Zum Buch
Mit Adalbert Friedrich Marcus und Johann Lucas Schönlein sind zwei der profiliertesten deutschen Mediziner der Neuzeit in besonderer Weise mit Bamberg verbunden. Marcus stieg zum Leibarzt des Fürstbischofs Franz Ludwig von Erthal auf und stieß bedeutende sozialmedizinische Projekte an, so die Errichtung des Allgemeinen Krankenhauses in Bamberg. Schönlein wurde zu einem der Begründer der naturwissenschaftlichen Medizin, dann zum politisch Verfolgten im Vormärz und schließlich zum Leibarzt König Friedrich Wilhelms IV. Er förderte Sammlungen und Bibliotheken seiner fränkischen Heimat.
Die Lebensspanne dieser Ärzte umfasst Aufklärung, napoleonische Zeit, deutsche Revolution und den Vorabend des deutschdeutschen Krieges – Ereignisse, die mehr oder weniger intensiv die Biografien beider beeinflussen.
Zu den Autoren
Gerhard Aumüller,
Dr. med., geboren 1942, 1977–2008 Professor für Anatomie und Direktor des Anatom. Instituts in Marburg; Medizinhistoriker.
Christoph Schindler,
Dr. med., geboren 1961, Facharzt für Neuropathologie und Pathologie; seit 2009 als Pathologe niedergelassen.
Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.
Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.
Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.
Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.
DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.
GERHARD AUMÜLLER / CHRISTOPH SCHINDLER
Adalbert Friedrich Marcus – Johann Lucas Schönlein
100 Jahre Bamberger Medizingeschichte
Verlag Friedrich Pustet
Regensburg
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
eISBN 978-3-7917-6085-8 (epub)
© 2016 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg
Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:
ISBN 978-3-7917-2783-7
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Das Bild der Heilkunde hat sich in kaum einer Epoche so sehr gewandelt wie im 19. Jh. Hatten sich bis weit in die Frühe Neuzeit noch zahlreiche aus der Antike und dem Mittelalter überlieferte Ideen und Praktiken gehalten, standen am Anfang des 20. Jhs. bereits die Fundamente der modernen Medizin, wie sie heute praktiziert wird.
Zwei Ärzte, die diesen Wandel mit geprägt haben, Adalbert Friedrich Marcus und Johann Lucas Schönlein, sind in besonderer Weise mit der Stadt Bamberg verbunden. Marcus, aus einer jüdischen Familie aus Arolsen stammend, wirkte als Leibarzt und Ratgeber des aufgeklärten Bamberger Fürstbischofs Franz Ludwig von Erthal (1730–95) als Sozialmediziner, Krankenhausreformer und Schöngeist. Schönlein, ein Handwerkersohn aus Bamberg, errang mit anderen an den Universitäten Würzburg, Zürich und Berlin Weltruhm durch die Neubegründung der Medizin als Naturwissenschaft und bedachte seine Vaterstadt mit reichen Schenkungen.
Die Lebensspanne beider überschneidet sich um 23 Jahre; so ist vieles über das Lebensumfeld Schönleins bereits in der Biografie Marcus’ gesagt. Vice versa haben von Marcus angestoßene Entwicklungen Zeit und Leben Schönleins weitreichend beeinflusst. Eingebettet ist ihr medizinischer Mikrokosmos in die großen Umwälzungen der Aufklärung, der Neuordnung Europas in der napoleonischen Zeit mit der Säkularisation und schließlich die deutsche Revolution von 1848. Marcus und Schönlein standen als Leibärzte zwar in der Pflicht ihrer Landesherren, beobachteten diese selbst jedoch auch kritisch und bewahrten sich ein unabhängiges Denken.
So soll auch dieses kleine, von Medizinern verfasste Werk anregen, gerade »heroische« Epochen unter verschiedenen Blickwinkeln zu sehen.
Wie kann man ein schlüssiges, zutreffendes Bild einer Persönlichkeit zeichnen, wenn sie mit so widersprüchlichen Etikettierungen versehen ist wie eine Zierde seiner neuen Vaterstadt, der geniale Marcus, der terrorische Brownianer, Bamberger Lebemann, Gelehrter und praktischer Arzt von außerordentlicher Bedeutung, Spitzenverdiener, Großgrundbesitzer und Seitenspringer, am Krankenbett wie Hippokrates oder der rasende Marcus? Es bietet sich an, nach den Konstanten zu suchen, die sich seit früher Jugend nachweisen lassen, nach den prägenden Einflüssen der Umwelt, den historischen Bedingungen, unter denen sich die Persönlichkeit entwickeln konnte, aber auch durchsetzen oder Rückschläge einstecken musste. Dabei stellt sich rasch heraus, dass die individuelle Begabung, die Herkunft aus einer jüdischen Familie in kleinstädtischem Umfeld, die neuen Entwicklungsmöglichkeiten des Zeitalters der Aufklärung und ihre geschickte Nutzung, eine intuitive Beherrschung der Situation kranker Menschen und die Selbstgewissheit der Richtigkeit des eigenen Handelns wesentliche Voraussetzungen dafür waren, dass Adalbert Friedrich Marcus nicht nur einer der prominentesten Bürger Bambergs an der Wende vom 18. zum 19. Jh. war, dessen Engagement für die Stadt sich in vielerlei Einrichtungen niederschlug, sondern dass er durch seine Ideen und deren Umsetzung für die ärztliche Versorgung der Bevölkerung und die Organisation sozialmedizinischer Strukturen in Franken beispielgebend für den sich bildenden bayerischen Staat wurde und von daher unter die großen Ärzte des Landes zu rechnen ist.
So konnte es nicht ausbleiben, dass die vielfältigen Aktivitäten des äußerst rührigen Mannes zu Neid und Widerstand führten, die wiederum judenfeindliche Äußerungen hervorriefen. Auch wenn er sich seiner Widersacher mit Spott und Ironie zu erwehren wusste, so trübten diese Auseinandersetzungen und eigenes Fehlverhalten doch sein Bild für die Nachwelt. Wenn heute ein Markusplatz und eine Markusstraße in Bamberg an den großen Arzt erinnern, dann lenken sie zugleich die Aufmerksamkeit auf das, was er an bleibendem Wert geschaffen hat: das Allgemeine Krankenhaus (AKH). Die Zusammenarbeit mit seinem Landesherrn, dem Fürstbischof von Erthal, der es ihm ermöglichte, seine Ideen von der zweckmäßigen Einrichtung eines Krankenhauses umzusetzen, hat den ersten wirklich modernen Klinikbau in Deutschland geschaffen, und das bleibt beider unvergängliches Verdienst. Dahinter treten die zahlreichen anderen sozialmedizinischen Aktivitäten, das Bemühen um die Weiterführung der aufgelösten Universität als medizinisch-chirurgische Schule zurück, wie auch die streitbare Auseinandersetzung mit verschiedenen medizinischen Theorien, von denen aus heutiger Sicht keine auch nur annähernd genügte, um seine in zahlreichen Fällen zweifelsfrei gesicherten Heilungserfolge naturwissenschaftlich-medizinisch zu begründen oder zu erklären. Sie sind wohl seiner Empathie-Begabung und seiner ansteckenden Begeisterungsfähigkeit zuzuschreiben, mit der er auch sein kulturelles Engagement betrieb. Dass dies seiner komplizierten familiären Situation mit mehreren außerehelichen Kindern nicht zuträglich war, ist verständlich. Dennoch bleibt das Bild einer vielfältig begabten, engagierten und weitgehend erfolgreichen Arztpersönlichkeit, die die Entwicklung der Medizin in Franken an der Wende vom 18. zum 19. Jh. entscheidend mitgeprägt hat.
Wir würden heute wohl von einer Familie mit Migrationshintergrund sprechen, in die am 21.11.1753 Israel Juda, der spätere Adalbert Friedrich Marcus, in der fürstlich waldeckischen Residenzstadt Arolsen hinein geboren wurde. Der Vater, Nathan Juda, der sich später auch Moses Nathan Marcus, Marcus Juda oder Moritz Marcus nannte, kam vermutlich aus der kleinen Ortschaft Aßlar bei Wetzlar in der Grafschaft Solms-Braunfels im heutigen Hessen, wo 1706 ein Schutzjude Nathan Juda genannt wird. Sein älterer Bruder Emanuel Juda wird 1724 anlässlich seiner Ernennung zum Schutzjuden in Arolsen ausdrücklich als »von Assler« bezeichnet. Der Ursprung der Familie dürfte aber weiter östlich gelegen haben. Als Herkunftsort des Vaters Abraham der beiden Brüder, der zwischen 1689 und 1700 regelmäßig die Leipziger Messe besuchte, wird nämlich »Göding« genannt, wahrscheinlich das mährische Hodonín, das Ende des 17. Jhs. eine große jüdische Gemeinde besaß. Göding ist nicht (wie in der älteren Literatur fälschlich angenommen) gleichzusetzen mit Gotha, wo, wie generell in Thüringen, um 1700 nur sehr wenige jüdische Familien lebten, darunter eine Familie Israel. Denkbar ist allerdings, dass Marcus Judas Ehefrau Esther Israel dieser Gothaer Familie entstammte.
Emanuel Juda ist schon 1724 als Schutzjude in die 1719 von dem Fürsten Friedrich Anton Ulrich zu Waldeck und Pyrmont (1676–1728) gegründete, mit großzügigen Privilegien für Neubürger versehene Residenzstadt Arolsen gezogen, wenig später auch der Bruder Marcus mit Familie und Gesinde. Da nach dem Tode des Fürsten 1728 die Judenschutzbriefe der beiden Brüder erneuert wurden, in denen ihnen das sonst zu zahlende »Schutzgeld« für zehn Jahre erlassen wurde, sind sie wohl als die ersten in der neuen Stadt ansässigen Hofjuden anzusehen. Bereits 1727 erbauten sie ein Haus in der »Herrengasse« (heute Schlossstraße) und erhielten die Erlaubnis, darin einen Raum für die religiösen Zeremonien einzurichten (jedoch dass keine öffentliche Schule oder Synagoge gehalten werde). Außerdem wurde ihnen ein Platz auf dem jüdischen »Totenacker« zugesichert. Emanuel und Marcus Juda haben als »Hoflievranten« offenbar rasch ihren für die Einbürgerung erforderlichen Wohlstand vergrößert und waren damit in der Lage, den Hausbau, für den Pläne, Baumaterial und Arbeit vom Fürsten gestellt wurden, zu finanzieren.
Schutzjuden und Hoffaktoren
Der sog. Judenschutz war ursprünglich ein kaiserliches Vorrecht (»Regal«), das den Juden Schutz vor Verfolgung sowie gewisse Privilegien zusicherte und für das eine bestimmte Summe als »Schutzgeld« zu erlegen war. Im Laufe der Jahrhunderte zogen die Landesfürsten, vor allem auch die unter ständiger Geldknappheit leidenden Herrscher der Kleinstterritorien, dieses Privileg an sich, und der Judenschutz verkam zu willkürlich festgesetzter Handelsware, mit der den Juden Geld abgepresst wurde, ohne ihnen tatsächlichen Schutz oder auch nur bürgerliche Grundrechte zuzugestehen. Um sich als Schutzjude niederlassen zu können, mussten in der Regel ein »Inferendum« genanntes Zuzugsgeld (im Fürstentum Waldeck waren das 1000 Gulden!) und ein jährliches Schutzgeld bezahlt werden, für die ein scharf begrenzter Handel (z. B. mit Vieh, Stoffen, Lebensmitteln usw.) ohne jede weitere Möglichkeit der Erwerbstätigkeit, z. B. als Handwerker, gestattet wurden. Besonders wohlhabende und der jüdischen Oberschicht zuzurechnende Schutzjuden wurden, wenn sie erfolgreiche Geschäftsleute mit weit reichenden Beziehungen waren, zu Hoffaktoren oder Hofjuden bzw. Hofagenten ernannt. Sie standen also in einem auf Dauer ausgelegten Dienstverhältnis zu einem Fürstenhof, dem sie als Bankiers, Beschaffer von Krediten, Geldern, Luxuswaren usw. dienten. Zwar waren die Gewinnspannen dabei mitunter ziemlich hoch, aber auch das Verlustrisiko, das sie allein zu tragen hatten. Je nach Persönlichkeit und individueller Einstellung konnten die Hofjuden zu ihrem Dienstherren in ein mehr oder weniger enges persönliches Verhältnis treten und wurden dann oft durch sog. Exemtionsschreiben der örtlichen Obrigkeit entzogen und direkt der Hofverwaltung unterstellt. Die Rechte der anderen Hofbediensteten erhielten sie aber in der Regel nur – und selbst dann zumeist eingeschränkt –, wenn sie zum Christentum konvertierten. Aus diesem Grunde sind viele Hofjuden, häufiger aber noch deren Folgegeneration, konvertiert, nachdem sie sich meist schon vorher durch Kleidung und Lebensweise dem christlichen Umfeld angeglichen hatten.
Im Haus der Brüder, dem nördlichen Eckhaus von Herren- und Kreuzgasse, das später auch als Synagoge bezeichnet wurde, muss sich demnach außer dem Cheder, dem Schulraum, auch die Mikwe, das Ritualbad, befunden haben, konnte bisher aber nicht nachgewiesen werden. In den gegenüberliegenden Eckhäusern wurden übrigens nach und nach auch die Versammlungsräume für die Lutheraner, die Reformierten und die Katholiken eingerichtet, so dass alle vier Religionsformen unmittelbar benachbart ihre Gotteshäuser besaßen.
Während Emanuel Juda und seine Nachkommen, die auch die Familiennamen Herz oder Meyer führten, offenbar streng nach den jüdischen Religionsgeboten lebten, lösten sich Marcus Juda, seine Frau Esther und ihre Kinder weitgehend aus dem religiösen Umfeld. Die Folge waren erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den Familien der Brüder, und so erbaute Marcus Juda 1746 nach längeren Streitereien mit dem Bruder unmittelbar neben dem gemeinsam errichteten Haus ein eigenes Wohnhaus, in dem er seine inzwischen auf mindestens je sieben Söhne und Töchter angewachsene Familie unterbringen konnte. Immerhin war das Haus so groß, dass die Eltern zeitweise Untermieter aufnahmen. Eine Besonderheit des Hauses war der (im Gegensatz zu den Nachbargrundstücken) sehr kleine Garten, der durch mehrere weiter entfernt liegende Grundstücke an Garten- und Ackerland aufgewogen wurde.
Im lateinischen Lebenslauf seiner Göttinger Dissertation von 1775 schreibt der frisch gebackene Göttinger Doktor der Medizin, Israel Marcus, Waldeccus, über seine Eltern: Als Vater verehre ich den ehrenhaften und sehr von mir geliebten Mann MARCUS IVDA, den der göttliche Wille seit langer Zeit bis jetzt unversehrt und gesund erhalten möge; die Mutter aber war ESTHER ISRAEL, die solange sie lebte, in jeder Hinsicht von wunderbarer Tugendhaftigkeit war, die mir und dem allerliebsten Vater aber vor neun Jahren durch den unglücklichen und traurigen Tod entrissen wurde. Wenn ich ihrer Güte, Liebe und aller anderen Wohltaten gedenke, die sie mir erwiesen hat, kann ich kaum die Tränen vom Mund abwischen. Meine allerbesten Eltern haben dafür gesorgt, dass ich ganz reichlich in allen Arten der Lehren und des Wissens unterrichtet wurde, die den jugendlichen Geist zur Gottesfurcht antreiben und den Verstand schärfen und ihn zur Erlernung der größeren und wichtigen Lerngegenstände geeignet machen.
In der um 1750 aus etwa 50 Häusern bestehenden Kleinstadt Arolsen drehte sich alles um den Hof des Fürsten Friedrich Carl August von Waldeck und Pyrmont (1743–1812), dessen unter seinem Großvater Friedrich Anton Ulrich begonnener, an Versailles orientierter Schlossbau ihm nicht nur einen riesigen Schuldenberg beschert hatte, sondern auch eine Vielzahl von Handwerkern, Beamten und Bediensteten erforderte, die versorgt und bezahlt werden mussten. Um den immer drängender werdenden Schuldforderungen nachkommen zu können, bedurfte es der Erschließung immer neuer Geldquellen, für die Emanuel und Marcus Juda zuständig waren. Die Bedeutung beider Hofjuden für die Entwicklung der Stadt ist bis heute nie richtig gewürdigt worden.
Der vermutlich bereits um 1690 geborene Marcus Juda wird noch 1778 als Mitglied der jüdischen Gemeinde erwähnt. Er hat ein biblisches Alter von über 90 Jahren erreicht und ist vermutlich Ende 1783 oder Anfang 1784 gestorben. Seine (wahrscheinlich zweite) Ehefrau Esther starb bereits 1766, und er heiratete sehr bald danach die wesentlich jüngere Julia Stieglitz, deren Bruder Hirsch Stieglitz zugleich sein Schwiegersohn und seit 1763 ebenfalls Schutzjude in Arolsen war. Ein anderer Bruder Julias, Lazarus, war mit einer weiteren Tochter von Marcus Juda verheiratet. Kinder aus der Ehe von Marcus und Julia Stieglitz sind nicht bekannt.
Während Marcus Juda häufig in Geschäften nach Kassel, Frankfurt und bis Hamburg unterwegs war, kümmerte sich die Mutter Esther um die Familie und die Erziehung der Kinder, die Einhaltung der Speisegebote und der verschiedenen Feiertage. Ihr Jüngster, Israel, wird sie und seine älteren Geschwister begleitet haben, wenn sie in den beiden großen Gärten und auf dem Acker arbeiteten, die etwas vom Haus entfernt lagen. Ein benachbarter Garten gehörte dem fürstlichen Leibarzt und Hofrat Dr. Johann Friedrich Herlitz (1738–1772), der bereits 1768 die Pockenimpfung (an seinen eigenen Kindern) in dem Ländchen eingeführt hatte, ein Original war und den aufgeweckten kleinen Nachbarsjungen mit seinen lustigen Einfällen beeindruckt haben wird. Herlitz war zugleich auch Landphysikus und damit für die Aufsicht und Prüfung der Handwerkschirurgen und Hebammen, aber auch der Apotheker zuständig.
Der berühmte Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), der gleichzeitig mit Marcus in Göttingen Medizin studierte, gab auf einer Reise im Oktober 1777 nach Arolsen und Umgebung eine freundlich-wohlwollende Beschreibung der Stadt, die in einer waldreichen Landschaft gelegen sei: Arolsen selbst ist klein, etwa von 80 Häusern, aber erst circa 1713–1720 angelegt und also sehr modern und ungemein reinlich. Und etwa 11 Jahre später schwärmte der Studienfreund von Marcus’ Neffen Johann Stieglitz, Wilhelm von Humboldt (1767–1835), von der Stadt und ihrem sehr gebildeten Fürstenhaus. Er hatte, im Gegensatz zu Blumenbach, auch die Familie seines jüdischen Studienkollegen besucht und kennengelernt.
Das Umland war rein forst- und landwirtschaftlich geprägt; der Fürst besaß im Ort zwei Meiereien, es gab einen großen Marstall und einen eigenen »Jägerhof« für die weiträumigen Jagdgebiete im »Thiergarten« in den umgebenden Waldungen. In der Stadt selbst arbeiteten zahlreiche Handwerksbetriebe, Bäcker, Metzger, Schreiner usw., aber auch solche für den gehobenen Bedarf, wie Perückenmacher, Juweliere, Handschuhmacher usw., insgesamt 32 verschiedene Gewerke (unter 68 im gesamten Duodezfürstentum). Die häufig wechselnden Gesellen, die wie Knechte und Mägde bei den nicht seltenen Arbeitsunfällen rasch in große Not gerieten, lieferten drastische Beispiele für die großen Schwierigkeiten der unterprivilegierten Schichten, die dem heranwachsenden Marcus nicht entgangen sein können.
Ihm wurden damit Einblicke in die verschiedensten Lebensbereiche ermöglicht, die sich dem aufgeweckten Kind lebhaft einprägten. Zwar besaß die Stadt eine eigene Schule in der Nachbarschaft des Marcusschen Hauses, die aus einem einzigen winzigen Klassenzimmer bestand und in der ein miserabel bezahlter Schulmeister den Bürgerkindern die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens und Rechnens beizubringen versuchte. 1750–1761 hatte der in Halle ausgebildete Johann Franz Christoph Steinmetz (1730–1791) diese Stelle inne, der danach als Vertrauter der Fürstinmutter Christiane (1725–1816) deren Korrespondenz mit dem inzwischen berühmten Göttinger Professor Blumenbach führte und schließlich zum Generalsuperintendent aufstieg. Aber ob der kleine Israel auch zu seinen Schülern gehörte, ist unbekannt. Immerhin ist sicher, dass Steinmetz Kontakte zu Juden pflegte. 1772 veröffentlichte er eine Schrift über die Taufe einer jüdischen Familie.
Die Fürstinwitwe Christiane, eine geborene wittelsbachische Pfalzgräfin und Tante des späteren bayrischen Königs Maximilian I., war eine hochgebildete Frau mit einer umfangreichen Bibliothek und Naturaliensammlung. Ihr unverheirateter Sohn, Fürst Friedrich Carl August, besaß ebenfalls eine gut ausgestattete Bibliothek, die ab den späten 1760er-Jahren gelegentlich besser gestellten Bürgern zugänglich gemacht wurde; dass sie vom Hofagenten Marcus und seinen Kindern benutzt werden konnte, ist nicht unwahrscheinlich.
Intelligenz und Lernbereitschaft machten sich schon frühzeitig bei Israel, gefördert durch den Vater, mit seiner besonderen Begabung für das Schachspiel bemerkbar. Bekannt ist die Anekdote, dass Marcus Juda einen Besucher, der mit seinen Schach-Kenntnissen prahlte und ihn zu einer Partie aufforderte, bat, zunächst mit seinem Jüngsten vorlieb zu nehmen, der den Angeber prompt besiegte, worauf dieser betreten das Haus verließ. Der begabte Junge erhielt daher spätestens ab 1766 bei seinem älteren Bruder Abraham in der Nachbarstadt Mengeringhausen Privatunterricht, natürlich auch im Hebräischen, der Thora und den wichtigsten religiösen Schriften und Gesetzessammlungen.
Marcus Juda hatte mindestens 14 Kinder, die es allesamt zu bürgerlichem Wohlstand und Ansehen brachten. Als Marcus Juda 1766 Julia Stieglitz heiratete, waren deren beide älteren Brüder bereits seit Jahren seine Schwiegersöhne: Der Hoffaktor Hirsch Stieglitz war mit Marcus’ Tochter Esther, sein Bruder Lazarus mit der Tochter Rachel verheiratet. Rachels 1767 geborener Sohn Israel wurde später der schärfste Kritiker seines Onkels Adalbert Friedrich Marcus. Zwei weitere Marcus-Schwestern waren ebenfalls mit Ärzten verheiratet: Amalie mit dem Arolser Hofarzt Nathanael Speyer, Friederike Luise mit Israel Rühr; beider Söhne Friedrich Speyer bzw. Julius Rühr wurden ebenfalls Mediziner. Das traf auch für den Sohn Carl Christian Heinrich des älteren Marcus-Bruders Samuel zu, der 1797 als Finanzrat in Erlangen starb. Während der älteste Bruder Abraham in Arolsen blieb, bauten dessen jüngere Brüder Philip und Jacob Handelsbeziehungen nach New York und die Brüder Nathan und Lazarus solche nach Russland auf. Philip heiratete später seine Nichte Fanny, die Tochter von Abraham Marcus; Nathan, nach der Taufe Friedrich Ludwig, ehelichte seine Nichte Esther, die Tochter von Hirsch und Elisabeth Stieglitz. Philip und Friedrich Marc lebten später als amerikanischer Konsul bzw. waldeckisch-russischer Finanzrat in Bamberg. Jacob, der ebenfalls eine Tochter seines Schwagers Hirsch Stieglitz geheiratet hatte, blieb in New York und ein weiterer Bruder Lazarus, über den wenig bekannt ist, besaß Güter im russischen Cherson auf der Krim. (Zu den Verwandtschaftsverhältnissen siehe Stammtafel)
Abb. 1: Handschriftlicher Eintrag Marcus’ in das Stammbuch seines Bruders Philip
Insgesamt stellt sich der Familienverband als ein interkontinental ausgedehntes Netzwerk von Geschäftsleuten und Ärzten dar, mit Adalbert Friedrich Marcus in Bamberg als Zentrum, dessen Verbindungen nach New York, London, Paris, Den Haag, Hannover, Berlin und St. Petersburg reichten. Bemerkenswert in dem Familienverband ist die überdurchschnittlich große Zahl an Ärzten, unter denen Marcus, sein Sohn Carl Friedrich und Johann Stieglitz besonders herausragen.
Nachdem 1766 Israels Mutter Esther gestorben war und sein Vater Julia Stieglitz geheiratet hatte, wurde der im Jahr 1769 16-Jährige auf das im nahen Korbach seit 1579 bestehende Gymnasium Illustre geschickt, die einzige höhere Schule des Landes, heute »Alte Landesschule«. Ob und wie lange er zuvor die kleine städtische Schule in Arolsen besucht hat, ist nicht bekannt. Wichtiger scheint, wie damals üblich, der Privatunterricht bei einem vermutlich christlichen Lehrer, vielleicht dem späteren Superintendenten Steinmetz, gewesen zu sein, der ihn in den alten Sprachen unterrichten konnte und seine herausragende intellektuelle Begabung erkannte und förderte.
Aufklärung
Die Ziele der Aufklärung wie Toleranz, Handlungsfreiheit und vernunftgeleitete Lebensführung sollten durch ein verbessertes Bildungsangebot, durch Bücher und Journale die öffentliche Diskussion politischer und gesellschaftlicher Prozesse und der Bedingungen des Fortschritts vertiefen. Förderung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse, Verwendung der Landessprache anstatt des universitären Latein, Kritik an überkommenen religiösen Vorstellungen und gesellschaftliche Gleichberechtigung wurden als wesentliche Elemente angesehen, um der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) zu entkommen. In der Medizin traten neben die aus der klassisch-griechischen Medizin bekannten Konzepte der »Säftelehre« neue Vorstellungen einer streng mechanistischen Deutung des Organismus und der Versuch, physikalische Erkenntnisse über die Elektrizität und den Magnetismus, die Reizbarkeit und Empfindlichkeit von Organen, die von einer »Lebenskraft« angetriebene Entwicklung, mit einem gewandelten Verständnis von Krankheit und dem Glauben an eine innere Harmonie der Welt zu verbinden. Das schlug sich auch in der Ausbildung der Medizinstudenten nieder, die nicht mehr nur mit lateinischer Bücherweisheit gefüttert werden, sondern durch eigene Erfahrungen am Krankenbett lernen sollten. Im absolutistischen Staat wandelte sich die Aufgabe der Medizin hin zur großflächigen Versorgungsinstitution; Hygiene als medizinische »Polizei« und die Einrichtung großer Krankenhäuser anstelle der multifunktionalen alten Spitäler führten zu der als Medikalisierung bezeichneten Umformung der ehemals sich als Heilkunst verstehenden Wissenschaft. Die alte Trennung von akademisch ausgebildeten Ärzten und handwerklichen Wundärzten wurde aufgegeben und Chirurgie, Geburtshilfe und Psychiatrie wurden zu den Grundpfeilern der klinischen Medizin. Streng naturwissenschaftlich-experimentelle Konzepte traten in Konkurrenz zu naturphilosophisch-spekulativen Versuchen, die Medizin in ein ganzheitliches Verständnis der Natur einzubinden, und wurden in einer Flut von Journalen, Magazinen, Hand- und Jahrbüchern literarisch dargestellt und zum Teil mit äußerster Vehemenz und bis ins Persönliche gehenden Angriffen verfochten.
Das im früheren Franziskanerkloster untergebrachte Korbacher Gymnasium wurde damals von dem Theologen Friedrich Samuel Winterberg (1736–1798) geleitet, einem aufgeklärten und engagierten Pädagogen. Neben ihm wirkten als Conrector und »Oeconomus« (d. h. Verwaltungsleiter) von 1759 bis 1769 der Jurist und ehemalige Regierungsadvokat Johann Gottfried Speiermann (1722–1769), ein Subconrector und vier weitere Lehrer. Die unterste Klasse war die Octava, die die meisten Schüler besaß, vor allem viele, die später nicht studieren wollten. Die letzte Klasse war die Tertia mit etwa 20 Schülern, die fast alle ein Studium planten.
Israel Juda war damals nicht der einzige jüdische Schüler des Gymnasiums, denn seit 1768 war in Korbach der Lehrer und Rabbiner Abraham Saul tätig, der 1770 zur Arolser jüdischen Gemeinde wechselte. Nach verschiedenen Zwischenstationen war er 22 Jahre lang Rabbiner in Offenbach, ehe er 1768 nach Korbach zog. Seine beiden Söhne, damals schon über 20 Jahre alt, die bereits selbst unterrichteten, baten mit Einverständnis des Vaters um Aufnahme in das Korbacher Gymnasium, die ihnen der Rektor Winterberg gewährte; er stellte ihnen sogar das Unterrichtsmaterial. Beeindruckt von seiner Toleranz und Großzügigkeit konvertierte die gesamte Rabbinerfamilie zum Protestantismus und wurde am Sonntag Laetare 1772 von dem inzwischen zum Hofprediger avancierten Franz Christoph Steinmetz in Arolsen getauft.
Israel, der das Landesgymnasium von 1769 bis 1771 besuchte, wurde gleich in eine der oberen Klassen eingewiesen und lebte, vermutlich zusammen mit den Gebrüdern Saul, in der Familie des Rektors Winterberg. Er war bei seinen Mitschülern beliebt, weil er u. a. mit seiner lebhaften schauspielerischen Begabung den etwas skurrilen Konrektor Speiermann imitierte. Aber auch bei Deklamationsübungen und anderen Gelegenheiten konnte Marcus mit seiner rhetorischen und sprachlichen Begabung überzeugen. Unter den Korbacher Schulfreunden, denen sich Marcus näher anschloss, ist vor allem der spätere Theologe und Landeshistoriker Johann Adolph Theodor Ludwig Varnhagen (1753–1829) zu nennen, dem wichtige Einzelheiten zur frühen Biografie Marcus’ zu verdanken sind.
1770 erlebte er die feierliche Grundsteinlegung für einen Neubau der Schule mit, den der eifrige Winterberg mit einem ausführlichen Gutachten beschleunigt hatte. Darin beschrieb er nicht nur den Zustand der Schule und die Fähigkeiten der Lehrer, sondern legte auch seine der Berliner Aufklärung verpflichteten pädagogischen Grundsätze dar.
Israel erhielt an der Korbacher Schule offenbar eine sehr gründliche Ausbildung in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache und Literatur, in Geographie, Geschichte, Naturgeschichte, Mathematik und Philosophie, vor allem Logik, Psychologie und Ästhetik, wohl aber nur wenig Französisch und kaum Englisch. Da die Schule zum ausdrücklichen Leidwesen Winterbergs keine Secunda und Prima besaß, in denen die Grundlagen auch von Jura und Medizin vermittelt wurden, musste er sich eine Einrichtung suchen, die als Vorstufe des Universitätsstudiums dienen konnte. Hinzu kam, dass Winterberg zunehmend depressiver (hypochondrischer) wurde, offenbar weil er seine hochfliegenden Pläne nur mühsam und teilweise umsetzen konnte.
Im Laufe des Jahres 1771 wechselte Israel Marcus auf das »Collegium illustre Carolinum« in der Residenzstadt Kassel. Landgraf Carl von Hessen (1654–1730) hatte 1709 im sog. Ottoneum diese Einrichtung begründet, die vor allem zur Vorbereitung des naturwissenschaftlichen Studiums und der Medizin, aber auch dem Nachwuchs der Juristen, Theologen und Philologen an den beiden Landesuniversitäten in Rinteln und Marburg dienen sollte. Für die Ausbildung künftiger Ärzte und Chirurgen gab es einen viersemestrigen Ausbildungsplan. Danach wurden nach einem ersten propädeutischen Semester mit alten Sprachen, Philosophie und Mathematik sofort im 2. Semester Naturwissenschaften und Anatomie gelehrt. Im 3. Semester folgten neben Anatomie und Botanik die medizinischen Fächer der Physiologie, Chirurgie, »Materia Medica« und Allgemeine Pathologie. Im Abschluss-Semester waren Gynäkologie und Entbindungslehre, chirurgische Operationslehre, spezielle Pathologie und Pharmazie bzw. Rezeptverschreibung zu belegen.
Unter den Professoren der Medizin ragte der Anatom Johann Jacob Huber (1707–1778) hervor, den Marcus als Lehrer (neben dem Astronomen und Mathematiker Johann Matthias Matzko und dem Juristen Justus Friedrich Runde) in seinem Lebenslauf namentlich erwähnt. Besonderen Eindruck wird der ordentliche Professor für Medizin, Chirurgie und Entbindungskunst, Georg Wilhelm Stein (1737–1803), auf ihn gemacht haben, der vor allem auf dem Gebiet der Geburtshilfe eine Kapazität war und mit wichtigen Neuerungen, vor allem beim damals noch lebensgefährlichen Kaiserschnitt, in die Medizingeschichte eingegangen ist. Den 1772 begonnenen Bau des ersten Kasseler Krankenhauses, der Charité, dürfte Marcus bei Besuchen in der Stadt während seiner Studienzeit verfolgt haben; er lebte bei deren Einweihung 1785 aber schon lange in Bamberg.
Offenbar konnte Marcus aufgrund seiner Kenntnisse bereits das propädeutische Semester überspringen und neben der Medizin noch die neueren Sprachen belegen, neben Französisch wohl auch Englisch, das seine beiden älteren Brüder perfekt beherrschten. Er hat sich vermutlich auch aus diesem Grunde in der Stadt sehr wohl gefühlt und sie von seinem späteren Studienort Göttingen hin und wieder besucht. Denn trotz aller guten Voraussetzungen fehlte dem Collegium Carolinum ein wesentliches akademisches Privileg: das Promotionsrecht. Um den Doctor medicinae zu erwerben, waren die dort praktisch ausgebildeten Ärzte daher gezwungen, eine Universität zu besuchen.