Reise?

Ehe sie auch nur ansatzweise zu einer Antwort auf diese Frage kommen konnte, wurde sie von einer heftigen Sturmböe, einsetzendem Platzregen und temperamentvollen Schaukelbewegungen des Schiffs überrascht.

Ellen neben ihr schrie sofort hysterisch auf und klammerte sich panisch an ihren Mann.

Ihre Mutter hatte tatsächlich richtige Angst, stellte Judith überrascht fest. Sie hatte deren bisherigen Kommentare über ihre Angst vor Schifffahrten immer als eine ihrer üblichen Koketterien abgetan. Doch das hier war echt – und erklärte immerhin ihr ausfälliges Benehmen von vorhin.

»Mama, ruhig, das ist nur ein bisschen Wellengang«, sagte Judith, zog ihre Eltern rasch unter das Dach der Lidobar und lotste sie dann zu einem Tisch. »Alles wird gut.«

»Ja, alles ist gut«, bestätigte Felix und legte einen Arm um Ellens Schulter. »Und es ist schön.«

»Nichts ist gut, nichts ist schön«, jammerte Ellen. »Und jetzt ist sogar noch meine Frisur ruiniert, und meine Bluse ist auch vollkommen durchnässt. Und überhaupt ist das hier alles eine einzige Katastrophe.« Fast schien es, als würde sie gleich anfangen zu weinen, doch dann fuhr sie ihre Tochter an: »Und all das ist ganz alleine deine Schuld!«

Nicht nur Ellens Nerven waren am Ende, auch Judith konnte nicht länger an sich halten. Zum Glück nahte Rettung, ehe sie zu einer passenden Erwiderung ansetzen konnte.