Juhu, berühmt! Ach nee, doch nich’

Christin Henkel

Juhu, berühmt!
Ach nee,
doch nich’

Unerhörte Abenteuer einer Musikerin

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Christin Henkel

Christin Henkels Kindheit spielte sich irgendwo zwischen Wald, Freibad und Musikschule ab. Nach dem Abitur zog es die Thüringerin zum Rumkünstlern nach Berlin, fünf Jahre später zum Kompositionsstudium nach München. Ob an der Musikhochschule, bei klassischen Meisterkursen oder dem Hamburger Popkurs, überall war Christin dabei, gehörte aber nie so richtig dazu. Erst 2013 wurde ihr klar, wofür ihre rätselhaften Talente zu gebrauchen sind: Mit ihrem eigenwilligen Mix aus Klavierspiel, Kabarett und Chanson, gewann sie zahlreiche Song Slams, tourte quer durchs Land, nahm ihr erstes Album auf und war unter anderem zu Gast bei Nightwash, Dieter Nuhr und Sebastian Pufpaff.

Impressum

© 2016 der eBook-Ausgabe

Knaur eBook

© 2016 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regina Carstensen

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: David Beger

ISBN 978-3-426-44043-8

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

1
Inselbegabung

Ich bin fünfundzwanzig, und mein Leben ist vorbei

Draußen sind es 38 Grad. Hier drinnen wahrscheinlich 40. Die Sonne knallt durch das große Fenster, das sich nur einen kleinen Spalt öffnen lässt. Ich liege auf dem schmutzigen Teppichboden, dem einzigen schattigen Platz in dem einzigen stickigen Übungsraum, der noch frei war. Über mir thront ein schwarzer Bechstein-Flügel, der länger nicht gestimmt wurde. Im linken Nebenraum quietscht sich ein Geiger durch seine Paganini-Sonate, rechts von mir spielt ein anderer Musiker seit Stunden Tonleitern auf dem Klavier, vermutlich ein ehrgeiziger Asiate. Durch das Fenster dröhnt der Berufsverkehr von der Arcisstraße herein.

Ich liege einfach nur da, starre auf die schwarze Unterseite des Flügels, beiße auf meiner Nagelhaut herum und will ein bisschen sterben. Mein Körper fühlt sich taub an vor lauter Hitze und Selbstmitleid. Ich bin fünfundzwanzig, und mein Leben ist vorbei.

 

Draußen auf dem Gang tummeln sich Dutzende fein herausgeputzte Studienanwärter, allesamt frischgebackene Abiturienten um die zwanzig, die sich die Wartezeit mit belanglosem Schönwetter-Small-Talk vertreiben. Sie reden über das Abi am Gymnasium Starnberg, das Angebot in der Hochschul-Cafeteria sowie die potenzielle gemeinsame Einnahme von Augustiner-Bier nach bestandener Prüfung. Immer wieder dringen kurze Sätze und vergnügtes Gelächter durch die massive Holztür. Am besten zu verstehen sind die angehenden Gesangsstudenten, die ha-ben näm-lich Sprech-er-zieh-ung und re-den sehr deut-lich.

Einfach raus auf den Gang zu gehen und sich dazuzustellen würde bedeuten, dass ich früher oder später erklären müsste, warum ich kurz vor der Rente noch ein Studium anfangen will. Also harre ich weiter allein auf dem Fußboden aus und versuche zu rekonstruieren, was ich in den letzten fünf Jahren seit dem Abitur gemacht habe.

Recht simpel lässt es sich in drei Buchstaben zusammenfassen.

NIX.

Das obligatorische Jahr in Australien, das Praktikum bei einem Tierschutzverein, das nach vier Semestern abgebrochene Germanistikstudium, der erste feste Job bei einer Irgendwas-mit-Medien-Agentur, die durchfeierten Hell-dunkel-hell-dunkel-Wochenenden in schmuddeligen Studenten-WGs, die On-off-Beziehungen mit irgendwelchen Sebastians und Dirks, das halbe Jahr in London, die verregneten Festivalsommer, bei denen morgens um fünf irgendein betrunkener Hirni auf mein Zelt pinkelt – all das habe ich ausgelassen. Die letzten zehn Jahre habe ich mit Konrad verbracht, von der zehnten Klasse bis vor genau zehn Wochen.

Konrad ist arbeitsloser Elektromusiker feat. arbeitsloser Schauspieler und sieht aus wie ein Kokser, obwohl er gar keiner ist. Da er sich schon als Fünfzehnjähriger zu Höherem berufen fühlte, besuchte er die Schule eher selten. Er sah sich in erster Linie als angehender Jungmillionär und nicht als gewöhnlicher Abiturient. Früh machte er in Immobilien, indem er den Schrebergarten seiner Tante vermietete. Er wurde zum ehrgeizigsten Statisten am städtischen Provinztheater und stieg schnell zum großen Politiker seines 900-Seelen-Dorfs auf. Mit gerade mal neunzehn Jahren hatte seine Karriere den Höhepunkt erreicht. Das kommunale Wurstblatt widmete ihm eine ganze Seite, und er wurde sogar zweimal beim Bäcker des Nachbarorts erkannt.

Ich liebte Konrad abgöttisch. Ich liebte alles an ihm: seine zielstrebige Art, seine Bierdeckel-Sammlung, seine reißerischen Erfolge, seine dünnen roten Haare, den Kleinstadt-Glamour und seinen verkappten Größenwahn. Doch am allermeisten liebte ich an ihm, dass er mich abgöttisch zurückliebte. Wir trotzten den Behauptungen desillusionierter Eltern, die der Meinung waren, die große Verliebtheitsphase wäre nach wenigen Monaten vorbei, und durchlebten fünf Jahre Disney.

Dann, nach meinem Abitur und dem letzten unbeschwerten Sommer unseres Lebens, war die Zeit reif, gemeinsam die Hauptstadt zu erobern. Als aufregendes blutjunges Künstlerpaar würde es nicht lange dauern, bis wir den Olymp der deutschen Musik- und Schauspielszene erklommen hätten.

Und Deutschland würde nur das Sprungbrett sein. Vielmehr sahen wir uns als international erfolgreiche Kosmopoliten, die sich das Haus in Malibu und den Bootsstellplatz am Genfer See zwar selbst erarbeitet hätten, aber niemals damit prahlen würden. Tatsächlich wohnten wir fünf Jahre lang in einer 42-Quadratmeter-Wohnung in Berlin-Reinickendorf.

Konrads Tante verstarb, was ja grundsätzlich sehr traurig ist, jedoch zu dem glücklichen Umstand führte, dass er nun nicht nur Schrebergarten-, sondern auch Hausbesitzer wurde und die Mieteinnahmen seinen Lebensunterhalt sicherten. Auch der Traum vom ersten BMW war bezahlbar, zwar nur ein Gebrauchtwagen, doch der Maybach wartete schon.

Wirklich viel Geld brachten die Provinzimmobilien der verstorbenen Tante nicht ein, aber da Konrad nur äußerst selten die Wohnung verließ und er innerhalb der vier Wände lediglich ein funktionierendes WLAN, einen Laptop und einige Flaschen Mezzo Mix zum Überleben brauchte, reichte es irgendwie aus.

Meine Musikkarriere fand ein schnelles Ende als Background-Sängerin – selbstverständlich Playback – bei diversen unterirdischen Fernsehshows. Außerdem hielt ich mich mit zweitklassigen Modeljobs über Wasser und ließ mich von grenzdebilen Jungdesignern und herrschsüchtigen B-Choreografen durchs KaDeWe und über die Modemesse Bread & Butter schubsen.

Als ich älter wurde, stellte ich schnell fest, dass eine dreiundzwanzigjährige Thüringerin neben einer frisch geschlüpften fünfzehnjährigen Ukrainerin wie ein alter Schuhlappen aussieht. Außerdem wurde mir klar, dass sich mein einst so geliebter Konrad längst als antriebsloser, internetsüchtiger Blender entpuppt hatte. Nach jahrelangem Bemühen, die schöne Fassade aufrechtzuerhalten, überraschte ich ihn vor zehn Wochen mit den Worten: »Es ist Schluss, ich ziehe aus.«

Konrad blickte entgeistert von seinem Laptop hoch: »Kriegt jetzt jemand anderes das leckere Essen?«

Oha! Der Mann dachte praktisch. Ich war etwas enttäuscht. Nach zehn Jahren Beziehung konnte man wenigstens eine kleine, herzzerreißende Abschiedsszene erwarten. Zum Glück sollte diese bald kommen, und es sollte auch nicht bei einer bleiben.

Um mich zurückzuerobern, griff Konrad tief in eine beängstigend umfangreiche Trickkiste. Er klammerte sich an mich wie an sein dickes Bonzenauto, das er schon seit drei Jahren nicht mehr volltanken konnte. Es begann mit großen Gefühlen. Obwohl ich ihn in zehn Jahren Beziehung nie hatte weinen sehen, war der Zeitpunkt gekommen, all seine aufgestauten Emotionen laut herauszuschluchzen. Männer, die auch mal weinen, sind sexy, sagt man. Sind sie nicht! Sage ich.

Die wenigen Wortfetzen, die ich bei Konrads jämmerlichen Ausbrüchen aufschnappen konnte, versprachen Besserung. Er wäre ab sofort bereit, die Wohnung hin und wieder zu verlassen, würde sich einen tollen Job suchen (was sich ohne Schulabschluss durchaus schwierig gestalten konnte), und er würde aufhören, permanent irgendwelche komischen Sachen im Netz zu machen (von denen ich absolut nichts Näheres wissen wollte).

Danach folgte die Phase des halb toten Hamsters. Nacht für Nacht steckte unser gemeinsames Haustier in Lebensgefahr. »Du musst unbedingt herkommen, ich glaube, er stirbt!« Stolze dreizehnmal gelang es ihm, mich unter diesem Vorwand zurück in die gemeinsame Wohnung zu locken. Erst die vierzehnte Auferstehung von Wühler Schlumpi bedeutete schließlich das endgültige Aus.

 

Es klopft an die große Holztür des Übungsraums. Ich erschrecke, schnelle hoch und stoße mir den Kopf an der Flügel-Unterseite. Die Tür geht vorsichtig auf, und Niklas kommt herein.

»Was machst du denn hier?«, frage ich und wühle hektisch in einem Stapel Noten, der auf dem Flügel liegt, um möglichst beschäftigt rüberzukommen.

»Du hast deine Möhrchen vergessen«, sagt Niklas und drückt mir eine grüne Tupperdose mit einem Karottenaufkleber in die Hand. Krass. Ob er den selbst draufgepappt hat? »Und ich wollte dir nochmals viel Glück für die Aufnahmeprüfung wünschen.«

Verdammt, die Aufnahmeprüfung! In fünfzehn Minuten bin ich dran.

»Danke, Niklas. Das ist total nett«, sage ich und umarme ihn kurz.

Total nett sind auch die beiden Wörter, die Niklas am besten beschreiben. Stets bemüht trifft es ebenfalls sehr gut. Niklas ist hübsch, aber nicht zu hübsch, er geht jeden Morgen brav mit seiner Thermoskanne zur ersten Vorlesung, und er sucht ganz dringend eine Frau. Seine Partnersuche steht unter dem Motto: Hauptsache schnell. In den letzten fünf Tagen, die wir gemeinsam verbrachten, gab er mir einen großzügigen Überblick über all seine Vorzüge.

Er ist aufmerksam, versucht, den Sex im Rahmen seiner Möglichkeiten aufregend zu gestalten, und streckt mir seit vorgestern Abend immer sein Patschepfötchen entgegen, wenn wir außer Haus gehen. Nur so, für den Fall, dass es mit mir nix wird, akquiriert Niklas hinter meinem Rücken zusätzlich diverse andere Damen. Praktischerweise ist er nicht so schlau, um zu merken, dass ich’s gemerkt habe, und so nehme ich lediglich den Möhrchenbrei und den Ego-Push mit, hüte mich aber davor, auch nur das klitzekleinste Gefühl für Tupperdosen-Niklas zuzulassen.

Zum ersten Mal begegnet sind wir uns vor acht Wochen im ICE von Berlin nach München. Zwischen Leipzig und Saalfeld hatte ich mich verliebt, ab Nürnberg wurden die Gefühle schon schwächer. Meine Situation eignet sich nicht gerade, um einen neuen Mann kennenzulernen, darum lüge ich einfach allen potenziellen Verehrern dreist ins Gesicht. Ich bin eine unheimlich erfolgreiche junge Musikerin, die ihr Leben fest im Griff hat, wahnsinnig zufrieden und glücklich ist, finanziell gut dasteht und die für ihr blendendes Aussehen keinen Finger krümmen muss, so die offizielle Version.

In Wirklichkeit bin ich eine todunglückliche Fünfundzwanzigjährige ohne berufliche Perspektive, die wieder bei ihren Eltern wohnt, von Papi Taschengeld bekommt und aus Angst vor dem drohenden körperlichen Verfall zwanghaft Kieselerde und Spirulina-Algen in sich hineinstopft.

Irgendwie habe ich es vor ein paar Wochen zwischen Jammern und Depri-Sein dennoch geschafft, mir ein paar Musikstücke aus den Fingern zu saugen und mich für das Kompositionsstudium in München zu bewerben. Überraschenderweise bin ich tatsächlich eingeladen worden, habe unverhofft die theoretischen Prüfungen bestanden, und plötzlich stehe ich unmittelbar vor der letzten Hürde, der Klavierprüfung.

»Ich muss jetzt los, bis heute Abend«, verabschiede ich mich von Niklas und schleiche hinunter ins Erdgeschoss zum kleinen Konzertsaal.

 

»Danke, Frau Henkel, das war sehr schön«, lobt der linke, vermutlich notgeile ältere Herr, nachdem ich das Pflichtprogramm à la Bach, Beethoven und eine Eigenkomposition vorgespielt habe. »Und nun das Blattspiel, bitte.«

Jetzt ist die Sache gelaufen! Reflexartig werfe ich meinen Kopf in den Nacken, ziehe ein zerknittertes Taschentuch aus meiner Hose, presse es auf mein Gesicht, springe vom Klavierhocker auf und renne zur Tür.

»Nasenbluten!«, rufe ich, stoße meinen rechten Oberschenkel am Tisch der Jury, was höllisch wehtut, und hetze polternd hinaus.

Die vor dem Raum wartenden Fast-Studenten blicken mich irritiert an, als ich hektisch an ihnen vorbei, durch den großen Lichthof, hin zur Toilette laufe. Die erste Kabine ist meine, ich schließe mich ein, werfe das saubere Taschentuch ins Klo und warte, bis sich die Erde auftut.

Blattspiel. Na schönen Dank auch!

Zwar ist aus mir bisher noch kein großer schillernder Star geworden, aber ein grauer bin ich auf jeden Fall, und das schon seit meiner Geburt. Meine Eltern brachten einen kleinen Maulwurf zur Welt, und nach zwei, drei Operationen ließen sich nur 50 Prozent Sehkraft retten. Das reicht natürlich aus, um sich gut im Leben zurechtzufinden. Es reicht aber nicht aus, um einen Tschaikowsky vom Blatt zu spielen.

Ich müsste ganz nah ans Notenheft heran, die Augen zusammenkneifen und den Text dann Takt für Takt im Schneckentempo wiedergeben. Das wäre weder für mich noch für die Jury besonders angenehm. Bevor ich zu Takt drei vorgedrungen wäre, hätte ein anderer Pianist das Stück bereits komplett durchgespielt und sich noch ein Eis geholt.

Die Professoren hätten mich für die letzte Dilettantin gehalten, für eine Komponistin, die keine Noten kann. »Ich kann ja Noten! Ich seh die nur nicht«, hätte es dann auch nicht mehr herausgerissen. Außerdem habe ich wenig Lust, die Behinderten-Karte auszuspielen. Rückt man erst mal mit der Wahrheit heraus, wird man permanent mitleidig mit »Kannst du das erkennen?«-Fragen belästigt. In der Schule wurde ich das alle fünf Minuten gefragt, und es hat meinem Image nicht besonders gutgetan.

Lediglich in der Musikschule wurde ich bewundert.

»Wahnsinn! Das Mädchen spielt alles auswendig«, hörte ich immer wieder von frustrierten Eltern, deren Kinder nach hundertmaligem Spielen immer noch am Notenblatt klebten. Man lobte mein frühes Improvisationstalent und meine Fähigkeit, einem bekannten Klassiker spontan ein alternatives Ende zu verpassen. In meinem Kopf waren Hunderte Stücke und Lieder abgespeichert, unzählige Strophen, Melodien und Akkorde. Weitestgehend nutzlos, aber dennoch etwas Besonderes.

Man kann es drehen, wie man will. Nüchtern betrachtet, bin ich auf jeden Fall ein bisschen eingeschränkt, aber eben auch ein bisschen hochbegabt. Ich habe eine Inselbegabung, zumindest eine kleine.

 

Zwanzig Minuten sind vergangen. Wenn ich nicht bald in den Konzertsaal zurückkehre, wird der Pförtner nach mir suchen. Wenigstens meine Tasche will ich noch abholen, bevor ich als gescheiterte Existenz zu meinen Eltern zurückkehre, einen bodenständigen Ehemann verpasst kriege und den Rest meines Lebens vor irgendwelchen Einweckgläsern in Südthüringen versauere.

»Das ist deine, oder?«, fragt ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen, als ich die Kabine aufsperre und aufs Waschbecken zusteuere.

Sie hält mir meine Tasche entgegen und blickt mich mit großen Augen an. Nett sieht sie aus, hat einen leichten russischen Akzent und Grübchen in den Wangen. An einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich mich gern ein bisschen mit ihr unterhalten.

»Geht es dir wieder besser?«, fragt sie.

»Eigentlich nicht«, murmele ich, bedanke mich, nehme die Tasche und gehe.

 

Seit zwei Wochen sitze ich lethargisch im Garten meiner Eltern und habe Weltschmerz. Mein Handy ist aus, der Rechner auch. Ich habe absolut keinen Bock, nach der missglückten Aufnahmeprüfung gefragt zu werden oder nach der Trennung von Konrad oder nach meiner aktuellen Wohnsituation. Ich hänge primär mit meiner Oma und deren Homies ab. Wir wecken gemeinsam Obst ein. Ab und zu kommt eine alte Schulfreundin vorbei, präsentiert stolz ein Neugeborenes und erntet dafür unendlich viel Lob von meiner Mutter.

Ganz toll! Ein Baby!

Natürlich finde ich Babys niedlich, und wenn ich irgendwann einmal einen neuen Mann finde, woran meine Familie absolut nicht glaubt, bekomme ich selbst eins.

Mich nervt allerdings dieser überzogene Hype. Ein Kind zu bekommen ist ja nun wirklich kein Hexenwerk. Jede Idiotin kann das. Es gibt da einen ganz simplen Trick.

»Du hast Post!«, ruft meine Mutter plötzlich und steuert auf den Gartentisch voller Heidelbeeren und Einweckgläser zu.

Musikhochschule München steht auf dem Absender. Ich wische meine Blaubeerfinger an der Tischdecke ab, in erster Linie, weil sie dreckig sind, in zweiter Linie, um meine Mutter zu ärgern, und öffne den Brief.

Sehr geehrte Frau Henkel. Hiermit dürfen wir Ihnen mitteilen, dass Sie die Aufnahmeprüfung für den Studiengang Komposition für Film an der Musikhochschule München bestanden haben.

2
Popst du schon, oder übst du noch?

Ein Intermezzo an der Popakademie Mannheim

BÄÄÄM! Ich lese den Brief ein zweites Mal durch, ein drittes Mal, ein viertes … Da steht es schwarz auf weiß: Mein Leben hat wieder einen Sinn!

»Uuuund?«, fragt meine Mutter scheinheilig. Selbstverständlich hat sie den Brief schon im Vorfeld so unauffällig wie möglich geöffnet, um ihre unendliche Neugier zu befriedigen. Privatsphäre wird bei Familie Henkel nicht gerade großgeschrieben. Mit Sicherheit hat die Neuigkeit schon sämtliche Großeltern, Großtanten und Cousins dritten Grades erreicht, bevor ich überhaupt zu Ende gelesen hatte.

Ist mir jetzt auch egal, denn in meinem Oberstübchen ist seit zwei Minuten eine echt krasse Party im Gange. Gefühlt ist das die erste gute Nachricht seit dem Bestehen meiner Aufnahmeprüfung am Musikgymnasium, welche wohlgemerkt schon elf Jahre zurückliegt.

Elitestudiengang, Wohnung am Englischen Garten, Kompositionsaufträge für die Philharmoniker, Eisbach-Surfen, Filmmusikpreise – so weit nur ein kleiner Auszug der Dinge, die mich ab Herbst erwarten werden. Vor lauter Freude würde ich am liebsten einen Purzelbaum schlagen oder auf einem Einhorn reiten.

»Naaa, was steht denn nun drin?«, hakt meine Mutter betont unwissend nach. Das obligatorische Dummstellen gehört einfach dazu, wenn man gerade einen fremden Brief über Wasserdampf geöffnet hat.

Innerlich triumphiert sie bereits. Dieser Brief muss für sie ein in etwa so großes Glücksgefühl auslösen, wie zwanzig Liter Heidelbeeren an einem einzigen Vormittag zu sammeln. Ihr großer Traum, der in den letzten fünf Jahren in immer weitere Ferne rückte, scheint plötzlich zum Greifen nah.

Musikhochschule! Dieses Wort ist magisch für meine Mutter. Gemeinsam mit »Streuobstwiese« und »Enkelkinder« gehört es zu den glorreichen Drei ihrer beliebtesten Substantive.

Natürlich ist sie etwas enttäuscht, dass ich nicht den Musik-auf-Lehramt-Studiengang gewählt habe, aber was das angeht, werde ich mit Sicherheit noch zur Vernunft kommen. Schließlich habe ich meiner Mutter in den vergangenen Jahren stets gut zugehört und weiß daher, dass Lehrer die glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt sind. Sie haben die längsten Ferien, ein geregeltes Einkommen und gute Aussichten auf eine frühe Verbeamtung. Ganz zu schweigen von den etlichen anderen Vorzügen wie frühes Aufstehen, bescheuerte Klugscheißer-Kollegen mit Deuter-Rucksäcken, nervige kleine Dreckswänster, die das Klassenbuch verstecken, und regelmäßige Elternabende, bei denen dir Zimtlatschen tragende Helikopter-Muttis mit den Marotten ihres vermeintlich hochbegabten Benedikt-Hectors in den Ohren liegen. So traurig das für meine Mutter auch ist, selbst ein üppiges Beamtengehalt würde nicht ausreichen, um mir das Lehrerdasein schönzusaufen.

»Jetzt mach’s doch nicht so spannend!«

Sie bleibt hartnäckig. Ich lege den Brief seelenruhig beiseite und murmele ein beiläufiges »Mhm, hat geklappt«, während ich mich wieder den Blaubeeren widme. Muss ja keiner merken, wie sehr ich mich freue. Meine Mutter hingegen hält mit ihren Gefühlen nicht lange hinterm Berg. Laut quietschend nimmt sie bereits Kurs auf Nachbars Garten, um feierlich zu verkünden, dass aus ihrer Loser-Tochter vielleicht doch noch was wird.

Kaum ist sie außer Reichweite, springe ich vom Tisch auf und renne nach drinnen zu meinem Laptop. Nun, wo mein Leben eine so plötzliche und vor allem positive Wendung nahm, muss ich mich nicht länger vor der Welt verstecken. Schon gar nicht vor der digitalen.

 

Dreiundvierzig neue Nachrichten. Etwas verdutzt schaue ich auf das schöne rote Facebook-Symbol. Einundzwanzig sind von Konrad. Von »Morgen Lust auf Mittagessen?« über »Ich kann nicht ohne dich leben« bis hin zu: »Sollte ich bis übermorgen die 200 € für den Staubsauger nicht zurückbekommen, verklage ich dich«, ist alles dabei. Neunzehn Nachrichten sind von unterschiedlichen, mir unbekannten Personen, also auch von Konrad. Beim Anlegen von Fake-Profilen setzt er auf knackige Alliterationen wie Sven Svenson, Dirk Dirksen oder Rob Robbins. Alle angeblichen Verehrer fragen mich in etwa dasselbe. Wo ich wohne, was ich mache und vor allem, ob ich vergeben sei. Hoffentlich findet er bald einen Job, damit er für so einen Quatsch keine Zeit mehr hat.

Eine andere, bereits vierzehn Tage alte Nachricht ist von Niklas: »Es war schön mit dir. Bist du gut angekommen? Wann sehen wir uns wieder?«

Beim Checken seines Profils stelle ich fest, dass sich in den letzten beiden Wochen, seit dem Versenden der Message, einiges getan hat. Niklas König ist in einer Beziehung mit Nicole Volkert, blinkt es mir hämisch entgegen. Meine Befürchtungen haben sich erfüllt, es konnte ihm mit der neuen Liebe nicht schnell genug gehen. Um den aktuellen Beziehungsstatus zu bekräftigen, haben Nicole und er gleich noch ein Bild hochgeladen. Ein frisch verliebtes Pärchen in abscheulicher Funktionskleidung auf einer von Sonne beschienenen Almhütte. Das muss bedeuten, dass die beiden sehr, sehr glücklich sind. Obendrein bedeutet es, dass sie absolut keinen Klamottengeschmack haben. Es war mir schon immer ein Rätsel, warum man in voller Montur, sündhaft teuren Wanderschuhen, wetterfester Mammut-Jacke und Leki-Stecken einen rentnertauglichen Schotterweg in den Voralpen entlangtrabt. Zahlreiche Wanderausflüge in meiner Vergangenheit haben bewiesen, dass dies auch prima in Hotpants, Turnschuhen und Tanktop funktioniert.

Das nächste Problem an dem Foto ist Nicole. Sie sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Das heißt entweder, dass ich gar nicht Niklas’ Typ bin, oder es bedeutet, dass er, was Frauen angeht, extrem breit aufgestellt ist. Beide Varianten verstören mich. Außerdem ist beim Rückschluss auf Nicoles Figur breit aufgestellt im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen, was mich noch mehr verärgert. Da müht man sich mit einem aufwendigen Fitnessprogramm ab, und dann verliert man gegen eine Dicke.

Die beiden übrigen Nachrichten sind von meiner Freundin Kasha: »Yeah baby! Congrats! Popakademie! See ya there. Kiss Kiss«, und: »Chicca! Du bist doch am Start, oder? See ya hunny! Miss you. KISS

Kashas Texte sind mit einer übertrieben hohen Anzahl an Smileys verziert und geben mir Rätsel auf. Seitdem sie, die eigentlich Katja Peschendorf heißt und aus dem Erzgebirge stammt, in NYC irgendwas mit R’n’B und einem big producer gemacht hat, verstehe ich sie inhaltlich schlechter als vorher. Zwar sächselt Kasha jetzt weniger, dafür ist der Yeah-baby-What’s-up-hun-let’s-do-it-big-hugh-Anteil extrem gestiegen. Erst das Checken meiner E-Mails gibt Aufschluss darüber, was sie mir zwischen all den Herzchen-, Prosecco- und Küsschen-Smileys mitteilen wollte, denn dort hat sich eine Nachricht der Mannheimer Popakademie versteckt.

Ich bin zum diesjährigen Summer Camp eingeladen.

BÄÄÄM!, schießt es mir erneut durch den Kopf. Bei mir läuft’s gerade heftig!

 

Die Popakademie ist eine Hochschule für Populäre Musik und in ihrer Form einzigartig in Deutschland. Einer ihrer Aushängeschilder und Mitbegründer ist kein Geringerer als Xavier Naidoo. Noch ahnt niemand, dass er einige Jahre später gefeuert wird, weil er zu oft mit seinen neuen Freunden, den »Reichsbürgern«, abhängt.

An Naidoos Akademie kann man sich offiziell zum Popsternchen ausbilden lassen. Der Coolheits-Faktor ist somit um einiges höher als bei einem herkömmlichen Musikstudium, bei dem man Orchestermusiker oder klassische Pianistin anstreben kann. Aber nicht nur das. Die Popakademie ist auch eine prima Einrichtung für panische Eltern, deren Kinder einen soliden Werdegang verweigern und stattdessen lieber Songs schreiben. Will man seine Erzeuger nicht mit dem Beschluss »Ich ziehe nach Berlin und werde eine berühmte Künstlerin« schockieren, beruhigt man sie mit der Tatsache, für die nächsten paar Jahre an einer staatlich geförderten Uni untergekommen zu sein. Natürlich bloß für den Fall, dass man dort angenommen wurde. Die Plätze sind rar. Nur wenige erhalten die Chance, dort ihren Bachelor oder Master zu machen.

Auch ich wäre vor ein paar Jahren liebend gerne unter den Mannheimer Studenten gewesen, aber da kam mir, wie bei so vielen Sachen, das Leben mit Konrad in die Quere. Er wollte nach Berlin, und ich wollte da hin, wo Konrad war. Meine erste große Liebe entpuppte sich als echte Karrierebremse. Umso erfreuter bin ich, das verpasste Studium in einer vierzehntägigen Kurzform nachholen zu dürfen. Das internationale Summer Camp ist nämlich eine Art Pfadfinderlager für all diejenigen, die mal zwei Wochen lang in den Laden reinschnuppern wollen, um ihrem Traum ein Stück näher zu kommen.

Alle Popakademie-Studenten, ob Bachelor-Anwärter oder Summer-Camp-Gast, verbindet die große Hoffnung, mit ihrer Musik berühmt zu werden. Haben sie es erst aus dem provinziellen Mittweida, Oschatz oder Goslar hinaus ins große, verheißungsvolle Mannheim geschafft, sind es nur noch wenige Schritte bis hin zum Echo. Diese schöne Illusion kann ich nur allzu gut nachempfinden. Als ich vor fünf Jahren nach Berlin zog und die ersten Treffen mit Producern anstanden, hatte ich auch schon meine Dankesrede vorm Spiegel einstudiert. Mit wachsender Erfahrung ebbte die Euphorie jedoch immer mehr ab.

Um allen Klischees gerecht zu werden, waren meine damaligen Produzenten ein bisschen zu sehr auf meinen Körper und ein bisschen zu wenig auf meine Songs konzentriert. Vergeblich versuchte man, mich aus der Gesangskabine direkt ins Schlafzimmer zu locken oder wahlweise auch in infantilen Girlbands zu platzieren.

Die Erfahrungen, die ich bisher im Musikbusiness gemacht habe, waren also äußerst ernüchternd gewesen. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Mannheim, ich komme!

 

»Deine Wäsche ist fertig!«

Auf meinem alten Kinderzimmerbett liegen frisch gebügelte T-Shirts, Blusen und Pullis. Ich liebe das Hotel Mama. In den letzten drei Monaten habe ich mich nicht nur an den Wäscheservice, sondern auch an fünf regelmäßige Mahlzeiten pro Tag gewöhnt. Seitdem ich das Musikstudium in der Tasche und einen Ferienlagerplatz in der Popakademie sicher habe, genieße ich den Resturlaub in vollen Zügen und bin fast ein bisschen traurig, dass ich ihn für zwei Wochen Mannheim unterbrechen muss.

»Muttiiiii! Du musst mir noch Brötchen für die Fahrt schmieren!«, rufe ich in Richtung Küche, während ich Klamotten, Notenpapier und Laptop in den Koffer werfe. Eine halbe Stunde später stehe ich mit einem üppigen Lunchpaket im Gepäck am Bahnhof und ziehe meinem Vater 100 Euro Taschengeld ab. Dass andere Fünfundzwanzigjährige seit Jahren berufstätig und eigenständig sind, ignoriere ich hartnäckig. Schließlich musste ich mich die letzten Jahre als überwiegend arbeitslose Künstlerin in Berlin-Reinickendorf durchschlagen, da sei mir ein wenig Erholung ja wohl gegönnt.

 

Um 16:00 Uhr findet ein erstes Get-together statt. Auf dem Hof des futuristischen Gebäudes tummeln sich Teilnehmer des Summer Camp – Holländer, Engländer, Amerikaner, Chinesen und Deutsche – und ein paar Dozenten. Alle scheinen recht vergnügt und begrüßen einander. Bevor ich mich den sekundären Inhalten wie Ablauf und Stundenplan widme, scanne ich, welcher der Musikerkollegen so gut aussieht, dass ich gern unverbindlichen Jugendherberge-Sex mit ihm haben würde. Ein Holländer und ein Rheinländer schaffen es in die engere Auswahl. Beim Betrachten der Meute fällt mir dummerweise auf, dass ich unpassend gekleidet bin. Keine Panik, denke ich mir. Das ist kein Problem, welches sich nicht mit einem Unter-zehn-Euro-Einkauf bei Bijou Brigitte lösen lässt. Ich beschließe, morgen früh eine Tüte billigen Modeschmuck und ein paar bunte Tücher zu erstehen, um nicht weiter aufzufallen.

»Honeeeeeyyyyy! Süße! Love to see you. Lass dich drücken!« Plötzlich steuert meine kreischende Freundin Kasha auf mich zu. Sie umarmt mich so lang und fest, dass mir keine Luft zum Antworten bleibt. Ihre rechte Kreole, die ungefähr so groß ist wie meine linke Brust, verfängt sich in meinen Haaren. Kasha ist seit einigen Jahren ausschließlich popularmusikmäßig unterwegs und hat das mit der richtigen Verkleidung voll raus. Sie ist behangen wie eine junge Elster. So viele Armreifen und Ketten, wie Kasha an ihrem ostdeutschen Vorzeigekörper trägt, habe ich in meinem ganzen Leben nicht besessen. Doch trotz neuem Styling und american attitude sehe ich in ihr immer noch das brünette, schüchterne, sächselnde Mädchen, das im Kinderchor neben mir saß und aus voller Kehle das Rennsteiglied, die heimliche Hymne Thüringens, trällerte.

»Komm, ich stell dir die anderen Chiccas vor!« Kasha packt mich am Arm und zieht mich zu einer Gruppe R’n’B-Mädels, die gerade irgendetwas von Rihanna singen.

»Girls, schaut mal her. Das ist meine Freundin, von der ich euch erzählt habe. She’s soooo lovely.« Daraufhin stürmt jede Einzelne der Rihannas auf mich zu und drückt mich euphorisch an sich.

Mir ist das unangenehm. Nicht nur, weil ich nach all den Chicca-Umarmungen rieche, als hätte ich versucht, mich in einem Eimer Christina-Aguilera-Parfum zu ertränken, sondern auch, weil ich die jungen Damen noch nie in meinem Leben gesehen habe. Generell bin ich ein echter Fan von Körperkontakt, begrüße es aber, wenn man mit der dazugehörigen Person schon mal ein paar Worte gewechselt hat.

Die Aufmerksamkeit verfliegt schlagartig, als zwei bossige, schwarze Typen auf der Bildfläche erscheinen. Sie tragen Baggy Pants, lässig zur Seite gedrehte Caps, XXXXXL-Shirts und schwere, goldene Halsketten. Ihr breitbeiniger Gang lässt darauf schließen, dass sie entweder ein enorm großes Gemächt oder eine extrem volle Windel in der Hose haben.

»Drehen die hier ’nen Gangsterfilm?« Ich muss lachen, doch leider bringt mir dieser, zugegeben, bescheidene Witz nur fünf böse Rihanna-Blicke und eine beleidigte Kasha ein. Andrew, einer der beiden Typen, ist offensichtlich ihr big producer aus NYC, und so komisch wie sie sich in seiner Gegenwart benimmt, hat er sie nicht nur musikalisch ordentlich aus der Reserve gelockt. Ich nutze die Gelegenheit, um mich unbemerkt zu verziehen, und beschließe, mir Leute ohne R’n’B/Hip-Hop-Hintergrund zu suchen. Natürlich gibt es schlimmere Musikstile, aber das ganze Pimp-Getue, Halsketten-Gebamsel und Bling Bling ist einfach nicht mein Ding.

 

Eine nette Koordinatorin schickt mich in einen Übungsraum, in dem sich alle Singer/Songwriter des Camps versammelt haben. Als ich den Raum betrete, kommt sofort eine winzige Blondine im besten Botox-Einstiegsalter mit Beanie-Mütze auf mich zu und umarmt mich ganz fest: »Schön, dass du hier bist. Wie ist dein Name?« Ich stelle mich vor und setze mich in den Stuhlkreis, der von meinem anvisierten Rheinländer um einen Platz erweitert wird. Dass er Sebastian heißt, Sebi genannt wird und aus irgendeinem Kaff bei Düsseldorf stammt, weiß ich schon von Kasha, alles Weitere werde ich gleich erfahren, denn die Miniblondine hat ein peinliches Kennenlernspiel vorbereitet. Sie zaubert eine Achtelnote aus Stoff hervor und wirft sie ihrem Gegenüber zu. »Wie bist du zur Musik gekommen?«, will sie wissen. Das ungefähr zwanzigjährige Mädchen, das ebenfalls eine Mütze trägt, drückt die Stoffnote fest in ihren Händen zusammen und beginnt zu erzählen: »Als ich vierzehn war, kam mein Bruder bei einem Autounfall ums Leben. Die Zeit danach war … ich habe … ich … also es war … ich habe dann …« Das Mädchen beginnt zu weinen. Anführer-Blondie und zwei Teilnehmerinnen eilen sofort zu ihrem Stuhl, um zu trösten. Mir tut die junge Frau auch leid, unangenehm berührt fühle ich mich trotzdem. Erzählt man so etwas nicht eher seinem Therapeuten? Die Blondine spendet ein Tempo, streichelt der Weinenden ein paarmal über den Rücken, geht dann aber wieder zur Tagesordnung über.

Als Nächstes fängt ein bemützter Dicker das Stück Plüsch. Er sieht lieb und witzig aus. Seitdem ich ein Philipp-Poisel-Fan bin, stehe ich Songwritern in Form von Seehunden extrem positiv gegenüber. »Ja, hallo erst mal, ich bin der Boris, ich komme aus Ravensburg, und ich hab eigentlich schon immer Gitarre gespielt und gesungen. In meinen Songs verarbeite ich in erster Linie meine Schulzeit. Bin lange gemobbt worden und habe mich extrem einsam gefühlt.« Die Geschichte vom armen dicken Kind bringt auch ihm eine herzliche Umarmung von der Blondine ein.

Nachdem die Kuschelei beendet ist, wirft der Seehund die Note hinüber zu Sebi. Jetzt bin ich gespannt. Der Fast-Düsseldorfer hat dunkle Locken, helle Augen und trägt einen blaugrauen Kapuzenpulli. Dass er als Einziger in dem dreißig Grad warmen, geschlossenen Raum auf Kopfbedeckung verzichtet, macht ihn noch sympathischer. Ich verspüre einen starken Drang, durch seine schönen Haare zu wuscheln.

»Hallo, ich bin Sebi. Bei mir lief irgendwie alles autodidaktisch ab. Mit sechzehn habe ich mir selbst Gitarrespielen beigebracht und dann ziemlich schnell erste Songs geschrieben. Na ja, und … Also, es war ziemlich schwer damals, weil meine Eltern sich gerade scheiden ließen. Und … also, ich hatte einfach das Gefühl, da sind so viele Emotionen und angestaute Wut, die müssen irgendwie raus.«

Boah, bitte nicht noch ’ne traurige Geschichte, will ich am liebsten laut in die Runde rufen. Der Drang, meinem Sitznachbarn durch die Mähne zu wuscheln, ist augenblicklich verflogen. Die anderen Mädchen hingegen scheint Sebis Gefühlsgebrabbel nicht abzuschrecken. Deren Blick ist verklärt, und in den Augen schimmert der Wunsch, mit ihm am Lagerfeuer ein trauriges Duett zu singen und den Abend bei romantischem Viertklässler-Fummeln ausklingen zu lassen. Ich persönlich halte Sebi für abgebrühter, als er tut. Sicher überlegt er in diesem Moment, welches der traurigen Gitarrenmädchen er am Abschlussabend in sein Bett locken und danach nie wieder anrufen wird.

In hohem Bogen wirft er die Plüschnote Blondie in den Schoß. Wir erfahren, dass sie schon seit einigen Jahren an der Popakademie als Dozentin arbeitet und Songs für bekannte Künstler geschrieben hat. Es folgt eine Auflistung verschiedener Casting-Stars und anderer Eintagsfliegen. Ich bleibe unbeeindruckt. Wer genau sich das einfältige Gedudel für DSDS, Popstars oder X-Factor-Sternchen aus den Fingern saugt, hatte mich bislang null interessiert. Castings-Shows sind in meinen Augen ein riesiges Kasperletheater auf Kosten der Teilnehmer, und selbst bei »Deutschland sucht den grauen Star« hätte ich nicht mitmachen wollen. Menschen, die vor und hinter den Kulissen für besagte Formate arbeiten und ohnehin schon traumatisierte Teenager systematisch fertigmachen, finden bei mir keine Gnade. Die meisten Teilnehmer landen, anstatt in den Charts, direkt beim Psychiater. Oder erst in den Charts und dann beim Psychiater.

»Christin, du bist dran«, höre ich die Blondine sagen, da liegt die Note auch schon neben mir auf dem Boden. Mist, was erzähle ich jetzt? Ich möchte auf keinen Fall umarmt werden.

»Tja, also, ich hatte keine schlimme Kindheit und mache trotzdem Musik«, witzele ich. Der Spruch kommt gar nicht gut an. »Ja, und eigentlich ist Popmusik auch gar nicht so hundertpro mein Ding. Ich studiere Komposition in München.« Dies ist zwar erst in zwei Monaten der Fall, aber es ist nicht verboten, sich schon im Voraus damit zu schmücken.

»Und was machst du dann hier?«, fragt Sebi. Er mustert mich von der Seite.

Vielleicht mache ich ja mit dir rum, wenn mir langweilig wird, schießt es mir durch den Kopf, doch ich antworte, dass ich sehr gerne Songs schreibe und mich auf neuen Input und die Kollegen freue. Das entspricht ungefähr der Wahrheit und stellt den weinerlichen Wollmützen-Verein zufrieden.

 

Die nächsten Tage sind aufregend. Mein Neustart fühlt sich fantastisch an. Ich reagiere nicht mehr auf Konrads »Mein-Leben-hat-keinen-Sinn-ohne-dich«-Anrufe,