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DER AUTOR

© Stuart Daly

Stuart Daly hat bereits erfolgreich Jugendbücher veröffentlicht. Mit der Reihe »Animal Guardians« erscheint nun eine spannungsgeladene Fantasyserie für Kinder. Stuart Daly lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Sydney, wo er, wenn er gerade mal nicht schreibt, als Geschichtslehrer an einer privaten Highschool tätig ist.

Stuart Daly

Animal Guardians

Kampf in den Highlands

Aus dem Englischen
von Michael Koseler

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Deutsche Erstausgabe

Erstmals als cbj Taschenbuch November 2016

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder-

und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2014 by Stuart Daly

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Brotherhood of Thieves – The Highlanders« bei Random House Australia Pty Ltd.

Übersetzung: Michael Koseler

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft,

unter Verwendung einer Illustration von

Melanie Miklitza, Inkcraft

cr · Herstellung: UK

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18518-3
V001

www.cbj-verlag.de

Für Dave Hardy,

der mir gezeigt hat,

was wahre Freundschaft ist.

KAPITEL EINS

Die erste Prüfung

Roland machte die Tür hinter sich zu, rückte die Laterne an seinem Gürtel zurecht und stolzierte in die Mitte des Turms. »Das sieht ja nicht allzu schwierig aus«, stellte er fest.

»Was du wieder daherredest!« Kilt schnaubte verächtlich.

»Die Meister hätten uns diese Aufgabe nicht gestellt, wenn sie nicht annehmen würden, dass wir ihr gewachsen sind«, meinte Lachlan, der hinter Roland stand. »Allerdings müssen wir zusammenarbeiten, wenn wir sie bewältigen wollen.« Der Klang seiner Stimme störte ein paar Tauben auf, die im Gebälk nisteten. Sie flatterten um die Dachsparren herum, bis sie sich schließlich wieder niederließen. Lachlan warf Caspan einen Blick zu. »Fällt dir dazu was ein?«

Die Augen aller Rekruten richteten sich auf Caspan, der früher Mitglied der Schwarzen Hand, der berüchtigten Diebesgilde von Floran, gewesen war. Er gesellte sich zu seinen Freunden in der Mitte des Turms und seufzte. »Nun setzt mich mal nicht so unter Druck.«

Lachlan zuckte die Achseln. »Ich dachte nur, mit so was kennst du dich am besten aus.«

»Danke für diesen Vertrauensbeweis.« Caspan nahm den Turm, in dem die Prüfung stattfinden sollte, in Augenschein. In die hoch über ihnen aufragende Wand waren in regelmäßigen Abständen sechs Simse eingelassen, die um das runde Innere des Turms verliefen.

Auf den unteren zwei Simsen lagen allerlei Gegenstände – auf dem ersten Waffen und Rüstungen, auf dem zweiten Töpferwaren. Obwohl das Licht von Caspans Laterne bis zu den oberen Simsen reichte, vermochte er trotz seiner scharfen Augen nicht zu erkennen, was für Gegenstände sich dort befanden. Das würden die Rekruten erst erfahren, wenn die hölzerne Plattform, auf der sie standen, in die Höhe stieg. Dafür mussten sie einen Hebel betätigen, der im Parterre aus der Wand ragte. Anschließend würde die Plattform sich nach oben bewegen und an jedem Sims zehn Minuten haltmachen. Auf diese Weise würde der Test zu einem Wettlauf mit der Zeit werden. Unter den unzähligen Gegenständen auf den Simsen waren nämlich jeweils zwei echte Artefakte der Dray verborgen. Von diesen mussten die Rekruten mindestens fünf finden, bevor die Plattform den sechsten und letzten Sims erreichte.

Wie Meister Scott ihnen erklärt hatte, bestand die Möglichkeit, an jedem Sims weitere fünf Minuten herauszuschinden – vorausgesetzt, man drückte dort einen Hebel nieder. Das hörte sich zwar leicht an, war aber nur dann zu schaffen, wenn man ein Rätsel beziehungsweise eine Denksportaufgabe gelöst hatte.

Zwei Wochen waren vergangen, seit Caspan und Lachlan aus Darrowmere zurückgekehrt waren. Die Belagerung war nicht spurlos an Caspan vorbeigegangen. Tagsüber – wenn er trainierte – blieb ihm nur wenig Zeit, an die Roon zu denken. Doch in den stillen Momenten vor dem Einschlafen suchten ihn regelmäßig die Erinnerungen an das Geschehene heim und in seinen unruhigen Träumen tauchten immer wieder die bedrohlichen Gestalten der tätowierten Riesen auf.

Besonders eine dieser Gestalten kam ihm häufig in den Sinn – der Leibwächter, mit dem er auf dem Hügel vor Darrowmere gekämpft hatte. Als er den Riesen das letzte Mal gesehen hatte, war dieser vom Schlachtfeld abgeführt worden, um in das Verlies unterhalb des Bergfrieds gebracht zu werden. Das Verlies kannte Caspan gut, denn schließlich war er selbst dort von General Brett, dem Befehlshaber der Achten Legion, eingesperrt worden. Deshalb vermochte er sich in allen Einzelheiten vorzustellen, wie der Riese im Dunkeln saß, die Tage bis zu seiner Freilassung zählte und über den Kampf nachgrübelte, bei dem Caspan dem Befehlshaber der Roon seinen Dolch gegen die Kehle gedrückt und die Riesen gezwungen hatte, die Belagerung aufzuheben. Dieser Moment hatte sich – da war Caspan ganz sicher – dem Leibwächter unauslöschlich eingeprägt.

Nach ihrer Rückkehr aus Lochinbar, dem kleinsten der drei Herzogtümer Andalons, verlangten die Meister den Rekruten noch mehr ab als bisher. Vermutlich lag es daran, dass Caspan und seine Mitstreiter sich gut geschlagen hatten. Jedes Mal, wenn er daran dachte, wie sie den Norden vor dem Invasionsheer der Roon gerettet hatten, schwoll ihm vor Stolz das Herz. Doch jetzt wurde weit mehr von ihnen erwartet. Sie trainierten mit richtigen Schwertern und erkundeten fast jeden Tag alte Minen und Höhlen, um sich darauf vorzubereiten, in Gräber und Grabhügel der Dray einzudringen.

Caspan hielt den Erfolg ihrer Mission im Norden für einen ausreichenden Beweis dafür, dass die Rekruten bereit für die Suche nach magischen Relikten der Dray waren. Die Meister hingegen waren der Ansicht, dass ein qualifizierter Schatzsucher noch einiges mehr mitbringen musste. Gewiss, bei ihrer Suche nach Waffen und Artefakten der Dray würden sie sich möglicherweise mit Dieben und Briganten auseinandersetzen müssen, aber außerdem wäre es erforderlich, alte Inschriften zu entziffern, Fallen zu umgehen, Steilhänge zu erklimmen und Rätsel zu lösen. Während der Ausbildung hatten die Rekruten in diesen Disziplinen schon einiges Geschick bewiesen, doch jetzt wollten die Meister sehen, wie sie als Team zusammenarbeiteten, und vor allem, wie sie sich unter Druck verhielten.

Ihre dreimonatige Ausbildungszeit war zu Ende. Trotzdem würden sie erst dann mit einer Mission betraut werden, wenn sie zwei Prüfungen bestanden hatten, die die Meister der Bruderschaft sich ausgedacht hatten – und die erste dieser Aufgaben versuchten sie gerade zu bewältigen. Falls sie scheiterten, stand ihnen ein weiterer Ausbildungsmonat bevor. Danach durften sie die Prüfungen erneut angehen. Caspan und seine Freunde waren jedoch entschlossen, es gleich beim ersten Mal zu schaffen.

»Wir müssen die Plattform so lange wie möglich aufhalten«, verkündete er, während er die Turmwand inspizierte. Er hoffte, nach oben klettern und die Simse in Augenschein nehmen zu können, bevor sie die Plattform aktivierten. Doch die Sandsteinblöcke wiesen keinerlei Fugen oder Vorsprünge auf, an denen er sich hätte festhalten können.

»Irgendwas entdeckt?«, fragte Sara.

Caspan trat zurück und schüttelte den Kopf. »Wer will sich denn mit den Hebeln befassen?«

»Diejenige, die am besten Rätsel lösen kann«, schlug Roland vor und wies mit dem Kinn auf Sara. »Und das bist du.«

Die anderen nickten zustimmend. Saras Mangel an körperlichem Geschick – zum Beispiel beim Klettern und Fechten – wurde durch ihre Fertigkeit, die Alte Sprache der Dray zu lesen und Codes zu entschlüsseln, mehr als wettgemacht. Caspan warf ihr einen Blick zu. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sie sich nicht eines der verstaubten alten Bücher aus dem Archiv im Haus der flüsternden Stimmen unter den Arm geklemmt hatte. Sara war eine wandelnde Quelle des Wissens. In Situationen wie dieser war Caspan extrem dankbar, sie im Team zu haben.

»In Ordnung«, sagte sie. »Aber mindestens einer von euch muss mir helfen.«

Lachlan, dem Lesen und Schreiben große Schwierigkeiten bereiteten, schüttelte den Kopf. »Ohne mich.«

»Und auch ohne mich«, fügte Roland rasch hinzu.

Es überraschte Caspan keineswegs, dass Roland lieber nach den Relikten der Dray suchen wollte. Obwohl er Talent für alte Sprachen hatte, war er lieber in Aktion. Außerdem war er der Schnellste der Rekruten, eine Fertigkeit, die bei einem solchen Test hilfreich sein konnte. Falls die Zeit knapp wurde, hing möglicherweise alles davon ab, dass Roland die Simse entlangraste, um die gesuchten Gegenstände ausfindig zu machen.

Caspans Stärke hingegen lag in der Verstohlenheit, die er sich als Dieb angeeignet hatte. Außerdem besaß er eine rasche Auffassungsgabe, was beim Lösen von Rätseln nützlich war. Er hätte sich zwar gern an Lachlans und Rolands Suche nach den Relikten beteiligt, wusste aber, dass er der geeignetste Partner für Sara war. Schließlich hatten sie beide schon vor drei Monaten in Briston gut zusammengearbeitet, als sie gegen die besten Kadetten im Königreich angetreten und in die Bruderschaft aufgenommen worden waren. Seitdem hatten sie ihre Fähigkeiten noch besser aufeinander abgestimmt und die Stärken und Schwächen des anderen kennengelernt, was sie zu einem hervorragenden Gespann machte.

Caspan schaute zu Kilt hinüber, die zu den Simsen hochspähte und seinem Blick bewusst auswich. »Ich werde Sara helfen«, verkündete er schließlich.

Sara lächelte. »Danke.«

Roland legte den Kopf zurück und starrte nach oben. »Ein gemütlicher und entspannter Tag wird das heute jedenfalls nicht. Warum haben die Meister uns bloß keine andere Aufgabe gestellt? Zum Beispiel beim Hindernislauf. Oder – was noch besser wäre – beim Bogenschießen.«

Kilt zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht weil sie nicht wollten, dass du noch mehr Pfeile verschießt.« Roland tat so, als sei er überrascht. »Die Sonne kann man ja wohl nicht mit einem Pfeil treffen«, setzte sie seufzend hinzu.

Roland grinste und stieß Caspan an. »Dabei war ich mir sicher, dass ich es mit dem letzten Schuss schaffen würde«, flüsterte er. Er betastete seine Brust, wo normalerweise die Kette mit dem magischen Schlüssel hing, und verzog mürrisch das Gesicht. »Und unsere Hüter durften wir auch nicht mitnehmen. Was soll denn das alles?«

Caspan konnte Roland nur zustimmen. Er hätte sich wesentlich wohler gefühlt, wenn sein Drache Raureif bei ihm gewesen wäre. Die Wunde, die sein Hüter auf dem Weg nach Saint Justyn’s davongetragen hatte, war völlig verheilt, am Bauch war lediglich eine Narbe zurückgeblieben. Doch das Ganze war Caspan eine Warnung gewesen. Trotz seiner Größe und Stärke war Raureif nicht unverwundbar. Obwohl sein Körper mit stahlharten blauen Schuppen bedeckt war, waren die Schuppen am Bauch weich wie Leder und konnten leicht von einer Waffe durchdrungen werden. Deshalb war er, wenn er flog, besonders verletzlich. Und wie Caspan jetzt wusste, war es extrem riskant, in geringer Höhe über feindliche Soldaten hinwegzufliegen. Sie hatten Glück gehabt, dass auf ihrer Reise nach Norden niemand getötet worden war.

Caspan konzentrierte seine Gedanken wieder auf die Aufgabe, die vor ihnen lag, und ging zur Wand hinüber, um den dort eingelassenen Hebel zu betrachten. »Wir können uns nicht immer nur auf unsere Hüter verlassen«, murmelte er.

Roland nickte widerstrebend. »Trotzdem wäre es viel einfacher, zu den einzelnen Simsen hochzufliegen.«

Kilt musterte ihn von oben herab. »Deshalb heißt das Ganze ja Prüfung.« Sie sah die anderen an. »Kann’s losgehen?«

Caspan holte tief Luft, blies die Backen auf und stieß langsam den Atem aus. »Jederzeit.«

Mit hämmerndem Herzen drückte er den Hebel nach unten.

Von unten war ein lautes, knirschendes Geräusch zu vernehmen, das sich anhörte, als wäre ein großes Tier zum Leben erwacht. Der Boden unter ihnen vibrierte, und die Rekruten stellten sich breitbeinig hin, damit sie nicht die Balance verloren. Dann stieg die Plattform langsam in die Höhe.

Caspan trat zum Rand der Plattform und spähte zum ersten Sims hinauf, dem sie sich immer weiter näherten. Seine Handflächen waren feucht, und er spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern jagte. Er hatte schon vor vielen Jahren gelernt, nicht in Panik zu geraten, sondern seine Aufgeregtheit zu seinem Vorteil zu nutzen. Unter Druck konnte er am besten arbeiten. Damals in Floran hatte er sich manchmal ein Opfer ausgesucht, das schwierig zu bestehlen war – zum Beispiel jemand, der seine Geldbörse unter das Hemd gesteckt hatte, oder eine Frau, die von Verehrern umringt war und auf deren Halskette er es abgesehen hatte. Solche Herausforderungen liebte er. Je größer das Risiko, desto größer der Nervenkitzel. So etwas brachte ihn auf Trab und schärfte seine Sinne.

Roland, dessen Augen vor Aufregung funkelten, stellte sich neben ihn. »Gleich müssen wir zeigen, was wir können, mein Junge.«

Caspan grinste und nickte. Nachdem er sich die Hände an der Hose abgewischt hatte, starrte er gespannt auf den Sims, den sie jetzt fast erreicht hatten.

»Haltet euch bereit«, sagte er.

Die Plattform hielt an, und die Rekruten sprangen auf den Sims, wo auf kleinen Steinpodesten Dutzende von Rüstungsteilen, Schwertern, Helmen und Schilden lagen. Caspan warf nur einen flüchtigen Blick auf sie und konzentrierte sich stattdessen auf den Hebel in der Wand. Davor befand sich ein Sandsteinblock, in den oben drei große, konzentrische Metallringe eingelassen waren. In jeden Ring waren zwölf Zahlenreihen eingraviert. Über dem äußeren Ring war ein V in den Stein geritzt.

Sara sah sich die Zahlen genau an. »Das ist ein Kombinationsschloss. Wir müssen die Zahlen in die richtige Reihenfolge bringen und dann den Hebel nach unten drücken, um weitere fünf Minuten zu gewinnen.«

Caspan befeuchtete seine Lippen. »Und wofür stehen die Zahlen?«

»Genau das müssen wir herausfinden.« Sara untersuchte die Seite des Sandsteinblocks. »Vielleicht finden sich hier irgendwelche Hinweise oder Instruktionen.« Caspan half ihr beim Suchen, doch sie konnten nichts entdecken. Sara fluchte vor sich hin und wandte sich wieder den Zahlen zu. »Vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht liegt des Rätsels Lösung in diesen Zahlen.«

Caspan ging zur anderen Seite des Sandsteinblocks hinüber. »Befass du dich mit den Ringen. Ich such weiter nach einer Inschrift oder dergleichen.«

Kostbare Sekunden vergingen, bis Caspan endlich fündig wurde. Aufgeregt winkte er Sara zu sich, um ihr die runde Metallplatte zu zeigen, die hinter dem Block in die Wand eingelassen war. Nachdem er seine Laterne vom Gürtel gelöst und auf den Block gestellt hatte, wischte er mit der Hand über die Platte, um den Schmutz und die Spinnweben zu entfernen, die sich im Laufe der Jahrhunderte dort angesammelt hatten. In die Platte waren konzentrisch drei Kampfszenen eingraviert.

Sara kniete sich neben ihn. »Gut gemacht, Cas.« Gedankenversunken studierte sie die Platte einen Moment lang. Dann schüttelte sie seufzend den Kopf. »Fällt dir dazu was ein?«

Caspan hob die Hand, um ihr Schweigen zu gebieten. Nachdem sein Blick mehrmals über die Platte gewandert war, grinste er.

Saras Atem beschleunigte sich. »Hast du was rausgefunden?«

»Siehst du, dass die einzelnen Kampfszenen eine vertiefte Umrandung haben? Also ich glaube, die beziehen sich auf die Metallringe im Sandsteinblock. Die Szenen selbst sind sehr detailreich. Vielleicht sind damit tatsächliche, historische Schlachten gemeint.« Er erhob sich und führte Sara zu den Metallringen. »Möglicherweise müssen wir das Jahr, in dem jede dieser Schlachten stattfand, herausfinden und anschließend mit den Ringen die entsprechenden Daten einstellen.«

Sara schnippte mit den Fingern und zeigte auf die im äußeren Kreis dargestellte Szene. Dort waren Krieger zu sehen, die mit Äxten und Breitschwertern bewaffnet waren und Brustpanzer oder Kettenhemden sowie kegelförmige Helme mit Nasenschutz trugen. Außerdem waren sie mit Schilden ausgestattet, die unten spitz zuliefen.

»Diese Krieger sehen aus wie die im Cardington-Mosaik«, sagte Sara. Als Caspan sie verständnislos anblickte, fuhr sie fort: »Das ist das berühmteste Mosaik in der Geschichte Andalons. Ich hab es mal gesehen, als ich mit meinem Vater in der Cardington-Bibliothek war. Es ist über zehn Meter lang und schildert in chronologischer Reihenfolge Elric MacDains Sieg in der Schlacht von Morton Spike. Nach diesem Sieg ließ er sich zum König von Andalon krönen.«

Caspan nickte. »Du hast recht.« Er zeigte auf die Platte. »Hier ist der Tod von Ulther Bloodcrest dargestellt.« Obwohl er nicht viel über die Schlacht wusste, war ihm bekannt, dass Elrics Widersacher Ulther Bloodcrest bei einer Kavallerieattacke gegen die feindlichen Linien vom Pferd gefallen und tragischerweise totgetrampelt worden war.

»Stimmt.« Sara schlug ihm anerkennend auf die Schulter. Dann studierte sie die Zahlen auf dem äußeren Ring. »Die Schlacht von Morton Spike fand vor über dreihundert Jahren statt, und zwar 896.« Sie tippte mit dem Finger auf das entsprechende Datum. »Da haben wir’s!« Als sie Caspan ansah, funkelten ihre Augen vor Stolz. »Wir sind kein schlechtes Team, was?«

Er lächelte sie an. »Kann man wohl sagen.«

Caspan war froh, Sara an seiner Seite zu haben. Er hatte in seiner Kindheit nicht viel gelernt – abgesehen davon, wie man stahl. Bevor er in die Bruderschaft aufgenommen worden war, hatte er kein einziges Geschichtsbuch gelesen. Er konnte von Glück sagen, dass seine Mutter ihm Lesen und Schreiben beigebracht hatte, doch damit erschöpfte sich seine Bildung auch schon.

Sara drehte den Ring, bis das richtige Datum an Ort und Stelle war. Dann betrachtete sie die anderen zwei Kampfszenen auf der Platte. »Und jetzt zur nächsten.«

»Wie läuft’s?«, rief Roland ihnen zu.

Ohne den Blick von der Platte abzuwenden, erwiderte Caspan: »Wir haben herausgefunden, was wir zu tun haben. Dürfte nicht mehr lange dauern. Wie steht’s bei euch?«

»Vermutlich haben wir einen der Gegenstände gefunden. Kilt überprüft ihn gerade gründlich. Trotzdem wäre es großartig, wenn ihr uns ein bisschen zusätzliche Zeit verschaffen könntet.«

Von dieser erfreulichen Nachricht angespornt, konzentrierten sich Caspan und Sara auf die zweite Kampfszene, die zeigte, wie ein einzelner Krieger eine Brücke gegen Dutzende von Angreifern verteidigte. Der Krieger war um einiges größer als seine Feinde. Seinem karierten Kilt nach zu urteilen handelte es sich um einen Hochländer aus Caledon. Dafür sprachen auch das über eine Schulter drapierte Tuch und der Zweihänder mit der charakteristischen, nach unten gebogenen Parierstange. Zu seinen Füßen lagen zahlreiche Tote.

»Das ist eindeutig William Craigroys letzter Kampf an der Kilmarden Bridge«, meinte Sara. »Das war 855.«

»Bist du sicher?«

Sara grinste. »Klar. Ich habe schließlich meine ganze Kindheit damit verbracht, im Arbeitszimmer meines Vaters Schlachtbeschreibungen zu lesen.«

Sie drehte den mittleren Ring, bis das korrekte Datum eingestellt war. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit der letzten Szene auf der Platte zu, der Darstellung einer großen Reiterschlacht auf einem zugefrorenen See. An einigen Stellen hatte das Eis nachgegeben, und schwer gepanzerte Ritter in Wappenröcken fielen mitsamt ihren Schilden und Bannern, auf denen Kreuze zu sehen waren, in das eiskalte Wasser.

»Das ist der Orden der Weißen Wölfe«, erklärte Caspan, der das heraldische Symbol auf den Bannern wiedererkannte. Es freute ihn, dass er auch etwas beisteuern konnte.

Sara nickte. »Das war der berühmteste Ritterorden in Saxstein, der versuchte, nach Osten, das heißt nach Vorsklagov, vorzudringen, 971 aber in der Schlacht auf dem Sevastagrad-See vernichtend geschlagen wurde.« Sie zeigte auf den letzten Ring. »Diese Ehre gebührt dir.«

Nachdem Caspan das Datum eingestellt hatte, zog er rasch den Hebel nach unten. Ein knirschendes Geräusch war zu hören und ein leichtes Beben ging durch die Plattform.

Sara starrte unsicher auf den Holzboden. »Haben wir’s geschafft?«

Caspan zuckte die Achseln. »Das hoffe ich. Aber genau wissen wir es erst dann, wenn die Plattform tatsächlich noch ein paar Minuten an Ort und Stelle bleibt. Komm, lass uns den anderen helfen.« Er befestigte die Laterne wieder an seinem Gürtel und eilte zusammen mit Sara zu Lachlan, Kilt und Roland hinüber, die gerade ein Schwert und einen Helm untersuchten.

Die nächsten sechs Minuten verbrachte das Team damit, diese beiden Gegenstände eingehend zu prüfen, bis schließlich alle davon überzeugt waren, dass es sich um echte Dray-Stücke handelte. Als die Plattform sich wieder in Bewegung setzte, stellten die Rekruten sich am Rand auf, um den nächsten Sims in Angriff zu nehmen.

Caspan war mehr als zufrieden mit ihrem bisherigen Erfolg. Vier Simse mussten sie noch erkunden, auf denen sich insgesamt acht Gegenstände der Dray befanden. Nur noch drei davon mussten sie finden. Sie würden die Prüfung bestehen, da war er sich ganz sicher.

KAPITEL ZWEI

Rätsel und Fehler

Caspan hatte sich gewaltig geirrt.

Nicht nur, dass es ihm und Sara nicht gelang, bei den nächsten drei Simsen die Hebel nach unten zu drücken – auch die anderen versagten und entdeckten lediglich einen weiteren Gegenstand der Dray.

Folglich war ihre Lage jetzt mehr als misslich. Wenn sie es nicht schafften, auf dem letzten Sims noch zwei Objekte zu finden, würden sie die Prüfung nicht bestehen. Das hieße mindestens ein zusätzlicher Ausbildungsmonat, bevor man ihnen erlaubte, Begräbnisstätten der Dray zu erkunden.

Caspan biss entschlossen die Zähne zusammen, als die Plattform auf den fünften Sims zuhielt. Rechts von ihm sprang Roland vor lauter Anspannung auf und ab, während die anderen drei in der Mitte der Plattform warteten und einer besorgter dreinblickte als der andere. Besonders Sara schien die Situation fertigzumachen. Sie kaute auf ihren Fingernägeln herum und murmelte ständig etwas vor sich hin.

Roland lächelte sie ermunternd an. »Warum schaust du denn so bedrückt? Wir schaffen das. Das weiß ich.«

Sara schüttelte den Kopf. »Hoffen wir’s.«

»Hey, als ob wir scheitern könnten, wenn ich im Team bin. Die Prüfung ist schon so gut wie bestanden.« Roland zwinkerte ihr zu.

Kilt warf ihm einen irritierten Blick zu. »Nun hör doch endlich auf. Das Ganze ist auch ohne dein Gerede schon nervenraufreibend genug.«

»Ich versuche ja nur, den Kampfgeist zu stärken, meine liebe Kilt.«

»Dann tu das doch bitte, ohne dein Plappermaul aufzumachen. Wir anderen versuchen nämlich, uns zu konzentrieren.«

»Wem sagst du das? Schließlich habe ich das Handbuch Wie konzentriere ich mich richtig? geschrieben«, verkündete Roland, während er sich Caspan zudrehte.

»Na prima«, erwiderte Caspan, der nur halb zugehört hatte. Er fühlte sich für ihr Versagen auf dem vorhergehenden Sims verantwortlich. Während Sara innerhalb von wenigen Minuten die Inschrift unterhalb des Hebels übersetzt hatte, war es ihm nicht gelungen, das Rätsel zu entschlüsseln. Das hatte ihn so gewurmt, dass er jetzt fest entschlossen war, alles wiedergutzumachen.

Nachdem die Plattform angehalten hatte, sprangen die Freunde auf den Sims. Roland, Lachlan und Kilt machten sich eilig daran, die zahlreichen Schriftrollen und Pergamente durchzusehen, die auf den Podesten längs der Wand lagen, und Caspan und Sara rasten zum Hebel hinüber. In den großen Steinblock davor waren drei faustgroße tiefe Löcher gebohrt worden und über diesen Löchern war eine Inschrift in den Stein geritzt, in einer Sprache, die Caspan nicht kannte.

Sara studierte die Inschrift. Caspan sah ihr hoffnungsvoll zu und beobachtete, wie sich ihre Lippen beim Übersetzen des Textes bewegten.

»Das ist Altsaxsteinisch. Es bedeutet: Folgt dem Weg des dritten Königssohns.« Nachdem sie einen Moment lang auf den Text gestarrt hatte, schüttelte sie verwirrt den Kopf und drehte sich Caspan zu. »Weißt du, was das heißen soll?«

Caspan holte tief Luft und betrachtete sowohl die Inschrift als auch die Löcher. Er streckte die Hand aus und wischte den Schmutz weg, der sich über dem rechten Loch angesammelt hatte. Dabei kam ein kleiner, in den Stein gemeißelter Bär zum Vorschein.

»Die Tatsache, dass die Inschrift in Altsaxsteinisch abgefasst wurde, deutet darauf hin, dass das Rätsel sich auf ein Ereignis in der Geschichte Saxsteins bezieht«, sagte er. »Ich weiß zwar nicht viel über dieses Königreich, aber ich bin sicher, dass der Bär das Wappentier der saxsteinischen Königsfamilie ist.«

Sara nickte begeistert. »Du hast recht.« Sie konzentrierte sich wieder auf die Inschrift. »Dann brauchen wir also nur herauszufinden, wer der dritte Königssohn ist.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und starrte gedankenversunken vor sich hin.

»Was leichter gesagt als getan ist«, murmelte Caspan frustriert.

Über die Herrscher von Saxstein, einem der großen Königreiche jenseits des Kanals, wusste er noch weniger als über die Könige von Andalon. Das Einzige, was er wusste, war, dass Saxstein in den letzten dreihundert Jahren mehrmals versucht hatte, Andalon zu erobern, jedoch jedes Mal gescheitert war. Da das Heer Andalons damit beschäftigt war, im Norden gegen die Roon zu kämpfen, befürchtete man, die Saxsteiner könnten die Gelegenheit nutzen und über die südlichen Hafenstädte erneut ins Land einfallen. Aus diesem Grund war eine von König Rhys’ Legionen, die berühmte Erste, an der Südküste des Landes stationiert.

Sara trat von dem Steinblock weg und ging leise vor sich hinmurmelnd auf und ab. Plötzlich blieb sie stehen und eilte zu Caspan zurück.

Sie packte die Ränder des Steinblocks und beugte sich über die Inschrift. »Das muss sich auf die drei Söhne von König Albrecht, dem ersten Herrscher Saxsteins, beziehen. Albrecht war derjenige, der die einzelnen Fürstentümer Saxsteins erstmals zu einem Reich vereinigte. Doch dieses Reich hatte nicht lange Bestand. Nach seinem Tod ging die Krone auf seinen ältesten Sohn über, gegen den der zweitälteste Sohn jedoch rebellierte. Keine zehn Jahre nach Albrechts Tod brach das Reich auseinander.«

»Und was war mit dem dritten Sohn?«, fragte Caspan. »Hat er sich einem seiner Brüder angeschlossen oder ist er neutral geblieben?«

Sara stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Das weiß ich nicht. Aber inwiefern könnte das von Bedeutung sein?«

»Vielleicht stellen die Löcher die unterschiedlichen Wege dar, die dem dritten Sohn während des Bürgerkriegs zur Wahl standen.« Caspan tippte mit dem Finger auf den Bären oberhalb des rechten Lochs. »Das ist das Symbol des legitimen Herrschers und könnte für den Weg stehen, den der älteste Bruder, der Erbe von Albrechts Reich, eingeschlagen hat.« Er zeigte auf das linke Loch. »Das hier würde dann den Weg der Rebellion darstellen, dem der zweitälteste Sohn gefolgt ist.«

Sara nickte. »Was hieße, dass das mittlere Loch für den Weg der Neutralität steht.« Sie lächelte Caspan an. »Ich glaube, du hast das Rätsel gelöst.«

»Juble nicht zu früh, sondern versuch, dich zu erinnern, wie der jüngste Sohn sich im Bürgerkrieg verhalten hat«, entgegnete Caspan. »Überleg mal, ob es vielleicht eine Schlacht gab, an der er teilnahm, oder einen Vertrag, den er aushandelte.«

Saras Lächeln verflüchtigte sich und sie wurde nervös. »Ich werd’s versuchen, aber dazu brauche ich mehr Zeit.«

Caspan trat zur Seite, damit Sara sich nicht bedrängt fühlte und einen Fehler machte. Er blickte zu den anderen hinüber, um festzustellen, wie sie vorankamen. In die Mitte der Plattform hatten sie ein Pergament zu den drei Gegenständen gelegt, die sie auf den unteren Simsen entdeckt hatten. Das hieß, dass sie jetzt nur noch ein Objekt finden mussten und dem erfolgreichen Abschluss der ersten Prüfung nahe waren.

Er wartete, bis eine Minute vergangen war. Dann gesellte er sich wieder zu Sara. »Hast du was rausgefunden?«

Sie nickte. »Das Wort Vertrag, das du eben benutzt hast, muss eine Erinnerung bei mir ausgelöst haben. Wenn ich mich recht entsinne, wurde der dritte Sohn vom ältesten Bruder nach Muskograd geschickt, um mit Vorsklagov ein Bündnis zu schließen. Doch er kam nie in Muskograd an, weil er unterwegs ermordet wurde.«

»Dann ist er seinem ältesten Bruder also treu geblieben – das heißt dem rechtmäßigen König von Saxstein?«

Sara nickte und steckte den Arm in das rechte Loch. Ganz unten stieß sie auf einen kleinen Metallhebel, den sie zur Seite drückte. Im Gegensatz zu vorhin, als es ihnen auf dem ersten Sims gelungen war, die Plattform aufzuhalten, war kein knirschendes Geräusch zu hören. Nichts wies darauf hin, dass irgendein Sperrmechanismus ausgelöst worden war. Sara trat zurück. Ihrem Gesicht nach zu urteilen kamen ihr gerade Zweifel.

Caspans Magen krampfte sich zusammen. Dieser Gesichtsausdruck gefiel ihm ganz und gar nicht. »Was ist?«

Sara fluchte leise vor sich hin und trat wütend gegen den Steinblock. »Der dritte Sohn wurde tatsächlich unterwegs ermordet, jedoch auf Geheiß des ältesten Bruders, der erfahren hatte, dass sein jüngster Bruder ihn verraten wollte. Mit anderen Worten: Ich hätte in das linke Loch greifen müssen.« Mit zitternden Lippen drehte sie sich Caspan zu. Sie schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Das tut mir so leid.«

Er packte sie bei den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Wir haben unser Möglichstes getan und werden nicht aufgeben. Lass uns zu den anderen gehen und ihnen helfen, den letzten Gegenstand zu finden.«

Sara nickte entschlossen und eilte Caspan hinterher. Caspan wusste nicht, wie viel Zeit ihnen noch blieb, aber viel konnte es nicht mehr sein – vielleicht weniger als eine Minute –, bis die Plattform sich wieder in Bewegung setzte und das Ende der Prüfung anzeigte.

Verzweifelt stöberten die fünf Rekruten gemeinsam in den Schriftrollen und Pergamenten herum, schafften es aber nicht, fündig zu werden.

Frustriert trat Kilt so heftig gegen ein Podest, dass es umkippte. »Was sind wir doch für tolle Diebe!«

Lachlan warf ihr einen finsteren Blick zu. »Wutanfälle bringen uns auch nicht weiter. Geh lieber zu Roland und hilf ihm.«

»Nicht nötig«, verkündete Roland mit triumphierender Stimme und hielt eine Schriftrolle in die Höhe. »Ich hab’s gefunden, da bin ich mir ganz sicher. Bin gespannt, ob Morgan das glücklich macht. Obwohl sein Gesicht ja schon bei der Andeutung eines Lächelns aus den Fugen geraten würde.«

Caspan setzte an, den schwarzhaarigen Spaßvogel für seine Entdeckung zu loben, doch in dem Moment stieg die Plattform wieder in die Höhe. Die Freunde versammelten sich in der Mitte. Als sie sich dem letzten Sims näherten, bekamen sie den Schock ihres Lebens, denn dort standen Meister Scott und Meister Morgan und betrachteten sie von oben. Die beiden Männer waren in ihre schwarzen Umhänge gehüllt, sodass man sie im Dunkeln nicht sehen konnte. Als die Plattform ihr Ziel erreichte, schlug Scott die Kapuze seines Umhangs zurück und hieß die Rekruten mit einem Lächeln willkommen.

Roland blickte die zwei betreten an. »Sind Sie die ganze Zeit hier gewesen?«

Morgan schlug ebenfalls seine Kapuze zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Mundwinkel zuckten irritiert. »Wir haben alles gesehen, was ihr gemacht habt, und …« Er machte eine Pause und schaute Roland durchdringend an. »… gehört, was ihr gesagt habt.«

Caspan war sicher, dass Roland sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte. Der schwarzhaarige Junge senkte verlegen den Blick und murmelte etwas vor sich hin.

Kilt starrte die Meister erwartungsvoll an. »Spannen Sie uns doch bitte nicht länger auf die Folter!«

Erst da wandte Morgan den Blick von Roland ab. »Ihr habt gut als Team zusammengearbeitet. Mir hat gefallen, wie ihr die Rollen entsprechend eurer Stärken und Schwächen verteilt habt. Die Prüfung war schwierig, und wir haben von vornherein nicht damit gerechnet, dass es euch gelingen würde, die Plattform bei jedem Sims aufzuhalten.«

Das erleichterte Caspan ungemein, denn er hatte befürchtet, dass man ihn persönlich verantwortlich machen würde, weil er auf dem vierten Sims das Rätsel nicht gelöst hatte.

»Mit dieser Prüfung wollten wir herausfinden, wie gut ihr unter Druck arbeitet.« Der Meister sah die Freunde nacheinander an. Als sein Blick auf Roland fiel, verzog er genervt den Mund. »Und ihr habt euch hervorragend bewährt.«

Die Rekruten strahlten. Morgan verteilte so oft Lob, wie ein Straßenjunge badete.

Scott hob mahnend den Finger und musterte Kilt. »Obwohl ich davon abraten würde, gegen Podeste zu treten, bis sie umkippen. Eure Arbeit ist so gefährlich, dass ihr die ganze Zeit einen kühlen Kopf behalten müsst. Wenn ihr unter Druck ausrastet, könnte jemand zu Schaden kommen.«

Kilt senkte den Blick. »Ja, Sir.«

Sara zeigte auf die fünf Gegenstände, die sie zusammengetragen hatten. »Aber haben wir denn bestanden?«

Das war die Frage, die allen Rekruten unter den Nägeln brannte. Mit klopfenden Herzen warteten sie auf die Antwort der Meister. Sie wollten auf keinen Fall hören, dass sie durchgefallen waren und ihnen ein weiterer Ausbildungsmonat bevorstand.

Scott betrachtete eingehend seine Fingernägel. Dann gähnte er und tat so, als würde er sich erst jetzt wieder an die Rekruten erinnern. Er blickte überrascht drein. »Wie?«

Kilt stieß aufgebracht die Luft aus. »Die Prüfung

Der Meister unterdrückte ein Grinsen. »Oh, natürlich. Wie dumm von mir.« Um die Spannung noch ein wenig zu steigern, zupfte er erst mal seinen Umhang zurecht. »Wie Meister Morgan schon gesagt hat, haben wir alles, was ihr gemacht habt, gesehen. Und das da …« Er deutete mit dem Kinn auf die Objekte, die die Freunde entdeckt hatten. »… sind in der Tat fünf Artefakte der Dray.« Freundlich lächelnd kam er auf die Plattform, um jedem der Rekruten die Hand zu schütteln. »Gratuliere. Ihr habt die erste Prüfung bestanden.«

Die Freunde brachen in lautes Gejohle aus und umarmten einander. Morgan wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Dann betätigte er einen in die Wand eingelassenen Hebel, und die Plattform setzte sich nach unten in Bewegung. Als sie im Parterre angelangt waren, verkündete Scott: »In Anbetracht der Tatsache, dass morgen die letzte Prüfung ansteht, findet heute Nachmittag kein Training statt. Nutzt die Zeit, um euch auf den Abschlusstest vorzubereiten.«

Roland zog erwartungsvoll eine Augenbraue hoch und stieß den Meister mit dem Ellbogen an. »Können Sie uns vielleicht einen Tipp geben?«

»Nein«, schaltete Morgan sich ein, bevor Scott etwas erwidern konnte. »Und bild dir bloß nicht ein, dass du ungeschoren davonkommst«, sagte Morgan mit grimmigem Gesichtsausdruck zu Roland. »Finde dich in einer Stunde auf der Wiese ein.«

Rolands Schultern sackten nach unten. »Ja, Sir.«

»Oh, und vergiss nicht, dir bequeme Schuhe anzuziehen.« Eines seiner seltenen Lächeln spielte um Morgans Mund, als er die Plattform verließ und zur Tür des Turms ging. »Ich möchte nicht, dass du Blasen bekommst, wenn du deine Runden drehst.«