Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt

Die niederländische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Boy bei Uitgeverij Prometheus in Amsterdam.

Der Verlag dankt der Dutch Foundation for Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

E-Book-Ausgabe 2016

Deutsche Erstausgabe

© 2013 Wytske Versteeg

© 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 /​ 41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

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ISBN: 978 3 8031 4200 9

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN: 978 3 8031 2755 6

www.wagenbach.de

EINS

»Die Leiche kommt immer wieder hoch«, sagte die Frau. »Die Leute denken nur, man kann einfach verschwinden.«

Sie hieß Joke und trug dunkellila Schlabberkleider. Ich hatte sie in letzter Zeit eindeutig zu oft zu Besuch gehabt; Polizisten schickt man nicht fort, man bietet ihnen Kaffee an. Wenn sie öfter kommen, als einem lieb ist, lässt man sich nichts anmerken, so anstrengend das auch sein mag – sie sind schließlich die Einzigen, die einem noch helfen können. Man besorgt Apfelkuchen, als ob das irgendetwas bringen würde, als ob sie wegen dieses Stücks Kuchen länger und gründlicher suchen würden. Man empfängt sie mit gut gespielter Herzlichkeit. Aber dafür war es jetzt zu spät, das sah ich ihnen bereits an, als ich die Tür aufmachte. Trotzdem ließ ich sie herein. Es gibt Verhaltensmaßregeln für solche Situationen, das hatten sie bestimmt geübt.

Ihre Stimme klang irgendwie falsch.

Sie waren gekommen, um den Satz zu sagen, den ich nicht hören wollte. Eigentlich hätte ich mir jetzt die Ohren zuhalten und laut singen, ein Geräusch machen müssen, egal welches, Hauptsache laut genug, um ihre Nachricht zu übertönen, sie rückgängig zu machen.

»Sie denken, ›ich mach Schluss, und das war’s dann‹. Aber die Leiche kommt immer wieder hoch.«

»Es tut uns wahnsinnig leid, Mevrouw«, wurde sie von ihrem Kollegen unterbrochen. Er hieß Walter und hatte die Angewohnheit, die Daumen in den Bund seiner Jeans einzuhaken: wie ein Cowboy in einem schlechten Film. Ich fragte mich, ob er häufig Krimis sah und ihnen nacheiferte, denn er hatte etwas Grimmiges an sich, das gar nicht zu ihm passen wollte.

Ich bot ihnen was zu trinken an, aber sie lehnten höflich ab. Trotzdem stand ich auf und machte ihnen einen Tee. Sie bedankten sich, rührten ihre Becher dann aber nicht an.

Sie hatten seinen Namen nach wie vor nicht genannt, es konnte sich immer noch um jemand anders handeln, um eine andere Leiche. Sie fragten, ob ich Mark anrufen wolle, und ich sagte, der sei gerade in Nairobi. »Da hat er geschäftlich häufiger zu tun.«

Das interessierte sie nicht, aber ich wollte das Gespräch in Gang halten, wollte über alles reden – nur nicht darüber. Ich erzählte, dass Mark wahrscheinlich genau in diesem Moment auf dem Rückflug sei, dass man ihn nicht erreichen könne.

Ob es sonst noch jemanden gäbe. Oder ob sie jemanden zum Flughafen schicken sollten. Jokes Stimme war inzwischen voller Mitleid.

»Ich schaff das schon«, sagte ich. »Danke.«

Ich weigerte mich, so zu tun, als hätte es die letzten Monate nicht gegeben. Walter räusperte sich. »Jetzt ist das unvorstellbar, aber in der Regel ist es besser so: Besser man weiß, dass jemand tot ist, als dass er vermisst bleibt.«

»Er heißt Boy«, sagte ich.

»Wenn man weiß, dass jemand tot ist, kann man irgendwann damit abschließen. Natürlich nie ganz, aber man kommt gewissermaßen zur Ruhe, das ständige Hoffen fällt weg.«

»Das Leben geht weiter«, sagte ich sarkastisch, und jetzt war es die Frau, die ihn unterbrach, mir viel Kraft wünschte und sagte, ich könne sie jederzeit anrufen.

Ich begleitete sie zur Tür. Erst nachdem ich sie ruhig und beherrscht geschlossen hatte, ließ ich mich zu Boden gleiten und stemmte mich mit angezogenen Knien und um den Oberkörper geschlungenen Armen dagegen, so als könnte ich die Katastrophe jetzt noch abwenden.

Die Toten kommen immer wieder hoch, und vielleicht fertigen wir deshalb Grabsteine aus glänzendem, aber schwerem Marmor für sie an, Türen, die nie mehr geöffnet zu werden brauchen. Rituale gibt es schließlich nicht umsonst: Dass wir die Toten zurechtmachen, damit sie so aussehen wie vorher. Dass wir ihnen die Wangen rot malen und sie in ihre besten Kleider stecken. Dass wir Karten schreiben und sie allen schicken, um den Tod zu verkünden. Wir bitten alle, die uns nahestehen, für uns da zu sein, wenn der Sarg in die Erde gelassen und unseren Blicken entzogen wird. Uns beizustehen, wenn wir Abschied nehmen. Egal, wie fern uns der Tote ist, egal, wie alt er war: Wir erkennen uns in ihm wieder, begreifen, dass auch unsere Zeit bald abgelaufen ist. Und deshalb lachen wir zu laut und bestellen schon vorher Kaffee und Kuchen, denn solange wir essen, leben wir. Aber wenn ein Kind stirbt, will niemand etwas essen, dann machen sich die Trauergäste nach der Zeremonie so schnell wie möglich aus dem Staub, und niemand wagt zu sagen, wie friedlich es doch daliegt.

Nicht, dass es sich so abgespielt hat: Boy ist in einem geschlossenen Sarg beerdigt worden. Schließlich ist er zu lang vermisst gewesen.

Ich hatte gefragt, ob ich ihn sehen darf, denn auf einmal war das mein sehnlichster Wunsch.

Die Frau räusperte sich. »Sie müssen verstehen, dass die Zeit …« – ich war schon dabei, meine Jacke anzuziehen – »… dass die Zeit, die Boy im Wasser gelegen hat … Dass so eine lange Zeit bei unserem Klima … Dass es ihn nicht mehr gibt. Nicht so, wie Sie ihn gekannt haben.«

Dass er keine Haut mehr hatte, meinte sie wohl, beziehungsweise nicht so wie wir. Keine Haut, keine Muskeln, kein Fett, kein Gesicht.

Die angespülte Leiche meines Sohnes ist von einem zufällig vorbeikommenden Spaziergänger und dessen Hund entdeckt worden. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie sich das genau abgespielt hat, ob es eine Frau war, die ihn gefunden hat, und was das für ein Hund war. Wie sie dort beide gestanden haben und im Sand eingesunken sind. Ich stelle mir eine kleine dicke Frau vor, mit grauen Haaren und einem Dufflecoat, denn es war kalt am Meer. In meiner Vorstellung ist ihr Hund nicht so ein Kläffer, der mit dem Knochen abhaut, sondern ein Schäferhund oder so. Ein treues Tier, das neben Boy stehengeblieben ist und sein Frauchen bellend alarmiert hat. Ich stelle mir vor, dass sie ihren breiten Schal abgenommen und Boy damit zugedeckt hat, bevor sie die Polizei rief. Ich hoffe, dass sie nicht abrupt zurückgewichen ist, was man wahrscheinlich tut, wenn man eine Leiche findet. (Eines dieser Worte, die man nicht in den Mund nehmen will, das alle, einschließlich des Bestatters, sorgfältig vermeiden, bis einem ganz schlecht wird von den Euphemismen – davon wie einen alle schonen wollen. Dabei hat man jetzt einen rabenschwarzen Humor, den niemand versteht, weil keiner begreift, dass es gar nicht anders geht.)

An dem Tag, an dem Boy nicht nach Hause gekommen ist, habe ich mir keine Sorgen gemacht. Ich hatte keinerlei Vorahnung, habe nicht gespürt, dass irgendwas nicht stimmt. Vielleicht habe ich noch vor mich hin gepfiffen, als er schon längst tot war. Vielleicht dachte ich an unsere Pläne fürs Wochenende oder für die darauffolgende Woche, an meine durchgetakteten Termine und den bevorstehenden Urlaub.

Wann habe ich zum ersten Mal auf die Uhr gesehen?

Ich hatte meine Termine. Ich hörte den Patienten zu, die ihr Leben vor mir ausbreiteten und hofften, dass ich sie mit einer Pille heilen kann. Ich machte sie auf ihre Eigenverantwortung aufmerksam. Ich begrüßte sie mit einem festen Händedruck, wenn sie mit der Angst hereinkamen, mir in die Augen zu schauen. Ich legte Wärme in meine Stimme, wofür sie dankbar waren. Sie wussten, dass meine Zeit kostbar war, und schauten zu mir auf, glaubten, ich hätte eine Macht, die sie nicht haben, oder zumindest Medikamente. Ich erklärte ihnen, dass sie ihre Gedanken beeinflussen können. Einer nach dem anderen zählte mir seine Beschwerden auf: die Schlaflosigkeit, die zuckenden Beine, die düsteren Gedanken, die einfach nicht weichen wollen. Ich stellte Rezepte aus und las Patientenakten, während das Wasser vermutlich schon an meinem Kind zerrte. Ich wählte die Nummer einer Versicherung, aber keine Notrufnummer. Und ich holte keine Hilfe.

Ich will sie wachrütteln, die Frau, die ich einmal gewesen bin. Ich will ihr sagen, dass sie ans Meer muss, jetzt sofort, und dass es fast zu spät ist. Sie hört mich nicht. Sie sitzt zwischen Rigipswänden und hört sich das Gejammer Wildfremder an, die ihr nicht das Geringste bedeuten. Vielleicht lag es doch an der fehlenden Blutsverwandtschaft. Vielleicht ist er ihrem Körper fremdgeblieben, war letztlich doch ein Kuckuckskind.

Dass ich diese Frau bin, ist mir unbegreiflich.

Zunächst dachte die Polizei, er sei ausgerissen und werde von alleine wieder auftauchen. Deshalb suchte ich auf eigene Faust nach ihm, hängte Zettel auf und fuhr stundenlang durch die Stadt. Hielt bei jedem Jungen, der ihm auch nur entfernt ähnlich sah, bei jedem, der seine Statur hatte. Nachdem ich eine Ewigkeit so nach ihm gesucht hatte, begann ich die Leute zu verdächtigen, sie hätten meinen Boy verschluckt, sein Lachen oder seinen Gang gestohlen, ihn sich gewissermaßen einverleibt. Nur seine Stimme, die hörte ich nie. Das war keine Suche, die ich allein bewältigen konnte. Ich war realistisch genug, das zu begreifen. Wenn ich auf dem Markt suchte, dachte ich: Was, wenn er jetzt am Hauptplatz ist? Und wenn ich auf den Hauptplatz ging: Was, wenn er jetzt zum Markt gegangen ist? Natürlich habe ich Zettel an Straßenlaternen gehängt. Aber ich hätte Unterstützung gebraucht, um auch nur die geringste Chance zu haben, ihn zu finden – mal ganz abgesehen davon, dass er zu diesem Zeitpunkt vermutlich längst tot war.

Später, als endlich alle begriffen hatten, dass es ernst war, wollten sie plötzlich helfen: Nachbarn, Bekannte, Lehrer, Schüler. Scharenweise stellten sie sich zur Verfügung, hörten aber bald wieder damit auf. Für sie war das ein Zeitvertreib. Es ging ihnen nicht um ihn, sie wollten bloß der Held sein, der ihn findet.

Ich lief auch durch die Dünen, allein. Das war noch viel schlimmer. Ich wusste nicht, wo ich suchen sollte beziehungsweise wonach. Schließlich wollte ich ja nichts finden, jedenfalls nicht seine Leiche. Denn dann hätte ich nichts mehr für ihn tun können, ihm keine getrockneten Aprikosen und kein Steak mehr vorsetzen, geschweige denn ihm einen Apfel schälen wegen des Vitamin C. Dass ich sie auf keinen Fall finden durfte, dass das ausgeschlossen war, war mir klar.

Abends kam ich an Sportplätzen vorbei, wo Flutlicht das Spiel von Jungs in seinem Alter beleuchtete, während die Mütter bereits im Auto auf sie warteten. Manchmal stand ich den ganzen Abend auf so einem Parkplatz und sah zu, wie all die Mütter die Türen ihrer Geländewagen aufhielten, um ihre Söhne in Empfang zu nehmen. Wie das Licht im Auto kurz aufleuchtete, während der Junge nach dem richtigen Radiosender suchte, und wie dann eine Mutter nach der anderen den Motor anließ und mit ihm auf dem Beifahrersitz nach Hause fuhr, wohlbehütet in ihrem Faraday’schen Käfig. Ich wartete, während sich der Parkplatz langsam leerte und das Flutlicht sowie der Motorenlärm verebbten. Übrig blieben die Jungen, die schlingernd mit dem Rad nach Hause rasten, ihre Kapuzenjacken, Atemwölkchen und ausgelassenen Stimmen in der Dunkelheit.

Aber Boy hat sich nie etwas aus Sport gemacht.

Wenn Freunde von ihm zum Spielen kamen – was nicht gerade oft geschah –, waren es eher schmächtige Jüngelchen. Selbst als er schon vierzehn war: immer noch diese Jüngelchen mit Brille, Hochwasserhose und den falschen Pullovern. Oder mit Hemden, bis obenhin zugeknöpft. Sie sagten nie Guten Tag, sondern schauten stets auf den Boden. Wenn ich zu Hause war, brachte ich Chocomel oder Tee in Boys Zimmer, und dort saß er dann, stocksteif neben so einem Jüngelchen, so einem krummen Jüngelchen, das seine Finger nicht von der Spielkonsole lassen konnte. War er wieder allein, fragte ich, was er bloß davon hätte, woraufhin er sagte: »Wir spielen ums Leben.« Ich verstand erst nicht, was er damit meinte, aber dann erklärte er mir, dass das Jüngelchen so lange spielen durfte, bis seine Figur starb. Nur dass es nie dazu kam. Typisch Boy: Er saß einfach bloß da und wartete, bis er auch mal an der Reihe war. Ich hätte den Jüngelchen, den kleinen Egoisten, beim nächsten Mal am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

Boy war nicht von zu Hause weggelaufen, und er hatte auch nicht Selbstmord begangen.

Jemand, der den ganzen Nachmittag wartet, bis er mit so einem Ding spielen darf, immer wieder, läuft nicht von zu Hause fort. Zumindest nicht, um nach etwas zu suchen, um etwas zu bekommen, das er zu Hause nicht bekommt, wie die Polizei behauptet hat. Als er noch klein war, war er so ein schönes Kind! Wenn ich mit ihm rausging, drehten sich alle nach uns um, besser gesagt nach ihm. Wenn wir die Enten fütterten und die Sonne auf dem Waser glitzerte. Wenn er anfänglich zögerte, loszuschwimmen. Wenn er einen Hund streichelte. Wenn er sagte, dass er einen Stein ins Wasser werfen könne und es dann Wellen gebe, und fragte, ob man eigentlich auch Wasser in einen Stein verwandeln könne. Wenn er sich darüber wunderte, dass die aufspritzenden Tropfen partout nicht zu einem massiven, schweren Stein werden wollten, und er es hartnäckig weiterversuchte. Wenn ich ihn auf die Blüten in den Bäumen aufmerksam machte und er ganz große Augen bekam.

Damals ist mir förmlich das Herz übergegangen.

Glück ist auch so ein Wort, so ein leerer Begriff. Aber wenn ich morgens wach wurde, spürte ich förmlich, wie sich mein ganzer Körper öffnete. Ich war so hart und abgestumpft geworden in der Zeit vor Boy. Ich war kein angenehmer Ort, war es nicht mehr gewohnt, etwas in mir aufzunehmen. Ganz langsam machte er mich weniger unwirtlich.

Als uns die Polizei endlich ernst nahm, bat sie uns um eine Personenbeschreibung. Sie wollte Fotos, möglichst aktuelle, wollte wissen, was für ein Typ er war. Wer waren seine Freunde, welche Hobbys hatte er, was machte er so – nur wie beschreibt man in wenigen Worten sein eigenes Kind? Boy ließ gerne Drachen steigen, beobachtete mit Begeisterung Vögel und liebte Vanilleeis. Obwohl er vierzehn – »fast fünfzehn« – war, konnte es vorkommen, dass er Angst im Dunkeln hatte und schreiend aus einem Albtraum hochschreckte.

Schon Jahre vor seinem Verschwinden hatte er sich in eine Welt zurückgezogen, zu der ich keinen Zutritt hatte. Er war scheu geworden. Ich wartete nachmittags mit Tee, Keksen und der Frage auf ihn, »Wie war’s heute in der Schule?«, wohl wissend, dass er sagen würde: »Gut.«

»Habt ihr noch was Schönes gemacht?«

»Nein.«

Daraufhin ging er mit verschlossener Miene nach oben. Wenn er nicht hinter seiner Spielkonsole saß, verschwand er stundenlang allein in den nahe gelegenen Dünen, einen Skizzenblock unterm Arm. Mark meinte, ich solle mir nicht so viel Sorgen machen. Das sei gesund für einen Jungen in seinem Alter: Wir sollten froh sein, dass er ein Hobby hat.

Später dachte ich mir bewusst Fragen aus, die er nicht mit Ja oder Nein beantworten konnte, aber das war nicht so einfach. Boy fand immer eine Möglichkeit, nichts zu sagen. Er zog sich zurück, bis er mit unserer Welt kaum noch etwas zu tun hatte. Ich dachte, das sei nur eine Phase, die Pubertät, auf die wir später lachend zurückschauen würden, zusammen mit ihm, seiner Freundin und einem Glas Weißwein.

Es war wichtig, das zu glauben, denn wenn es nicht einfach nur die Pubertät war – die üblichen Sorgen über Pickel und Mädchen –, grübelte er vielleicht darüber nach, dass wir nicht wirklich seine Eltern waren, zumindest nicht im biologischen Sinn. Man hatte uns bereits vor solchen Entwicklungen gewarnt, lange bevor wir Boy überhaupt zu Gesicht bekommen hatten, bei dem Donnerstagabendkurs in einem neonbeleuchteten Klassenzimmer, im Rahmen der Gespräche und Eignungstests, der endlosen Bürokratie, aus der das Warten auf ein Adoptivkind besteht. Zwei Sozialarbeiterinnen hatten das Recht zu entscheiden, ob wir überhaupt als Eltern »geeignet« waren, und das nur, weil ihre Gebärmutter funktionierte und meine nicht.

Mein Gebärmutterschleim tötete Marks Samenzellen ab, mein Körper vernichtete, was er mir gab. Das zu erfahren war schmerzhaft, aber nicht überraschend: Es passte ins Schema, zu der Unbeholfenheit und dem Zögern, wie er seine Hand ausstreckte, um mich zu berühren. Wir waren keine sehr körperlichen Menschen, oder vielleicht hatten wir einfach nicht den Mut, uns verletzlich zu zeigen, uns eine solche Blöße zu geben.

Wir haben uns auf einem Weihnachtsmarkt kennengelernt, obwohl wir eigentlich nicht gern Weihnachtsmärkte besuchen. Wenn wir dorthin gehen, ist das ironisch gemeint, wir gehen dorthin, um andere Menschen zu beobachten.

Besser gesagt, ich tue das.

Denn Mark genießt es wirklich; er mag sentimentale Weihnachtslieder, Sachen, die man sich schenken kann, unabhängig davon, wie sie aussehen. An jenem Abend war er für einen Stand von Amnesty International zuständig, an dem man für die Befreiung eines Gefangenen unterschreiben konnte – auch so was, woran ich nicht glaubte. Ich war schon Anfang dreißig und machte viele Überstunden. Danach war ich müde und wollte keine Leute mehr sehen, geschweige denn mit ihnen reden. Aber dieser Weihnachtsmarkt lag ganz in der Nähe meiner damaligen Wohnung, und wegen des Lärms, der zum Fenster hereindrang, konnte ich mich nicht konzentrieren.

Lustlos lief ich zwischen den Ständen umher und wich Kindern mit Leuchtgebissen im Mund aus, die sich wie fluoreszierende Außerirdische viel zu schnell durch die Menge bewegten. Fettgestank von Churros und Bratwurst. Alles, was dort verkauft wurde, war Schrott, selbst die euphorische Stimmung war Kitsch, getragen von Paaren mittleren Alters, die Arm in Arm herumflanierten und etwas zu laut sagten, wie gemütlich es doch sei. Solche Sachen dachte ich, um mich anschließend dafür zu schämen, denn irgendwie amüsierten sich diese Leute ja tatsächlich.

Am Amnesty-Stand war kaum jemand. Ohne großes Interesse sah ich mir die Fotos von Menschen an, die schon viel zu lange zu Unrecht im Gefängnis saßen, während mich ein überengagierter freiwilliger Helfer vollschwafelte. Ich war genervt und hörte ihm gar nicht zu, bis er plötzlich verstummte und in einem ganz anderen Ton sagte: »Meine Güte, siehst du traurig aus!«

So ein Kommentar von einem Fremden ist beleidigend, und ich wollte schon gehen, als er mich fragte, ob ich was mit ihm trinken gehen wolle. Dass ich nicht Nein sagte, lag an der unberechtigten Hoffnung in seinem Blick, an der Naivität, die mich bei jedem anderen gestört hätte, und daran, dass ich den ganzen Abend Menschenmengen beobachtet hatte, in denen ich mich einfach nicht verlieren konnte.

Ich zögerte, und schon stand er neben mir und legte den Arm um meine Schultern, was mich zu meinem Erstaunen gar nicht störte. An einem Stand kaufte er mir ein Paar warme Wollsocken und sagte: »Du merkst nicht mal, dass du frierst.« Und er hatte Recht, den Rest des Winters trug ich Socken im Bett.

Das war typisch für ihn. So etwas würden mir sonst nicht einmal meine Freundinnen sagen. Selbst nach jahrelanger Erfahrung als Entwicklungshelfer glaubte Mark immer noch, dass alles gut wird, dass jeder im Grunde seines Herzens gut ist. Vielleicht hätte er seine Arbeit sonst nicht fortsetzen können. Er gab Leuten am Bahnhof Geld, die behaupteten, ihr Portemonnaie verloren zu haben, und hätte sogar noch für einen Dieb freundlich das Autofenster runtergelassen. So fing er auch mit mir etwas an, las mich von der Straße auf wie eine halbverdorrte Pflanze und nahm mich mit nach Hause.

Im Gegensatz zu mir konnte er unheimlich gut mit Kindern.

Als wir uns kennenlernten, waren wir in einem Alter, in dem alle meine Freunde und Kollegen Babys bekamen und Geburtsanzeigen verschickten, die ich irgendwann gar nicht mehr beantwortete. Anfangs besuchte ich sie noch im Wochenbett, beugte mich mit anderen Frauen über Wiegen, bewunderte Nasen, winzige Finger, Augen.

Manchmal kam Mark mit, und im Gegensatz zu vielen anderen Männern war er dabei sehr geschickt, brachte die Kinder zum Lachen und wusste sogar, wie man sie halten muss. Mich machten Babys nervös; ich konnte nichts mit ihnen anfangen, mit ihrer Verletzlichkeit, ihrem vertrauensseligen Blick, mit der Zartheit ihrer Haut. Für ihn stand außer Frage, dass wir Kinder wollten, und meine halbherzigen Einwände nahm er nicht ernst. »Du hast einfach nur Angst und bist verunsichert. Als Frau hätte ich auch Angst.«

Wir saßen draußen vor dem Haus, das wir inzwischen gemeinsam bewohnten. Er hatte den Arm um mich gelegt, und ich wollte nicht, dass er mich losließ. Seit wir ein Paar waren, hatte ich mich verändert, ich war sensibler geworden, spürte Dinge, die ich lang nicht mehr gespürt hatte und von denen ich nicht mal wusste, ob ich sie überhaupt spüren wollte, auch wenn ich meine Patienten in solchen Fällen stets dazu ermutigt hätte. (»Sie wollen doch leben«, pflegte ich dann zu verkünden, »und das geht nun mal nicht ohne Angst.« Wenn ich so etwas sagte, schauten sie mich lange an, als könnte man mir ansehen, ob auf mich Verlass ist. Sie glaubten mir fast immer.)

»Vielleicht liegt es an meinem Beruf. Als Psychiater begegnet man schließlich nur Kindern, bei denen es schiefgegangen ist, zwanzig, dreißig, vierzig Jahre später: schlurfend, gebückt, völlig am Ende. Dabei haben sie irgendwann mal genauso friedlich und zufrieden in der Wiege gelegen.«

»Das ist doch nur eine Ausrede.«

»Nein, im Ernst.«

Doch er warf mich aufs Bett und kitzelte mich, bis ich nichts mehr sagen konnte. Ich wollte seiner Sorglosigkeit so gern Glauben schenken, der freundlichen Welt, die er so deutlich vor sich sah.

Zuerst machte uns der Gedanke an ein Kind jünger und ausgelassener, wir kicherten, zündeten Kerzen an und dachten uns Namen für unseren zukünftigen Nachwuchs aus. Monat für Monat warteten und hofften wir. Meine Regel ging plötzlich auch ihn etwas an, bis es mir irgendwann peinlich war, ihm jeden Monat sagen zu müssen, dass es wieder nicht geklappt hatte – dieses Scheitern wollte er weglachen, aber es kam nicht von Herzen. Ich hatte noch nie groß Gedanken an meinen Körper verschwendet, aber jetzt wurde er zu meinem Feind, der mich immer und immer wieder im Stich ließ. Es wurden Termine beim Hausarzt und beim Gynäkologen vereinbart, kaltes Papier unter meinem Po, weit gespreizte Beine für einen in Latex gehüllten Finger.

Mark sagte: »Früher hab ich ins Bett gemacht und jeden Abend gehofft, besser gesagt mir fest vorgenommen, dass das nicht noch mal vorkommt. Fühlt es sich auch so an, wenn du wieder deine Tage bekommen hast?«

Es war vergleichbar, aber das sagte ich ihm nicht, sondern fragte nur »Du warst Bettnässer?« und wandte den Kopf ab, als er weiterreden wollte. Denn es ging nicht nur um meinen Körper: Tief in meinem Innern saß ein finsterer Hass, der zu stark war für Marks arme Samenzellen. Kein Kind konnte das überleben.

Das Krankenhaus diagnostizierte eine feindselige Gebärmutter.

Mein Zervixschleim und seine Samenzellen seien inkompatibel, genau so drückten sie sich aus und entschuldigten sich anschließend für die unglückliche Formulierung, die sich mir aber da bereits unauslöschlich eingebrannt hatte: Wir waren nicht dafür gemacht, ein Paar zu sein.

»Heutzutage gehen die Leute davon aus, dass alles machbar ist, aber manchmal sind wir einfach machtlos.«

Der Gynäkologe war jung und faltenlos – ihm war bestimmt noch nie irgendwas zugestoßen. Ich fragte mich, ob er den Facharzt bereits in der Tasche hatte oder ob man ihn hier einfach so auf die Leute losließ, an einem Ort, den nur Menschen aufsuchen, die ein ganzes Labor für etwas brauchen, das eigentlich selbst der größte Idiot problemlos kann: ein Kind zeugen.

»Trotzdem danke«, sagte Mark, der an seltsamen Orten häufig verlegen wurde. »Danke für Ihre Mühe.«

Es klang, als hätte man ihm ein Geschenk gemacht, und ich hätte ihn am liebsten gekniffen.

»So etwas ist nicht leicht«, sagte der junge Mann, »das verstehe ich gut. Zögern Sie nicht, sich Hilfe zu holen. Nun ja, es liegt natürlich an Ihnen …«

Hier würden wir diese Hilfe auf jeden Fall nicht bekommen, das sah man deutlich an unserer Patientenakte, die bereits zugeklappt war, und an der Kappe, die auf den Stift gesteckt wurde. Ich erkannte die Signale, übernahm sie selbst und schämte mich kurz für Mark, der nach wie vor erwartungsvoll sitzen blieb, so als würde er die Grundregeln höflicher Kommunikation nicht beherrschen.

Ich stand auf, dankte dem jungen Mann und ging, ohne auf Mark zu warten. Vor dem Sprechzimmer suchte Marks Hand die meine, aber ich verschränkte die Arme vor der Brust und wich seinem Blick aus. Im Krankenhaus sprachen wir kein einziges Wort mehr und folgten den bunten Linien zum Ausgang. Dort draußen waren wir einander fremd, verlegen, übertrieben höflich.

Wie lang es gedauert hat, bis wir eine Adoption in Erwägung gezogen haben, bis einer von uns gewagt hat, es laut auszusprechen? Komisch, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann: an den Moment, in dem sich die Hautfarbe unseres ersehnten Kindes geändert hat, an den Nachmittag oder Abend, an dem wir beschlossen haben, dass unser Kind auch von jemand anders sein kann.

Als Boy größer wurde und in die Grundschule kam, wartete ich am Tor auf ihn, wenn mein Terminplan es erlaubte, und hörte den anderen Müttern zu. Sie schienen sich untereinander bestens zu kennen, schienen wie gemacht zu sein für diese Rolle. Wenn ich neben ihnen stand, fühlte ich mich wie eine Betrügerin, ich versuchte mitzureden, doch meine Stimme klang falsch. Ich erzählte, wie er morgens aufs Bett sprang und die Arme um mich schlang, wie weich er war, wie zutraulich. Wie er oft längst vergessene Erinnerungen wachrief, ich erzählte von seinem unschuldigen Duft.

Sie hörten zu und nickten höflich, aber was ich sagte, traf nicht den richtigen Ton, und ich konnte nichts beisteuern zu der Geschichte, die sie mit ihrem Kind teilten, über Geburt und Gene, die es von Vater oder Mutter hatte. Sie betrachteten Boy und fanden es süß, das schwarze Kind, seinen Lockenkopf, den alle anfassen wollten. Ich hörte mir ihr Gesäusel an und fragte mich, wie sie später über ihn denken und was sie zu Hause am Abendbrottisch sagen würden, wenn er mit ihren Töchtern ausginge.

Mehr und mehr mied ich den Schulhof.

Wenn die Lehrer um Mithilfe der Mütter baten (für die Nachmittagsbetreuung, für Bastelaktionen, Ausflüge, Klassenfahrten, für das Schmücken des Klassenzimmers und fürs Vorlesen), übernahm das immer öfter Mark. Er wurde zu einer Art Berühmtheit an dieser Schule, denn es war außergewöhnlich, dass sich ein Vater so viel mit seinem Kind beschäftigte. Die anderen Mütter scharten sich um ihn wie hysterische Hühner um einen Hahn, und bei den seltenen Malen, an denen ich zur Schule kam, fühlte ich mich mehr denn je als Außenseiterin. Ich war mir sicher, dass sie über mich lästerten und sagten, dass ich so einen Mann gar nicht verdient hätte.

Anfangs ermunterte mich Mark noch, mitzukommen, tat so, als merkte er nicht, dass ich meine Spätschichten auf Tage mit Schulaufführungen legte, ja er versuchte sogar, mich an solchen Abenden in die Schule zu zerren.

»Er würde sich so freuen, wenn du kommst.«

Nach solchen Aufführungen erzählte mir Mark später im Bett davon. Oft machte er Fotos oder Filme, die wir uns gemeinsam anschauten, während ich den Kopf auf seine Schulter legte. In solchen Momenten nahm ich mir regelmäßig vor, das nächste Mal mitzukommen, aber wenn ich Boy dann am Morgen danach lobte für das, was ich in dem Film gesehen hatte, dankte er mir steif, und sein Unbehagen war mit Händen zu greifen. Dann stellte ich mir vor, wie Mark und er gemeinsam nach Hause gefahren waren – Boy ganz begeistert und gesprächig seinem Vater gegenüber, der längst nicht so kritisch war wie ich.

Je länger ich fortblieb, desto schwerer fiel es mir, überhaupt noch zur Schule zu kommen. Schleichend war eine Kluft entstanden, die sich nicht mehr überbrücken ließ; die Schule war ein Terrain, auf dem ich nichts verloren hatte, und das änderte sich auch nicht, als Boy in die Mittelstufe kam (dafür machte ich ihm Brote und steckte kleine Überraschungen in seine Pausenbrotbox, ging mit ihm eine schöne Ledertasche kaufen und winkte ihm nach, wenn er morgens mit dem Rad davonfuhr).

Wenn ich arbeitete, war ein Babysitter da. Kam ich nach Hause zurück, sah ich das Mädchen mit meinem Sohn. Man hätte meinen können, er wäre ihr Kind, so wie sie sich über ihn beugte und er vertrauensvoll zu ihr aufschaute, ohne mich überhaupt zu bemerken. Ich blieb im Flur stehen, beobachtete die beiden und machte kehrt. Dann kam ich erneut herein, diesmal laut lärmend, damit er »Mama!« ruft und aufspringt, fort von dieser anderen Frau. Aber nachts träumte ich von den majestätischen Frauen, die ich in seiner Heimat gesehen hatte, träumte von seiner echten Mutter, wie sie ihn mir abnahm, nicht grob, sondern ganz behutsam, so als hätte ich bloß vorübergehend auf ihn aufgepasst. Sie nahm ihn und legte ihn an die Brust, um ihn zu stillen, während ich danebenstand und zusah, mit ausgestreckten leeren Händen, ausgedörrt und wie erstarrt.

Erst als Boy verschwunden war, merkte ich, dass mir meine Arbeit keinen Grund gab, morgens aufzustehen. Damals schaffte ich es noch nicht mal, mir einen Kaffee zu kochen. Ich schüttete das Wasser daneben, vergaß den Filter und gab zehn, zwanzig Löffel Kaffee in die Maschine. Begann sie zu brodeln, ging ich weg und vergaß, dass ich überhaupt Kaffee aufgesetzt hatte, nur um dann abends kalte Plörre vorzufinden und mich erneut zu wundern.

Ich stümperte und stolperte durchs Leben. Wenn ich etwas berührte, spürte ich nichts. Nur meine Augen hatten sich verbessert, waren nun gnadenlos scharf. Lange bestand ich förmlich nur aus diesem einen Augenpaar, das alles registrierte und nichts fühlte. In meinem früheren Leben hatte ich dieses bei meinen Patienten weit verbreitete Symptom »Dissoziation« genannt, von dissociare, trennen oder wortwörtlich »sich von der Gesellschaft abspalten«. Nach Boys Verschwinden musste ich manchmal darüber lachen: Wie oft ich das anderen erklärt hatte! Was hatte ich mir eingebildet, alles zu wissen!

Nachdem er weg war, sprach ich nur noch einen einzigen Satz: Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr. Als ob man so etwas leugnen, mit Worten dorthin zurückdrängen könnte, wo es hergekommen ist – wo immer das auch sein mag. Es ist nicht wahr, sagte ich, so als würde ich einen Damm errichten, Stein für Stein aufeinanderschichten, solange ich nur wiederholte, dass es nicht wahr war, solange ich es nur laut genug sagte.

Morgens versuchte ich, mich anzuziehen, blieb dann aber vor dem Kleiderschrank stehen und starrte auf meine tadellosen Hosen, Blazer und Röcke, auf die Absurdität des Ganzen. Mit Boys Verschwinden hatte ich jeden Bezug zum Leben verloren, und deshalb musste ich lachen bei der Vorstellung, so einen Rock anzuziehen, mir die Mühe zu machen, so einen braven Blazer zu tragen.

Oder ich schaute Mark an, sein gekämmtes Haar, sein glattrasiertes Kinn, seine perfekt sitzende Krawatte, und sah, dass hinter all der Ordnung, dem Geraden und Glatten, etwas verrutscht und unwiderruflich verblasst war. Dann wollte ich die Arme nach ihm ausstrecken, blieb aber einfach sitzen, während er die Fassade aufrechterhielt. Ich hatte das Gefühl, schon wieder versagt zu haben und dass er etwas Besseres verdient hatte.

Damals brachte ich keinen Bissen hinunter, das wäre unnatürlich gewesen. Aber Mark hörte trotzdem nicht auf zu kochen.

Je weniger ich aß, desto raffinierter wurden seine Speisen. Er machte Soufflés und Ossobuco, die unangetastet vor mir stehenblieben. Ich dankte ihm fürs Kochen, und er warf das Essen in den Mülleimer. Ich ärgerte mich über seine Freundlichkeit, darüber, wie sehr er sich bemühte, nicht wütend zu werden, und mich behandelte wie ein rohes Ei. Ich wurde unsachlich, weil ich eine Reaktion provozieren wollte, warf ihm Dinge vor, die ich gar nicht so meinte, und knallte die Tür hinter mir zu, wenn ich das Haus verließ. Ich wünschte mir, dass er mich anschrie – vergeblich.

Nach Boys Verschwinden zog Mark sein Sakko abends nicht mehr aus. Erst beim Schlafengehen hängte er das Ding an einen Haken. Wenn ich im Bett lag und auf das Sakko starrte, überlegte ich, ob Marks Kummer vielleicht darin versteckt war, in diesem Hohlraum, in der Leere von Ärmeln und Revers, statt in dem Körper, der neben mir lag. Trotzdem sehnte ich mich danach: danach, dass jemand genauso um Boy trauerte wie ich, dass wir beide wahnsinnig werden würden.

Man kann einen solchen Kummer nicht »überwinden«. Der geht nie mehr weg.

Aber man kann sich anscheinend darauf einigen, so zu tun, als gäbe es ihn nicht, das geht durchaus: beschließen, dass man wieder glücklich sein wird oder zumindest so tun wird als ob. Man kann beschließen, sich dahingehend zu bemühen. Der Kummer lässt sich anscheinend zähmen, von manchen Menschen zumindest. Mark brauchte dafür bloß eine neue Terrasse mit Markise, während ich dachte, dass wir den Rest unseres Lebens in geschlossenen Räumen verbringen würden. Die Wände unseres Hauses waren meine zweite Haut. Allein die Vorstellung, Freunde zu besuchen, ihren Kindern über den Weg zu laufen, ihnen aus Versehen zu begegnen! Zusehen zu müssen, wie sie größer und älter wurden, während Boy zurückblieb und langsam verblasste. Eines Tages sagte Mark, dass wir sie auch zu uns einladen könnten, wenn alles wieder gut wäre. Ich verstand nicht, was er meinte, wie hier jemals wieder alles gut werden sollte. Noch am selben Nachmittag musste ich mitansehen, wie er ein neues Set Gartenmöbel anschleppte.

»Wie wär’s, wenn wir zusammen die Kissen dafür aussuchen?« So etwas wie Hoffnung stand in seinem Blick, und ich wurde fuchsteufelswild. Abends stand er am Fenster und schaute auf die Terrasse, auf der jetzt zwei große Holzsessel standen, zwei.

»Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist ein bisschen Geborgenheit.«

Ich warf mein Essen in den Müll und ging nach draußen.

Als ich wiederkam, war der Tisch abgeräumt, nur die Kerze brannte noch, und Mark saß mit Kopfhörern in seinem Sessel am Fenster. Er hatte die Augen geschlossen und bemerkte mich nicht. Ich sagte nichts, schaute ihn bloß an, seinen fragilen Rücken, sein zerzaustes Haar. Eigentlich hätte ich ihn in diesem Moment berühren müssen.

Am nächsten Tag hörte ich ihn telefonieren – damals lauschten wir auf alles, was der andere tat –, und eine Woche später kamen die Handwerker wegen der Markise. Ich war wütend, weil er mich nicht vorgewarnt hatte und sie hereinließ, während mir der Kummer in blassen Strähnen ums Gesicht hing. Doch er freute sich wie ein kleines Kind, wuselte um sie herum, während sie ihre Arbeit machten, und ich hörte ihn sagen: »Diese Geborgenheit hat mir hier noch gefehlt.« Sie pflichteten ihm bei, natürlich, schließlich zahlte er. Und wer zahlt, hat auch das Recht, sich lächerlich zu machen.

Ich dagegen saß stundenlang auf einer Bank im Park und sah zu, wie die Blätter fielen. An schönen Wochenenden defilierten die Familien an mir vorbei, Vater, Mutter und ein oder zwei Kinder. Sie starrten mich an, aber ich vermied jeden Blickkontakt. Kaum waren sie an mir vorbei, begann das Getuschel, die Fragen der Kinder, die Beschwichtigungen der Eltern. Ich war jetzt fremd, eine Fremde.

»Wir müssen doch irgendetwas tun«, sagte Mark immer wieder. »Wir können doch nicht einfach …«

Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen und starrte anschließend auf die neuen Gartenmöbel, auf denen wir noch nie gemeinsam gesessen hatten. Unsere Ehe war nur noch ein Skelett, das Rückgrat lag frei.

Mark stand morgens früh auf, um Rennrad zu fahren, täglich vierzig Kilometer vor der Arbeit. Er rasierte sich die Beine, um noch schneller zu werden. Ich sah zu, wie er immer wieder aufs Neue versuchte, das Leben zu fassen zu bekommen, was ihm ab und an auch gelang. Ich hasste ihn dafür.