Robert McKee • STORY
DIE PRINZIPIEN DES
DREHBUCHSCHREIBENS
ALEXANDER VERLAG BERLIN
Die Übersetzung folgt der Ausgabe »STORY. Substance, Structure, Style, and the
Principles of Screenwriting« von 1998, erschienen bei ReganBooks (An Imprint of
HarperCollins Publishers).
Kapitel 1–13 übersetzt von Eva Brückner-Tuckwiller. Überarbeitung von Josef
Zobel und Katharina Broich.
Kapitel 14–19 übersetzt von Josef Zobel.
Wir danken Frau Philine Kortmann für ihre Arbeit.
Für die Durchsicht der letzten Fassung bedanken wir uns herzlich bei
Wolfgang Kirchner; ferner gilt Wolfgang Krenz großer Dank für seine Geduld
bei der Beantwortung vieler fachlicher Fragen.
Überarbeitete 11. Auflage 2016
© für die deutsche Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2000
Alexander Wewerka. Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin
www.alexander-verlag.com; info@alexander-verlag.com
© 1997 by Robert McKee
Published by arrangement with HarperCollins Publishers, Inc.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Form der Vervielfältigung – egal auf welchem Wege
und in welcher Form – nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.
Satz: Marc Berger
eISBN 978-3-89581-417-4 (eBook)
Ich widme dieses Buch in glücklicher Erinnerung meinen Eltern, die mir – beide auf ganz unterschiedliche Weise – die Liebe zu Geschichten beibrachten.
Als ich anfing, lesen zu lernen, mich aber nicht immer benahm, wie ich sollte, führte mich mein Vater in die Fabeln von Äsop ein in der Hoffnung, diese uralten Lehrgeschichten würden mein Verhalten bessern. Jeden Abend, nachdem ich mich durch Erzählungen wie »Der Fuchs und die Trauben« gequält hatte, nickte er und fragte: »Und was bedeutet diese Geschichte für dich, Robert?« Während ich auf diese Texte mit ihren hübschen Farbillustrationen starrte und mich abmühte, meine Interpretation zu finden, wurde mir langsam klar, daß Geschichten viel mehr bedeuten als Wörter und schöne Bilder.
Später, bevor ich zur Universität ging, kam ich zu dem Schluß, daß das bestmögliche Leben so viele Golfrunden wie möglich enthält und ich deswegen Zahnarzt werden würde. »Zahnarzt?!« lachte meine Mutter. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Was passiert, wenn alle Zahnprobleme kuriert sind? Was wird dann aus den Zahnärzten? Nein, Bobby, die Leute werden immer Unterhaltung brauchen. Ich denke an deine Zukunft. Du gehst ins Showgeschäft.«
Für ihre Sensibilität für die Wahrheit, ihr unbestechliches Lektorenauge und ihren unersättlichen Willen, überflüssige Wörter wegzulassen, für ihre unfehlbare Logik, ihren Optimismus, ihre Begeisterung … für ihre Liebe danke ich meiner Frau Suzanne Childs.
Für das Glück, kluge Mitarbeiter zu haben, die bereit sind, Rohentwürfe zu dulden, Lücken zu schließen, Scharten auszuwetzen und klug darauf hinzuweisen, daß die Dinge nicht immer das bedeuten, was sie nach der Überzeugung ihres Autors bedeuten, danke ich Jess Money, Gail McNamara und meinem Herausgeber Andrew Albanese.
Ohne das unheimliche Timing meiner Agentin hätte ich dieses Buch bis ins nächste Jahrhundert verschleppt. Danke, Debra Rodman.
Ohne die Hartnäckigkeit meiner Verlegerin, hätte ich die Ermahnungen meiner Agentin bis ins nächste Jahrhundert verschleppt. Danke, Judith Regan.
Ohne die Unterstützung der Evans Scholars Foundation und der klugen Köpfe, denen ich an der Universität Michigan begegnet bin, wäre mein Leben ärmer gewesen. Meine Dankbarkeit gilt Kenneth Rowe, John Arthos, Hugh Norton, Claribel Baird, Donald Hall und all den anderen Professoren, deren Namen ich vergessen habe, aber deren brillante Lehren mich stärkten.
Schließlich, am wichtigsten, meine Studenten. Im Laufe der Jahre ist meine Einsicht in die Kunst der Story gewachsen, großenteils dank der Fragen, die Sie gestellt haben, Fragen, die sowohl einsichtig wie praktisch waren und die mich auf der Suche nach Antworten immer weiter und tiefer vorantrieben. Dieses Buch gäbe es nicht ohne Sie.
Die zahlreichen Beispiele in Story sind einem Jahrhundert des Filmeschreibens und Filmemachens rund um die Welt entnommen. Wenn immer möglich, führe ich mehr als einen Titel aus der Reihe der neuesten und weitverbreitetsten mir bekannten Werke an. Da es unmöglich ist, Filme auszusuchen, die jeder gesehen hat und an die sich jeder bis in die Einzelheiten erinnert, habe ich solche Filme bevorzugt, die auf Video leicht erhältlich sind. Doch zunächst und vor allem wurde jeder Film gewählt, weil er eine klare Illustration des im Text vorgebrachten Arguments ist.
Storys sind Rüstzeug für das Leben.
Kenneth Burke
Story handelt von Prinzipien, nicht von Regeln.
Eine Regel sagt: »Du mußt es auf diese Weise machen.« Ein Prinzip sagt: »Das funktioniert … und zwar seit Menschengedenken.« Darin liegt ein entscheidender Unterschied. Ihre Arbeit muß sich nicht das »gut gemachte« Stück zum Vorbild nehmen; vielmehr muß sie gut gemacht sein nach den Prinzipien, auf denen unsere Kunst beruht. Ängstliche, unerfahrene Autoren gehorchen Regeln. Rebellische, ungeschulte Autoren brechen Regeln. Künstler meistern die Form.
Story handelt von ewigen, universellen Formen, nicht von Formeln.
Alle Ideen über Paradigmen und narrensichere Story-Modelle für kommerziellen Erfolg sind Unsinn. Trotz Trends, Remakes und Fortsetzungen finden wir, wenn wir die Gesamtheit des Hollywood-Films überblicken, eine erstaunliche Vielfalt von Story-Designs, aber keinen Prototyp. STIRB LANGSAM ist nicht typischer für Hollywood als EINE WAHNSINNSFAMILIE, GRÜSSE AUS HOLLYWOOD, DER KÖNIG DER LÖWEN, THIS IS SPINAL TAP, DIE AFFÄRE DER SUNNY V. B., GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN, UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER, LEAVING LAS VEGAS – A LOVE STORY oder Tausende anderer hervorragender Filme in Dutzenden von Genres und Subgenres von der Farce bis zur Tragödie.
Story dringt auf die Schaffung von Werken, die auf allen sechs Kontinenten das Publikum begeistern und jahrzehntelang in Wiederaufführungen weiterleben werden. Keiner braucht noch ein Kochbuch mehr darüber, wie man Hollywood-Reste aufwärmt. Wir brauchen eine Wiederentdeckung der grundlegenden Lehrsätze unserer Kunst, der Leitprinzipien, die Talent freisetzen. Ganz gleich, wo ein Film gemacht ist – Hollywood, Paris, Hongkong –, wenn er archetypische Qualität hat, löst er eine globale und fortwährende Kettenreaktion der Freude aus, die ihn von Kino zu Kino, von Generation zu Generation trägt.
Story handelt von Archetypen, nicht von Stereotypen.
Die archetypische Story bringt eine universale menschliche Erfahrung ans Licht und findet dann einen einmaligen, kulturspezifischen Ausdruck. Eine stereotype Story kehrt dieses Schema um: Sie krankt an der Dürftigkeit sowohl des Inhalts als auch der Form. Sie beschränkt sich auf eine begrenzte, kulturspezifische Erfahrung und drückt sich in schalen, unspezifischen Gemeinplätzen aus.
Zum Beispiel schrieb der spanische Brauch einst vor, daß Töchter der Reihe nach, von der ältesten zur jüngsten, verheiratet werden mußten. Innerhalb der spanischen Kultur mag ein Film über die Familie eines strengen Patriarchen im 19. Jahrhundert mit einer machtlosen Mutter, einer ältesten Tochter, die keinen Mann findet, und einer lange leidenden jüngsten Tochter jene bewegen, die sich noch an diese Praxis erinnern, aber außerhalb der spanischen Kultur ist es unwahrscheinlich, daß ein Publikum Empathie aufbringt. Der Autor, der die begrenzte Anziehungskraft seiner Story fürchtet, greift auf die vertrauten Schauplätze, Figuren und Handlungen zurück, die dem Publikum in der Vergangenheit gefallen haben. Das Ergebnis? Die Welt ist an diesen Klischees sogar noch weniger interessiert.
Andererseits könnte dieser repressive Brauch das Material für einen weltweiten Erfolg liefern, wenn der Künstler seine Ärmel hochkrempeln und nach einem Archetyp suchen würde. Eine archetypische Story erschafft so seltene Settings und Figuren, daß unser Auge sich an jedem Detail weidet, während im Erzählen Konflikte beleuchtet werden, die für die Menschheit so wahr sind, daß sie in jeder Kultur zu Hause sind.
In Laura Esquivels BITTERSÜSSE SCHOKOLADE geraten Mutter und Tochter in Konflikt über die Widersprüche von Abhängigkeit versus Unabhängigkeit, Beständigkeit versus Wandel, ich gegen andere – Konflikte, die jede Familie kennt. Dennoch ist Esquivels Beobachtung von Heim und Gesellschaft, von Beziehung und Verhalten so reich an nie zuvor gesehenen Details, daß wir unwiderstehlich von diesen Figuren angezogen werden und fasziniert sind von einer Welt, die wir niemals gekannt haben, noch uns vorstellen konnten.
Stereotype Storys bleiben zu Hause, archetypische Storys gehen auf die Reise. Von Charles Chaplin bis Ingmar Bergman, von Satyajit Ray bis Woody Allen schenken uns die Meistererzähler des Kinos die zweifache Begegnung, nach der wir uns sehnen. Zum ersten: die Entdeckung einer Welt, die wir nicht kennen. Sei sie vertraut oder episch, zeitgenössisch oder historisch, konkret oder phantastisch, die Welt eines herausragenden Künstlers berührt uns immer als ein wenig exotisch oder fremd. Wie ein Forschungsreisender, der sich durch das dichte Blattwerk des Urwalds einen Weg bahnt, treten wir mit großen Augen in eine unberührte Gesellschaft, eine klischeefreie Zone, in der das Gewöhnliche zum Außergewöhnlichen wird.
Zum zweiten: Sind wir einmal in dieser fremden Welt, entdecken wir uns selbst. Tief im Innern dieser Figuren und ihrer Konflikte erkennen wir unser eigenes Menschsein. Wir gehen ins Kino, um eine neue, faszinierende Welt zu betreten, um indirekt ein anderes menschliches Wesen zu bewohnen, das uns zunächst so unähnlich scheint und doch im Grunde seines Herzens ist wie wir, um in einer erfundenen Wirklichkeit zu leben, die unsere tägliche Wirklichkeit erleuchtet. Wir möchten nicht dem Leben entfliehen, sondern das Leben finden, unseren Verstand auf frische, experimentelle Weise gebrauchen, unsere Gefühle spielen lassen, genießen, lernen, unseren Tagen Tiefe verleihen. Story wurde geschrieben, um Filme von archetypischer Kraft und Schönheit zu fördern, Filme, die der Welt diese doppelte Freude schenken.
Story handelt von Gründlichkeit, nicht von Schnellverfahren.
Von der Inspiration bis zum letzten Entwurf brauchen Sie für ein Drehbuch vielleicht ebensoviel Zeit wie für einen Roman. Drehbuch- und Prosaautoren erschaffen dieselbe Dichte von Welt, Figur und Story, aber weil Drehbuchseiten so viele weiße Stellen haben, werden wir oft zu der Annahme verleitet, ein Drehbuch zu schreiben wäre leichter, als einen Roman zu schreiben, und ginge schneller. Doch während zwanghafte Schreiber Seiten füllen, so schnell sie tippen können, streichen Filmautoren wieder und wieder, schonungslos in ihrem Bestreben, das absolute Maximum in so wenigen Worten wie möglich auszudrücken. Pascal schrieb einmal einem Freund einen langen, ausgedehnten Brief und entschuldigte sich dann in der Nachschrift, daß er keine Zeit hatte, einen kurzen zu schreiben. Wie Pascal lernen Drehbuchautoren, daß Ökonomie der Schlüssel ist, daß Kürze Zeit erfordert, Vorzüglichkeit Ausdauer bedeutet.
Story handelt von den Realitäten, nicht von den Geheimnissen des Schreibens.
Es gibt keine Verschwörung zur Geheimhaltung der Wahrheiten unserer Kunst. In den dreiundzwanzig Jahrhunderten, seit Aristoteles die Poetik schrieb, waren die »Geheimnisse« der Story so öffentlich wie die Bücherei an der nächsten Ecke. Nichts am Handwerk des Story-Erzählens ist schwerverständlich. Tatsächlich sieht das Erzählen von Storys für die Leinwand auf den ersten Blick täuschend leicht aus. Doch während wir dem Zentrum immer näher kommen, Szene nach Szene ausprobieren, damit die Story funktioniert, wird die Aufgabe zunehmend schwierig, da wir erkennen, daß man sich auf der Leinwand nirgends verstecken kann.
Wenn es einem Drehbuchautor mißlingt, uns mit der Reinheit einer dramatisierten Szene zu bewegen, kann er sich nicht wie ein Romancier mit Hilfe der Erzählerstimme oder wie der Dramatiker im Monolog hinter seinen Worten verstecken. Er kann Brüche in der Logik, verschwommene Motivation oder nichtssagende Emotion nicht mit einem glatten Überzug von erklärender oder gefühlsbetonter Sprache verdecken und uns einfach sagen, was wir denken oder wie wir uns fühlen sollen.
Die Kamera ist das gefürchtete Röntgenauge für alles Falsche. Sie vergrößert Leben um ein Vielfaches, entblößt dann jede schwache oder faule Story-Wende, bis wir, verwirrt und frustriert, versucht sind, aufzugeben. Doch die Verwirrung wird sich legen – Entschlossenheit und harte Arbeit vorausgesetzt. Drehbuchschreiben ist voller Wunder, doch unlösbare Geheimnisse gibt es nicht.
Story handelt vom Meistern der Kunst, nicht von Mutmaßungen über die Marktlage.
Niemand kann lehren, was sich verkaufen wird und was nicht, was ein Kassenschlager oder ein Fiasko sein wird, weil es niemand weiß. Hollywoods Flops werden mit derselben kommerziellen Kalkulation gemacht wie seine Hits, während eher düstere Dramen, die sich lesen wie eine Checkliste all dessen, von dem geldgepolsterte Weisheit sagt, man dürfe es unter keinen Umständen tun – EINE GANZ NORMALE FAMILIE, DIE REISEN DES MR. LEARY, TRAINSPOTTING – NEUE HELDEN –, in aller Stille die einheimischen und internationalen Kinokassen erobern. In unserer Kunst ist nichts garantiert. Deswegen quälen sich so viele mit der Vorstellung von »Durchbruch«, »es schaffen« und »Einmischung in die kreative Arbeit«.
Die ehrliche Antwort auf all diese Ängste lautet: Sie werden einen Agenten bekommen, Ihr Werk verkaufen und es getreu auf der Leinwand realisiert sehen, wenn Sie die Qualität Ihres Schreibens nicht mehr steigern können – und nicht früher. Wenn Sie eine billige Imitation des Hits vom letzten Sommer zusammenschustern, werden Sie sich den Reihen minderer Talente anschließen, die jedes Jahr Hollywood mit Tausenden von klischeebeladenen Storys überschwemmen. Statt sich den Kopf über die Erfolgschancen zu zermartern, verwenden Sie besser Ihre Energie darauf, etwas Exzellentes zu schaffen. Wenn Sie Agenten ein brillantes, originelles Drehbuch zeigen, dann werden die um das Recht kämpfen, Sie zu vertreten. Der Agent, den Sie anheuern, wird dafür sorgen, daß die Story-hungrigen Produzenten versuchen, sich gegenseitig zu überbieten, und der Gewinner wird Ihnen einen unverschämten Haufen Geld zahlen.
Außerdem wird Ihr abgeschlossenes Drehbuch, wenn es erst einmal in Produktion ist, überraschend wenig an Einmischung erfahren. Niemand kann versprechen, daß eine unglückliche Konstellation von Persönlichkeiten nicht gute Arbeit verdirbt, doch seien Sie gewiß, daß Hollywoods größte Schauspiel- und Regietalente sich vollkommen bewußt darüber sind, wie sehr ihre Karriere davon abhängt, mit einer Qualitätsvorlage arbeiten zu können. Dennoch werden wegen Hollywoods Heißhunger nach Storys Drehbücher häufig gepflückt, bevor sie reif sind, was Änderungen während der Dreharbeiten erzwingt. Erfahrene Autoren verkaufen keine ersten Fassungen. Sie überarbeiten geduldig, bis das Drehbuch so Regisseur-bereit, so Schauspieler-bereit ist wie möglich. Unfertige Arbeit fordert dazu heraus, an ihr herumzupfuschen, während abgerundete, reife Arbeit ihre Integrität bewahrt.
Story handelt von Respekt vor dem Publikum, nicht von seiner Verachtung.
Wenn talentierte Leute schlecht schreiben, so hat das im allgemeinen einen von zwei Gründen: Entweder sind sie von einer Idee geblendet, die zu beweisen sie sich gezwungen fühlen, oder sie werden von einer Emotion getrieben, für die sie einen Ausdruck finden müssen. Wenn talentierte Leute gut schreiben, so hat das im allgemeinen diesen Grund: Sie sind von dem Wunsch bewegt, das Publikum zu berühren.
Jahre des Darstellens und Regieführens hindurch empfand ich Abend für Abend Ehrfurcht vor dem Publikum, vor seiner Fähigkeit zu reagieren. Als würden auf magische Weise Masken abfallen, Gesichter verletzlich, empfänglich werden. Kinobesucher verteidigen ihre Gefühle nicht, vielmehr öffnen sie sich dem Story-Erzähler auf eine Weise, die selbst ihre Geliebten niemals kennenlernen, und heißen Lachen, Tränen, Schrecken, Zorn, Mitleid, Leidenschaft, Liebe, Haß willkommen – nicht selten ein erschöpfendes Ritual.
Das Publikum ist nicht nur erstaunlich sensibel; wenn es sich in einem verdunkelten Theater niederläßt, schnellt auch sein kollektiver IQ um fünfundzwanzig Punkte in die Höhe. Haben Sie nicht, wenn Sie ins Kino gehen, häufig das Gefühl, daß Sie intelligenter sind als das, was Sie anschauen? Daß Sie wissen, was Figuren tun werden, bevor sie es tun? Daß Sie das Ende kommen sehen, lange bevor es da ist? Das Publikum ist nicht nur gewitzt, es ist gewitzter als die meisten Filme, und diese Tatsache wird sich auch nicht ändern, wenn Sie sich auf die andere Seite der Leinwand begeben. Jedes bißchen seines Handwerks, das er beherrscht, auszunutzen, um dem scharfen Wahrnehmungsvermögen eines konzentrierten Publikums vorauszubleiben, ist alles, was ein Autor tun kann.
Kein Film kann ohne das Verständnis für die Reaktionen und Erwartungen des Publikums funktionieren. Sie müssen Ihren Film in einer Weise gestalten, die sowohl Ihrer Vision gerecht wird als auch die Wünsche des Publikums befriedigt. Das Publikum ist eine ebenso bestimmende Kraft für das Story-Design wie jedes andere Element. Denn ohne es ist der schöpferische Akt sinnlos.
Story handelt von Originalität, nicht von Wiederholung.
Originalität ist das Zusammenfließen von Inhalt und Form – unmißverständliche Themenwahl plus einzigartige Gestaltung des Erzählens. Inhalt (Setting, Figuren, Ideen) und Form (Auswahl und Anordnung von Ereignissen) benötigen einander, inspirieren und beeinflussen sich gegenseitig. Mit dem Inhalt in der einen Hand und der Beherrschung der Form in der anderen gestaltet ein Autor die Story. Während Sie den Gehalt einer Story überarbeiten, gestaltet sich auch das Erzählen neu. Während Sie mit der Gestalt einer Story spielen, klärt sich ihr intellektueller und emotionaler Sinn.
Eine Story ist nicht nur das, was Sie zu sagen haben, sondern auch, wie Sie es sagen. Wenn der Inhalt Klischee ist, dann ist auch das Erzählen Klischee. Wenn Ihre Vision tief und originell ist, dann wird auch Ihr Story-Design einzigartig. Wenn, umgekehrt, das Erzählen konventionell und vorhersagbar ist, verlangt es stereotype Rollen, um abgedroschene Verhaltensweisen auszuagieren. Wenn aber das Story-Design innovativ ist, dann müssen Setting, Figuren und Ideen ebenso frisch sein, um es zu verwirklichen. Wir gestalten das Erzählen so, daß es zur Substanz paßt, und bearbeiten die Substanz so, daß sie das Design unterstützt.
Halten Sie jedoch niemals Exzentrizität für Originalität. Anderssein um des Andersseins willen ist genauso leer, wie sklavisch kommerziellen Imperativen zu folgen. Kein ernsthafter Autor würde, nachdem er Monate, vielleicht Jahre daran gearbeitet hat, Fakten, Erinnerungen und Phantasie zu einem Schatz an Story-Material anzuhäufen, seine Vorstellung in eine Formel einsperren oder sie durch avantgardistische Fragmentierung trivialisieren. Die »gut gemachte« Formel kann die Stimme einer Story abwürgen, aber »Kunstkino«-Schrulligkeit wird ihr eine Sprachstörung bescheren. Genauso wie Kinder aus Spaß Dinge zerbrechen oder Wutausbrüche kriegen, um Aufmerksamkeit zu erzwingen, verwenden allzu viele Filmemacher auf der Leinwand infantile Effekthaschereien, um zu rufen: »Seht mal, was ich kann!« Ein reifer Künstler lenkt niemals die Aufmerksamkeit auf sich selbst, und ein weiser Künstler tut niemals etwas, bloß um mit irgendwelchen Konventionen zu brechen.
Filme von Meistern wie Horton Foote, Robert Altman, John Cassavetes, Preston Sturges, François Truffaut und Ingmar Bergman sind so idiosynkratisch, daß eine dreiseitige Zusammenfassung den Künstler so sicher identifiziert wie seine DNS. Große Drehbuchautoren zeichnen sich durch einen persönlichen Erzählstil aus, einen Stil, der nicht nur von ihrer Vision untrennbar ist, sondern in einer tiefgründigen Weise ihre Vision selbst ist. Ihre formalen Entscheidungen – Protagonistenzahl, Entwicklungsrhythmus, Konfliktebenen, Zeitanordnungen und dergleichen – spielen mit wesentlichen inhaltlichen Entscheidungen (und gegen sie) – Schauplatz, Figuren, Idee –, bis alle Elemente zu einem einzigartigen Drehbuch verschmelzen.
Wenn wir aber den Inhalt ihrer Filme einen Moment beiseite lassen und einzig und allein untersuchen würden, wie sie die Ereignisse anordnen, würden wir sehen, daß ihr Story-Design, wie eine Melodie ohne Text, wie eine leere Silhouette, massiv mit Bedeutung geladen ist. An der Auswahl und Anordnung von Ereignissen erweist sich für den Story-Erzähler die Verbindung aller Realitätsebenen miteinander – die persönliche, politische, geistige und die der Umwelt. Nimmt man die vordergründigen Charakterisierungen und den Handlungsort weg, offenbart die Story-Struktur die persönliche Kosmologie des Erzählers, seine Einsicht in die tiefsten Muster und Motivationen für das Wie und Warum von Geschehnissen in dieser Welt – seine Landkarte der verborgenen Ordnung des Lebens.
Ganz gleich, wer Ihre Helden sein mögen – Woody Allen, David Mamet, Quentin Tarantino, Ruth Prawer Jhabvala, Oliver Stone, William Goldman, Zhang Yimou, Nora Ephron, Spike Lee, Stanley Kubrick –, Sie bewundern sie, weil sie einmalig sind. Jeder ist aus der Menge herausgetreten, weil jeder einen Inhalt wählt wie niemand sonst, eine Form gestaltet wie niemand sonst und beides zu einem Stil vereint, der unverkennbar sein eigener ist. Dasselbe wünsche ich mir für Sie.
Doch meine Hoffnung für Sie geht über Kompetenz und Handwerk hinaus. Ich bin ausgehungert nach großen Filmen. In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich gute Filme und ein paar sehr gute Filme gesehen, aber ganz, ganz selten einen Film von atemberaubender Kraft und Schönheit. Vielleicht liegt es an mir; vielleicht bin ich abgestumpft. Aber das glaube ich nicht. Noch nicht. Ich glaube immer noch, daß die Kunst das Leben verwandelt. Doch ich weiß, wenn Sie nicht alle Instrumente im Story-Orchester spielen können, dann sind Sie dazu verurteilt, immer dieselbe Melodie zu summen, gleichgültig, welche Musik Ihnen vorschweben mag. Ich habe Story geschrieben, um Ihre Beherrschung des Handwerks zu fördern, damit Sie frei sind, eine originelle Lebenssicht auszudrücken, Ihr Talent über Konventionen hinauszuheben, damit es Filme schafft, deren Substanz, Struktur und Stil unverwechselbar sind.
Stellen Sie sich vor, wie viele Prosaseiten an einem einzigen Tag auf der ganzen Welt umgeblättert, wie viele Theaterstücke aufgeführt, wie viele Filme gezeigt werden; stellen Sie sich den unversiegbaren Strom an Fernsehkomödien und -dramen vor; vierundzwanzig Stunden gedruckte und gesendete Nachrichten; Gutenachtgeschichten für Kinder; Kneipenprahlereien, den Gartenzaunklatsch im Internet, das unstillbare Verlangen der Menschheit nach Storys. Die Story ist nicht nur unsere fruchtbarste Kunstform, sie konkurriert mit allen Tätigkeiten – Arbeit, Spiel, Essen, körperliche Bewegung – in unseren wachen Stunden. Wir erzählen Storys und nehmen Storys auf in demselben Ausmaß, wie wir schlafen – und selbst dann träumen wir. Warum? Warum verbringen wir soviel von unserem Leben in Storys? Weil, wie der Kritiker Kenneth Burke uns sagt, Storys Rüstzeug für das Leben sind.
Tag für Tag suchen wir nach einer Antwort auf die zeitlose Frage, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik stellt: Wie soll ein Mensch sein Leben führen? Doch die Antwort entzieht sich uns, versteckt sich hinter den verwischten Konturen vorbeijagender Stunden, während wir uns abmühen, unsere Möglichkeiten unseren Träumen anzupassen, Idee mit Leidenschaft zu vereinen, Wunsch in Wirklichkeit zu verwandeln. Wir werden mitgerissen auf eine gefahrvolle Reise durch die Zeit. Wenn wir Abstand nehmen, um Muster und Bedeutung zu erfassen, verschiebt sich das Leben wie ein Vexierbild: erst ernst, dann komisch; statisch, rasend; bedeutungsvoll, bedeutungslos. Gravierende Weltereignisse sind jenseits unserer Kontrolle, während persönliche Ereignisse, trotz aller Bemühungen, sie zu steuern, meist uns kontrollieren.
Seit jeher hat die Menschheit die Antwort auf die Frage des Aristoteles bei den vier Weisheiten – Philosophie, Wissenschaft, Religion, Kunst – gesucht und aus jeder dieser Weisheiten Einsichten gewonnen, um daraus einen Sinn zu konstruieren, mit dem man leben kann.
Aber wer liest heute schon Hegel oder Kant, wenn er nicht gerade ein Examen bestehen muß? Die Wissenschaft, einst die große Erläuterin, verzerrt das Leben durch ihre Komplexität und stiftet Verwirrung. Wer kann ohne Zynismus Ökonomen, Soziologen, Politikern zuhören? Religion ist für viele zu einem leeren Ritual geworden, hinter dem sich Heuchelei verbirgt. Da unser Glaube an traditionelle Ideologien abnimmt, wenden wir uns der Quelle zu, an die wir immer noch glauben: der Kunst der Story.
Die Welt konsumiert heute Filme, Romane, Theater und Fernsehen in solchen Mengen und mit solch einem Heißhunger, daß die Kunst des Erzählens zur Hauptinspirationsquelle der Menschheit geworden ist bei ihrem Versuch, das Chaos zu ordnen und Einblick in das Leben zu gewinnen. Unser Verlangen nach Storys ist eine Widerspiegelung des tiefen menschlichen Bedürfnisses, die Grundmuster des Lebens zu erfassen, nicht bloß als intellektuelle Übung, sondern im Rahmen einer sehr persönlichen emotionalen Erfahrung. Mit den Worten des Dramatikers Jean Anouilh: »Fiktion gibt dem Leben seine Form.«
Manche betrachten diesen Heißhunger nach Storys als bloßen Wunsch nach Unterhaltung, als Flucht vor dem Leben statt seiner Erforschung. Doch was ist letztlich Unterhaltung? Unterhalten werden heißt, sich zu einem intellektuell und emotional befriedigenden Zweck in die Zeremonie der Story zu versenken. Für das Kinopublikum ist Unterhaltung das Ritual, im Dunkeln zu sitzen und sich auf eine Leinwand zu konzentrieren, um die Bedeutung der Story zu begreifen; mit diesem Begreifen geht die Erregung starker, manchmal schmerzhafter Gefühle einher, und während die Bedeutung sich vertieft, erwartet das Publikum, zur Befriedigung dieser Gefühle getragen zu werden.
Ob es der Triumph verrückter Geisterseher, die sich als übersinnliche Detektive selbständig machen, über hetitische Dämonen in GHOSTBUSTERS – DIE GEISTERJÄGER ist oder die komplexe Auflösung innerer Dämonen in SHINE, die Integration der Figur in DIE ROTE WÜSTE oder ihre Desintegration in DER DIALOG: Alle großartigen Filme, Romane und Theaterstücke, quer durch alle Schattierungen des Komischen und Tragischen, unterhalten, wenn sie dem Publikum ein neues Lebensmodell geben, das mit einer affektiven Bedeutung versehen ist. Sich hinter die Auffassung zurückzuziehen, das Publikum wolle einfach seine Sorgen an der Tür abladen und der Realität entkommen, ist eine feige Preisgabe der Verantwortung des Künstlers. Story ist keine Flucht vor der Realität, sondern ein Mittel, das uns auf unserer Suche nach Realität trägt, unsere beste Bemühung, in die Anarchie des Daseins Sinn zu bringen.
Doch während die ständig expandierende Reichweite der Medien uns heute die Chance gibt, Storys über Grenzen und Sprachen hinweg zu Hunderten von Millionen zu senden, nimmt die Gesamtqualität des Story-Erzählens ab. Gelegentlich lesen oder sehen wir herausragende Werke, doch meist werden wir es leid, Zeitungsanzeigen, Videoläden und TVProgramme nach etwas abzusuchen, was Qualität hat, Romane halb gelesen beiseite zu legen, in der Pause aus Theateraufführungen zu schlüpfen, aus Filmen zu kommen und unsere Enttäuschung zu beschwichtigen mit: »Es war aber schön photographiert …« Die Kunst der Story verfällt, und wie Aristoteles vor dreiundzwanzig Jahrhunderten bemerkte, wenn das Story-Erzählen verkommt, ist das Ergebnis Dekadenz.
Fehlerhaftes und falsches Story-Erzählen ist darauf angewiesen, Substanz durch Spektakel, Wahrheit durch Tricks zu ersetzen. Schwache Storys, die unbedingt die Aufmerksamkeit des Publikums fesseln wollen, degenerieren zu knallig-wirren Multimillionen-Dollar-Demospulen. In Hollywood wird die Bildersprache immer extravaganter, in Europa immer dekorativer. Das Verhalten von Schauspielern wird immer theatralischer, immer anstößiger, immer gewalttätiger. Musik und Toneffekte werden zunehmend tumultartig. Die Gesamtwirkung versickert ins Groteske. Eine Kultur kann sich ohne ehrliches, starkes Story-Erzählen nicht entwickeln. Wenn die Gesellschaft wieder und wieder ausgehöhlte Hochglanz-Pseudo-Storys erlebt, degeneriert sie. Wir brauchen wahre Satiren und Tragödien, Dramen und Komödien, die ein klares Licht in die Schmuddelecken der menschlichen Seele und Gesellschaft werfen. Wenn nicht, dann tritt ein, wovor Yeats warnte: »… die Mitte kann nicht standhalten.«
Jedes Jahr produziert und/oder verleiht Hollywood vierhundert bis fünfhundert Filme, praktisch einen Film pro Tag. Einige wenige sind hervorragend, aber die Mehrheit ist mittelmäßig oder schlimmer. Man ist versucht, die Schuld an dieser Schwemme von Banalitäten den selbstzufriedenen Spießern zuzuschieben, die die Produktionen absegnen. Aber erinnern Sie sich an einen Moment aus THE PLAYER: Der junge Hollywood-Manager (Tim Robbins) erklärt, er habe viele Feinde, weil sein Studio jährlich über zwanzigtausend Story-Vorlagen annehme, aber nur zwölf Filme mache. Das ist zutreffender Dialog. Die Story-Abteilungen der bedeutenden Studios lesen sich aufmerksam durch Tausende und Abertausende von Drehbüchern, Bearbeitungen, Romanen und Theaterstücken auf der Suche nach einer großartigen Leinwand-Story. Oder, was wahrscheinlicher ist, nach etwas halbwegs Gutem, das sich in etwas entwickeln läßt, was besser als der Durchschnitt ist.
In den neunziger Jahren stiegen die Kosten für Drehbuchentwicklung in Hollywood auf mehr als 500 Millionen Dollar pro Jahr, von denen Dreiviertel an Autoren für Optionen und Überarbeitungen von Filmen gehen, die nie gedreht werden. Trotz einer halben Milliarde Dollar und der erschöpfenden Anstrengungen der in der Entwicklung Beschäftigten kann Hollywood kein besseres Material finden als das, was es produziert. Es ist kaum zu glauben, aber was wir jedes Jahr auf der Leinwand sehen, ist eine angemessene Widerspiegelung des besten Schreibens der letzten paar Jahre.
Viele Drehbuchautoren können jedoch dieser harten Geschäftstatsache nicht ins Auge sehen und leben im Wolkenkuckucksheim, überzeugt davon, Hollywood sei blind für ihr Talent. Verkanntes Genie ist, mit seltenen Ausnahmen, ein Mythos. Auf erstklassige Drehbücher werden zumindest Optionen aufgenommen, wenn sie nicht sogar realisiert werden. Für Autoren, die eine Qualitätsstory erzählen können, gibt es einen Markt – hat es immer einen Markt gegeben und wird es immer einen Markt geben. Hollywood hat einen gesicherten internationalen Markt für Hunderte von Filmen jährlich, und sie werden gemacht. Die meisten werden gestartet, laufen ein paar Wochen, werden abgesetzt und dann gnädig vergessen.
Dennoch überlebt Hollywood nicht nur, es blüht und gedeiht, weil es praktisch keine Konkurrenz hat. Das war nicht immer so. Vom Aufstieg des Neorealismus bis zum Höchststand der Nouvelle Vague waren die amerikanischen Kinos von Werken brillanter europäischer Filmemacher überflutet, die Hollywoods Vorherrschaft anfochten. Doch mit dem Tod oder Ausscheiden dieser Meister haben die letzten fünfundzwanzig Jahre einen langsamen Qualitätsverfall europäischer Filme erlebt.
Heute geben europäische Filmemacher einer Verschwörung von Verleihern die Schuld an ihrem Unvermögen, Publikum anzuziehen. Dennoch wurden die Filme ihrer Vorgänger – Renoir, Bergman, Fellini, Buñuel, Wajda, Clouzot, Antonioni, Resnais – in der ganzen Welt gezeigt. Das System hat sich nicht geändert. Das Publikum für Nicht-Hollywood-Filme ist immer noch umfangreich und treu. Verleiher haben heute dieselbe Motivation wie damals: Geld. Geändert hat sich, daß zeitgenössische »auteurs« nicht mehr mit derselben Kraft Storys erzählen können wie die vorherige Generation. Wie prätentiöse Innenarchitekten machen sie Filme, die das Auge beeindrucken und nichts sonst. In der Folge wurde aus dem Sturm des europäischen Genies eine Ödnis trockener Filme, und was bleibt, ist ein Vakuum, das von Hollywood gefüllt wird.
Asiatische Werke dagegen reisen jetzt durch ganz Nordamerika und die Welt, bewegen und erfreuen Millionen und lenken international die Aufmerksamkeit auf sich, aus einem einzigen Grund: Asiatische Filmemacher erzählen meisterhafte Storys. Statt die Verleiher zu Sündenböcken zu machen, täten die Filmemacher außerhalb von Hollywood gut daran, nach Osten zu blicken, wo Künstler die Leidenschaft haben, Storys zu erzählen, und das Handwerk beherrschen, um sie schön zu erzählen.
Die Kunst der Story ist die vorherrschende kulturelle Kraft in der Welt, und die Filmkunst ist das vorherrschende Medium dieses großen Unternehmens. Das Weltpublikum macht alles mit, aber hungert nach Geschichten. Warum? Nicht aus Mangel an Bemühung. Der Drehbuchregistrationsdienst der Writers Guild of America nimmt jährlich über fünfunddreißigtausend Titel auf. Das sind nur diejenigen, die registriert wurden. In ganz Amerika werden jedes Jahr Hunderttausende von Drehbüchern in Angriff genommen, doch nur eine Handvoll davon hat Qualität, aus vielerlei Gründen, aber vor allem diesem: Die Möchtegernautoren von heute stürzen an die Schreibmaschine, ohne zuerst ihr Handwerk zu lernen.
Wenn es Ihr Traum wäre, Musik zu komponieren, würden Sie dann zu sich sagen: »Ich hab’ ’ne Menge Symphonien gehört … Klavier spielen kann ich auch … Ich denke, ich werde dieses Wochenende eine hinhauen.«? Nein. Aber ganz genau so fangen viele Drehbuchschreiber an: »Ich hab’ ’ne Menge Streifen gesehen, ein paar gute und ein paar schlechte … Im Aufsatz hatte ich immer Einser … die Ferienzeit kommt …«
Wenn Sie die Hoffnung hegten zu komponieren, würden Sie die Musikhochschule ansteuern, um sowohl Theorie als auch Praxis zu studieren, und sich auf die Gattung Symphonie konzentrieren. Nach Jahren fleißiger Arbeit würden Sie Ihr Wissen mit Ihrer Kreativität verschmelzen, Ihren Mut zusammennehmen und sich ans Komponieren wagen. Allzu viele am Hungertuch nagende Schriftsteller kommen niemals auf den Gedanken, daß die Schaffung eines großartigen Drehbuchs so schwierig ist wie die Schaffung einer Symphonie und in gewisser Hinsicht sogar noch schwieriger. Denn während der Komponist mit der mathematischen Reinheit von Noten schreibt, tauchen wir unsere Feder in das Schmuddelzeug, bekannt als menschliche Natur.
Der Neuling schreibt drauflos und baut allein auf Erfahrung, in dem Glauben, das Leben, das er gelebt hat, und die Filme, die er gesehen hat, gäben ihm etwas zu sagen und die Art und Weise, es zu sagen. Erfahrung wird jedoch überschätzt. Natürlich wünschen wir uns Schriftsteller, die sich nicht vor dem Leben verstecken, die intensiv leben, genau beobachten. Dies ist unerläßlich, aber niemals genug. Für die meisten Schriftsteller kommt die Erkenntnis, die sie durch Lesen und Studieren gewinnen, der Erfahrung gleich oder wiegt schwerer, besonders wenn jene Erfahrung ungeprüft bleibt. Selbsterkenntnis ist der Schlüssel – Leben plus tiefgreifende Betrachtung unserer Reaktionen auf das Leben.
Was die Technik betrifft, so ist das, was der Neuling mit Handwerk verwechselt, schlichtweg seine unbewußte Aufnahme von Story-Elementen aus jedem Roman, Film oder Theaterstück, die ihm je untergekommen sind. Während er schreibt, stimmt er seine Arbeit nach der Trial-and-error-Methode auf ein Modell ab, das er sich aus angehäuftem Lesen und Anschauen aufgebaut hat. Der ungeschulte Autor nennt dies »Instinkt«, aber es ist lediglich Gewohnheit und schränkt ihn stark ein. Er imitiert entweder seinen geistigen Prototyp, oder er sieht sich als Angehöriger der Avantgarde und rebelliert gegen ihn. Aber das planlose Tasten nach oder Rebellieren gegen die Summe unbewußt verwurzelter Wiederholungen ist in keinerlei Hinsicht Technik und führt zu Drehbüchern, die überladen sind mit Klischees, entweder aus dem kommerziellen oder dem Kunstkino-Angebot.
Dieses Ringen um Zufallstreffer war nicht immer üblich. In vergangenen Jahrzehnten lernten Drehbuchautoren ihr Handwerk entweder durch Universitätsstudium oder auf eigene Faust in einer Bibliothek, durch Erfahrung am Theater oder beim Romanschreiben, durch eine Lehrzeit im Studiosystem in Hollywood oder durch eine Kombination dieser Dinge.
In den Anfängen dieses Jahrhunderts kamen eine Reihe amerikanischer Universitäten zu der Überzeugung, daß, so wie Musiker und Maler Musikoder Kunstschulen haben, Schriftsteller in einer entsprechenden Einrichtung die Grundlagen ihres Handwerks lernen sollten. Zu diesem Zweck schrieben Gelehrte wie William Archer, Kenneth Rowe und John Howard Lawson hervorragende Bücher über Dramaturgie und die Prosakünste. Ihre Methode war intrinsisch und bezog ihre Stärke aus den mächtigen Antriebsmechanismen von Wunsch, antagonistischen Kräften, Wendepunkten (Turning Points), Rückgrat, Entwicklung, Krise, Höhepunkt – Story von innen heraus betrachtet. Tätige Autoren mit oder ohne formale Ausbildung benutzten diese Texte, um ihre Kunst zu entwickeln, und verwandelten das halbe Jahrhundert von den Roaring Twenties bis durch die protestierenden Sechziger in ein Goldenes Zeitalter der amerikanischen Story auf der Leinwand, im Buch und auf der Bühne.
Doch im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre hat sich die Unterrichtsmethode für kreatives Schreiben an US-Universitäten vom intrinsischen Ansatz weg- und zum extrinsischen hinbewegt. Trends in der Literaturtheorie haben Professoren von den tiefen Quellen der Story fortgezogen und hin zu Sprache, Codes, Text – also zu Story, die von außen betrachtet wird. Infolgedessen wurde die gegenwärtige Generation, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen, in den wesentlichen Story-Prinzipien nur mangelhaft unterrichtet.
Drehbuchautoren im Ausland haben sogar noch weniger Gelegenheit, ihr Handwerk zu lernen. Europäische Akademiker bestreiten im allgemeinen, daß Schreiben in irgendeiner Hinsicht gelehrt werden kann, was zur Folge hatte, daß Kurse in Kreativem Schreiben zu keinem Zeitpunkt in den Lehrplan europäischer Universitäten aufgenommen wurden. Natürlich fördert Europa viele der weltweit brillantesten Kunst- und Musikakademien. Warum die Ansicht herrscht, daß eine Kunst gelehrt werden kann, eine andere nicht, läßt sich nicht sagen. Schlimmer noch, aufgrund der Geringschätzung des Drehbuchschreibens konnte es bis vor kurzem an keiner europäischen Filmschule – außer in Moskau und Warschau – studiert werden.
Es läßt sich viel gegen das alte Hollywood-Studiosystem einwenden, aber zu seinen Gunsten muß gesagt sein: Es war ein Ausbildungssystem, das von erfahrenen Dramaturgen beaufsichtigt wurde. Die Tage sind vorbei. Ab und zu entdeckt ein Studio die Lehre wieder, doch in seinem Eifer, die goldenen Tage zurückzubringen, vergißt es, daß ein Lehrling einen Meister braucht. Die Manager von heute erkennen vielleicht Begabung, doch wenige haben das Geschick oder die Geduld, ein Talent in einen Künstler zu verwandeln.
Der letzte Grund für den Verfall der Story liegt sehr tief. Werte, die Positiv-/Negativ-Pole des Lebens gehören zur Seele unserer Kunst. Der Autor gestaltet die Story um seine Auffassung des Lebens herum, wofür es sich zu leben lohnt, wofür es sich zu sterben lohnt, welches Streben töricht ist, die Bedeutung von Gerechtigkeit, Wahrheit – die wesentlichen Werte. In vergangenen Jahrzehnten waren sich Autoren und Gesellschaft in diesen Fragen mehr oder weniger einig, doch unsere Zeit ist mehr und mehr zu einer Epoche des moralischen und ethischen Zynismus, Relativismus und Subjektivismus geworden – eine große Verwirrung der Werte. Wer zum Beispiel hat angesichts des Zerfalls der Familie und des Verschwindens eindeutiger Geschlechterrollen noch das Gefühl, er verstehe das Wesen der Liebe? Und wenn Sie wirklich eine Überzeugung haben, wie drücken Sie sie für ein stets skeptisches Publikum aus?
Dieses Schwinden von Werten hat ein entsprechendes Schwinden von Storys mit sich gebracht. Anders als Autoren in der Vergangenheit können wir nichts als gegeben voraussetzen. Als erstes müssen wir uns tief ins Leben vorgraben, um neue Einsichten, neue Verfeinerungen von Wert und Bedeutung freizulegen, dann eine Story als Vehikel schaffen, das unsere Interpretation für eine zunehmend agnostische Welt zum Ausdruck bringt. Keine leichte Aufgabe.
Als ich nach Los Angeles zog, tat ich, was viele tun, um weiter essen und schreiben zu können – ich las. Ich arbeitete für United Artists und NBC als Analyst für Film- und Fernsehvorlagen. Nach den ersten paar hundert Analysen hatte ich das Gefühl, ich könnte im voraus einen Allzweckvordruck für Hollywood-Story-Analysten schreiben und einfach nur Titel und Autor einfügen. Der Bericht, den ich immer wieder schrieb, ging folgendermaßen:
Nette Beschreibung, spielbarer Dialog. Einige amüsante Momente; einige sensible Momente. Alles in allem ein Skript von gut gewählten Worten. Aber die Story ist miserabel. Die ersten dreißig Seiten kriechen auf einem fetten Expositionsbauch; der Rest kommt nie auf die Füße. Der Hauptplot, was von ihm vorhanden ist, ist durchsetzt von praktischen Zufällen und schwacher Motivation. Kein erkennbarer Protagonist. Unzusammenhängende Spannungen, die sich zu Subplots entwickeln könnten, tun es nie. Figuren sind nie mehr, als sie scheinen. Nicht die Spur von Einblick in das Innenleben dieser Leute oder ihrer Gesellschaft. Es ist eine leblose Ansammlung von voraussagbaren, schlecht erzählten und klischeehaften Episoden, die sich in einem sinnlosen Dunst verlieren. ABLEHNEN.
Aber ich habe nie den folgenden Bericht geschrieben:
Großartige Story! Packte mich auf Seite eins und hielt mich fest im Griff. Der erste Akt baut sich zu einem plötzlichen Höhepunkt auf, der in ein meisterhaftes Gewebe von Plot und Subplot weiterführt. Sublime Enthüllungen von Tiefencharakter. Erstaunliche Einsichten in diese Gesellschaft. Brachte mich zum Lachen, zum Weinen. Trieb zu einem derart bewegenden Höhepunkt im zweiten Akt, daß ich dachte, die Story sei vorbei. Und dennoch, aus der Asche des zweiten Aktes schuf dieser Autor einen dritten Akt von einer solchen Kraft, solchen Schönheit, einer solchen Großartigkeit, daß ich diesen Bericht auf dem Fußboden schreibe. Aber dieses Skript ist ein zweihundertundsiebzig Seiten langer grammatikalischer Alptraum, in dem jedes fünfte Wort falsch buchstabiert ist. Der Dialog ist so verworren, daß sich sogar Laurence Olivier die Zunge daran brechen würde. Beschreibungen sind vollgestopft mit Kameraanweisungen, Erklärungen zum Subtext und philosophischem Kommentar. Es ist nicht einmal im richtigen Format getippt. Offensichtlich kein professioneller Schriftsteller. ABLEHNEN.
Wenn ich diesen Bericht geschrieben hätte, dann hätte ich meinen Job verloren.
Auf dem Schild an der Tür steht nicht »Dialogabteilung« oder »Beschreibungsabteilung«. Da steht »Storyabteilung«. Eine gute Story macht einen guten Film möglich, während eine Geschichte, die nicht funktioniert, praktisch eine Katastrophe garantiert. Ein Lektor, der dieses Grundprinzip nicht begreift, verdient es, gefeuert zu werden. Tatsächlich findet man überraschend selten eine ausgezeichnet gearbeitete Story mit schlechtem Dialog oder schwerfälliger Beschreibung. Meist trifft zu: Je besser das Story-Erzählen, desto lebendiger die Bilder und desto schärfer der Dialog. Doch mangelnde Entwicklung, falsche Motivation, überflüssige Figuren, leere Subtexte, Löcher und weitere derartige Story-Probleme sind die eigentlichen Gründe für einen nichtssagenden und langweiligen Text.
Literarisches Talent genügt nicht. Wenn Sie keine Story erzählen können, sind all die schönen Bilder und Feinheiten des Dialogs, auf deren Vervollkommnung Sie Monate um Monate verwandt haben, das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Was wir für die Welt erschaffen, was sie von uns verlangt, ist Story. Jetzt und immer. Zahllose Autoren schmücken magersüchtige Storys mit eleganten Dialogen und gepflegten Schilderungen und wundern sich, weshalb ihre Drehbücher niemals die Produktion erblicken, während andere mit bescheidenem literarischem Talent, aber großer Erzählkraft die tiefe Freude erfahren, ihre Träume im Licht der Leinwand zum Leben erwacht zu sehen.
Von der gesamten kreativen Anstrengung, die ein beendetes Werk repräsentiert, fließen fünfundsiebzig Prozent der Mühe eines Autors oder mehr in das Gestalten der Story. Wer sind diese Figuren? Was wollen sie? Warum wollen sie es? Wie stellen sie es an, es zu bekommen? Was hält sie auf? Was sind die Folgen? Die Antworten auf diese großen Fragen zu finden und sie zu einer Story zu formen ist unsere überwältigende schöpferische Aufgabe.
Story-Design stellt die Reife und Einsicht des Autors, seine Kenntnis der Gesellschaft, der Natur und des menschlichen Herzens auf die Probe. Die Story verlangt sowohl lebhafte Phantasie als auch ausgeprägtes analytisches Denken. Selbstdarstellung steht niemals zur Debatte, denn wissentlich oder unwissentlich spiegeln alle Storys, die ehrlichen und die unehrlichen, die weisen und die törichten, ihren Schöpfer und enthüllen sein Menschsein – oder dessen Fehlen. Verglichen mit diesem Terror ist das Dialogschreiben eine angenehme Zerstreuung.
Also macht sich der Autor das Prinzip zu eigen: Erzähl eine Story – und erstarrt. Denn was ist eine Story? Die Idee einer Story ist wie die Idee von Musik. Wir haben unser ganzes Leben lang Melodien gehört. Wir können tanzen und vor uns hin singen. Wir denken, wir würden Musik verstehen, bis wir versuchen, sie zu komponieren, und das, was aus dem Klavier kommt, die Katze verschreckt.
Wenn beide, COMEBACK DER LIEBE und JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES, wunderbare, hervorragend für die Leinwand erzählte Storys sind – und sie sind es –, was in aller Welt haben sie gemeinsam? Wenn HANNAH UND IHRE SCHWESTERN und DIE RITTER DER KOKOSNUSS beide brillant-komische, herrlich erzählte Storys sind – und sie sind es –, wo berühren sie sich? Vergleichen Sie THE CRYING GAME mit EINE WAHNSINNSFAMILIE, TERMINATOR mit DIE AFFÄRE DER SUNNY V. B., ERBARMUNGSLOS mit EAT DRINK MAN WOMAN. Oder EIN FISCH NAMENS WANDA mit MANN BEISST HUND, FALSCHES SPIEL MIT ROGER RABBIT mit RESERVOIR DOGS – WILDE HUNDE. Gehen Sie zurück durch die Jahrzehnte und vergleichen Sie VERTIGO – AUS DEM REICH DER TOTEN mit ACHTEINHALB, mit PERSONA, mit RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN, mit CASABLANCA, mit GIER, mit MODERNE ZEITEN, mit PANZERKREUZER POTEMKIN, alles meisterhafte Leinwand-Storys, alle erheblich verschieden, doch sie führen alle zu demselben Ergebnis: Ein Publikum verläßt das Kino und ruft aus: »Was für eine großartige Story!«