Doaa – Meine Hoffnung trug mich über das Meer

Melissa Fleming

Doaa
Meine Hoffnung trug mich
über das Meer

Ein außergewöhnliches Schicksal
erzählt von der Sprecherin der UN-Flüchtlingshilfe
Melissa Fleming

Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Melissa Fleming

Melissa Fleming wurde in Marblehead, Massachusetts (USA) geboren. Zwischen 1982 und 1986 studierte sie German Studies und machte anschließend ihren Master in Broadcast-Journalism. Zwischen 1989 und 1994 war Fleming für die Öffentlichkeitsarbeit bei »Radio Free Europe« zuständig. Anschließend wechselte sie als verantwortliche Pressesprecherin zur OSZE, bevor sie 2001 Pressesprecherin der Atomenergiebehörde IAEA wurde. Seit Juli 2009 ist Fleming Sprecherin beim UNHCR.

Impressum

Die englischspachige Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »A Hope More Powerful Than the Sea« bei Flatiron Books, New York.

 

© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2017 by Melissa Fleming

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: NETWORK! Werbeagentur, München

Coverabbildung: Elena Dorfman; Gettyimages/Anadolu Agency

ISBN 978-3-426-44122-0

Hinweise des Verlags

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Für Peter, Alessi und Danny, meine Eltern und die über fünfundsechzig Millionen Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und zu flüchten.

Die in diesem Buch geäußerten Ansichten sind ausschließlich jene der Autorin und spiegeln nicht die Haltung der Vereinten Nationen wider.

Kapitel 1

Eine Kindheit in Syrien

Als Doaa zum zweiten Mal dem Ertrinken nahe war, trieb sie mitten auf dem feindlichen Meer, das gerade erst den Mann verschlungen hatte, den sie liebte. Ihr war so kalt, dass sie ihre Füße nicht mehr spürte. Vom Durst war ihr die Zunge im Mund angeschwollen. Verzweiflung drohte, sie zu überwältigen. Wären nicht die zwei kleinen Mädchen in ihrem Arm gewesen, mehr tot als lebendig, hätte sie sich einfach dem Meer überlassen. Es war kein Land zu sehen. Nur Wrackteile, ein paar andere Schiffbrüchige, die Gott um Rettung anflehten, und Dutzende aufgeblähter, treibender Leichen.

Dreizehn Jahre zuvor war es ein kleiner See gewesen, nicht der riesige Ozean, der sie zu verschlingen drohte. Doch zu jener Zeit war Doaas Familie da, um sie zu retten. Sie war damals sechs Jahre alt und die Einzige in ihrer Familie, die nicht hatte schwimmen lernen wollen. Sie hatte Angst vor dem Wasser. Allein bei dem Anblick graute es ihr.

Während der Ausflüge zum nahen See saß Doaa immer alleine am Ufer und sah zu, wie ihre Schwestern, Cousins und Cousinen herumplanschten, tauchten und kopfüber ins Wasser sprangen. So abgekühlt, ließ sich die drückende Hitze des syrischen Sommers gleich besser ertragen. Wenn sie versuchten, Doaa ins Wasser zu locken, weigerte sie sich strikt. Das entschiedene Nein gab ihr ein Gefühl von Stärke. Selbst als kleines Kind war sie schon eigensinnig. »Doaa lässt sich von niemandem sagen, was sie tun soll«, erzählte die Mutter allen mit einer Mischung aus Stolz und Verzweiflung.

Dann beschloss Doaas junger Cousin eines Nachmittags, dass das Ganze idiotisch war. Es wurde Zeit, dass Doaa schwimmen lernte. Er schlich sich von hinten an Doaa heran, die selbstvergessen dasaß, mit dem Finger Muster in den Sand malte und den Blick über die anderen schweifen ließ. Er packte sie um die Taille und hob sie hoch. Sie schrie und trat nach allen Richtungen. Doch der Junge legte sich das Mädchen einfach über die Schulter und trug sie zum See. Ihr Gesicht drückte sich in seine Schultergrube, ihre Beine strampelten vor seiner Brust. Sie rammte ihm das Knie in die Rippen und die Nägel in die Kopfhaut. Die anderen Kinder lachten, als Doaas Cousin sie ins schlammige Wasser fallen ließ. Doaa aber wurde völlig panisch, als sie mit dem Gesicht voran ins Wasser eintauchte, das ihr höchstens bis zur Brust reichte. Doch Doaa war starr vor Angst, weil ihre Füße keinen festen Grund fanden. Statt an der Oberfläche zu treiben, sank sie in die Tiefe. Sie schnappte nach Luft, doch alles, was in ihren Mund eindrang, war Wasser.

Schließlich zogen zwei starke Arme sie heraus, gerade noch rechtzeitig. Jemand trug sie ans Ufer und legte sie ihrer entsetzten Mutter in den Schoß. Doaa hustete alles an Wasser aus, was sie geschluckt hatte. Stoßweise ging ihr Schluchzen, und sie schwor leidenschaftlich, nie, nie wieder auch nur in die Nähe von Wasser zu gehen.

Zu jener Zeit gab es auf der ganzen Welt nichts, wovor sie sich hätte fürchten müssen. Nicht solange ihre Familie da war, um sie zu beschützen.

Die sechsjährige Doaa konnte sich nicht erinnern, jemals allein gewesen zu sein. Sie lebte mit ihren Eltern und fünf Schwestern in einem einzigen Zimmer im zweistöckigen Haus ihres Großvaters. Die drei Brüder ihres Vaters und deren Familien lebten in den anderen Räumen. Diese enge Gemeinschaft mit ihren Verwandten prägte jeden einzelnen Moment in Doaas Leben. Sie schlief Seite an Seite mit ihren Schwestern, aß mit ihnen und hörte den lebhaften Gesprächen zu.

Die Familie Al Zamel lebte in Dara’a, der größten Stadt im Südwesten Syriens, nur wenige Kilometer von der jordanischen Grenze entfernt und ungefähr zwei Autostunden südlich von Damaskus. Dara’a liegt auf einer vulkanischen Hochebene voll der fruchtbarsten roten Erde. Noch im Jahr 2001, damals war Doaa sechs Jahre alt, war die Gegend berühmt für ihren Reichtum an Früchten und Gemüse – Granatäpfel, Feigen, Äpfel, Oliven und Tomaten. Zu der Zeit sagte man, dass die Früchte Dara’as ganz Syrien ernähren könnten.

Jahre später – 2007 – zwang eine schreckliche Dürre das Land in die Knie. Sie dauerte drei Jahre, so dass viele Bauern ihre Felder verlassen und in Städte wie Dara’a ziehen mussten, um Arbeit zu suchen. Nicht wenige Experten sind der Annahme, dass auch diese massive Wanderbewegung zu der Unzufriedenheit führte, aus der schließlich 2011 die Proteste und der gewaltsame Aufstand hervorgingen, die Doaas Leben grundlegend verändern sollten.

Doch Dara’a war 2001 ein friedlicher Ort, als Doaa noch ein kleines Mädchen war. Die Menschen gingen ihren Geschäften nach. Sie glaubten sogar, einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft ihres Landes zu erkennen. Im Jahr davor nämlich hatte Baschar al-Assad seinen repressiven Vater Hafiz al-Assad als Präsident des Landes abgelöst. Die Menschen in Syrien hofften, dass der junge Präsident die autokratische Politik seines Vaters beenden und bessere Zeiten für ihr Land anbrechen würden. Baschar al-Assad und seine glamouröse Frau hatten sich beim Studium in England kennengelernt. Ihre Ehe war auch eine politische Symbiose – als Alewit repräsentierte er eine religiöse Minderheit, seine Frau Asma hingegen gehörte wie Doaas Familie der sunnitischen Mehrheit an. Seine politischen Ziele unterschieden sich von denen seines Vaters, was – vor allem bei der in Damaskus aufgewachsenen jungen Elite des Landes – die Hoffnung weckte, dass unter seiner Führung das achtundvierzig Jahre alte Notstandsgesetz, das schon sein Vater von seinem Vorgänger geerbt und beibehalten hatte, um politische Gegner mundtot zu machen, abgeschafft und damit endlich die Meinungsfreiheit nach Syrien zurückkehren würde. Unter dem Vorwand, die Nation gegen islamische Guerillakämpfer beziehungsweise Angriffe von außen schützen zu müssen, hatte die Regierung die Notstandsgesetze benutzt, um die bürgerlichen Rechte und Freiheiten der Syrer zu beschneiden. So konnten die Sicherheitskräfte Menschen vorbeugend in Haft nehmen, ohne dass diese sich rechtlich hätten wehren können.

Die eher konservative, arme Bevölkerung, wie sie in Dara’a lebte, hoffte in erster Linie auf wirtschaftliche Verbesserungen. Ansonsten nahm sie das, was im Land geschah, meist klaglos und schweigend hin. Ein kollektiver Reflex auf ein Ereignis aus dem Jahr 1982: Damals hatte Präsident Hafiz al-Assad in der Stadt Hama Tausende von Bürgern hinrichten lassen zur kollektiven Bestrafung des Aufstands der Muslimbrüderschaft, die seine Herrschaft bedroht hatte. Der brutale Vergeltungsschlag war im Bewusstsein der Syrer noch sehr lebendig.

Doch nun, da eine neue Generation an der Macht war, hoffte man, dass Hafiz al-Assads Sohn die Restriktionen, die das tägliche Leben so sehr erschwerten, aufheben würde. Zur großen Enttäuschung der Menschen in Syrien blieben die Reformversprechen des neuen Präsidenten bloße Lippenbekenntnisse. Es änderte sich kaum etwas. Und nach den Vorfällen in Hama wagte auch niemand, das autoritäre Regime zu kritisieren.

Als Doaa noch klein war, füllte sich der alte Markt der Stadt – der Souk – mit Menschen, die sogar über die nahe jordanische Grenze kamen, um qualitativ hochwertige Ware günstig einzukaufen und ihrerseits Werkzeuge beziehungsweise bäuerliche Erzeugnisse feilzubieten. Dara’a lag an der wichtigsten Handelsroute zum Persischen Golf. Die Stadt war daher ein beliebter Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Region, die sich gerne hier trafen, auch wenn sie nur auf der Durchreise waren. Doch den Mittelpunkt dieses geschäftigen Treibens bildete stets die eng verbundene Gemeinschaft der Familien und Freunde, die sich über Generationen entwickelt hatte.

Die Kinder in Dara’a lebten wie im restlichen Syrien lange bei ihren Familien, bis ins Erwachsenenalter hinein. Die Söhne blieben auch nach der Heirat noch mit ihren Frauen im Haus der Familie wohnen, wo sie ihre Kinder großzogen.

Ein typischer syrischer Haushalt wie jener der kleinen Doaa bestand aus einer einzigen großen Familie, in der mehrere Generationen unter einem Dach zusammenlebten. Wenn die oberste Etage für all die neuen Familienmitglieder allmählich zu klein wurde, setzte man einfach noch eine Ebene drauf.

In Doaas Haus gehörte das Erdgeschoss zum Teil Onkel Walid und Tante Ahlam mit ihren vier Kindern. Gleich daneben lebte Onkel Adnaan mit seiner sechsköpfigen Familie. Doaas Großvater Mohamed und Großmutter Fawziyaa hatten ein eigenes Zimmer. Auf dem Flachdach lebte Onkel Nabil mit seiner Frau Hanadi, drei Jungs und zwei Mädchen in einem kleinen Zimmer. Doaas achtköpfige Familie belegte die Räumlichkeiten im Erdgeschoss gleich neben der Küche, dort, wo am meisten los war. Alle größeren Räume lagen um einen offenen Innenhof, wie er für arabische Häuser typisch ist. In diesen Innenhöfen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, denn die Kinder spielten dort nach der Schule und zwischen den Mahlzeiten. Auch das Flachdach bot genügend Platz für Familienzusammenkünfte. In heißen Sommernächten blieb man bis in die frühen Morgenstunden dort oben sitzen. Die Männer rauchten ihre Wasserpfeifen, die Frauen plauderten, und alle tranken den süßen syrischen Tee. In besonders heißen Nächten rollte man auf dem Dach die Matratzen aus und schlief unter den Sternen, um die nächtliche Brise genießen zu können.

Die ganze Familie – Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen – aß zusammen im Innenhof. Man setzte sich auf einen Teppich, in dessen Mitte große Schüsseln mit dampfend heißem Essen standen. Zu den Mahlzeiten stürzten Doaa und ihre Schwestern sich förmlich aufs Essen und verputzten, was sie nur kriegen konnten. Sie rollten dünnes Pitabrot zum Löffel und nahmen damit die würzigen Speisen auf.

Doaas Vater liebte diese Momente mit seiner Familie, denn dies war die einzige Zeit des Tages, zu der er seine Töchter zu sehen bekam. Nach dem Essen, wenn er die letzten Tropfen des zuckrigen Tees geleert hatte, stieg er auf sein Fahrrad und radelte zurück in seinen Friseurladen, wo er bis Mitternacht arbeitete.

Eine solche Großfamilie bringt Liebe, Konflikte, Freude und Sorgen, die jeden Moment von Doaas Leben prägten. Umso mehr, als sich unter dem Dach der liebevollen Familie erste Spannungen zu zeigen begannen.

* * *

Als Doaa zur Welt kam, hatten ihre Eltern bereits drei Töchter. Vonseiten der Familie bestand daher ein gewisser Druck, endlich einem Sohn das Leben zu schenken. In der traditionell patriarchalischen syrischen Gesellschaft galten Jungen mehr als Mädchen, denn sie würden, so glaubte man, die Familie einmal ernähren können. Töchter hingegen würden heiraten und ihre Aufmerksamkeit von da an ganz dem Ehemann und den Schwiegereltern schenken. Shokri, Doaas Vater, sah gut aus mit seinen dunkel gelockten Haaren. Er arbeitete als Friseur, seit er vierzehn war. Sogar in Griechenland und Ungarn hatte er schon gearbeitet. Eigentlich hatte Shokri ja nach Europa zurückgewollt, um dort Arbeit und eine Frau für sich zu suchen, doch nachdem er Hanaa kennengelernt hatte, Doaas Mutter, hatte er seine Pläne geändert. Hanaa war gerade mit der Oberschule fertig, als sie sich bei der Hochzeitsfeier eines Nachbarn begegneten. Sie war klein, hatte lang wallendes schwarzes Haar und leuchtend grüne Augen. Sie und Shokri fühlten sich sofort zueinander hingezogen. Sie fand ihn weltoffener und selbstbewusster als die anderen Jungen, die sie kannte. Und ihr gefiel, wie er sich anzog mit seinen Schlaghosen-Jeans. Außerdem spielte er die Oud, ein Saiteninstrument, das als Vorläufer der Gitarre und der Laute gilt.

Shokri und Hanaa heirateten, als Hanaa gerade mal siebzehn war. Ihre ersten gemeinsamen Jahre waren friedlich und voller Liebe, doch das änderte sich mit der Zeit. Nach der Geburt ihrer dritten Tochter hörte Hanaa zum ersten Mal mit an, wie ihre Schwiegermutter Fawziyaa sich beklagte, dass sie und Shokri keinen Sohn hätten. Hanaa war entsetzt, als Shokris Verwandte ihm ganz offen rieten, sich eine neue Frau zu nehmen, die ihm einen Sohn schenken könne. Shokri aber war, obwohl er gegen tiefsitzende Vorurteile und Erwartungen anzukämpfen hatte, sehr stolz auf seine heranwachsenden Töchter. Seine Mutter allerdings setzte Hanaa immer wieder damit zu, dass Shokri Söhne verdient habe. Das Heim der Familie, das für Shokri und Hanaa so lange ihr Allerheiligstes gewesen war, wandelte sich zum Alptraum, vor allem als Hanaas Schwägerinnen mit der Schwiegermutter in ein Horn stießen und sich ständig das Maul darüber zerrissen, weshalb Hanaa wohl keine Söhne bekommen könne.

Als am 9. Juli 1995 Doaa zur Welt kam, nahm Hanaa die halbherzigen Glückwünsche der Familie entgegen: »Dann eben nächstes Mal, Inschallah, so Gott will. Vielleicht wird es dann ein Junge.«

Hanaa aber spürte etwas ganz Eigenes in diesem Mädchen mit der feierlich ernsthaften Miene. Als eines Tages eine ebenso angesehene wie reiche Freundin der Familie aus einer anderen Stadt zu Besuch kam, um das Neugeborene zu sehen, tat sie das Ihre, um Doaa ihren Platz innerhalb der Familie zu sichern. Die Frau konnte keine eigenen Kinder bekommen und daher den Druck nachfühlen, den man auf Hanaa ausübte. Sie beschloss, ihr zu helfen. Als die Familie sich in der Küche versammelt hatte, um den hohen Gast zu begrüßen, nahm sie Doaa liebevoll in die Arme und wiegte sie sachte. Sie sah in das ernste Gesichtchen, berührte mit dem Finger ihre Stirn und verkündete: »Dies ist ein ganz besonderes Kind, wahrlich ein Gebet Gottes.« Denn dies ist die Bedeutung des Namens Doaa. Bevor sie das Haus wieder verließ, gab die Freundin Hanaa zehntausend syrische Lira – ein kleines Vermögen – als Geschenk für Doaa. Der Rest der Familie war bass erstaunt. Da diese Freundin aus den reichen Golfstaaten kam, begegnete man ihr mit Achtung. Nach diesem Ereignis bestand Shokris Mutter stets darauf, die kleine Doaa in den Arm zu nehmen, und zumindest für eine Zeitlang verstummten auch die Beleidigungen in Hanaas Richtung.

Als Doaa heranwuchs, bezauberte sie beinahe jeden, der sie kennenlernte. Anders als ihre lebhaften Schwestern war sie außerordentlich scheu. Doch gerade das motivierte die Menschen, sie aus der Reserve zu locken. Sie war ein wirklich süßes Kind, und jedes Mal, wenn Hanaa mit ihr spazieren ging, blieb irgendjemand stehen und bewunderte Doaas schöne schokoladenbraune Augen unter den langen Wimpern und ihren ruhigen, steten Blick. »Wir wussten von Anfang an«, sagte Hanaa, »dass sie der Familie Glück bringen würde.«

Drei Jahre nach Doaas Geburt brachte Hanaa noch eine Tochter zur Welt, Saja, zwei Jahre später folgte das sechste Mädchen mit Namen Nawara. Und natürlich ging es bald wieder um den »armen Shokri«, der keine Söhne hatte. Zu jener Zeit lebte die achtköpfige Familie in einem zwanzig Quadratmeter großen Raum mit nur einem Fenster.

Auch der Rest der Familie wuchs, denn Doaas Tanten und Onkel bekamen ebenfalls mehr Kinder. In Syrien sind große Familien etwas ganz Normales. Es gilt als glückverheißend, wenn ein Kind geboren wird. Ist eine Familie groß, so sagt man, dass das Paar glücklich ist – auch weil es Kinder hat, die im Alter für Vater und Mutter sorgen können.

Doch nun lebten mehr als siebenundzwanzig Menschen in einem Haus zusammen. Die Spannungen wuchsen, vor allem unter den Frauen. Es war unmöglich, für so viele Menschen auf einmal zu kochen, daher fanden die gemeinsamen Mahlzeiten, die alle Familienmitglieder im Innenhof vereint hatten, allmählich ein Ende. Stattdessen kochte nun jede Familie abwechselnd und nur für sich. Hanaa hatte die erste Schicht. Daher musste sie jeden Tag zum Markt eilen, das Gemüse putzen und schneiden und das Essen fertig haben, wenn Shokri um drei Uhr nachmittags seine Mittagspause machte. Dies war die Hauptmahlzeit der Familie, und entsprechend viel Wert legte Hanaa darauf. Sie hatte diese Mahlzeit schon immer mit Stolz und Freude zubereitet, jetzt aber musste sie sich auf einmal beeilen, um Reibereien mit ihrer Schwiegerfamilie zu vermeiden.

Doaa und ihre Familie nahmen Frühstück, Mittag- und Abendessen jetzt in ihrem kleinen Zimmer ein, auf einer Plastiktischdecke, die sie in der Mitte des Raumes ausbreiteten. Dieses Zimmer war nun der Mittelpunkt ihrer Welt. Es war Schlafzimmer, Wohn- und Esszimmer zugleich. Alles, was die Familie tat, spielte sich in diesen vier Wänden ab.

Doch die Mädchen wurden langsam größer und fanden es schwieriger, ihr Leben auf so engem Raum zusammenzudrängen. Am Abend rollten Doaa und ihre Schwestern die Matratzen aus und legten sie irgendwie auf den Boden, jedes kleinste bisschen Platz nutzend, bis das Ganze aussah wie ein Puzzle. Doaa schlief am liebsten direkt unter dem Fenster, damit sie zu den Sternen hinaufsehen konnte, bis sie einschlief. Sobald alle schliefen, balancierten Shokri und Hanaa über die ausgestreckten Arme und Beine der Mädchen hinweg, um in ihre Ecke des Zimmers zu gelangen.

Für Hanaa wurde die Atmosphäre in dem überfüllten Haus bald unerträglich. Ständig lästerten ihre Schwägerinnen, weil sie keine Söhne hatte. Als Hanaa eines Abends wieder hörte, wie man in der Küche über sie sprach, entschied sie, dass es jetzt genug war mit all diesen Vorwürfen, den Streitereien übers Kochen und dem ganzen Lärm. In jener Nacht erwartete sie Shokri mit über der Brust gekreuzten Armen im Türrahmen des Zimmers und kämpfte gegen die Tränen.

»Entweder du findest für uns ein anderes Haus, oder du suchst dir eine andere Frau«, forderte sie. »Hier können wir nicht mehr bleiben.« Sie trat näher an ihren Mann heran. »Es geht ja nicht nur um mich. Ayat ist fünfzehn und Alaa dreizehn. Sie sind Teenager! Sie haben die Nase voll davon, ständig mit uns in einem Raum schlafen zu müssen. Sie brauchen auch ein bisschen Privatsphäre. Wenn du für uns keine neue Bleibe findest, werde ich dich verlassen und um die Scheidung bitten.«

Shokri hatte die wachsenden Spannungen mit der Familie wohl bemerkt, auch die Schwierigkeiten, die sich durch das Zusammenleben auf engstem Raum ergaben. Und nach sechzehn Jahren Ehe war ihm sofort klar, dass Hanaa meinte, was sie sagte. Ihre fest aufeinandergepressten Lippen und der schneidende Tonfall sagten ihm, dass sie ihre Drohung, ihn zu verlassen, wahr machen würde. Das hieß, dass er eine besser bezahlte Arbeit suchen musste, damit sie sich eine größere Wohnung leisten konnten.

Die sechsjährige Doaa hatte von den Spannungen nichts mitbekommen. Sie hatte keine Ahnung, wie bald sie herausfinden würde, dass ihre Welt nicht so sicher war, wie es schien. Für sie war das große Haus ein Ort wunderbarer Erinnerungen: an die duftenden Fleischgerichte, die auf dem Ofen schmorten; an das unausgesetzte Lachen beim Spiel mit Cousins und Cousinen; an den Innenhof, in dem sich der Duft der Jasminblüten fing; an die warmen Nächte auf dem Dach, wo sie, auf ihre Matratze gekuschelt, den leisen Gesprächen der Erwachsenen lauschte, die um die Wasserpfeife beisammensaßen.

Shokri hatte nichts anderes gelernt als das Friseurhandwerk, aber er fragte zumindest herum, ob er vielleicht mit seinem alten gelben Peugeot Transporte über die jordanische Grenze übernehmen konnte. Das »Yellow Submarine«, wie sie das Auto nannten, war das einzige Transportmittel der Familie und gleichzeitig ihr Running Gag. Rostig und verbeult, wie er war, hatte er, vorzugsweise bei den Wochenendausflügen, des Öfteren mal eine Panne. Doch er war Shokris ganzer Stolz. Nun wurde er zum Hoffnungsträger der ganzen Familie, weil er sie aus dem überfüllten, stickigen Haus bringen sollte. Shokri fand nämlich einen jordanischen Geschäftsmann, der ihn bezahlen wollte, wenn er das »Unterseeboot« mit Päckchen syrischer Kekse füllen und sie über die Grenze nach Jordanien bringen würde.

In den nächsten beiden Monaten verließ Shokri das Haus schon im Morgengrauen. Er fuhr zur Fabrik nach Dara’a, wo er den Peugeot mit Gebäck- und Kuchendosen füllte. Manchmal konnte er durch das Rückfenster kaum etwas sehen, so vollgepackt war das Auto. Wenn es an der Grenze nicht zu lange dauerte, war er in fünf Stunden wieder zu Hause; früh genug, um gemeinsam mit der Familie zu essen. Nachmittags ging er dann wieder in den Friseurladen. Doaa und ihre Schwestern waren von Papas neuer Arbeit begeistert, weil er ihnen jedes Mal Leckereien aus Jordanien mitbrachte. Die Mädchen warteten schon an der Tür auf kubz ishtiraak, ein dünnes Pitabrot, das in Syrien nicht erhältlich war, und auf Kartoffelchips der Marke Barbi, die die Mädchen lieber mochten als die, die es zu Hause gab. Doch Shokri brachte ihnen auch Kleider und andere schicke Sachen mit, die sie vorher nicht gehabt hatten.

Dann kam Shokri eines Nachmittags nicht nach Hause. Stunden vergingen, ohne dass eine Nachricht von ihm eintraf. Hanaa und die Mädchen machten sich solche Sorgen. Shokri blieb nie länger weg, ohne ihnen vorher Bescheid zu geben.

Hanaa bat die Familie um Hilfe. Sie ging zu Nachbarn und Freunden. Schließlich brachte Doaas Tante Raja nach zahllosen Telefonaten bei einer jordanischen Freundin in Erfahrung, dass Shokri verhaftet worden war. Die Grenzbeamten waren dahintergekommen, dass er mehr als die erlaubten zweihundertzwanzig Pfund Waren geladen hatte. Außerdem war die Genehmigung zum Warentransport über die Grenze, die der Geschäftsmann Shokri mitgegeben hatte, gefälscht. Shokri saß in Jordanien im Gefängnis.

Die Familie wusste, dass die Haftbedingungen dort schlimm waren, und machte sich daher schreckliche Sorgen. Sie stellten sich vor, wie er in einer überfüllten Zelle auf dem Fußboden schlief, wie er hungerte und sich nicht waschen konnte. Einen Anwalt konnte man sich nicht leisten. Wie also sollten sie sich mit der jordanischen Gerichtsbarkeit auseinandersetzen?

Die Tage vergingen, und der Sorgenberg wuchs. Es war ja nicht nur die Sorge um Shokri. Hanaa und die Kinder hatten ohne ihn schlicht nichts zu essen. Sie hatten ja schon Schwierigkeiten gehabt, mit seinem Lohn als Friseur zurechtzukommen. Jetzt aber verfügten sie über gar kein Einkommen mehr. Hanaas Familie half. Sie brachten ihr Lebensmittel und gaben ihr Geld, soweit sie es erübrigen konnten. Die Al Zamels waren arm. Sie hatten keine Verbindungen zu einflussreichen Leuten in der Regierung, die ihnen vielleicht hätten helfen können. Und sie wagten nicht, die Beamten vor Ort davon in Kenntnis zu setzen, dass Shokri in Jordanien im Gefängnis saß, damit er nach seiner Rückkehr nicht noch mehr Probleme bekäme.

Man erlaubte der Familie nicht, Shokri im Gefängnis zu besuchen oder mit ihm zu telefonieren. Also hörten sie nur sporadisch von ihm, wenn in Jordanien lebende Bekannte etwas in Erfahrung brachten. Die Botschaften aber waren verwirrend. Umso mehr fürchtete man, dass er dort schlecht behandelt würde. Doaa und ihre Schwestern weinten sich jeden Abend in den Schlaf. Auch Hanaa weinte, aber erst, wenn die Mädchen eingeschlafen waren. Ob ihr Mann wohl je wieder nach Hause kommen würde?

Schließlich wurde ein Familienrat einberufen, um Wege zu finden, Shokri nach Hause zu holen. Vier Monate nach Shokris Festnahme bezahlte ein Freund seines Bruders mit Namen Adnaan einem jordanischen Anwalt mit guten Verbindungen zehntausend syrische Lira (damals etwa fünfhundert Dollar), um Shokri freizubekommen. Der Anwalt kannte sich aus mit der jordanischen Gerichtsbarkeit: Er wusste, dass er Gefängnisaufseher und Richter würde bestechen müssen, um Shokri die Freiheit zu sichern.

Mit den zehntausend Lira kaufte Adnaan das beste syrische Olivenöl, das zweihundert Lira pro Kilo kostet – für die Beamten, die mit dem Fall befasst waren. Und das bestmögliche Fleisch für den Richter. Er überzeugte den Richter, dass der Fabrikbesitzer Shokri hereingelegt hatte und dass dieser ein einfacher Mann war, der hart arbeitete, um seine Familie zu ernähren. Das Schmiergeld erfüllte seinen Zweck, und Shokri wurde am Ende doch noch freigelassen.

Doaa und ihre Familie erkannten den dünnen, bärtigen Mann, der da spätnachts an ihrer Türschwelle auftauchte, beinahe nicht wieder. Doch sobald sie seine vertraute Stimme hörten, stürzten die Mädchen auf ihn zu und umarmten ihn. Nach vier Monaten hatte Doaa ihren Vater wieder und hätte ihn am liebsten nie wieder fortgelassen.

Nach Shokris Freilassung ging das Leben bald weiter wie gewohnt. Er ging wieder in seinen Friseurladen, Hanaa bereitete die Mahlzeiten für die Familie zu. Gemeinsam träumten sie von einem Heim nur für sich und die Mädchen. Schließlich fanden sie eine bezahlbare Wohnung in einem der günstigeren Viertel von Dara’a. Schon am nächsten Tag packten sie die Mädchen ein und zogen um.

* * *

Doaas zweites Zuhause war eine Dreizimmerwohnung im kaum entwickelten, armen und sehr konservativen Viertel Tareq Al-Sad. Shokri und Hanaa hatten Monate gebraucht, um diese stark heruntergekommene Wohnung zu finden, in der sich der Schmutz häufte. Doch hier hatten sie keine Streitereien mehr mit Onkeln und Tanten, und die Kinder konnten frei herumlaufen und tun, was sie wollten. Also packten die Mädchen mit an und halfen ihren Eltern, die Wohnung sauber zu machen und hübsch einzurichten. Doaas Schwestern liebten das neue Heim.

Doaa selbst allerdings konnte sich nicht dafür begeistern. Sie hasste Veränderungen und vermisste ihre Cousinen und Cousins. Vor allem aber vermisste sie ihre alte Schule. Sie hatte lange gebraucht, um sich mit Lehrern und Schulkameraden anzufreunden, und jetzt musste sie ganz von vorn anfangen. In der neuen Schule zog sie sich ganz in sich selbst zurück, während ihre Schwestern schnell neue Freunde fanden. Oft schützte sie Krankheiten vor, um nicht zur Schule zu müssen. Doch Doaa war ein Kind, dem andere stets mit Liebe begegneten, und so fand auch sie sich allmählich in der neuen Umgebung ein und gewann Freunde.

Im Jahr 2004 konnte die Familie die Geburt eines Neuankömmlings feiern: Doaa bekam einen Bruder namens Mohammad, Spitzname Hamudi. Nun hatte die Familie endlich auch einen Sohn. Die Mädchen waren ganz verrückt nach ihm und stritten sich, wer sich um ihn kümmern dürfe. Nun, wo der Familie ein Junge geboren worden war, bat man Hanaa und ihre Familie, doch zurück ins alte Haus zu kommen. Hanaa aber lehnte ab. Sie hatten sich in ihrem neuen Heim und in der neuen Umgebung gut eingelebt.

Aber als Doaa vierzehn wurde, erfuhr die Familie, dass der Eigentümer der Wohnung, die sie lieben gelernt hatten, sie für sich selbst brauchte. Sie mussten also wieder umziehen. Doaa, die jede Veränderung hasste, würde einmal mehr in ihrem Leben neu wurzeln müssen.

Mit Shokris bescheidenem Gehalt eine neue Wohnung zu finden, schien eine fast unlösbare Aufgabe. Mittlerweile zogen immer mehr Menschen nach Dara’a, um Arbeit zu finden. Die Mieten stiegen. Nach dreimonatiger Suche fand man schließlich eine Wohnung, die alle Erwartungen übertraf: eine Dreizimmerwohnung im grünen El-Kashef, mit einer hellen, kleinen Küche und einem Dach, auf dem Weinreben wuchsen. Shokri und Hanaa bekamen ein eigenes Schlafzimmer, und die Mädchen schliefen in dem Raum, der tagsüber als Wohnzimmer genutzt wurde. Zu der Zeit hatte Ayat, die älteste Tochter, schon geheiratet und war zu ihren Schwiegereltern gezogen.

Doaa allerdings freute sich kein bisschen auf die neue Wohnung, würde sie durch den Umzug doch all ihre Freunde verlieren, Menschen, die sie verstanden, ohne dass sie sich dafür anstrengen musste. Wieder litt sie in ihrer neuen Umgebung unter einer fast unüberwindlichen Schüchternheit.

In der neuen Schule weigerte sie sich, den Mund aufzutun, und bekam deshalb immer schlechtere Noten. Anfangs lehnte sie jede freundliche Geste nur schroff ab. Sosehr ihre älteren Schwestern Asma und Alaa sie auch drängen mochten, sich doch neue Freunde zu suchen, zog Doaa sich doch ganz in sich selbst zurück. Niemand konnte sie zwingen, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Ihre Schüchternheit und ihre fast unüberwindbare Sturheit waren ihr Schutzwall, der ihr erlaubte, mit ungewohnten Situationen umzugehen. Doaa brauchte lange, bis sie Vertrauen zu anderen Menschen aufbaute und sich zeigte, wie sie wirklich war.

Doch wie nach dem ersten Umzug begann Doaas Schutzwall auch hier allmählich zu bröckeln. Irgendwann kam sie heraus aus der dicht verschlossenen Muschel, gewann neue Freunde und begann, mit ihnen lange Spaziergänge durch die Nachbarschaft zu unternehmen. Die Mädchen besuchten sich gegenseitig zu Hause, lernten miteinander und plauderten, meist über Jungs. Am liebsten traf man sich auf dem Dach von Doaas Haus – ihrem Lieblingsplatz –, wo man sich gut sonnen konnte. Am Abend gingen die Mädchen hinein und legten arabische Popmusik auf. Sie stellten sich im Kreis auf und tanzten, während sie den Text laut mitsangen.

Während Doaa sich allmählich in ihrer neuen Umgebung einlebte, zeigte sich immer deutlicher, dass das traditionelle Leben eines syrischen Mädchens für sie wohl zu wenig war. Ihre kindliche Halsstarrigkeit entwickelte sich zu fester Entschlossenheit: Sie würde etwas aus sich machen. Dara’a war eine eher konservative Gemeinde, aber Doaa wusste aus Fernsehserien und Filmen, dass es Frauen gab, die studierten und arbeiteten, selbst in Syrien. Der syrische Staat hatte offiziell die Gleichberechtigung der Frau für wünschenswert erklärt. Auch aus diesem Grund entstanden neue Fraktionen und dementsprechend Spannungen: Da waren jene, die glaubten, Frauen müssten sich ausnahmslos ihren Vätern und den von diesen auserwählten Ehemännern unterwerfen, und jene, die fanden, Frauen dürften durchaus eine höhere Schulbildung anstreben, einen Beruf erlernen und sich ihren Mann selbst aussuchen. Doaas Lieblingslehrerin war eine Frau, die ihren Schülerinnen Dinge sagte wie: »Ihr müsst lernen, um die Besten eurer Generation zu werden. Denkt an eure Zukunft, nicht nur an die Ehe.« Als Doaa dies hörte, spürte sie in sich den heftigen Drang, die Erwartungen, die alle in sie setzten, zu durchkreuzen. Sie wollte ein unabhängiges Leben führen.

Nach der sechsten Klasse wurden Jungen und Mädchen nicht mehr gemeinsam unterrichtet. Doaa und ihre Freundinnen redeten zwar ständig über Jungs, aber in ihrer Kultur galt es als nicht angemessen, mit ihnen zu sprechen. Mit vierzehn waren sie und ihre Freundinnen im heiratsfähigen Alter. Die anderen Mädchen schlossen schon Wetten ab, welche von ihnen als Erste heiraten würde. Dachte Doaa über ihre Zukunft nach, war alles, was sie wollte, ihre Familie zu unterstützen.

Wenn sie nicht in der Schule oder zu Hause war, hielt sie sich am liebsten im Friseursalon ihres Vaters auf. Sie wollte ihm beweisen, dass sie eine gute und nützliche Arbeitskraft war, auch wenn sie kein Junge war. Daher ging sie Shokri schon im Alter von acht Jahren zur Hand. Während Shokri seinen Kunden die Haare schnitt oder den Bart kürzte, kehrte Doaa die Haare auf dem Boden zusammen. Immer wenn er mit einer Rasur zu Ende war, stand sie da und hielt ihm ein sauberes, trockenes Handtuch hin. Kamen neue Kunden, schlüpfte Doaa in die kleine Küche hinter dem Salon, um wenige Minuten später mit einem Tablett aufzutauchen, auf dem heißer Tee oder bitterer arabischer Kaffee serviert wurde.

Jeden Donnerstag nach der Schule ließ Shokri sich von Doaa elektrisch rasieren. Er musste immer lachen, weil sie mit solchem Ernst an die Aufgabe heranging, so dass er sie »seine Expertin« nannte. Dieser Spitzname machte sie stolz und bestärkte sie darin, eines Tages Geld zu verdienen, um ihren Vater unterstützen zu können.

Als ihre Schwestern Asma und Alaa mit siebzehn und achtzehn heirateten, begann ihre Familie, sie aufzuziehen: »Du bist die Nächste!« Doch Doaa ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht daran interessiert war, so bald wie möglich zu heiraten, und bat sie, von etwas anderem zu sprechen. Anfangs reagierten ihre Eltern darauf noch überrascht, doch mit der Zeit gewöhnten sie sich an den Gedanken, dass Doaa einen anderen Weg einschlagen würde als die anderen Mädchen. Hin und wieder träumten sie gar davon, dass Doaa die Erste aus der Familie sein könnte, die ein Studium an der Universität abschließen würde. Hanaa hatte immer bedauert, dass sie diese Möglichkeit nicht gehabt hatte. Sie fand die Vorstellung, dass eine ihrer Töchter diesen Traum verwirklichen könnte, wunderbar.

Aber bald darauf überraschte Doaa jedermann mit einem ungewöhnlichen Berufswunsch: Sie wolle Polizeibeamtin werden. »Polizeibeamtin?«, fragte Hanaa. »Du solltest Lehrerin werden oder Rechtsanwältin.«

Auch Shokri fand die Idee nicht gut. Er wollte nicht, dass seine Tochter auf der Straße Streife ging und sich mit allen möglichen Menschen abgeben musste, vielleicht sogar mit Kriminellen. Außerdem traute er der Polizei nicht. Diesbezüglich war Shokri altmodisch. Er fand, es sei Aufgabe des Mannes, die Gesellschaft, vor allem die Frauen zu beschützen, nicht umgekehrt. Aber Doaa bestand darauf. Sie sagte, sie wolle ihrem Land dienen und zu jenen gehören, an die andere Menschen sich wandten, wenn sie in Not gerieten.

Doaas Vater hielt davon gar nichts, und ihre Schwestern zogen sie ob dieses ungewöhnlichen Traums auf. Ihre Mutter hingegen redete mit ihr. Sie wollte ihre Tochter und ihre Beweggründe verstehen. Doaa erklärte ihr, sie fühle sich in ihrer Rolle als Mädchen eingesperrt. Warum konnte sie nicht unabhängig sein, sich ein eigenes Leben aufbauen? Warum musste es immer mit dem eines Mannes verknüpft sein?

Hanaa gestand ihrer Tochter, dass sie Shokri zwar liebte, es aber bedauere, schon mit siebzehn geheiratet zu haben. Hanaa war in der Schule die Beste gewesen, vor allem in Mathematik und Wirtschaft. Sie hatte gehofft, an die Universität zu gehen und studieren zu können. Doch damals blieb Frauen nicht viel anderes übrig, als zu heiraten und eine Familie zu gründen. Für Doaa aber, so hoffte Hanaa, könnte es möglicherweise anders laufen.

Als Doaa von ihren Tanten eine Einladung nach Damaskus erhielt, die kosmopolitische Hauptstadt, erlaubte Shokri ihr die Reise, weil er hoffte, dass diese Doaas Abenteuerlust ein für alle Mal befriedigen würde. Das Gegenteil war der Fall: Sie kam bestärkt zurück. Doaa war hingerissen von der lebendigen Stadt. Sie stellte sich vor, wie sie durch die Straßen gehen, die wunderbare Umayyad-Moschee besichtigen und im Souk mit den Händlern palavern würde. Und sie hoffte natürlich, selbst eines Tages über den belebten Campus der Universität zu gehen, wenn sie dort ihr Studium aufnehmen würde. Damaskus öffnete Doaa die Augen. Nun war sie sicher, dass sie für sich eine andere Zukunft wollte, als die Tradition es vorschrieb.

Leider sollten ihre Träume nur zu bald zerschellen. Am 17. Dezember 2010 versammelte sich die Familie nach dem Abendessen wie üblich vor dem Fernseher, um über Satellit Nachrichten zu sehen. Der Sender Al Jazeera berichtete über einen jungen Straßenverkäufer in Tunis namens Mohamed Bouazizi. Dieser hatte sich selbst verbrannt, nachdem die Polizei seinen fahrbaren Gemüsestand beschlagnahmt hatte. Da sein Land wirtschaftlich nur wenige Möglichkeiten bot, war er dazu gezwungen, Obst und Gemüse zu verkaufen. Als ihm auch noch das letzte bisschen Würde genommen wurde, setzte er seinem Leben mit diesem schrecklichen Fanal des Protestes ein Ende. Seine Tat war der Beginn dessen, was man später als »Arabischer Frühling« bezeichnete. Dieser sollte die gesamte Region verändern.

Auch in Dara’a. Doch leider nicht auf die Weise, wie sich die Menschen in Doaas Heimatstadt dies erhofft hatten.

Kapitel 2

Der Krieg beginnt

Es begann mit einigen Graffiti, die ein paar Schuljungen an die Wand gesprüht hatten.

Man schrieb Februar 2011, und die Menschen in Dara’a hatten mitverfolgt, wie in der arabischen Region ein autoritäres Regime nach dem anderen vom Volk in Frage gestellt wurde und stürzte. In Tunesien identifizierte sich die Jugend mit dem verzweifelten Mohamed Bouazizi, der sich selbst den Tod gegeben hatte, und steckte Autos in Brand und warf Schaufenster ein, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Der tunesische Präsident, der Hardliner Zine el-Abidine Ben Ali, seit 1987 an der Macht, versprach seinem Volk Arbeit und Pressefreiheit. Außerdem sicherte er seinen Rücktritt zum Ende der Wahlperiode zu. Das allerdings konnte die aufgebrachte Bevölkerung nicht besänftigen. Der Aufstand breitete sich über das ganze Land aus. Das Volk verlangte den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Ben Ali reagierte, indem er den Notstand ausrief und die Regierung auflöste. Doch der eiserne Griff, in dem er Tunesien hielt, lockerte sich. Seine Unterstützer in Militär und Regierung wandten sich von ihm ab. Am 14. Januar 2011, weniger als einen Monat nach der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, musste er zurücktreten und mit seiner Familie nach Saudi-Arabien fliehen.

Zum ersten Mal hatten die Proteste der Bevölkerung in der arabischen Welt dazu geführt, dass ein Diktator gestürzt wurde. Die Menschen in Syrien, Menschen wie Doaa und ihre Familie, registrierten dies aufmerksam. Niemand hatte sich je vorstellen können, sich gegen das syrische Regime aufzulehnen. Dabei waren alle aus irgendeinem Grund mit der Regierung unzufrieden – sei es wegen der dauerhaft geltenden Notstandsgesetze, der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage oder der fehlenden Meinungsfreiheit –, doch das Volk hatte gelernt, sich mit der Situation zu arrangieren. Alle hatten immer das Gefühl gehabt, dass sich sowieso nichts ändern ließe. Der Sicherheitsapparat hatte seine Augen überall, sein starker Arm reichte in jedes Viertel. Man hatte die Protestierenden unter Kontrolle. Politische Aktivisten aus Damaskus, die nach dem Tod des einstigen Präsidenten Hafiz al-Assad Reformen gefordert hatten, waren in den Gefängnissen verschwunden. Man schüchterte die Menschen ein. Es war verboten, die Regierung zu kritisieren oder Forderungen zu stellen. Jetzt aber änderte sich alles schlagartig. Der Aufstand in Tunesien ließ die Syrer plötzlich hoffen, dass alles möglich war.

Doaa war mittlerweile sechzehn Jahre alt. Ihre Schwestern drängten die Eltern, ihnen zu erklären, was in der arabischen Welt geschah. Sie wollten wissen, ob so etwas auch in Syrien möglich wäre. Ihr Vater aber dämpfte die allgemeine Begeisterung ein wenig. Er wollte sie nicht ermutigen. Syrien sei nicht Tunesien, sagte er. Die Regierung hier sitze sicher im Sattel. Was in Tunesien geschehen war, sei einzigartig gewesen. Zumindest dachte er das.

Es folgten Ägypten, dann Libyen und der Jemen. In jedem Land verliefen die Proteste anders, doch die Forderung war überall dieselbe: Freiheit. Die Verzweiflungstat eines einzelnen Mannes hatte ein Leuchtfeuer der Revolte im Mittleren Osten entzündet. Der Arabische Frühling war geboren und weckte die Hoffnung bei den Unzufriedenen, vor allem bei den jungen Menschen. Und die Angst bei denen, die über sie herrschten. Als der Aufstand über Ägypten hinwegfegte, verfolgten die Syrer die Ereignisse besonders aufmerksam. Die beiden Länder hatten sich 1958 nämlich für kurze drei Jahre zur Vereinigten Arabischen Republik zusammengeschlossen. Syrien trat aus der Republik 1961 wieder aus, doch die kulturellen Bindungen an Ägypten waren nach wie vor stark. Als am 11. Februar 2011 der ägyptische Präsident Hosni Mubarak zum Rücktritt gezwungen wurde, feierten viele unzufriedene Syrer dies als Sieg, als sei es ihre eigene Regierung gewesen, die da stürzte.

Doaa und ihre Familie verfolgten mit angehaltenem Atem in den Nachrichten, wie Abertausende von Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo freudig feierten und jubelnd »Allahu Akbar« (Gott ist groß) und »Misr hurr« (Ägypten ist frei) riefen.

Dara’a war für Präsident Assad und seine Baath-Partei immer eine verlässliche Bastion gewesen. Doch nach dem Fall Mubaraks begannen auch die Bürger dieser Stadt, hinter vorgehaltener Hand ihr autoritäres Regime in Frage zu stellen. Wer aber würde es wagen, die syrische Regierung herauszufordern? Assad war bekannt dafür, dass er abweichende Meinungsäußerungen gewaltsam erstickte. Vielleicht konnten ganz normale Menschen, die sich gegen ein allmächtiges System erhoben, ihr Los ja in anderen Ländern wenden, in Syrien wäre dies unmöglich. Dessen war man sich sicher.

Eine Gruppe übermütiger junger Männer, gerade der Pubertät entwachsen, zog in Syrien die Aufmerksamkeit auf sich. In einer ruhigen Nacht Ende Februar 2011 sprühten diese ersten Dissidenten, inspiriert vom Arabischen Frühling, an die Wände ihrer Schule: Ejak Al Door ya Duktur (Du bist der Nächste, Doktor!). Das war eine Anspielung auf Baschar al-Assads Ausbildung zum Augenarzt. Nachdem sie fertig waren, liefen die Jungs lachend und feixend nach Hause, so stolz waren sie auf ihren harmlosen Streich, eine recht milde Form zivilen Ungehorsams. Sie wussten, dass die Sicherheitskräfte sich über die Graffiti empören würden, doch dass ihr Tun in Syrien eine Revolution auslösen und zu einem Bürgerkrieg führen könnte, der das ganze Land teilen und zerstören würde, hätten sie sich wohl kaum träumen lassen.

Am nächsten Morgen entdeckte der Direktor der Schule die Sprühereien und rief die Polizei. Fünfzehn Jungen wurden aus den Klassen geholt und, einer nach dem anderen, zum Verhör ins Büro für politische Sicherheit gebracht, jener Abteilung innerhalb des syrischen Geheimdienstes, dem die Überwachung von »Dissidenten« obliegt. Dann brachte man sie nach Damaskus ins gefürchtetste Gefängnis des Geheimdienstes.

Doaas Familie kannte einige der Jungs und ihre Angehörigen, was allerdings auf so gut wie alle Familien zutraf. In der eng miteinander verwobenen Gemeinschaft der Bürger von Dara’a stand jeder irgendwie dem anderen nahe, entweder durch Heirat oder durch nachbarschaftliche Bande. Allerdings wusste keiner, welcher der in Gewahrsam genommenen Jungen tatsächlich für die Graffiti mitverantwortlich war. Man übte auf die Jungen Druck aus, um aus ihnen ein Geständnis oder zumindest die Täternamen herauszupressen. Andere wurden nur verhört, weil sie sich irgendwann mal mit Namen auf der Schulmauer verewigt hatten, lange bevor die Graffiti überhaupt entdeckt worden waren. Keiner konnte fassen, dass man die Jungen wegen solch einer Lappalie verhaftet hatte.

Etwa eine Woche später wurden die Familien der Verhafteten bei Atef Najib vorstellig, einem Cousin von Präsident Assad, der der politischen Polizei Syriens vorstand. Man bat um Freilassung der Jungen. Unbestätigten Berichten zufolge, die bald in aller Munde waren, legte Najib den Vätern nahe, ihre Kinder zu vergessen. Sie würden nun bestraft dafür, dass man ihnen keine besseren Manieren beigebracht hätte. Er soll sich sogar über die Männer lustig gemacht haben: »Mein Rat an Sie ist, dass Sie einfach vergessen, dass Sie diese Kinder je hatten. Gehen Sie nach Hause, schlafen Sie mit Ihrer Frau, damit diese neue Kinder in die Welt setzt. Wenn Sie dazu nicht imstande sind, bringen Sie Ihre Gattinnen hierher. Dann erledigen wir das für Sie.«

Dies war die Beleidigung, die für die Bürger von Dara’a das Fass zum Überlaufen brachte. Am 18. März gingen sie auf die Straße und verlangten die Freilassung der Jungen. Drei Tage, nachdem Hunderte von Menschen in der Altstadt von Damaskus demonstriert und demokratische Reformen eingefordert hatten, das Ende der Notstandsgesetze und die Freilassung politischer Gefangener. Bei dem Protestmarsch skandierten sie: »Friedlich, friedlich«, um die Natur ihrer Bewegung klarzustellen. An jenem Tag wurden sechs Protestierende verhaftet.

Am 18. März gingen auch die Menschen in Damaskus, Homs und Baniyas auf die Straße, um die Forderung der Bürger von Dara’a zu unterstützen: die Freilassung der Jugendlichen. Alle intonierten sie: »Für Gott, Syrien und die Freiheit«.

Doaa stand vor dem Haus ihres Vaters und sah den Protestierenden zu, die immer wieder laut riefen: »Schluss mit den Notstandsgesetzen!« Darüber hinaus forderte man nur die Freilassung der politischen Gefangenen, also auch der Jugendlichen aus Dara’a. Doaa stand auf dem Bürgersteig, direkt vor der Haustür, als die Demonstranten an ihr vorüberkamen, so nah, dass sie sie hätte berühren können. Die Energie, die Hoffnung, die diese Menschen ausstrahlten, versetzten sie in Hochstimmung. Ihr Leben lang hatte man ihr gesagt, dass die Syrer niemals gegen ihre Regierung protestieren würden und sie die Dinge akzeptieren müsse. Doch als sie die Demonstranten sah, verspürte sie einen Augenblick lang den Drang, sich ihnen anzuschließen, um ein Teil des neuen Syrien zu werden. Da begann auf einmal der Aufruhr. Die Polizei feuerte wie aus dem Nichts heraus plötzlich Tränengasgeschosse, holte mit Wasserwerfern die Demonstranten von den Beinen. Ihre Euphorie verwandelte sich in Panik, als die Demonstranten alle schreiend auseinanderliefen oder zu Boden gingen. Innerhalb weniger Minuten war die Straße vor ihrem Haus zum Kriegsschauplatz geworden. Entsetzt flüchtete sie sich in die Sicherheit der eigenen Mauern.

Noch am selben Tag versammelten sich Demonstranten vor der Al-Omari-Moschee zu einem Sit-in. Sie erklärten den Freitag des Protests zum Tag der Würde und forderten die Freilassung der Jugendlichen und den Rücktritt des Gouverneurs von Dara’a. Diesmal beließen es die Sicherheitskräfte vor der Moschee nicht beim Tränengas. Man schoss auf die Demonstranten. Mindestens vier Menschen wurden getötet.

Dies waren die ersten Todesfälle in einem Krieg, der mindestens 25000065