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Übersetzung aus dem Englischen
von Rudolf Katzer
ISBN 978-3-492-97305-2
Mai 2016
© Arthur Escroyne, 2016
Deutschsprachige Ausgabe:
© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin
Covermotiv: FlamingPumpkin/Getty Images, Apichat Naweewong/123rf.com, Encyclopaedia Britannica/UIG/Bridgeman Images und Private Collection/The Stapleton Collection/Bridgeman Images
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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Die Koryphäe
Was ist ein Mann ohne seine Frau? Was geschieht, wenn sich größte Freude in nebelige Angst verwandelt? Was wäre ein Leben ohne Rosy für mich? Auf keine dieser Fragen kenne ich die Antwort, nur dumme, Unheil bringende Befürchtungen halten mich in Schach. Seit achtundvierzig Stunden habe ich nicht geschlafen, mich weder umgezogen noch rasiert. Ob ich etwas gegessen habe, weiß ich nicht, ich bin unfähig, etwas zu tun, und außerstande, etwas zu verändern. Die einzige Tätigkeit, die mir aufgezwungen wird, ist das Warten. Doch mit jeder Stunde verliert das Warten mehr und mehr an Sinn. Es ist ungewiss, ob man die Kindesmutter retten wird, ungewiss, ob das Kind überlebt.
Dabei hatten Rosy und ich durchaus Grund zur Hoffnung. Nach unserem stürmischen Heimflug aus Schottland, nach einem ambulanten Eingriff in einer Maschine der Royal Airforce, hatten wir, wenn auch nicht gesund, so doch einigermaßen munter, unsere Heimatgrafschaft Gloucestershire erreicht. Doch statt nach Sutherly Castle hochzufahren, wo Rosy und ich zu Hause sind, brachte man meine Frau in das Krankenhaus unserer Heimatstadt, das den glanzvollen Namen Gloucestershire Royal Hospital trägt, wo Dr. Rogers, ihr behandelnder Gynäkologe, sie bereits erwartete.
Rosy war zu diesem Zeitpunkt im siebten Monat schwanger. Dank Dr. Rogers’ Hilfe stabilisierte sich ihr Zustand bald. Alles schien seinen regulären Gang zu nehmen, damit unser Sohn, Philipp John, der 37. Earl von Sutherly, im Herbst das Licht der Welt erblicken würde. Nach zwei Wochen gestattete Dr. Rogers Rosy sogar, das Krankenhaus zu verlassen, da eine vertraute Umgebung bei einer Risikoschwangerschaft von großer Bedeutung sei, wie er meint.
Alles ging gut, bis zu dem Tag, an dem Rosemary Besuch von Sergeant Ralph Bellamy erhielt, ihrem langjährigen Freund und Assistenten. Trotz ihres geschwächten Zustands liegen der schwangeren Leiterin der Mordkommission die Angelegenheiten ihrer Abteilung natürlich am Herzen, daher hörte sie sich Ralphs Bericht über die laufenden Ermittlungen geduldig an.
Mein Leben lang werde ich mir nicht verzeihen, dass ich an diesem Nachmittag nicht zu Hause war. Hätte ich das Gespräch nach einer halben Stunde unterbrochen, Rosy einen Kräutertee gemacht und darauf geachtet, dass sie ihre Medikamente nimmt, wäre es nicht zum Äußersten gekommen. So aber brachte Rosy ihren kriminalistischen Geist viel zu hitzig in Schwung, weshalb ihr Körper schließlich seine Mitwirkung verweigerte, Rosy einen Schwächeanfall erlitt und das Bewusstsein verlor.
Das Stammschloss meiner Familie liegt auf der Spitze eines Felsmassivs, von wo aus man einen wunderbaren Blick auf unser Städtchen und in die umliegende Grafschaft hat. Um diesen Ausblick zu genießen, muss man allerdings einhundertsechs steile und teilweise wackelige Stufen bis zu unserem Falkenhorst emporklimmen. Minuten nach Rosys Schwächeanfall schwebte darum ein Rettungshubschrauber mit Getöse über Sutherly Castle ein, die Sträucher meiner Lorbeerhecke bebten im Rotorsturm, während die Libelle hinter dem Rosengarten aufsetzte. Ralph, zwei Polizeibeamte und ich trugen die Bewusstlose in den Garten, sie wurde ins Krankenhaus geflogen, wo man sie umgehend auf die Intensivstation brachte.
Die Komplikation bei Rosys Schwangerschaft trägt den Fachausdruck Placenta praevia. Am ersten Tag des Wartens versicherte mir Dr. Rogers, dass sich das Plazentagewebe glücklicherweise noch nicht von der Gebärmutter abgelöst hätte. Am zweiten Tag meinte er, der Muttermund werde mittlerweile bedauerlicherweise überlagert, was einen Kaiserschnitt unumgänglich mache. Seit dem dritten Tag erklärt Dr. Rogers gar nichts mehr und sieht bei jeder Begegnung besorgter aus.
Stundenlang wandere ich auf den grell erleuchteten Korridoren des Krankenhauses umher, trinke literweise Wasser aus dem Spender im Warteraum, nicke manchmal auf einer Metallbank ein und erwache augenblicklich, wenn ich Schritte höre. Ich halte mich grundsätzlich für einen optimistischen Menschen, doch in diesen quälend verrinnenden Stunden packte mich namenlose Angst, die mich ungewohnte Dinge tun ließ. Ich suchte zum Beispiel die Krankenhauskapelle auf und flehte Gott, zu dem ich sonst nur eine lockere Bekanntschaft unterhalte, um Hilfe an, er möge Rosy bei mir lassen, möge unserem Jungen einen gesunden Eintritt in diese Welt ermöglichen. Gott schwieg erwartungsgemäß und das Warten ging weiter.
Natürlich hatte ich Rosys Eltern verständigt, sie befinden sich auf einer Kreuzfahrt durch die Ägäis. Rosys Geschwister waren bereits im Krankenhaus gewesen und unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Sergeant Bellamy tauchte auf, entschuldigte sich zum wiederholten Mal dafür, dass er für Rosys Zustand mitverantwortlich sei, und verschwand mit hängendem Kopf wieder.
Ich bin allein. Ich bin so schrecklich einsam in diesem grell ausgeleuchteten Raum, dass das Gespenst der Vorahnung, wie es sein mag, von nun an für immer allein zu bleiben, sich nicht permanent vertreiben lässt. Mein wunderbares Leben mit Rosy auf dem verfallenden Schloss, unser heiteres Glück, das durch die Liebe zu unserem Kind noch gekrönt werden würde, soll es unwiederbringlich zu Ende sein?
Als ich diesen besonders mutlosen Zustand erreicht habe, erscheint plötzlich Dr. Rogers im Türrahmen.
»Was gibt es Neues?« Ich springe auf und laufe ihm entgegen.
»Leider nichts Gutes, Sir.« Der Doktor hat nur wenige Haare auf dem Kopf, seine fahle Haut ist von Leberflecken gesprenkelt. Dem Aussehen nach haftet ihm etwas von einer Ware an, deren Verfallsdatum abgelaufen ist. »Darf ich aus gegebenem Anlass einen Vorschlag machen, Mister Escroyne?« Umsonst schiebt er seine Brille hoch, sie rutscht sofort wieder auf die Nasenspitze zurück. »Es gibt einen Kollegen von mir, der auf Problemfälle wie den Ihrer Frau spezialisiert ist.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, Dr. Rogers sei der beste Mann für Rosys Komplikationen. Abwartend sehe ich ihn an.
»Es handelt sich um den geschätzten Kollegen Doktor Theodore Brendergast«, fährt er fort. »Allerdings liegt seine Privatklinik nicht in Gloucestershire, sondern in Stratford-upon-Avon.«
»Das ist doch nur eine Stunde von hier entfernt. Wieso erzählen Sie mir erst jetzt von diesem Mann?«
»Weil sich die Lage Ihrer Frau erst in den letzten Stunden derart verändert hat, dass ich diesen Schritt erwäge.«
»Verändert? Verschlechtert, wollten Sie sagen.«
»Ihre Blutdruckschwankungen machen mir Sorgen«, antwortet er ausweichend.
»Rosys Blutdruck veranstaltet seit Tagen eine Achterbahnfahrt. Wieso haben Sie diesen Brendergast nicht schon längst herzitiert?«
»Ein Mann wie er lässt sich nicht herbeizitieren. Er ist eine Koryphäe in seinem Fach.«
»Trotzdem könnte die Koryphäe längst in einem Polizeiauto sitzen und mit Blaulicht hierhergekarrt werden.«
»Es gibt da leider ein Problem.« Rogers mustert mich aus ernsten Augen. »Doktor Brendergast praktiziert in einer – wie soll ich sagen? –, einer ungewöhnlichen Einstufung des NHS.«
»Was bedeutet das?«
»Weder Ihre noch die Versicherung Ihrer Frau würden die Kosten einer Konsultation abdecken.«
Ich bin Philipp Arthur Escroyne, der 36. Earl von Sutherly, Mitglied der Peers von England und ein treuer Gefolgsmann unserer Krone. Versicherungstechnisch bin ich allerdings eine Niete, befinde ich mich doch in der untersten Kategorie, die der National Health Service anbietet. Im Krankheitsfall würde mir nicht mehr als die Basisversorgung zustehen. Rosys Polizistenversicherung bietet einen umfassenderen Schutz, große Sprünge kann sie damit aber auch nicht machen. Trotz dieser Tatsache fällt meine Antwort an Dr. Rogers markig aus. »Soll ich etwa zusehen, wie Rosy stirbt, nur weil unsere Versicherung den Zauberdoktor nicht bezahlt?«
»Von Sterben war bisher nicht die Rede.«
»Gesund machen können Sie Rosy aber auch nicht«, entgegne ich unbeherrscht. »Unser Kind können Sie nicht auf natürlichem Weg auf die Welt bringen.«
»Beruhigen Sie sich, Mister Escroyne.« Rogers zieht sein Mobiltelefon aus der Tasche und sucht nach einer Nummer.
»Gemessen am Ernst der Lage bin ich erstaunlich ruhig!«
Rogers hebt das Handy ans Ohr. »Hier spricht Doktor William Rogers vom Gloucestershire Royal Hospital. Könnte ich bitte Doktor Brendergast sprechen?« Er nickt mit einer kleinen Verbeugung. »Verstehe. Wann, denken Sie, wird seine Sitzung beendet sein?«
Die Uhr tickt
Ihre Frau ist Erstgebärende. Sie ist über vierzig Jahre alt und hat Übergewicht. Sie leidet unter Hypertonie und Proteinurie.«
Theodore Brendergast ist ein drahtiger Mann, dem ich zutraue, dass er jeden Morgen vor dem Frühstück eine Runde golft. Man hat dem angesehenen Spezialisten das Chefbüro des Gloucestershire Royal Hospital überlassen. Er thront auf einem Drehsessel, während ich wie ein Pennäler vor ihm stehe.
»Wir haben bei Ihrer Frau das klassische Schulbeispiel einer Präeklampsie«, setzt er seine Negativliste fort und überschlägt die Beine in der perfekt geschnittenen Anzughose. »Ihre gute Rosy hat Raubbau mit ihrer Gesundheit getrieben, ihr Körper ist ausgelaugt. Daher ist sie nicht besonders gut darauf vorbereitet, ein Kind zu gebären.«
Nur wenige Menschen dürfen meine Schwertlilie, meine Rosemary, bei ihrem Kosenamen nennen, vertraute Menschen, sympathische Menschen. Dr. Brendergast ist weder das eine noch das andere. Der Spezialist ist ein sich aufplusterndes Ego-Männchen, ein Pfau im Ärztekittel. Sein Alter ist schwer zu schätzen, er hat schlohweißes Haar und ist unnatürlich tief gebräunt. Er spricht mit hoher, näselnder Stimme und obwohl er sich um die Aussprache eines Engländers bemüht, verfällt er häufig in den Slang eines US-Südstaatlers. Koryphäe oder nicht, es missfällt mir, dass ausgerechnet dieses Ekel der Retter meiner Rosy sein soll.
»Ich hatte angenommen, dass man Rosemarys Zustand etwas hoffnungsvoller schildern könnte«, gebe ich kühl zurück.
»Wenn Sie die Wahrheit durch eine rosa Brille sehen wollen, steht es Ihnen frei, Mr Escroyne. Von mir werden Sie die aber nicht geliefert bekommen. Der Blutverlust Ihrer Frau ist akut. Meine vordringlichste Aufgabe wird es sein, eine Fruchtwasserembolie zu verhindern.«
Brendergast hat es geschafft, mich durch sein Gewitter aus Fachausdrücken einzuschüchtern. »Bitte sagen Sie mir offen, wie Rosys Chancen stehen«, frage ich verzagt. »Wie sehen Sie die Chancen des Kindes?«
Der Weißkopfadler legt die Fingerspitzen aufeinander. »Die fetale Letalität liegt in einem Fall wie diesem bei zwanzig Prozent.« Auf meinen verständnislosen Blick erklärt er: »Die Kindersterblichkeit. Die Letalität der Mutter beläuft sich auf sechzig Prozent.«
»Sechzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass Rosy stirbt?« Der Satz ist in der Welt, ich habe ihn ausgesprochen. Sein Inhalt erschüttert mich so sehr, dass ich mich auf den nächstbesten Stuhl setzen muss.
»Das bezieht sich auf den statistischen Durchschnitt im Vereinigten Königreich.« Plötzlich überfliegt ein jugendlicher Glanz Brendergasts Miene. »Aber nicht bei mir, Mr Escroyne. Ich bringe meine Patientinnen durch. Was glauben Sie denn, weshalb ich so ein internationales Renommee habe und zwischen Sydney und Washington Vorträge halte?« Er breitet die Arme aus. »Weil ich der Beste bin.«
»Sie werden Rosy also wieder gesund machen?«
»Ich habe es fest vor. Allerdings nicht hier.« Ein Blick auf seine elegante Armbanduhr. »Selbstverständlich kann ich nicht ständig zwischen Gloucester und Stratford pendeln. Meine dortigen Patientinnen brauchen meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Rosy kommt zu mir in die Klinik.«
»Aber ist das nicht eine … Privatklinik?«
»Dafür sollten Sie Gott danken. Wollen Sie, dass Ihre Frau wie eine Nullachtfünfzehn-Patientin versorgt wird oder dass sie eine Behandlung erfährt, wie man sie auch der Queen angedeihen lassen würde?« Er schickt seinem Scherz ein eitles Lächeln hinterher.
»Rosy ist eine Queen«, antworte ich felsenfest.
»Dann sind wir uns ja einig.« Brendergast macht eine Geste, als ob er mich segnen wollte. »Mit Doktor Rogers habe ich bereits alles geregelt. Der Helikopter wartet nur noch auf meinen Einsatzbefehl.«
»Sie meinen … jetzt sofort?«
»Die Uhr Ihrer Frau tickt, Mr Escroyne. Wir sollten keine unnötige Zeit verlieren.«
Während ich ihm mein Einverständnis zusichere, führe ich mir gleichzeitig meinen aktuellen Kontostand vor Augen. »Was die Kosten betrifft, können Sie mir da eine ungefähre Prognose geben?«
»Die Kosten werden beträchtlich sein, Sir. Schließlich wird Rosy Wochen, wenn nicht sogar Monate bei mir zubringen.« Brendergast steht auf und legt mir väterlich die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, Lord Escroyne, meine Assistentin wird Ihnen die Tagessätze meiner Klinik plus die zu erwartenden Nebenkosten zumailen.«
Sein saloppes keine Sorge steigert meine Befürchtungen noch. Brendergast schließt offenbar fälschlicherweise von meinem Adelstitel auf das Vermögen eines Earls. Die materielle Habe der Escroynes war zu keiner Zeit besonders nennenswert, doch seit dem Tod meines Vaters ist der Rest erstaunlich schnell dahingeschmolzen. An irdischen Gütern besitze ich kaum mehr als das Stammschloss meiner Ahnen. Leider hat Sutherly Castle bereits neunhundert Jahre auf dem Buckel und ist mehr oder weniger eine Ruine. Wie soll ein verarmter Earl die astronomischen Honorare aufbringen, die ein Star wie Dr. Brendergast kostet?
Mit schwungvollem Schritt rauscht das Ekel, das meine Frau retten könnte, aus dem Büro und lässt mich ratlos zurück.
Miss Hoffman
Hallo, meine Liebe, wie geht es dir denn?« Nach Tagen des Bangens und Wartens lässt man mich endlich an Rosys Seite, allerdings erst, als sie aus der Intensivstation entlassen und für den Transport nach Stratford vorbereitet wird. Ich bemühe mich, mit der fahrenden Bahre Schritt zu halten. »Jetzt wird alles gut, du wirst schon sehen.«
Rosy ist nicht nur zum Sprechen zu schwach, sie hat außerdem eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. Mehr, als mir die Augen zuzuwenden, ist ihr nicht möglich. Während ich neben der Bahre herlaufe, halte ich ihre Hand so fest, dass es mich selbst schmerzt.
»Ich komme gleich mit, weißt du? Ich habe mir in Stratford ein Zimmer gemietet, gar nicht weit von Dr. Brendergasts Klinik entfernt. Wir werden ständig zusammen sein, meine Schwertlilie, während du allmählich wieder gesund wirst. Und unser Junge natürlich auch.«
Ich rede und rede, während wir Korridore durcheilen, mit dem Fahrstuhl nach unten gebracht und ins Freie gefahren werden. Ich rede mir meine eigene Angst vom Leib. Ich rede gegen die Sorge an, die mich durchflutet. Als wir die gepflasterte Auffahrt erreichen, wird mein Geplapper von den Rotorblättern des Rettungshubschraubers überdröhnt, die sich langsam zu drehen beginnen. Rosy werden Kopfhörer aufgesetzt, man hebt sie in den Helikopter, ich stolpere hinterher. Nur Augenblicke später heben wir ab.
Ich betrachte Rosys Gesicht unter der Maske; erschreckend, wie schmal es geworden ist. Von Anfang an liebte ich ihr selbstbewusst vorgeschobenes Kinn, ihre kräftigen Wangen, die sich bei Anzeichen von Ärger röten, die leuchtend blauvioletten Augen, die ihr den Kosenamen Schwertlilie eingebracht haben. Wohin ist diese Rosemary verschwunden, die stolzeste Blume in meinem Garten? Die Schwertlilie ist krank. Damit sie nicht vollends verwelkt, bringt man sie an einen Ort, der die Rettung für sie bedeuten könnte. Doch was soll aus uns werden, wenn Brendergasts Künste versagen?
Ich reiße den Kopf hoch. Es kommt nicht infrage, solchen Gedanken Tür und Tor zu öffnen. Die lichten und glücklichen Zeiten mit Rosy will ich dagegensetzen, den stürmischen Tag zum Beispiel, als wir uns am Strand von Weymouth zum ersten Mal begegneten. Rosy war beim Muschelsuchen und hatte ein Baby im Tragegurt dabei. Es war das Kind ihrer Schwester, doch auf diese Weise sah ich Rosemary schon damals in einer sinnbildlich mütterlichen Situation. Danach hat es fünf Jahre gedauert, bis wir tatsächlich die frohe Botschaft hören durften, dass auch uns ein Kind geschenkt werden würde. Der Beginn von Rosys Schwangerschaft war die schönste Zeit meines Lebens. Die ruhigen Abende vor dem Kamin im Schloss, den ich allerdings nicht anheizen konnte, da der Schornstein nicht mehr betriebstauglich ist. Die lustigen Situationen, als Rosy allmählich nicht mehr in ihre bevorzugte Kluft passte, helle Cordhose und Lederjacke, und sich stattdessen weitere Sachen zulegen musste. Selbst die groteske Umbuchung unserer Flitterwochen von Südfrankreich nach Schottland hätte in meiner Erinnerung etwas Amüsantes bekommen, wären die Folgen nicht so dramatisch gewesen. Rosy war einer befreundeten Kommissarin zu Hilfe geeilt und hatte einen vierfachen Mord aufgeklärt. Sie bezahlte diesen Erfolg mit ihrer Gesundheit, auch die Geburt unseres Kindes wurde dadurch aufs Spiel gesetzt.
Rosy ist für ihren Beruf geboren. Ihr kriminalistischer Blick dringt tief, sie besitzt die Fähigkeit, Zusammenhänge aufzuspüren, die den meisten von uns verborgen bleiben. Doch wie es aussieht, wird Rosy lernen müssen, ohne diesen Beruf weiterzuleben, denn selbst im Fall einer Besserung wird sie den Job als Chief Inspector wohl an den Nagel hängen müssen. Während ich das geliebte Gesicht unter der Sauerstoffmaske betrachte, wird mir klar, welch ein Opfer das für sie bedeuten würde.
Fünfzehn Minuten nachdem wir abgehoben haben, landen wir bereits vor der Privatklinik. Unweit von Shakespeares Geburtsort hat Brendergast eine Villa am Ufer des Flusses Avon erstanden und nach seinen Vorstellungen umgebaut. Dort erwartet den Besucher nicht die sterile Kühle eines staatlichen Krankenhauses, sondern die Wohlfühlatmosphäre einer Wellnessklinik. Im Inneren des viktorianischen Gebäudekomplexes scheint alles auf die Bedürfnisse und den Geschmack von Frauen ausgerichtet zu sein. Die Farben der Wandvertäfelungen spielen in sanften Erdtönen, frische Blumen erfreuen in ornamentreichen Vasen den Blick.
Kaum dort angekommen, bedeutet Rosys Einlieferung auf die Intensivstation schon wieder Abschiednehmen für uns, ein Goodbye, das die dahindämmernde Kommissarin kaum mitbekommt. Mir aber treibt es die Tränen in die Augen. Verwirrt und überfordert sehe ich Rosy entschwinden, hinter ihr schließen sich die Automatiktüren.
Der Empfangsbereich von Brendergasts Domizil erinnert an den Tempel eines Hohepriesters. Eine stuckgeschmückte Kuppel erhebt sich über dem ovalen Raum, von dem mehrere Zugänge wie die Tore eines Geheimbundes zu den Abteilungen führen. Steinerne Karyatiden bewachen diesen Ort. Kopfschüttelnd über die überladene Pracht wende ich mich zum Ausgang, um mich in meinem bescheidenen B&B einzuquartieren.
»Lord Escroyne?«, höre ich eine dunkle Frauenstimme.
»Ja, bitte?« Wer kennt an diesem Ort meinen Namen?
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«, fragt die Frau hinter dem Empfangsschalter, die dort eigentlich nichts verloren hat. Ich meine nicht ihre fachliche Qualifizierung, sondern ihre äußere Erscheinung. Keira Hoffman, wie es auf ihrem Namensschild steht, überragt mich um einen halben Kopf. Sie ist schlank, sie ist vielleicht Ende zwanzig, glatt und schwer fällt brünettes Haar über ihre Schultern. »Es gäbe da noch einige Formalitäten zu erledigen, Mylord.«
»Lassen Sie den Lord bitte weg und nennen Sie mich Mister Escroyne.« Ich trete an den Tresen aus poliertem rosafarbenem Marmor.
»Zunächst möchte ich Ihnen das künftige Apartment Ihrer Frau zeigen, wenn Sie gestatten, Sir.« Miss Hoffman nimmt sich die Zeit für einen reizenden Augenaufschlag. »Wir haben ihr das Apricot reserviert, es ist eine unserer schönsten Einheiten.«
»Apartment?« Ich schaue in Augen, die von Graugrün ins Türkise spielen. »Kommt Rosy denn auf kein Krankenzimmer?«
»Krankenzimmer gibt es bei uns nicht, Mylord … Verzeihung, Mr Escroyne. Unsere Oasen vermitteln den Patientinnen ein Gefühl, das sie an zu Hause erinnern soll oder an einen Urlaub, keinesfalls an einen Krankenhausaufenthalt. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«
In ihrem malvenfarbenen Kostüm schreitet Miss Hoffman voraus und führt mich an einen Ort, den man als zu schön, um wahr zu sein bezeichnen müsste, hätte seine luxuriöse Atmosphäre nicht etwas unangenehm Protziges. Anders als in Kliniken für Normalsterbliche haben die Zimmer bei Brendergast keine Nummern, sondern tragen die Namen von Farben. Crimson, Cerulean, Roseate lese ich auf den Korridoren. Für Rosemary soll es also die Aprikose sein. Der Innendekorateur hat diesem Motto alles untergeordnet, man wird hier gleichsam umspült von der samtigen, freundlichen Frühlingsfarbe. Das Außergewöhnliche an diesen Räumen ist jedoch die Aussicht. Mein Blick schweift über den gemächlich dahinfließenden Avon, dahinter wird das Weideland von einem Laubwäldchen eingefasst. In der Ferne entdecke ich eine steinerne Bogenbrücke aus elisabethanischer Zeit.
»Ist Ihre Frau nicht die Leiterin der Mordkommission von Gloucester?«, fragt Miss Hoffman unvermittelt, nachdem sie mir Gelegenheit gegeben hat, mich umzusehen.
»Das war sie, bis zum Eintritt in den Mutterschutz«, antworte ich, überrascht, woher Miss Hoffman nach unserer überstürzten Anreise diese Information haben könnte.
»Es heißt, Lady Escroyne hätte, als sie bereits schwanger war, einen vierfachen Mord aufgeklärt.« Die Empfangsdame schenkt mir ein sylphidenhaftes Lächeln.
»Das stimmt leider. Meine Frau hat den Fehler begangen, sich in die Mordsache einer Kollegin einzuschalten«, erwidere ich bedrückt. »Die Folge ist, dass sie heute zwischen Tod und Leben schwebt.«
»Nicht mehr lange, Sir.« Miss Hoffman tritt ebenfalls ans Fenster. Der Duft ihres herben Parfums weht mich an. »Doktor Brendergast ist ein begnadeter Arzt. Wenn irgendjemand Ihrer Frau helfen kann, dann er.«
»Ich bin so froh …« Nachdenklich schüttle ich den Kopf.
»Worüber, Mr Escroyne?«
»Ich bin so froh, dass Rosy in diesen Mauern vor der Beschäftigung mit Mord und Totschlag bewahrt bleiben wird. Sie darf sich nicht mehr mit Verbrechen und Verbrechern abgeben, auf gar keinen Fall.« Ich drehe mich zu der Empfangsdame um. »Verstehen Sie das, Miss Hoffman?«
»Ja, Sir, ich kann Sie voll und ganz verstehen.«
Gemeinsam widmen wir uns der Aussicht vor Rosemarys Apartment. Apricot, denke ich, ja, vielleicht ist diese friedliche Farbe genau das Richtige für die kranke Schwertlilie.
Willys Heimat
Was gibt es Neues in Ihrem Fall?«, will Rosemary Escroyne wissen, die kranke Kommissarin. Sie fragt von ihrem Bett auf der Intensivstation aus, während sie per Knopfdruck ihre Rückenstütze hochfährt. Aufrecht sitzt Rosy in einem von Technik umzingelten Bett, wo ihre vitalen Werte in elektronische Signale umgewandelt werden.
Zehn Tage sind vergangen und Dr. Brendergast hat sein Versprechen eingelöst: Rosemary fühlt sich besser, erheblich besser sogar. Ihre Werte sind stabilisiert, dem Fötus geht es den Umständen entsprechend gut, ihrer baldigen Verlegung von der Intensivstation ins Apricot steht nichts mehr im Wege. Doch statt diese wunderbaren Neuigkeiten zu genießen und sich voll und ganz auf ihre Schwangerschaft zu konzentrieren, was tut Rosemary, was tut die notorisch unverbesserliche Detektivin? Ihr Geist sucht Nahrung und findet sie in der Person von Dr. Brendergast.
Im Inneren seiner Burg scheint der Doktor weniger unter dem Drang zu leiden, seine Bedeutung hervorzukehren. Hier tritt er entspannter, man könnte fast sagen, bescheidener auf. Brendergast dreht sich vor dem Ultraschallmonitor um. »Woher wissen Sie von der Angelegenheit, Mrs Escroyne?«
»Die Sensationswellen, die Ihr Fall auslöste, haben sich bis nach Gloucester ausgebreitet.«
»Es ist nicht mein Fall, sondern ein kriminalistischer Irrtum, den die Medien aufgrund meiner Position weidlich ausschlachten«, erwidert er, doch selbst in seinem Bedauern schwingt Eitelkeit mit. »Sie haben also auch davon gehört?«
»Ich habe mich sogar ein wenig damit beschäftigt.«
Rosy spricht langsamer als gewohnt, bei jedem Satz scheint sie in sich hineinzuhorchen, ob das Gespräch ihr schaden könnte. Die Erinnerung an ihren Breakdown ist noch frisch, sie will jede krank machende Erregung vermeiden und dennoch: Rosemary spielt mit dem Feuer.
Mit einer Rolle Haushaltspapier tritt Brendergast an ihr Bett und säubert Rosys Bauch vom Ultraschallgel. »Beschäftigt? Inwiefern?«
»Vor Jahren hatte ich einen ähnlichen Fall. Ein Ehemann wurde verdächtigt, den Liebhaber seiner Frau umgebracht zu haben, weil dieser die Ehefrau sexuell von sich abhängig gemacht und dazu gebracht hatte, als Prostituierte für ihn zu arbeiten. Man nahm als Motiv Mord aus Rache an. Mein Chef und der Staatsanwalt waren von dieser Lösung überzeugt.«
»Sie aber nicht?« Bedächtig wischt der Weißhaarige über den vorgewölbten Bauch seiner Patientin.
»Nein, ich blieb misstrauisch.«
»Sie sind eine grundsätzlich misstrauische Person, habe ich recht?«
»Ich würde es wirklich vorziehen, den Menschen zu vertrauen. Leider machen sie es mir in meinem Beruf so schrecklich schwer.« Sie betrachtet die auf- und abgleitende Hand des Arztes. »Die Menschen lügen, Doktor Brendergast. Sie sagen bedauerlich selten die Wahrheit.«
»Wie ging der Fall des Ehemannes aus?«
»Ein Rivale jenes Zuhälters hatte ihn erstochen und den Verdacht auf den Ehemann gelenkt.« Rosy hüstelt. Seit ihrer Einlieferung hat sie noch nie so viel gesprochen.
»Überanstrengen Sie sich nicht.« Brendergasts Hand bleibt sanft auf Rosys Bauch liegen. »Im Übrigen nehme ich Ihre Geschichte als gutes Omen. Auch in meinem Fall wird der Ehemann frei ausgehen.« Behutsam steht er auf.
»Nur dass bei Ihnen nicht die Gattin betroffen war, sondern Angelina, Ihre Tochter.« Rosy zieht den blütenweißen Kittel über ihren Bauch.
»Sie war mein einziges Kind, Mrs Escroyne.« Am Fußende des Bettes richtet Brendergast sich auf. »Angie war … Sie ist in die Fänge eines Teufels geraten. Sie war ihm hilflos ausgeliefert, dieser skrupellosen, menschenverachtenden Bestie. Was sollte ich tun?« Seine Stimme klingt heiser, seine pfauenhafte Eleganz ist verschwunden. »Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn tun?«
»Sie hätten die Polizei ihre Arbeit machen lassen sollen. Stattdessen haben Sie die Sache selbst in die Hand genommen. Ihre Tochter war verschwunden und Sie haben sie …«
»Ich habe sie gesucht.« Da Brendergast vor der Wandbeleuchtung steht, ist er für Rosy nur als Silhouette erkennbar. »Weil ich sie retten wollte. Niemand sonst hätte sich darum gekümmert, auch die Polizei nicht.«
In diesem Moment begreift Rosy, dass die eitle Attitüde von Brendergast bloß eine Fassade ist, die er aufrechterhält, um bei den Patientinnen die Überzeugung seiner Unfehlbarkeit zu bewahren. Doch im Augenblick steht nicht mehr ein Herr über Leben und Tod vor Rosemary, keine gynäkologische Koryphäe, sondern ein alternder Mann, der Hilfe braucht.
Sanfter fährt sie fort: »Trotz Ihrer Anstrengungen konnten Sie nicht verhindern, dass Ihr Kind …« Eine winzige Pause. »… sich das Leben genommen hat.«
»Dass sie in den Tod getrieben wurde«, entgegnet er metallisch scharf.
»Dafür gibt es keine Beweise, Sir.«
»Gerade diese Beweise wollte ich erbringen. Ich wollte mit dem Mann sprechen, der für das Leid meiner Tochter verantwortlich ist.«
»Und haben Sie mit ihm gesprochen?«
Rosy beobachtet, wie der Arzt ins Licht tritt. »Nein. LeMarque wurde wenige Tage nach dem Tod meiner Tochter ermordet.«
»Ist er nicht mit einem Hackebeil erschlagen worden?«
»Es war eine Machete, Mrs Escroyne.«
»Und das wissen Sie so genau, weil Sie seine Leiche gefunden haben.«
»Und zwar an dem Abend, als ich ihn aufgesucht habe, um mit ihm zu sprechen.«
»Die Polizei und der Staatsanwalt nehmen an, dass Sie die Tat selbst begangen haben.«
Brendergast mustert seine Patientin aufmerksam. »Verhören Sie mich etwa, Mrs Escroyne?«
»Das würde ich in meinem Zustand nicht wagen«, antwortet sie ernsthaft. »Sie selbst würden es mir verbieten.«
»Das tue ich tatsächlich.« Er streift die Latexhandschuhe ab und lässt sie in den Abfalleimer fallen. »Ihre gesamte Energie muss sich jetzt auf Ihre Genesung und die Gesundheit Ihres Kindes konzentrieren.«
***
Ich könnte Dr. Brendergast dafür umarmen, wie er mit Rosy umspringt. Ich würde mich persönlich bei ihm bedanken, wäre ich nicht anderweitig unterwegs. Während Rosemary sich, kaum dass es ihr besser geht, allen guten Vorsätzen zum Trotz mit einem Mordfall beschäftigt, bin ich ahnungslos in der Umgebung des Städtchens unterwegs, das von einem einzigen Namen beherrscht, überwuchert und ernährt wird, dem des Barden William Shakespeare. Stratford könnte ein wunderbarer Ort voll Ruhe und Schönheit sein, eine Perle der Cotswolds, wäre er nicht zugleich Shakespeares Geburtsort und würde er aus diesem Grund nicht aufs Unerträglichste vermarktet werden. Bei der allgegenwärtigen touristischen Präsenz Shakespeares in Bild und Skulptur verwundert es, dass nicht auch noch die Pflastersteine sein Konterfei tragen. Alles hier ist shakespearisiert, Willy ziert die Servietten in den Teestuben, die Blumenbeete der Parks und gäbe es die sprichwörtliche britische Zurückhaltung nicht, sicherlich würde man sogar auf dem Klopapier noch Shakespearesonette finden.
Ich verdanke diesem Mann wunderbare Theaterabende und so manche Einsicht in das Wesen des Menschen und genau darum finde ich: Das hat Willy nicht verdient. Er mag ein leichtlebiger, dabei geschäftstüchtiger Bursche gewesen sein, trotzdem war er keine Comicikone, die man als Massenware entstellen und ausstellen darf.
Daher bleibe ich der Shakespearestadt lieber fern und konzentriere mich in den Stunden, wenn ich nicht bei Rosy bin, auf die Natur. Ähnlich wie in Stratford mutet auch in der Landschaft manches bilderbuchhaft an, doch dieses Bilderbuch lasse ich mir gefallen. Ich habe Buchen gesehen, die in derart verwunschenen Windungen emporwachsen, dass sie wie Geister des Waldes anmuten. Ich fand Kräuterwiesen, die sogar im Herbst noch blühen. Ich kam durch Marktstädte, wo die Limestone-Häuser und Perpendicular-Kirchen jene mittelalterliche Romantik verströmen, die gern als Sinnbild unseres Königreichs angesehen wird.
Was ich in diesen Tagen auch unternommen habe, ich tat es mithilfe eines unerlässlichen Begleiters, meines Regenschirmes. Es mag an der Jahreszeit liegen oder an den nahen Bergen, die die Wolken anziehen, Tatsache ist, seit Rosy eingeliefert wurde, regnet es in einem fort. Ich meine damit keine gelegentlichen Schauer, keinen Tröpfelregen, der von sonnigen Abschnitten unterbrochen wird, ich spreche von massivem Dauerregen. Dieser Regen klopft auf Dächer, er plätschert in den Dachrinnen, nachts spiegeln sich die Ampeln und Straßenlichter in den Pfützen, tagsüber überzieht der graue Regenschleier das ganze Land. Selbst mithilfe meines treuen Schirmes kam ich noch von keinem Ausflug anders als durchnässt zurück und muss ständig Schuhe und Kleidung nach dem Rotationsprinzip an der Heizung trocknen, während ich die getrockneten Sachen wieder anziehe.
Aber ich wäre kein Engländer, wenn mich das Wetter auch nur im Geringsten abschrecken könnte. Ich beginne meine Erkundungen mit dem Auto, steige an inspirierenden Orten aus und mache mich zu Fuß auf den Weg. Mitunter sinke ich knöcheltief ein, manchmal fährt eine Bö in meinen Schirm und stülpt das Innere nach außen, trotzdem kann ich auf solchen Gängen meiner Seele freien Lauf lassen.
Ich könnte es, wenn mich die Sorge und die Angst nicht auf Schritt und Tritt begleiten würden. Sorge und Angst verfolgen mich bis in meinen Schlaf. Wenn ich, nachdem ich Rosemary einen Gutenachtkuss gegeben habe, in meine Pension zurückkehre und mich zur Ruhe begebe, tauchen die Angstgespenster vor mir auf. In den ersten Nächten war es die Sorge um Rosy und unser Kind. Da es beiden gottlob besser geht, haben sich die Nachtgespenster in Zahlengeister verwandelt, die nun mein Bett umschwirren. Wie soll ich die finanziellen Mittel aufbringen, die für Rosys Rettung erforderlich sind?
NHSNHS
»Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?«
»Weil Sie über beträchtliche Grundstückswerte verfügen, die zur Deckung der Krankenhauskosten herangezogen werden können.«
»Sie haben sich über mich erkundigt?«, frage ich konsterniert. »Sie haben in meinen Einkommensverhältnissen herumgeschnüffelt?«
»Bevor wir eine Patientin aufnehmen, gehört ein genereller Check-up zu unserer Routine.«
Mit ihrer Hochglanz-Attitüde beginnt mich Miss Hoffman zunehmend zu nerven. »Und wenn ich diesen Check-up nicht bestanden hätte, was hätten Sie dann getan? Meine schwer kranke Frau abgewiesen?«
»Wir sind selbstverständlich zu einer Notfallversorgung verpflichtet«, entgegnet Miss Hoffman. »Wenn der Notfall allerdings beigelegt ist, bitten wir um Verständnis, dass unser Institut eine privat finanzierte Einrichtung ist und seine Inbetriebhaltung viel Geld kostet.« Medusenhaft nickt sie zu ihren Worten. »Sie sollten sich aber keine Sorgen machen, Sir. Unsere Klinik steht in enger Verbindung mit dem Bankhaus Anstruther & Son, das schon vielen unserer Kunden Kredite zu annehmbaren Konditionen angeboten hat.«
»Kunden?« Ich beuge mich so weit über den Tresen, dass Miss Hoffman um eine Winzigkeit zurückweicht. »Sie sagten Kunden, nicht Patienten.«
Ihr reservierter Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein sonniges Lächeln. »Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Frau bei uns nicht die allerbeste Behandlung erfährt? Können Sie leugnen, dass Doktor Brendergasts Therapie Mrs Escroyne nach einer kritischen Phase wieder stabilisiert hat? Wollen Sie das bitte bedenken, wenn Sie uns übertriebenen Geschäftssinn vorwerfen?«
Das Schreckliche an ihrer Antwort ist, dass Keira Hoffman recht hat. Auch wenn der luxuriöse Firlefanz nicht nötig wäre, ohne Brendergasts Hilfe sähe unsere Situation ziemlich ernst aus.
»Können Sie mir sagen, wen ich in dieser Bank kontaktieren soll?«, leite ich höflich meinen Rückzug ein.
Miss Hoffman ist nicht nachtragend. Gönnerhaft legt sie für einen Moment ihre Hand auf meinen Arm. »Einen Augenblick, Sir.« Gleich darauf beuge ich mich über einen Flyer, den ihre gepflegten Finger vor mir entfalten.