Pulverfass Kaukasus
Nationale Konflikte und islamistische Gefahren am Rande Europas
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2., aktualisierte und erweiterte Auflage, März 2016
entspricht der 2. Druckauflage von März 2016
© Christoph Links Verlag, 2009
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
Internet: www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: Eugen Lempp, Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Fotos von russischen Spezialkräften in Tschetschenien (picture-alliance/dpa)
Karte: Christopher Volle, Freiburg
ISBN 978-3-86284-326-8
Karte
Vorwort zur zweiten Auflage
Einleitung
Die Geschichte der russischen Eroberungen im Kaukasus
Perser, Türken, Russen
Imam Schamil, der »Löwe von Dagestan«
General Alexej Jermolow
Georgien, die kaukasische Perle am Schwarzen Meer
Die Geschichte eines Konfliktes
Georgiens glücklose Präsidenten
Demokratischer Wechsel, neue Verwerfungen
Zweifelhaftes Comeback eines Gescheiterten
Abchasiens Träume von der Unabhängigkeit
Südossetien spricht mit russischem Akzent
Aserbaidschan, das heilige Land des ewigen Feuers
Der Ölreichtum des Kaspischen Meeres
Der Alijew-Clan: Gaidar, der Vater
Der Alijew-Clan: Ilham, der Sohn
Der südliche Gaskorridor und sein Preis
Der Konflikt um Berg-Karabach
»Wir sind bereit zu kämpfen«
Armenien, der älteste christliche Staat der Welt
Der Genozid und Deutschlands Anteil
Berg-Karabach – die armenische Sicht
Erfolglose Fußball-Diplomatie
Der schwierige Freund Russland
Russlands muslimischer Nordkaukasus
Der islamistische Untergrund – das Emirat
Der Schatten des Islamischen Staates
Adat und Schariat
Dagestan, das Land der Berge
Bei Salafisten in den Bergen
Der Dichter, der sich schämte: Rassul Gamsatow
Die Wainachen: Tschetschenen und Inguschen
Dudajew, Tschetscheniens erster Präsident
Der Erste Tschetschenienkrieg (1994–1996)
Der Zweite Tschetschenienkrieg (1999–2001)
Der Kadyrow-Clan und die relative Stabilisierung
Ein Tschetschene mit großen Ambitionen
Inguschetien - Ärger mit dem wainachischen Bruder
Nordossetien
Gergijew – der berühmteste der Osseten
Geschichte eines Volkes am Schnittpunkt der Kulturen
Beslan, eine Wunde, die nicht heilt
Tscherkessien
Kabardino-Balkarien
Karatschaj-Tscherkessien
Die Republik Adygeja
Stawropol, Krasnodar und die Kosaken
Stawropol
Krasnodar und Sotschi
Die Kosaken werden wieder gebraucht
Kaukasier und ihre Eigenheiten
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Basisdaten südkaukasische Republiken
Basisdaten Nordkaukasus
Die Sprachen im Kaukasus
Angaben zum Autor
Sechs Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches bleibt die traurige Feststellung: Die Lunte glimmt noch immer im Kaukasus. In Berg-Karabach, dem Zankapfel zwischen Aserbaidschan und Armenien, wird regelmäßig und zunehmend heftiger geschossen. Auch schwere Waffen kommen zum Einsatz. Gleichzeitig haben sich zahlreiche, in die Vergangenheit reichende Probleme – Beispiel Dagestan, der islamistische Untergrund im Norden – eher zugespitzt als abgebaut.
Auch im weiteren Umfeld der Kaukasus-Region, insbesondere in der Ukraine und im Nahen Osten, haben sich Veränderungen vollzogen, die die Bedeutung dieses ebenso brisanten wie interessanten Fleckchens Erde für Europa in ganz neuer Weise definieren. So geriet der Kaukasus, bisher Austragungsort eines vorwiegend regionalen, mit terroristischen Mitteln geführten Untergrundkampfes gegen die russische Vorherrschaft, ins Blickfeld der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS). Die bisher unter dem Begriff »Kaukasisches Emirat« agierenden Gruppierungen haben die alten Struktur aufgegeben und die Führungsrolle des IS auch im Kaukasus anerkannt, indem sie dem IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue schworen. Ob das mehr ist als ein verbales Manöver, ob der IS dem kaukasischen Untergrund tatsächlich neue Kräfte und Ressourcen zuwachsen lässt, ist vorläufig noch offen. Aber die Option, dass der IS künftig eine neue Basis, ein neues Schlachtfeld vor den Toren Europas eröffnet, ist real.
Inzwischen hat sich der Nordkaukasus zu einem Exporteur islamistischer Kräfte entwickelt. Sie spielen eine bedeutende Rolle innerhalb des Islamischen Staates, teils als gnadenlose Kämpfer, teils als brutale Anführer von IS-Gruppierungen. Mit Abu Omar al Shishani hat es ein aus dem Pankisi-Tal (Georgien) stammender Tschetschene sogar in die Führung des IS geschafft. In Russland geht jetzt die Furcht um, diese im Kampf geschulten Islamisten könnten eines Tages wieder in ihre kaukasische Heimat zurückkehren und dort die Auseinandersetzungen befeuern. Seit Moskaus Luftwaffe nun auch in Syrien Stellungen des IS, aber auch der Assad-Opposition und Dörfer von im 19. Jahrhundert vertriebenen Kaukasiern bombardiert, hat dieses Problem zusätzlich an Brisanz gewonnen.
Dabei waren die russischen Sicherheitsdienste zeitweilig erleichtert über den Abzug der kaukasischen Islamisten in den Nahen Osten, beförderten ihn inoffiziell wohl auch. Hatten sie doch für ungestörte Olympische Spiele in Sotschi im Februar 2014, dem Lieblings-Propagandaprojekt von Präsident Wladimir Putin, zu sorgen. Die Spiele wurden ein Erfolg. Sotschi beeindruckte mit neuen Sportstätten und einer komplett neuen Infrastruktur, obendrein gewann Russland auch noch die Nationenwertung.
Dieser internationale Prestigeerfolg wurde von der Kreml-Mannschaft allerdings umgehend wieder zunichtegemacht. Noch in Sotschi fiel die Entscheidung über die Annexion der Krim, dem ein hybrider Krieg gegen die Ukraine im Osten des Landes folgte. Das Verhältnis zu den westlichen Ländern wurde nachhaltig gestört. Innerhalb Russlands dagegen erlebte der Kremlchef einen bis dahin nie gekannten Popularitätsschub.
Die Annahme, dass das Verhalten des russischen Präsidenten nicht, wie von so genannten Putin-Verstehern behauptet, eine Reaktion auf westliches Fehlverhalten ist, sondern sich vor allem daran orientiert, was der Kreml für sein ureigenes Interesse hält, wurde so ein weiteres Mal erhärtet. Tatsächlich muss Putins Politik in erster Linie aus den inneren Verhältnissen Russlands, aus seinen Zielen im eigenen Lande erklärt werden. Priorität hat dabei der Machterhalt im Umfeld einer künstlich aufgeputschten nationalistischen Stimmung in Russland. Ansehen im Ausland wird zwar gern entgegengenommen, ist aber nicht von entscheidender Bedeutung für Putins Entscheidungen.
Diese Maxime bestimmte auch den Beschluss des Kremls von 2008, die zu Georgien gehörenden Provinzen Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten anzuerkennen. Daran hält Russland trotz internationaler Proteste bis heute fest. Georgien besteht indes weiterhin auf Wiedereingliederung der abtrünnigen Gebiete. Immer wieder kommt es an den Grenzen zu Spannungen, auch wenn die Nachfolger des damaligen Präsidenten Saakaschwili eifrig betonen, sie setzten ausschließlich auf friedliche Mittel in diesem Prozess.
Zunehmende Bedeutung gewinnt der Kaukasus auch für die Energieversorgung der Europäer. Aserbaidschan, ein autoritär verwaltetes Land, bietet sich als Lieferant von Energieträgern an und hat zunächst Südeuropa im Visier. Präsident Alijew versucht, die Lücke zu nutzen, die sich nach dem Scheitern der Pipeline-Projekte Nabucco und South Stream von Russland nach Westeuropa aufgetan hat.
Blickt man auf die zahlreichen, auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelten kaukasischen Verwerfungen mit europäischen Augen, drängt sich der Schluss auf: Der explosive Kaukasus rückt näher an Europa heran.
Jeden Tag, den Zeus werden ließ, kam der Adler Ethon. Langsam kreisend senkte er sich auf sein Opfer. Er hatte keine Eile, der Gefangene konnte nicht fliehen und sich nicht dagegen wehren, dass der Raubvogel ein Stück von seiner Leber fraß, jeden Tag. Denn er war angekettet. Und immer wieder wuchs die Leber nach. Der Gefangene war der unsterbliche Titanensohn Prometheus. Zeus, der oberste aller Götter, hatte ihn zu der Jahrhunderte währenden Qual verurteilt, weil er des Göttervaters Gebot missachtet und den Menschen das Feuer gebracht hatte. Erst nach langer Zeit, so will es die griechische Mythologie, wurde Prometheus vom Helden Herakles befreit. Der Ort von Prometheus’ Leiden: der Kaukasus.
Schon für die alten Griechen war das Gebirge zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer eine natürliche Grenze zwischen dem asiatischen Osten, wo die Steppenvölker lebten, und dem zivilisierten Westen. Die teilweise über 5000 Meter hohen Berge – der Elbrus ist mit 5642 Metern der höchste – markierten in der Antike das Ende der Welt im Norden. An seiner Südflanke am Schwarzen Meer lag das Land Kolchis, in dem der Sage nach Jason mit seinen Argonauten das Goldene Vlies raubte, unterstützt von der Königstochter Medea.
Das Goldene Vlies existierte tatsächlich. Schon der römische Geschichtsschreiber Appian berichtete im 2. Jahrhundert, dass die Flüsse des Kaukasus noch reichlich Goldstaub führten: »Die einheimischen Bewohner halten dichtwollige Schafsfelle ins Wasser, in denen sich der Goldsand fängt.«1
Der Große Kaukasus zieht sich über 1100 Kilometer vom Nordostufer des Schwarzen Meeres bis zur Halbinsel Apscheron am Kaspischen Meer, auf der die aserbaidschanische Hauptstadt Baku liegt. Die Gebirgskette ist durchschnittlich rund 100, an einigen Stellen bis zu 180 Kilometer breit. Wer bei guter Sicht beim Überfliegen der Berge das atemberaubende Panorama genießen kann, erkennt die tiefe Zerklüftung, die das Passieren der Bergkette auf dem Landwege auch heute noch zu einer Herausforderung macht.
Etwa 46 verschiedene Völker – insgesamt 30 Millionen Menschen – sind in diesem grandiosen, zum Teil sehr unwirtlichen Gebirgsmassiv zu Hause, das eine Fläche von 440 000 Quadratkilometern einnimmt. Zwischen 40 und 50 Sprachen, nicht gerechnet die zahlreichen Dialekte, werden hier gesprochen. »Berg der Sprachen« soll der arabische Geograf Al-Masudi den Kaukasus im 10. Jahrhundert genannt haben, und bei Plinius d. Ä. findet sich, dass die Römer in Dioskurias (heute Suchumi) 130 Dolmetscher benötigten.
Der Kaukasus stellte ein in der Welt in dieser Kompaktheit wohl einmaliges Rückzugsgebiet für Völker dar, die in den Ebenen Eurasiens und den Hochebenen Anatoliens und Irans von anderen Völkerschaften verdrängt worden waren. Hier, in den schwer zugänglichen Tälern und auf den leicht zu verteidigenden Höhen, fühlten die Menschen sich sicher vor ihren Verfolgern. Doch diese Höhenzüge erschwerten gleichzeitig auch den Kontakt zwischen den Stämmen, eine Voraussetzung für die Entwicklung von vielen Dialekten und Subdialekten.
Die Kammlinie des Großen Kaukasus trennt zwei Welten. Im Norden liegen die islamisch geprägten, zur Russischen Föderation gehörenden autonomen Republiken Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien, Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien und Adygeja.
Im Süden, dem sogenannten Transkaukasus, bilden das muslimische Aserbaidschan und die christlichen Staaten Georgien und Armenien eine Landbrücke zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. Sie war seit alters auch immer eine Transitverbindung zwischen dem Orient und dem Okzident, ein Zweig der Seidenstraße führte hier entlang. Sie ist es heute in weit stärkerem Maße, denn von den Erdöl- und Erdgasfeldern am und im Kaspischen Meer führen Rohrleitungen über Georgien in die Türkei, von wo aus die flüssigen und gasförmigen Kohlenwasserstoffe weiter nach Europa gelangen. In dem Maße, wie Russland in jüngster Zeit versucht, sich als Rohstoffweltmacht aufzustellen und die Kontrolle über Förderung und Transport der immer begehrter werdenden Brennstoffe zu erlangen, wächst die Konkurrenz mit westlichen Förder- und Transportkonzernen und damit auch das konfrontative Potenzial.
Russland hat daneben mit der Tatsache zu kämpfen, dass große Teile der früher zur Sowjetunion gehörenden Staaten als Puffer gegenüber der vermeintlich feindlichen westlichen Welt verloren zu gehen drohen. Seit die osteuropäischen und baltischen Staaten Mitglieder der Nato wurden, die Ukraine und Georgien sich in dieser Richtung bewegen, schrillen in Moskau die Alarmglocken. Ex-Präsident Dmitri Medwedjew, wie auch der aktuelle Kremlchef Putin haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass die einstigen Sowjetrepubliken zu den Gebieten gehören, in denen Moskau »privilegierte Interessen« verfolgt, in die also weder die Europäer, geschweige denn die Amerikaner vordringen dürften. Was die unter die »privilegierte Obhut« Russlands gestellten Staaten selbst dazu sagen, interessiert den nördlichen Nachbarn der Kaukasus-Region weniger. Auch vor diesem Hintergrund erneut aufbrechender Ost-West-Gegensätze ist der jüngste Georgien-Konflikt zu sehen.
1982 reiste ich zum ersten Mal in diese für mich völlig fremde Welt, zunächst nach Dagestan. Ich besuchte die Hauptstadt Machatschkala, hatte ein wunderbares Treffen mit dem inzwischen leider verstorbenen Volksdichter Rassul Gamsatow, stattete der alten Hafenstadt Derbent mit ihrer Festung Naryn-Kala einen Besuch ab und wurde oben in den kaukasischen Bergen von den Silberschmieden von Kubatschi zum Adlertanz gebeten.
Es ist ein faszinierendes Erlebnis, die überwältigende Freundlichkeit und Gastlichkeit im Kaukasus zu erleben, auch wenn ich sie schon mal unter den wachsamen Augen eines 15-jährigen, mit einer Kalaschnikow bewaffneten Tschetschenen genießen und mir anhören musste: »Alter Mann, was willst du hier im Krieg? Du solltest zu Hause mit deinen Enkeln spielen.«
Faszinierend ist die kulturelle Vielfalt, wie ich sie in den vergangenen fast 30 Jahren auf zahlreichen Reisen in den Nord- und Südkaukasus erlebte. Schriftsteller wie der Abchase Fasil Iskander, der Bakuer Essad Bey alias Lew Nussimbaum oder der Georgier Nodar Dumbadse haben es ebenso zur Weltgeltung gebracht wie der Ausnahmedirigent Waleri Gergijew, der Ossete. Wer georgische Volksmusik mag, kommt an Hamlet Gonaschwili, dem »Gott«, wie die Musiker ihn dort nennen, nicht vorbei. Und für Jazzfans gehört die Aserbaidschanerin Aziza Mustafa Zadeh zur allerersten Wahl.
Dennoch bleibt der Kaukasus heute immer auch noch der Ort potenzieller militärischer Konflikte. Die Bürgerkriege in Georgien und Aserbaidschan Anfang der 90er-Jahre, die beiden Tschetschenien-Kriege, die ich alle aus der Nähe verfolgt habe, hinterließen – wie auch das Flüchtlingselend in Inguschetien oder die Geiselnahme von Budjonnowsk und Beslan – tiefe Spuren in der Gesellschaft. Mit dem russisch-georgischen Fünftagekrieg im Sommer 2008 wurde der georgisch-abchasisch-südossetische Konflikt keineswegs gelöst. Andere, wie das Karabach-Problem, drohen wieder aufzubrechen. Im Nordkaukasus sieht sich Russland mit zentrifugalen, von nationalistischen und islamistischen Gruppen beförderten Kräften konfrontiert. Der Kaukasus, auch als Schutz des »weichen Unterbauchs« der Russischen Föderation gedacht, kann dieser Funktion immer weniger gerecht werden. Die Lunte glimmt gleich an mehreren Stellen.
Eine Anmerkung am Rande: Als Bezeichnung für die georgische Hauptstadt habe ich durchgängig Tbilissi gewählt. Das ist nicht etwa der sowjetische, sondern der georgische Name der Stadt. Das üblicherweise benutzte Tiflis, was sich zugegebener Weise einfacher ausspricht, ist die Bezeichnung, die die persischen Eroberer seinerzeit der Stadt gegeben hatten. Bei weiteren Eigennamen kann es zu Differenzen mit anderen Varianten kommen. Ich bin, da ich der kaukasischen Sprachen nicht mächtig bin, von der dort noch immer existierenden Lingua Franca, dem Russischen, ausgegangen und habe auf dieser Grundlage Ortsbezeichnungen und Eigennamen ins Deutsche transkribiert.
Wenn Textstellen als Zitate oder wörtliche Rede gekennzeichnet sind und über keine Quellenangaben verfügen, stammen sie aus Gesprächen, die ich selbst geführt habe.
Das Gebirgsmassiv des Kaukasus weckte schon sehr früh Begehrlichkeiten unter den Großmächten der Antike. Das betraf vor allem seine strategische Lage. Wie ein Riegel verhinderte die Gebirgskette mit ihren nur schwer zugänglichen Pässen das Vordringen der wilden Steppenvölker nach Süden – nach Persien und ins Oströmische Reich. Selbst heute, im 21. Jahrhundert, führen nur zwei brauchbare Straßen durch die Berge und verbinden Nord- und Südkaukasus. Das ist einmal die von Russland im 19. Jahrhundert gebaute sogenannte Georgische Heerstraße. Sie führt von Wladikawkas (russ. für »Beherrscher des Kaukasus«) in Nordossetien über den Gebirgskamm hinunter in die georgische Hauptstadt Tbilissi und weiter nach Jerewan. Die zweite Straßenverbindung, die einzige, die ganzjährig befahrbar ist, entstand zu sowjetischer Zeit. Sie führt von Wladikawkas durch den 3600 Meter langen Roki-Tunnel nach Zchinwali in Südossetien und spielte beim russisch-georgischen Krieg im August 2008 eine entscheidende Rolle.
Den geografischen Besonderheiten des Kaukasus verdankten die Perser in der Spätantike eine erquickliche Zusatzeinnahme. Sie wurden von Ostrom mit seiner Hauptstadt Byzanz, dem späteren Konstantinopel, dafür bezahlt, dass sie die Gebirgspässe besetzten und weder Hunnen noch andere gefährliche Völkerschaften durchließen.
Der oströmische Einfluss führte zur Christianisierung Armeniens und Georgiens bereits im 4. Jahrhundert, worauf beide Länder bis heute sehr stolz sind. Sie bewahrten sich ihren Glauben auch unter dem Druck der persischen und türkischen Eroberer. Im 16. Jahrhundert eroberten die Osmanen den Kaukasus weitgehend, der Islam wurde – abgesehen von Georgien und Armenien – zur vorherrschenden Religion. Das persische Reich hielt allerdings noch einige Gebiete im Südosten bis zur Niederlage im Krieg mit Russland von 1804 bis 1813.
Doch weder Perser noch Osmanen sollten sich auf Dauer der immer stärker werdenden russischen Militärmacht widersetzen können.
Russlands Kampf um den Kaukasus begann schon sehr früh, früher als die Geschichtsschreibung der Zaren bzw. der Sowjetunion es wahrhaben wollte. Dort beschränkten sich die militärischen Auseinandersetzungen im Kaukasus gewöhnlich auf die Jahre zwischen 1817 und 1864, in denen sich Moskau die Herrschaft in der Region sicherte. Tatsächlich aber geht »der Beginn der Einmischung Russlands in die Angelegenheiten des Kaukasus auf die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück. Schon damals unterstützten die Russen hin und wieder die Kabardiner bei ihren Streitigkeiten mit den Krimtataren, während die Kabardiner ihrerseits den Russen an der litauischen und der Krim-Grenze beisprangen.«1
Im Jahre 1559 gründete Iwan IV., genannt Iwan der Schreckliche, am Ufer des Kaspischen Meeres unweit der heutigen dagestanischen Hauptstadt Machatschkala die Kosakenfestung Tarki, 1587 wurde dort das erste Kosakenheer stationiert. Der Blick der russischen Zaren richtete sich in dieser Zeit auch schon nach Georgien, wo die christlichen Herrscher des in kleine Königreiche zersplitterten Landes sich heftigem Druck durch das Osmanische Reich, aber auch der muslimischen Nachbarvölker ausgesetzt sahen. Angesichts der Bedrohung durch dagestanische Einfälle sandte Alexander II., König des georgischen Reiches Kachetien, 1586 ein Hilfegesuch an den Moskauer Zaren Fjodor. Der schickte ihm 1594 ein 7000 Mann starkes Militärkontingent. Das wurde von den Dagestanern ebenso zerschlagen wie die zehn Jahre später von Zar Boris Godunow in Marsch gesetzten Armeen.2
Initiator weiterer Vorstöße zum Kaukasus und zum Schwarzen Meer war Anfang des 18. Jahrhunderts zunächst Zar Peter I. Gerade hatte er mit der Gründung von St. Petersburg, der Stadt am Finnischen Meerbusen, das Fenster nach Europa aufgestoßen, da zog es ihn in den Süden. Schon damals kam es zu ersten Zusammenstößen mit den Bergvölkern im Kaukasus. 1711 fanden am nordkaukasischen Kuban-Fluss zahlreiche Scharmützel statt, ebenso am Rande des Persien-Feldzuges von 1722/23, auf dem Peter I. Machatschkala und Dagestan an der Küste des Kaspischen Meeres eroberte. Auf einem großen Gemälde, das im Museum von Machatschkala ausgestellt ist, wurde der Moment festgehalten, als Peter in der Hafenstadt am Westufer des Kaspischen Meeres direkt am Leuchtturm an Land ging. Dieser Leuchtturm existiert heute noch. Er steht mehrere Kilometer von der Küste entfernt mitten in der Stadt, so sehr ist der Meeresspiegel des Kaspi in der Zwischenzeit gefallen.
In weiteren Feldzügen gegen Persien (1804–1813 und 1826–1828) eroberte Russland Ostgeorgien, Dagestan und Aserbaidschan. Im Verlaufe der Auseinandersetzungen mit dem Iran schlugen sich die georgischen Königreiche auf die Seite Russlands, das sie für das kleinere Übel hielten und dessen christliche Kultur ihnen näherstand. Nachdem Russland das ostgeorgische Kartli-Kachetien 1801 annektiert hatte, wurden Imeretien, Mingrelien, Abchasien und Gurien zwischen 1803 und 1810 zu russischen Protektoraten. Es dauerte noch mehr als fünfzig Jahre, bis die georgischen Regionen sich nach blutigen Aufständen dem russischen Imperium zuschlagen ließen.
Alexander Solschenizyn, der 2008 verstorbene große russische Schriftsteller mit weitreichenden historischen Interessen, hielt den Vorstoß nach Süden – ebenso wie die Eroberung Mittelasiens – für einen Fehler. »Wir haben im Transkaukasus nichts zu suchen, außer der Evakuierung russischer Flüchtlinge«, sagte er 1994 in einem Interview mit dem amerikanischen Journal Forbes.3
Die Zaren hatten das anders gesehen. Für sie waren die Größe des Reiches und seine permanente Ausdehnung Werte an sich. Einen wirtschaftlichen Gewinn zogen sie aus der Eroberung des Kaukasus selbst dann nur sehr zögerlich, als ab 1870 in Aserbaidschan und im Nordostkaukasus Erdöl gefunden wurde. Noch 1890, als in Baku schon kräftig Öl aus dem Boden sprudelte, tat sich im Staatshaushalt für diese Region eine Budgetlücke von 24 Millionen (Gold-)Rubel auf. Auch die menschlichen Verluste waren hoch. Im Laufe von kampferfüllten 150 Jahren kamen bis 1864 fast eine Million Soldaten um, die meisten allerdings verloren ihr Leben durch Krankheiten.4 Die widrigen Lebensumstände machten den Kaukasus zu einem bei den Zaren »beliebten« Verbannungsziel, vor allem für Offiziere, die sich gegen die »Spielregeln« in der Armee vergangen oder am Dekabristenaufstand von 1824/25 teilgenommen hatten. Auch der Dichter Michail Lermontow wurde wegen Unbotmäßigkeit vom Petersburger Hof in die unwegsamen kaukasischen Berge verbannt, was ihn allerdings zu unsterblichen Werken inspirierte.
Den Zaren in Moskau und St. Petersburg war der Preis ihrer Eroberungen egal. Ihnen war es wichtig, die persische Vorherrschaft am Kaspischen und die türkische am Schwarzen Meer zu brechen. Russland suchte gesicherte Zugänge zu den südlichen Meeren. Der Blick freilich war noch weiter gerichtet: die Dardanellen, die Durchfahrt vom Schwarzen ins Mittelmeer in der Hand zu haben, ist ein alter russischer Traum.
Während der Herrschaft von Katharina II. entwickelte ihr Günstling Graf Potjomkin Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts das sogenannte »griechische Projekt«. Das nicht unbescheidene Ziel: die völlige Eroberung und anschließende Teilung des Osmanischen Reiches. In Petersburger Regierungskreisen war man überzeugt, dass man es mit einem zu dem Zeitpunkt sehr schwachen Staat zu tun habe, der zum baldigen Untergang verurteilt sei.
Also wollte man die Hohe Pforte zerschlagen und an ihrer Stelle in Kleinasien und auf dem Balkan das griechisch-orthodoxe Imperium Byzanz wiedererrichten. Für den Thron in Konstantinopel war Katharinas zweiter Enkel ausersehen. Den Namen Konstantin bekam er zu Ehren des ersten christlichen Imperators des Römischen Reichs, Konstantins des Großen.
Aus einem anderen Teil des Osmanischen Reiches, aus Moldawien, der Walachei und Bessarabien, sollte unter dem Namen Dakien ein Pufferstaat zwischen Russland und Österreich geformt und auch dort ein russisch-orthodoxer Herrscher installiert werden. Mit dieser Zerschlagung des Reiches der Osmanen und seiner Neuaufteilung sollte nach dem Willen von Katharina II. der »ewige Friede im Osten« gewährleistet werden.5
Dieses Projekt erwies sich als undurchführbar. Russland konnte zwar die Türken von der Krim, dann auch aus dem Kaukasus und von der nördlichen Schwarzmeerküste verdrängen und diese Gebiete erobern, mehr gelang aber auch nicht. Statt eines wiedererstandenen christlichen Byzanz gewann Russland muslimisch geprägte Gebiete in der permanent unruhigen Kaukasus-Region hinzu.
Auch die Vorstellung, im Süden bis zum Persischen Golf vorzudringen, hat Tradition. Der russische Rechtsnationalist Wladimir Schirinowski wollte dieser Idee in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit seinem Buch »Letzter Durchbruch nach Süden« noch einmal Leben einhauchen und hatte eine erstaunliche Resonanz bei vielen seiner imperial denkenden Landsleute. Die Vorstellung, russische Soldaten könnten sich ihre Stiefel im Indischen Ozean waschen, wie Schirinowski es ausdrückte, beflügelte die Phantasie vieler seiner Landsleute. Und heute wie damals verfängt die arrogante Behauptung, man müsse die »kaukasische Barbarei« durch die russisch-orthodoxe Kultur ersetzen. Man müsse sich eindeutig klarmachen, »dass der letzte Durchbruch nach Süden, der künftige Zugang Russlands zu den Ufern des Indischen Ozeans und des Mittelmeeres, tatsächlich die reale Lösung der Aufgabe zur Rettung der russischen Nation bedeutet«, schwadronierte Schirinowski, der Chef der Liberaldemokratischen Partei Russlands. Dieser Name ist irreführend, ist die Partei doch weder liberal noch demokratisch, sondern eine nationalistische, ganz auf die Person Schirinowskis eingeschworene Vereinigung. Erst wenn Russland nur noch durch das Nördliche Eismeer, den Pazifik, das Mittelmeer, die Ostsee und schließlich durch den Indischen Ozean begrenzt sei, wenn es an China und Indien grenze, könne es auf »ruhige Nachbarn« zählen. Schirinowski will mit einem Schlag den gesamten Kaukasus, den Nahen Osten und Zentralasien »befrieden«, erobern also. Und er träumt den tief sowjetisch angehauchten Traum von Sanatorien, Pionierlagern und Erholungsheimen »für den industriellen Norden und Menschen aller Nationalitäten« an den Ufern des Persischen Golfs.6 Schirinowski, so heißt es in Moskau, spricht aus, was die herrschende Elite in Moskau nicht einmal zu denken wagt.
Russlands Expansion nach Süden war langwierig und opferreich. Nach zahlreichen Kriegen gegen das Osmanische Reich, denen noch weitere folgen sollten, gelang es 1783, die Krim zu erobern. Damit war der Rücken frei. Man konnte sich verstärkt des Südkaukasus annehmen, um den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern und den Dardanellen-Traum zu träumen. Nach einem ersten Zusammenstoß mit den Türken im Süden des Kaukasus schon 1774 brauchte es fünf weitere Kriege (1789–1791, 1806–1812, 1828–1829, 1853–1856 und 1877–1878), ehe der Widerstand der Türken dort endgültig gebrochen war.
Als weit zäher erwies sich der Widerstand der kaukasischen Bergvölker, der »Gorzy«, die sich erbittert gegen die Annexionsversuche der Russen zur Wehr setzten. Russland, das die Berge beherrschen wollte, um Transkaukasien und die Schwarzmeerküste zu sichern, versuchte mit brutalen »Strafexpeditionen« die Bergbewohner zu disziplinieren. Selbst die bis dahin loyalen Kabardiner wurden, als die Gefahr durch die Krimtataren geringer geworden war, widerspenstig. 1774 erhoben sie sich erstmals gegen das Imperium, Dutzende weiterer Aufstände auch der anderen Völkerschaften folgten.
Zur ersten große Führungspersönlichkeit im Widerstand gegen die russischen Eroberer im 18. Jahrhundert wurde Uschurma. Er war ein einfacher tschetschenischer Schäfer, wurde dann aber in Dagestan zum Geistlichen ausgebildet. Dort trat er der Bruderschaft der Nakschbendi bei, deren Scheich er 1783 wurde. Seine Landsleute und alle anderen »Gorzy« rief Uschurma 1785 zu einem »Ghasavat« auf, was etwa so viel wie »Heiliger Krieg« bedeutet. Eine Strafexpedition unter Juri Pieri, Oberst der russischen Armee, wurde ausgesandt. Sie bestand aus vier Bataillonen und sollte Jagd auf den rebellischen Bergbewohner machen. Der ließ sich in den heimatlichen Bergen nicht fangen. Dafür gerieten die Russen auf dem Rückweg in einen tschetschenischen Hinterhalt. Die Truppe wurde total aufgerieben. Mit dieser Taktik, die den Bergbewohnern mehrfach den Erfolg sicherte, erwarb sich Uschurma den Beinamen Mansur, arabisch »der Siegreiche«.
Der stimmte allerdings nur bedingt, denn »er war ein talentierter Redner, aber ein schlechter Heerführer« und musste mehrere Niederlagen hinnehmen.7 Nach Verlusten an den Flüssen Urup und Laba war er 1787 gezwungen, in der damals unter osmanischer Herrschaft stehenden Küstenstadt Anapa Zuflucht zu nehmen. Von dort aus rief er seine Landsleute weiterhin zum Widerstand gegen Russland auf. 1791 eroberte der russische General Gudowitsch die Stadt, Mansur geriet in Gefangenschaft. Wie ein wildes Tier wurde er in einen Käfig gesperrt und nach Moskau geschafft, wo ihn Zarin Katharina in den Kerker werfen ließ. Später verbannte sie ihn in ein Kloster auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer, wo er schließlich auch starb.
Scheich Mansur war ein Heiliger, lässt Leo Tolstoi einen seiner Protagonisten in »Hadschi Murat« schwärmen. »Er ritt durch die Auls, und das Volk strömte herbei, um den Saum seiner Tscherkesska zu küssen, es bereute seine Sünden und schwur, nichts Böses mehr zu tun. Die alten Leute haben uns davon erzählt: Damals lebten alle Menschen wie Heilige, sie rauchten nicht, tranken nicht, versäumten kein Gebet und verziehen einander alle Beleidigungen, selbst vergossenes Blut.«8 Die Heldentaten Scheich Mansurs, die tatsächlichen und die, die ihm zugeschrieben wurden, leben noch heute im Kaukasus in Erzählungen weiter.
Auf Peter I. geht die Idee zurück, die Bergvölker im Kaukasus einzuschließen. Er ließ Kosaken zunächst am Gebirgsfluss Terek ansiedeln, die den Auftrag hatten, in ihren Wehrdörfern diesen Teil der russischen Grenze zu bewachen. Nach seinem Tode ließ der Eifer seiner Nachfolger, den Süden betreffend, deutlich nach, auch wenn 1735 noch die Festung Kisljar am Terek gebaut wurde. Die Truppen jedoch wurden nach dem Norden beordert. Erst mit der Thronbesteigung von Katharina der Großen 1762 rückte der Kaukasus wieder mehr ins Blickfeld. Die sogenannte »Kosakenlinie«, die sich am Nordrand des Kaukasus zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meer entlangzog, wurde ausgebaut. 1763 wurde der Grundstein für die Festung Mosdok gelegt, was letztlich auslösendes Moment für den Aufstand der Kabardiner war. In Mosdok, das heute zu Nordossetien gehört, ist gegenwärtig die 58. Armee stationiert, die für Ruhe im Nordkaukasus sorgen soll. Ihre Panzer entschieden im August 2008 den Fünftagekrieg mit Georgien zugunsten Russlands.
Nachdem Russland sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Georgien, Armenien und Aserbaidschan seine Positionen im Südkaukasus und an den beiden Meeren gesichert und das Osmanische Reich im Friedensvertrag von Adrianopel 1829 zum Verzicht auf dessen Besitzungen am Ostufer des Schwarzen Meeres gezwungen hatte, wandte es sich endgültig dem Gebirge selbst zu. Den bisher eher sporadischen Feldzügen in die Berge, die von sehr unterschiedlichem Erfolg gekrönt waren, sollte nun die systematische Eroberung folgen. Dieser Krieg, der genau genommen bereits 1763 begannen hatte, dauerte über weitere 30 Jahre und wurde von einer herausragenden Persönlichkeit aus den Bergen geprägt: dem Imam Schamil.
1982 war ich das erste Mal in Dagestan. Die Reise war, wie zu sowjetischer Zeit üblich, von den örtlichen Parteiorganisationen wohl organisiert. Natürlich fehlte auch der Besuch im Museum der Hauptstadt Machatschkala nicht. Beim Rundgang fiel mir ein großes Porträt auf. Es zeigte einen verwegen aussehenden, schwer bewaffneten Mann in der Tracht der Bergvölker. Auf einem kleinen Messingschild stand lediglich ein einziges Wort: »Schamil«.
Auf meine Frage, wer das denn sei, wich der offiziell bestallte Museumsführer aus. Es handele sich um eine Figur aus der dagestanischen Geschichte, sagte er, sich sichtlich unwohl fühlend, und wechselte das Thema. Später nahm mich einer meiner Begleiter zur Seite und flüsterte mir ein paar erklärende Worte zu. Das Porträt zeige den berühmten Imam Schamil, einen Volkshelden des Landes, der den russischen Truppen im 19. Jahrhundert jahrzehntelang Widerstand geleistet habe, ehe er gefangen genommen wurde.
Die Geheimnistuerei hatte ihren Grund in der sowjetischen Art der Geschichtsbetrachtung, die sich je nach politischer Wetterlage änderte. Noch ein paar Jahre zuvor war Schamil als »Held im Kampf gegen den russischen Imperialismus« gefeiert worden. Dann drehte sich der Wind. Die Führung in Moskau argwöhnte, dass die allzu heftige Verehrung für Schamil antirussische Tendenzen stärken und den Allmachtsanspruch der Parteiführung in der sowjetischen Metropole gefährden könnte. Er wurde offiziell zur Unperson.
Die besser Gebildeten unter den hauptstädtischen Parteikadern hatten natürlich, wie auch die kaukasischen Anhänger Schamils, den »Hadschi Murat« von Leo Tolstoi gelesen. Der Aufruf Schamils an die Kaukasier, den der große russische Schriftsteller in seiner Novelle zitiert, muss ihnen wie ein Menetekel erschienen sein: »Ich höre, dass die Russen euch schmeichlerisch zur Unterwerfung auffordern. Glaubt ihnen nicht, unterwerft euch nicht, haltet aus … Es ist besser, in Feindschaft gegen die Russen zu sterben, als in Gemeinschaft mit den Ungläubigen zu leben. Haltet aus, und mit dem Koran und dem Säbel werde ich zu euch kommen und euch gegen die Russen führen.«9 Unter Stalin, der in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts zahlreiche Bergvölker hatte deportieren lassen, wurden im Kaukasus Erinnerungen an die eigene ruhmreiche Geschichte wach. Die stets misstrauische kommunistische Partei argwöhnte Widerspruch und verordnete eine Kehrtwende in der Geschichtsinterpretation. Und so wurde auf Anweisung »von oben« aus dem einstigen Volkshelden ein blutrünstiger Separatistenführer und Bandit gemacht, der sich der Zentralgewalt widersetzte und zu Recht in russische Gefangenschaft geriet. Russland, so sagen Zyniker, sei das einzige Land in der Welt, in der nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit im Dunkeln liege.
Wer war Schamil? Der Sohn eines Landbesitzers, ein Aware, wurde 1797 im dagestanischen Bergdorf Gimry geboren. Die Awaren gehören zu den mehreren Dutzend ethnischer Gruppen, die heute noch das kleine Dagestan bevölkern.
Schamil wurde in die Zeit hineingeboren, in der Russland den Südkaukasus endgültig für sich erobert hatte und der Druck auf die Bergvölker immer brutaler wurde. Zum einigenden geistigen Band wurde in dieser Zeit eine muslimische Reformbewegung unter der Führung der Naqschbandi, deren Name auf einen sunnitischen Geistlichen zurückgeht, der im 14. Jahrhundert in Buchara gepredigt hatte10. Die kaukasischen Bergvölker adaptierten diese Lehre, indem ein Meister, der Murschide, seine Schüler, die Müriden, in allen Glaubens- und Lebensfragen unterweist. Als Ziel wurde zunächst in Dagestan, dann in Tschetschenien und Inguschetien der Übergang vom kaukasischen Naturrecht Adat zum islamischen Schariat postuliert. Im Kaukasus kamen angesichts der erbitterten Auseinandersetzungen mit dem russischen Imperium nun auch militärische Aspekte hinzu. Der Imam war dort nicht nur geistlicher, sondern auch militärischer Anführer seiner Müriden. Als Bezeichnung für diese neue religiös-politische Erscheinung bürgerte sich das Wort vom »Müridismus« ein.
Die Naqschbandi vermieden zunächst die direkte Konfrontation mit den russischen Truppen, obwohl General Jermolow ab 1816 mit grausamem Terror in den Bergen wütete. Erst vergleichsweise spät, nämlich 1829, erklärten sie Russland den Heiligen Krieg und wählten Ghazi Muhammad zum Imam. Schamil war sein Stellvertreter. Als Ghazi Muhammad 1832 in einer Schlacht fiel, wurde Hamza Bek sein Nachfolger, und nach dessen Tod wählten die Naqschbandi 1834 Schamil zum dritten Imam.
Eine der besten Schilderungen seiner Person verdanken wir keinem Geringeren als dem Schöpfer der »Drei Musketiere«. Alexandre Dumas reiste im Winter des Jahres 1858/59, gut bewacht von Kosaken, durch den Kaukasus. Dort traf er eine ehemalige Geisel Schamils, einen russischen Offizier, der gerade freigekauft worden war. Dessen Bericht zeichnete der Schriftsteller getreulich auf. Der Offizier war, obwohl ein Feind der Bergvölker, dennoch tief beeindruckt von der Persönlichkeit ihres Anführers. »Schamyl mag etwa achtundfünfzig Jahre alt sein (er war zu dem Zeitpunkt 61 Jahre alt – d. A.), sieht aber wie ein Vierziger aus. Er ist groß, hat ein sanftes, ruhiges, Ehrfurcht gebietendes Gesicht, dessen Hauptzug Schwermut ist. Man sieht es ihm jedoch an, dass seine Gesichtszüge auch den Ausdruck großer Energie und Entschlossenheit annehmen können. Seine blasse Gesichtsfarbe lässt die schön geschwungenen dunklen Brauen stark hervortreten. Seine Augen sind dunkelgrau, fast schwarz … Seine Hand ist klein und weiß, sein Gang langsam und würdevoll. Man erkennt den Mann von hohen Geistesgaben, den zum Befehlen geborenen Führer.«11
Besonders beeindruckt zeigte sich der Offizier, dessen Militärkameraden im Kaukasus-Krieg sehr oft in eheähnlichen Verhältnissen mit Kosakinnen oder Angehörigen der Bergvölker lebten, vom hohen moralischen Anspruch des Imam, dem dieser auch selbst folgte. So habe Schamil eine verwitwete Tatarin, die mit einem Lesginer unverheiratet zusammenlebte und schwanger wurde, mit ihrem Lebensgefährten zum Tode verurteilt. Schamil habe vier Frauen, berichtete er. Die vierte und jüngste habe er, obwohl er sie sehr geliebt habe, verstoßen, weil sie unfruchtbar war. »Der sittenstrenge Schamyl fürchtete, man werde seine Liebe zu einer unfruchtbaren Frau als Liederlichkeit betrachten, und wie wehe es auch seinem Herzen tat, trennte er sich doch von ihr.«12 In der russischen Öffentlichkeit hält sich bis heute die Überzeugung, die Bergvölker im Kaukasus, besonders die Tschetschenen, seien zur Staatenbildung nicht fähig, hätten eine niedrige Kultur und seien ein brutales, unzivilisiertes Volk. Was indirekt natürlich als Rechtfertigung dafür diente, den Widerstand im Kaukasus als etwas zu betrachten, das gegen die kulturelle Mission Russlands gerichtet ist und notfalls auch mit Gewalt unterdrückt werden muss.
Schamil war es indes in den Jahren des Kampfes gelungen, die Stämme der Tschetschenen und Dagestaner, die sich oft auch untereinander befehdet hatten, zusammenzuführen. Auch die Tscherkessen, Adygejer, Kabardiner, Balkaren, Inguschen, Nogaier, Awaren, Darginer und selbst die moskaufreundlicheren Osseten schlossen sich an. Er verstand es zudem, ein funktionierendes Staatswesen mit einer Verwaltung und eigenem Steuerwesen aufzubauen. Dabei hatte er keine Skrupel, auch zu brutalen Mitteln des Machterhalts zu greifen. 1844 soll er russischen Quellen zufolge beispielsweise die Einwohner eines ganzen tschetschenischen Auls getötet haben, weil sie den Mord an einem seiner Stellvertreter nicht verhindert hatten. In der Folge kam es des Öfteren vor, dass tschetschenische Einheiten nicht eingriffen, wenn sich Russen und Dagestaner Scharmützel lieferten.
Schamil hatte zum Ende seiner Herrschaft eine Pyramide der Macht geschaffen, an deren Spitze er selbst als Imam stand. Er übte die oberste weltliche und geistliche Macht aus. Ihm zur Seite stand der Diwan, der Geheime Rat. Er bestand aus zwei engen Vertrauten, die den Imam in schwierigen Situationen berieten. »Das Gerippe des gesamten Verwaltungssystems waren die Naiben (Stellvertreter) des Imam.«13 Ihnen unterstanden ganze Gemeinschaften in den Bergen. Anfangs waren es lediglich vier, 1856 dann schon 33. Die Naiben übten ihre Verwaltungsfunktion und ihre Befehlsgewalt in den Aulen über die ihnen direkt unterstellten Dibiren und Masumen aus. Mit der Vergrößerung des Verwaltungsapparates führte Schamil Ende der 40er-Jahre den Posten eines Mudir ein, der mehrere Naiben kontrollierte.14
»Der Imam baute auch eine reguläre Armee nach modernem Muster auf, die über Artillerie und Genietruppen (Ingenieurtechnische Truppen – d. A.) verfügte. Kanonen wurden im eigenen Land gegossen, auch das Schießpulver stammte aus eigener Produktion.«15
Der russische General und Historiker Rostislaw Fadejew kam Ende des 19. Jahrhunderts nicht umhin, die Einmaligkeit der militärischen Leistungen Schamils zu würdigen: Die von ihm aufgebaute Gebirgsarmee, »die das russische Militärwesen um viele Aspekte bereicherte, war ein Phänomen von ganz und gar außergewöhnlicher Schlagkraft. Es handelte sich dabei um die stärkste Volksarmee, mit der sich der Zarismus je konfrontiert sah. Weder die Schweizer Eidgenossen, noch die Algerier, noch die Sikhs in Indien erreichten eine derartige Vollendung in der Militärkunst wie die Tschetschenen und Dagestaner.«16
Dank dieser militärischen, politischen und verwaltungstechnischen Leistungen konnte Schamil sich letztlich von 1843 bis 1859 gegen die russischen Angriffe zur Wehr setzen und die Eroberung des Kaukasus zunächst verhindern. In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts stand eine russische Armee von 40 000 Mann im Kaukasus. Zum Ende der Epoche Schamil waren es fast 80 000. Am Schluss, nachdem sein Versuch fehlgeschlagen war, bis Wladikawkas durchzubrechen und den Aufstand in den Zentralkaukasus zu tragen, jagten ihn die russischen Truppen wie einen Hasen. Nachdem General Jewdokimow die Orte Warandi und Schatoj erobert hatte, kündigten die Tschetschenen bis auf einen Stamm ihrem langjährigen Anführer die Gefolgschaft. Anfang 1859 nahm Jewdokimow den befestigten Ort Tausen ein, im April stürmte er Wedeno in Tschetschenien, das von Schamils Sohn verteidigt wurde. Schamil zog nach Dagestan. Dort musste er sich am 6. September in der Schlacht am Berg Gunip einer großen Übermacht ergeben.
Zar Alexander II. behandelte seinen Gegner, der in Russland über Jahrzehnte als Räuber und Bandit gegolten hatte, überraschend großmütig. Er »verbannte« ihn mit seiner gesamten Familie nach Kaluga, später nach Kiew. Von dort aus durfte Schamil 1871 eine Pilgerreise nach Medina antreten, wo er im selben Jahr 74-jährig starb. Der Widerstand im Nordkaukasus erlosch erst Jahre nach seiner Gefangennahme, flackerte aber später immer wieder auf und ist letztlich bis heute nicht überwunden.
Es ist bezeichnend für die Auffassung von Ruhm und Ehre im Kaukasus, dass Schamil, nachdem er in seine ehrenvolle Gefangenschaft geraten war, als Erstes einem Mann in Moskau seine Aufwartungen machte, der eigentlich sein Todfeind hätte sein sollen: General Alexej Jermolow hatte zwischen 1816 und 1827 versucht, die Bergvölker mit Terror zu unterwerfen. Ihm wird der Satz zugeschrieben: »Ich habe keine Ruhe, solange noch ein einziger Tschetschene am Leben ist!«
Alexej Petrowitsch Jermolow wurde am 24. Mai 1777 in Moskau geboren, wo er am 23. April 1861 auch starb. Dazwischen führte er ein an Höhen und Tiefen reiches Leben und hinterließ tiefe Spuren in der russischen Geschichte. Schon mit 15 Jahren trat er in die Armee des Zaren ein und machte schnell eine für seine jungen Jahre steile Karriere. Mit 20 Jahren war er Major, mit 21 Jahren Oberstleutnant.
War es Übermut oder tatsächliches Interesse an freiheitlichem Gedankengut? Wie auch immer, der junge Jermolow begann, sich in politischen Zirkeln zu bewegen, die mit der Französischen Republik sympathisierten, und schrieb satirische Gedichte auf Zar Paul I. Folgerichtig wurde er der Verschwörung beschuldigt und nach einer Haft in den Petersburger Kasematten nach Kostroma verbannt. Pflichtschuldigst dankt er Paul I. später für die »harte Lehre«, die seiner »stürmischen Natur« gutgetan habe.17
Als Alexander I. nach Pauls Tod den Thron bestieg, durfte Jermolow 1801 in den Militärdienst zurückkehren. 1808 wurde der entschlossene, intelligente Offizier Generalmajor. Seine große Zeit kam während des Vaterländischen Krieges gegen Napoleon, wo er sich mehrfach auszeichnete, allerdings auch wegen Insubordination strafversetzt wurde. Nachdem der Held von Borodino, General Kutusow, das Zeitliche gesegnet hatte, galt Jermolow als der herausragende russische Heerführer.
Mit seiner Ernennung zum Gouverneur von Georgien und zum Oberkommandierenden der Kaukasus-Truppen belohnte Zar Alexander I. 1816 einen treu ergebenen Offizier und schuf sich einen ambitionierten Aufsteiger vom Halse. Die Gerüchte, Jermolow werde der nächste Verteidigungsminister, verstummten notgedrungen. Nach einer Audienz beim Zaren, bei der von ihm nicht mehr und nicht weniger verlangt wurde, als den Kaukasus zu erobern, notierte er selbstgefällig: »Mit seinen Erklärungen machte mir der Herrscher klar, wie seine Meinung über Georgien war. Das hätte gereicht, um viele andere an meiner Stelle zu erschrecken, aber ich beschloss, an mich und an mein Glück zu glauben.«18
Weniger begeistert war Jermolow über die Tatsache, dass er gleichzeitig zum russischen Botschafter am Hofe des persischen Herrschers ernannt werden sollte. Das war ein Aufgabengebiet, auf dem er keinerlei Erfahrungen hatte. Zudem hatte er von der »Gerissenheit und dem intriganten Wesen der Perser« vernommen. Die Möglichkeit, er könnte von ihnen ausgetrickst werden, erfüllte den ehrgeizigen Offizier mit Sorge. »Nichts beleidigt die Eigenliebe so sehr, wie wenn man betrogen wird«, räumt er in seinen Aufzeichnungen ein.19
Kaum in Tbilissi angekommen, machte er sich sofort auf den Weg, um in Karabach, an der Grenze zu Persien, nach dem Rechten zu sehen. Russische Truppen hatten das Khanat Karabach erst 1805 erobert und den dort herrschenden Khan getötet, der angeblich sein Land für die Perser öffnen wollte. Jermolow, dem ein Besuch in Teheran bevorstand, überzeugte sich, dass die Grenzen gesichert waren. Anschließend verschaffte er sich einen Überblick über die Lage in Georgien, das zwar von Russland beherrscht wurde und nach und nach die russische Rechtsordnung übernahm, gleichzeitig aber noch in zahlreiche Khanate aufgeteilt war, in denen manchmal nur 20 000 Familien lebten. Diejenigen, die in der Nähe zur Türkei oder dem Iran lagen, neigten dazu, unter bestimmten Umständen schnell auch mal ihre Loyalität zu wechseln, wenn die Lage günstig schien.
Denn auch der Iran bereitete Sorgen. »Persien hörte trotz des mit uns geschlossenen Friedens nicht auf, allen für uns schädlichen Leuten Geld zu schicken«, beklagte sich der General. Das betreffe den in Dagestan ungebunden herrschenden Schah Ali Khan, aber auch den Sohn des georgischen Königs Irakli, Alexander. Dieser, »berühmt für seine Feigheit«, war nach Kachetien und weiter in die Berge zu den Lesginen geflohen, wo er auf eine Möglichkeit hoffte, den georgischen Thron wieder besteigen zu können.20
Und schließlich drohte im Nordkaukasus Ungemach. Die Kabardiner, so Jermolow, seien zwar zuletzt 1810 von General Bulgakow »bestraft« worden, eine Abordnung habe sogar St. Petersburg besucht und dort Geld und wertvolle Geschenke erhalten. Doch »Überfälle, Mord und Raub wurden nicht weniger«. Die schlimmsten Nordkaukasier, davon ist Jermolow überzeugt, sind die Tschetschenen, »die übelsten aller Räuber«. Das Volk sei an sich zahlenmäßig klein, habe sich aber in den letzten Jahren kräftig vermehrt. »Tschetschnja kann man mit Fug und Recht das Nest aller Räuber nennen«, schrieb Jermolow.21
Fast 200 Jahre später wird diese arrogante Beurteilung von den russischen Streitkräften in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts wiederholt – zur Rechtfertigung von zwei blutigen Kriegen, die mit ihrer Grausamkeit selbst General Jermolow beeindruckt hätten, der sich seinerseits vor allem in den Kämpfen mit den Tschetschenen durch eine brutale Kriegsführung hervorgetan hatte.
In seiner neuen Funktion als Statthalter des Zaren im Kaukasus legte er Alexander I. einen Plan vor, wie das Problem »Nordkaukasus« gelöst werden sollte. Sein Ziel: die Unterwerfung der Bergvölker und der Aufbau einer russischen Verwaltung. Der Zar stimmte zu, Jermolow machte sich ans Werk.