Buchinfo
Vom einen auf den anderen Moment ändert sich das Leben des 16-jährigen Seth schlagartig. Seine Mutter liegt tot in ihrem Jeep, Todesursache: Gift. Seth muss unbedingt herausfinden, warum sie ermordet wurde. Unverhofft erhält er Unterstützung von Azura, einem ganz besonderen Mädchen, das Seth sofort in ihren Bann zieht. Doch mit ihren Nachforschungen bringen sich die beiden in große Gefahr. Denn Seth und Azura haben einen brutalen Verfolger, der auch nicht vor dem Schlimmsten zurückzuschrecken scheint …
Autorenvita
Tom Llewellyn war als Fachjournalist und Texter tätig und ist Mitbegründer des Guerilla-Kunst-Projekts »Beautiful Angle«. Ebenso hat er »Rotator« miterfunden, ein vierteljährliches Magazin über Kunst, Musik und Design. Tom lebt mit seiner Frau und vier wilden Kindern in Tacoma, Washington.
Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen, als Nadel auf meinem Handy anrief und mich fragte, ob ich eine Uhr für ihn abholen könne. Mom schlief noch. Sie würde das Auto erst heute Abend brauchen, um zur Arbeit zu fahren. Also nahm ich die Schlüssel ihres Jeeps und machte mich auf den Weg zu Nadels Uhrenladen.
Nadel saß in seiner Werkstatt hinter dem Verkaufsraum. Er hatte eine dicke Uhrmacherlupe um den fast kahlen Kopf gebunden, beugte sich über einen Schraubstock und feilte eine Kerbe in einen bleistiftgroßen Eisenstab. Es roch nach Eisenspänen und Maschinenöl.
»Bist du das, Seth?«
»Hey, Mr Nadel. Woran arbeiten Sie?«
»An einer alten Waltham Uhr. Achttagewerk. Lohnt sich eigentlich nicht mehr, sie zu reparieren, aber die Besitzerin meint, die Uhr besäße für sie sentimentalen Wert.« Nadel lebte seit über 40 Jahren in den Staaten, sprach aber immer noch mit unverkennbar deutschem Akzent. »Für sie hat die Uhr Liebhaberwert, für mich bedeutet die Reparatur genügend Geld für die Miete.«
»Wo soll ich die Uhr abholen?«
»Die Adresse liegt da drüben auf der Werkbank, bei der Bohrmaschine.«
Ich fand einen Zettel mit dem Namen Lear und einer Adresse in Old Town. Eine noble Gegend.
Nadel sah mich mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Ihr Dienstmädchen hat angerufen. Das sind stinkreiche Typen, also benimm dich ja anständig.«
Ich verließ den Laden wieder und stieg ins Auto. Nadel bezahlte mir zwanzig Mäuse, wenn ich eine kaputte Uhr abholte oder eine reparierte wieder zurückbrachte. Es war leicht verdientes Geld. Er fuhr nicht gern Auto, deswegen bezahlte er lieber jemanden dafür, obwohl er ansonsten ein schrecklicher Geizhals war. Ich steuerte den Wagen auf den Heath Way, bog kurz vor der Highschool links ab und folgte der Tacoma Avenue am Tennisclub vorbei.
Das Haus der Lears befand sich ein ganzes Stück von der Straße zurückgesetzt. Der Rasen vor dem Haus war so groß, dass ein kleines Flugzeug darauf hätte landen können, und überall standen Wasserspiele und Statuen von spielenden Kindern herum. Sie wirkten so lebensecht, als würden tatsächlich Kinder auf dem Rasen spielen, nur ohne den lästigen Lärm.
Ich ging die gefühlt hundert Stufen zur Veranda hinauf, hob den schweren Türklopfer der Eingangstür und ließ ihn auf die Metallplatte fallen. Eine Frau mit lateinamerikanischen Zügen und in einer gestärkten weißen Uniform öffnete die Tür.
»Bist du wegen der Uhr hier?« Ihr Akzent war mexikanisch, aber nicht wie man ihn in billigen Taco-Restaurants zu hören bekam, sondern in einer etwas gehobeneren Version.
»So ist es.«
Sie bedeutete mir, einzutreten. »Bitte.«
»Danke.« Nachdem wir die Freundlichkeiten ausgetauscht hatten, durchquerte sie eine Eingangshalle von der Größe einer Turnhalle. Das Echo ihrer Schritte verhallte in einem entlegenen Flur und ich hoffte, dass sie irgendwann an diesem Tag noch einmal zurückkommen würde.
Ich sah mich um. Die Decke musste etwa sechs Meter hoch sein. Ein riesiger Kristallleuchter hing auf halber Höhe, aber das einzige Licht kam aus einer bogenförmigen Tür, die in einen anderen Raum führte. Im Türrahmen bemerkte ich plötzlich das Gesicht eines Mädchens. Ich konnte nur ein Auge und einen Wasserfall aus braunen Haaren erkennen, aber wenn der Rest des Gesichts dazu passte, sah sie ziemlich süß aus.
»Nettes Haus hast du da«, sagte ich in Richtung Tür.
Das Mädchen trat hervor. Sie war genauso hübsch, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie trug ein schwarzes Tanktop und einen kurzen Jeansrock, und ihrer Figur sah man an, dass sie sich in schicken Fitnessclubs und beim Tanzen mit Eliteschülern fit hielt. Ich hatte sie schon einmal an der Schule gesehen – sie gehörte zu dem Typ Mädchen, den man nicht mehr vergisst –, aber ich kannte ihren Namen nicht. Sie hing mit den anderen Reichen ab. Wenn ich mich richtig erinnerte, verbrachte sie viel Zeit am Arm von Erik Jorgenson, einem der beliebtesten Typen der Heath High.
»Ja, total gemütlich«, antwortete das Mädchen mit einer Stimme, die überraschend rau klang. »Es ist so groß und leer, dass man sein eigenes Echo hören kann. Ich würde jederzeit mit dir tauschen.«
»Das bezweifle ich, wenn du wüsstest, wie meine Wohnung aussieht.«
»Wo wohnst du?«
Ich musste lachen. »Das verrate ich dir nicht. Den Leuten in diesem Teil der Stadt kann man nicht trauen.«
»Du wohnst nicht wirklich in einer Wohnung, oder?«
»Du sagst Wohnung, als wäre es etwas exotisches. Es ist ein Zimmer mit einem Bett drin.«
»Klingt ziemlich gefährlich. Sag mir wo.«
Ich gab nach. »Du steigst in Daddys BMW und fährst die K Street runter bis zur Kreuzung Division Street. Ab da heißt die Straße Martin Luther King Jr. Way, daran erkennst du, dass du in meinem Teil der Stadt angekommen bist. In deinem Teil könnten sie eine Straße nicht so nennen, das würde sich negativ auf die Immobilienpreise auswirken. Du fährst weiter, am Pfandleihgeschäft vorbei, und kurz darauf siehst du ein großes rotes Schild mit der Aufschrift Boxclub. Such dir einen Parkplatz und schließ unbedingt das Auto ab, dann betrete den Boxclub. Wenn ChooChoo und die anderen Männer da drinnen jemanden wie dich sehen, werden sie wahrscheinlich ein paar Wörter benutzen, die du noch nie zuvor gehört hast, aber ignorier sie einfach. Geh bis ganz nach hinten durch, bis zum rostigen Heizungskessel und dann die Treppe hoch, bis du vor der einzigen Tür stehst. Das ist die Tür zu meiner Wohnung. Küche, Bett, Fernseher, alles in einem Raum, wirklich praktisch. Die ganze Wohnung würde wahrscheinlich in deine Badewanne passen.«
Ihre großen Augen wurden noch ein Stück größer. »Wie alt bist du?«
»Alt genug. Sechzehn.«
»Ich auch. Ich kenne dich. Du gehst auch auf die Heath High, oder?«
»Ja. Du, ich muss wieder los. Könntest du der Señora zufällig helfen, die Uhr zu finden, damit ich hier verschwinden kann?«
Sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen, sondern schob lediglich ihre Unterlippe ein Stück vor.
»Wie heißt du?«
»Seth.«
»Stimmt, Seth. Und du hast so einen lustigen Nachnamen, wenn ich mich richtig erinnere. Was machst du diesen Freitag?«
»Warum? Brauchst du jemanden zum Rasenmähen?«
»Ich gehe auf eine Party und Janine würde total ausflippen, wenn ich dich mitbrächte.«
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als Janine zum Ausflippen zu bringen. Hör mal, ähh –«
»Azura.« Als sie ihren Namen sagte, wirkte sie plötzlich verlegen und senkte den Kopf.
»Azura? Azura Lear? Klingt wie der Name einer Koffermarke. Hör mal, Azura, ich bin nicht der große Partygänger. Ich glaube, ich nehme einfach die Uhr und gehe wieder nach Hause, wenn das für dich in Ordnung ist.«
»Ist es nicht.« Sie drehte sich um und ging langsam Richtung Flur. Ihr Jeansrock schwang verführerisch hin und her und mich umwehte eine hauchzarte Brise Parfum. Als sie den Flur erreichte, wandte sie sich noch einmal zu mir um und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. Ich war mir nicht sicher, ob sie versuchte, sich an etwas zu erinnern oder ob sie mich ermahnte, leise zu sein. Dann tänzelte sie außer Sicht.
Das Dienstmädchen kehrte mit einem Karton zurück, in dem sich die Uhr befand. Ich verließ das Haus mit einem Gracias, Señora, und wusste selbst nicht, wen ich mit meinem schlechten Spanisch eigentlich beeindrucken wollte.
Als ich mit dem Karton die Werkstatt betrat, saß Nadel immer noch über den winzigen Metallstift gebeugt und feilte weiter daran herum. Mom machte in seinem Laden sauber, seit ich ein Baby war. Anfangs hatte sie tagsüber gearbeitet und mich oft mitgebracht. Nadel hatte sich darüber beschwert: »Fräulein, das hier ist kein Ort für Babys. Zu viele Kleinteile zum Verschlucken. Und bei Babygeschrei kann ich nicht arbeiten.« Aber Mom erklärte ihm, dass ich anders war als andere Kinder. Ich würde still sein und nichts durcheinanderbringen.
Mom hatte mir erzählt, dass ich oft stundenlang neben Nadel gesessen und ihn bei seiner Arbeit beobachtet hatte. Schon bald gab er mir öliges Werkzeug zum Spielen und ließ mich in Kisten mit kaputten Uhrfedern und abgenutzten Zahnrädern wühlen. Mit acht Jahren konnte ich, mit ein bisschen Hilfe von Nadel, bereits die meisten einfachen Pendeluhren reparieren.
Nadel brachte mir bei, dass viele Dinge, die den Leuten zerbrechlich erscheinen – antike Uhren zum Beispiel – in Wirklichkeit äußerst robust sind. Und dass beinahe alles wieder repariert werden kann. »Meine Kunden müssen vorsichtig sein. Wenn sie etwas kaputt machen, kostet das Geld. Aber ich, ich muss nicht vorsichtig sein. Wenn ich etwas kaputt mache, dann repariere ich es und berechne es ihnen extra.« Nadel konnte alles reparieren, und das wusste er auch. Daher lächelte ich, als er mir den Karton nun aus der Hand riss und ihn mit einem dumpfen Knall auf die Werkbank fallen ließ, als enthielte er Alteisen anstatt einer Antiquität.
»Wie war das Haus?«
»Groß.«
»Wer hat die Tür aufgemacht?«
»Das Dienstmädchen.«
Nadel nickte. Er öffnete den Karton und förderte eine Pendelwanduhr zutage, etwa einen Meter lang und geformt wie ein klobiges Banjo. »Was für ein Schmuckstück«, sagte er und fuhr mit den Fingern über das gemaserte Holz des Gehäuses. »Frühes 19. oder spätes 18. Jahrhundert. Eine Simon Willard – siehst du die Signatur? Schau dir die Fugen an. Perfekt verarbeitet. Und mit Goldlegierung, auch wenn sie an den meisten Stellen abgeplatzt ist. Ich frage mich, ob ich sie auffrischen soll.« Nadel kannte sich mit allem aus, was irgendwie mit dem Reparieren von Uhren zu tun hatte. Mit seinem Vorrat an Chemikalien und seinem Wissen über Metallurgie erneuerte er die Gold- oder Silberlegierung einer Uhr, und mit dem Geschick eines Maschinisten fertigte er problemlos Ersatzteile aus Stahl an. Er hängte die Uhr an einem Haken an die Wand, richtete sie mit geübtem Auge aus, öffnete das Gehäuse und gab dem Pendel einen Schubs. Es schwang ein Mal, dann stoppte es.
Nadel nahm die Uhr wieder von der Wand und legte sie mit der Vorderseite nach unten auf ein Arbeitstuch. Die Rückseite der wunderschönen, alten Uhr war so schlicht und glatt wie die Unterseite eines Küchentischs. Mit einem Schraubenzieher brach Nadel lässig ein Holzpaneel von der Rückseite und sah in das Gehäuse hinein. Er runzelte verdutzt die Stirn und zog ein zerknittertes, vergilbtes Stück Papier hervor. »Diese reichen Schnösel – nutzen so eine wertvolle Uhr als Papierkorb.« Er warf das Papierknäuel in Richtung Mülleimer und verfehlte ihn nur knapp. Ohne das Holzpaneel zu befestigen, hängte er die Uhr zurück an die Wand und stieß das Pendel an. Die Uhr tickte fröhlich drauflos.
»Das ging ja fix. Soll ich die Uhr wieder zurückbringen?« Mit ein bisschen Mühe würde ich mich schon dazu durchringen können, das Mädchen noch mal wiederzusehen.
Nadel blickte finster drein. »Bist du verrückt? Du bringst sie frühestens in einer Woche zurück. Eher in zwei. Ein Dienstmädchen, das die Tür öffnet? Eine Simon Willard? Diese Lears haben Geld wie Heu, Seth. Und die Uhr ist eine saftige Rechnung wert. Ich versuche hier meinen Laden irgendwie am Laufen zu halten und du willst die Uhr nach fünfzehn Minuten wieder zurückbringen?«
Ich überließ Nadel seinen Gedanken an eine fette Rechnung, verließ den Laden durch den von allen Seiten tickenden Verkaufsraum und fuhr die sechs Blocks zum Shotgun Shack, um einen Happen zu essen. Als ich den Wagen parkte, lief gerade Oh my von Sweatshop Union im Radio, und der Song war so gut, dass ich sitzen blieb und ihn zu Ende hörte.
We need food, clothes, and shelter,
So we hustle till we’re old and helpless,
And if you do only go for the gold and wealth,
You’re still alone cause you don’t know yourself …
Am Ende des Songs war mir bereits das Wasser im Mund zusammengelaufen bei dem Gedanken an Miss Irenes Kochkünste. Ich betrat das Restaurant. Tische unterschiedlichster Größe und Form waren von Miss Irene so arrangiert worden, dass so viele Gäste wie möglich Platz fanden. Trotzdem gab es im Shotgun Shack zu Stoßzeiten meist nur noch Stehplätze. Der schwarz-weiße Linoleumboden war abgenutzt, aber sauber. An einer Theke standen eine Reihe von Barhockern, und hinter dem Tresen stand Checker Cab, ein dicklicher, gemütlicher Schwarzer, dessen Mund immer ein Stück offen stand, obwohl er weithin hörbar durch die Nase atmete.
Es war mitten am Nachmittag und das Restaurant beinahe leer. Stanley Chang, ein alter Hawaiianer, dessen vollständiger Name etwa eine Millionen Silben umfasste, saß in seiner Tischnische an der Eingangstür und beugte sich über eine zerknitterte Ausgabe der Tacoma News Tribune. Stanley Chang trug immer farbenfrohe Seidenhemden, selbst wenn der Rest seiner Kleidung alt und abgewetzt war. Heute hatte er ein dunkelrotes Hemd mit goldenem Blattmuster an. Es passte zwar nicht zu der ziemlich knapp bemessenen Tweedjacke, die er darüber trug, aber das Hemd war der Knaller.
Stanley behauptete, er käme wegen des Essens her, aber niemand glaubte ihm. Die Südstaaten-Küche, die im Shotgun Shack serviert wurde, war nicht sonderlich populär in Honolulu, Stanleys Heimat. Jeder wusste, dass Miss Irene der wahre Grund dafür war, dass er fast täglich hier aß. Seine Liebe zu Miss Irene war süßer als der Zuckerrübensirup auf ihrem Maiskuchen. Wenn sie zu seinem Tisch kam – sie bediente ihn persönlich, so oft sie konnte –, zupfte er den Kragen seines Hemdes zurecht und sagte in gedehntem Inselakzent: »Mahalo, Ko’u Ku’u Lei«. Sie kicherte dann und sagte: »Stanley Chang, wenn du dieses tropische Geplapper nicht lässt, werde ich eines Tages noch schwach.« Dann lachte sie, doch Stanley sah sie nur aus dunklen, verliebten Augen an.
In einer Ecke saß King George und sprach laut in sein Handy. George war nur ein Jahr älter als ich, schien aber doppelt so viel Raum einzunehmen. In der Mittelstufe war er so etwas wie ein Mythos gewesen, mit dem man Sechstklässlern Angst machte. Du hältst besser die Klappe, hatten die Achtklässler gedroht, oder du kriegst es mit King George zu tun. Und das wollte wirklich niemand. Soweit ich mich erinnern konnte, war George schon mindestens drei Mal in Jugendhaft gewesen.
Mit vierzehn hatte er die Schule geschmissen, und inzwischen trug er immer ein faustgroßes Bündel mit Geldscheinen in der Hosentasche herum. Wenn ihn irgendjemand fragte, woher das Geld stammte, warf George ihm den Blick zu und erstickte damit jede weitere Frage im Keim. Der Blick bedeutete: »Wenn du mich noch einmal fragst, werde ich dir grauenvolle Schmerzen zufügen.«
Ich nahm an, dass Miss Irene vor George Angst hatte, obwohl George gerade mal siebzehn war. Sie beschwerte sich andauernd über ihn, ganz leise hinten in der Küche, ließ ihn aber trotzdem so lange im Restaurant abhängen, wie er wollte, selbst wenn zehn andere Gäste auf einen Tisch warteten.
Soweit ich das beurteilen konnte, tat King George nur drei Dinge: Er saß im Shotgun Shack und aß Steaks, stemmte Gewichte für seine Oberarme, die in etwa den Umfang meiner Beine besaßen, und kurvte mit seinem schwarzen BMX-Fahrrad durch die Stadt. Er hatte keinen Führerschein, weil er noch keine einzige Fahrstunde absolviert hatte. Eine Zeit lang war er trotzdem mit einem schwarzen Geländewagen durch die Gegend gefahren, aber die Polizei hatte ihn ein paarmal angehalten und schließlich den Wagen beschlagnahmt. Deswegen war er auf das Rad umgestiegen, das allerdings ziemlich mickrig wirkte unter seinem massigen Körper.
Im Shotgun Shack rief King George seine Fleischbestellung immer quer durch den ganzen Laden: »Miss Irene! Bringen Sie mir ein Steak und ’ne Rinderbrust!«
»Was willst du trinken?«
»Ich will einen Proteinshake, aber da das für euch ja offenbar zu kompliziert ist, nehm ich ’nen schwarzen Kaffee und ein Glas Milch.«
»Du solltest Salat essen oder frisches Obst«, sagte Stanley Chang dann und sah ihn verstohlen über seine Zeitung hinweg an. »Das ganze Fleisch und keine Ballaststoffe, das gibt Verstopfung.«
»Du hältst besser die Klappe, alter Mann, oder du spielst eine Hauptrolle in meinem Work-out heute Abend.« Stanley, der vielleicht fünfzig Jahre alt war, duckte sich wieder hinter seine Zeitung wie ein Kind, das Verstecken spielte, und King George murrte und brummte vor sich hin, bis ein Teller voll Fleisch vor ihn gestellt wurde.
Als ich an diesem Tag das Restaurant betrat, begrüßte mich Stanley Chang mit: »Aloha makamaka. Wie geht’s, wie steht’s?«
»Hallo, Stanley.«
»Ist das Seth?«, rief Miss Irene aus der Küche. »Hey, Stromer, komm gefälligst nach hinten und hilf mir.«
Mir hatte es schon immer Spaß gemacht, mit Miss Irene zu kochen. Mom hatte nie viel gekocht, aber bei Miss Irene in der Küche fühlte ich mich fast wie zu Hause, auch wenn wir für Gäste kochten und nicht für die Familie. Miss Eye (so nannte ich sie) behauptete, ich sei ein Naturtalent. Mir gefiel der geordnete Ablauf beim Kochen. Die richtige Reihenfolge war wichtig. Die richtige Menge war wichtig.
Miss Irene tat so, als bräuchte sie meine Hilfe, obwohl sie allein viel schneller vorankam. Ich werkelte schon seit ein paar Jahren bei ihr am Grill und an der Fritteuse, aber mit Miss Eyes Geschwindigkeit konnte ich nicht mithalten. Jede ihrer Bewegungen verfolgte ein Ziel. Sie konnte einhändig ein Ei aufschlagen und das Eigelb vom Eiweiß trennen, das Eiweiß in eine Schüssel für einen Zitronenbaiser-Kuchen geben und mit dem Eigelb die frittierten Hähnchen bestreichen.
Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, wies sie mich an, ihr spezielles Gewürzsalz, dessen Rezeptur sie geheim hielt, mit ein wenig Mehl, Knoblauchpulver und schwarzem Pfeffer zu vermischen. Ich maß die Zutaten ab und rührte sie zusammen. Meine Hände waren noch feucht, und das Mehl setzte sich in den Rillen meiner Finger ab. Sobald ich fertig war, tunkte ich Hähnchenteile in verquirltes Eigelb, zog sie danach gewissenhaft durch die Mehlmischung, dann wieder durch das Ei, wieder durch das Mehl und gab sie schließlich in das heiße Fett der Fritteuse.
»Wie war’s in der Schule?«, fragte Miss Irene, während sie sich um Bohnen und Maisbrot kümmerte. Mit der Frage wollte sie sicherstellen, dass ich auch hingegangen war. Dabei ging ich eigentlich immer. Ich schlug mich ganz ordentlich in der Schule. Hatte meistens Zweien. Ein paar Einsen. Und hier und da eine Drei, damit es nicht langweilig wurde.
»Wie immer.«
»Mmm-hmmm. Wie geht’s deiner Mom?«
»Sie wissen, wie es ihr geht. Sie ist jeden Abend hier, Miss Eye.«
»O ja. Und gestern Abend war sie so wütend auf mich wie noch nie. Ich meinte eher, wie es ihr heute geht.«
»Hab sie noch nicht gesehen. Sie hat geschlafen, als ich nach Hause gekommen bin. Warum? Was ist passiert?«
»Dasselbe wie immer, nur noch viel schlimmer. Ich befürchtete schon, dass wir uns prügeln würden.«
»Und das finden Sie in Ordnung, obwohl sie für Sie arbeitet?«
»Ich muss gestehen, dass es mir langsam zu viel wird. Manchmal wünschte ich, sie würde einfach gehen und nicht mehr wiederkommen.«
»Sie sollten aufpassen, was Sie sich wünschen. Sie verschwindet auch so schon oft genug.«
»Aber zur Arbeit erscheint sie immer. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie schon einmal gefehlt hätte. Man kann von ihr halten, was man will, aber sie arbeitet hart.«
»Als Putzfrau.«
»Vorsicht, mein Lieber. Dank ihr hast du immerhin ein Dach über dem Kopf.«
»Ja, immerhin.«
»Letzte Nacht haben wir uns noch mehr gestritten als üblich. Ich glaube, mir ist da was herausgerutscht von wegen dass ich sie nicht wiedersehen will. Und sie hat möglicherweise etwas gesagt von wegen dass sie nicht mehr wiederkommt. Ich bin mir nicht sicher. Ich hoffe, sie kommt heute Abend, aber es könnte sein, dass ich sie gefeuert habe. Oder dass sie gekündigt hat.«
»Ahh ja. Jetzt ist alles klar.«
»Das Hähnchen wird braun.«
Mom und Miss Irene kannten sich seit Jahrzehnten. Sie waren wie Schwestern – die eine weiß, die andere schwarz. Miss Irene respektierte meine Mutter für ihre gründliche Arbeit. Kunden lobten ihr gegenüber oft, wie sauber alles war, und Miss Irene antwortete darauf: »Das liegt daran, dass ich die beste Putzfrau in ganz Tacoma habe.« Einige der Kunden stellten Mom daraufhin sogar selbst als Putzfrau ein.
Und Miss Irene mochte Moms Unberechenbarkeit. Wenn Mom ihren Gehaltsscheck für irgendetwas Extravagantes ausgab – für ein Abendessen im Primo Grill zum Beispiel oder für einen neuen Stetson für ChooChoo –, sagte Miss Irene immer: »Sie ist ein Freigeist. Wenn sie nicht arbeitet, tut sie, was sie will, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen.« Aber in ihrer Stimme schwang auch ein wenig Traurigkeit mit, denn sie wusste, wenn Mom einen ganzen Gehaltsscheck für ein einziges Essen verschleuderte, mussten sie und ich in den nächsten zwei Wochen von öffentlichen Essensausgaben oder der Tafel leben. Und Miss Eye wusste auch, dass Mom das Geld manchmal für weit dubiosere Sachen ausgab.
Vor sechs Monaten war Mom wie immer kurz vor Ladenschluss ins Shotgun Shack gekommen, um zu putzen. Einige Minuten zuvor hatte Checker Cab ein Tablett mit Schweinekoteletts im Durchgang zur Küche fallen lassen und danach zwar das Essen aufgehoben, aber das Fett nicht weggewischt. Als Mom in das Fett trat, rutschte sie aus. Im Fallen schlug sie sich den Kopf an der Kante eines Tisches an und brach sich ein Stück eines Schneidezahns ab. Als sie sich im Spiegel betrachtete, wurde sie wütend. Der abgebrochene Schneidezahn stand genau im Zentrum ihres Lächelns. Mom, Miss Irene und Checker überboten sich daraufhin gegenseitig in einem Schrei-Wettstreit darüber, wer den Zahn bezahlen sollte. Mom und Miss Irene hatten seitdem nicht mehr viel miteinander gesprochen, und wenn doch, dann endete es in Streit.
Ich nahm das Hähnchen aus dem Fett und ließ es abtropfen. Dann legte ich es in einen mit Wachspapier ausgekleideten Korb. Miss Eye schöpfte eine Portion Makkaroni mit Käse aus einem Topf und arrangierte sie neben dem Hähnchen. Dann stellte sie den Korb auf die Durchreiche zum Restaurant und drückte auf die Klingel. »Bestellung ist fertig.« Auf der anderen Seite der Durchreiche nahm Checker Cab den Korb entgegen und schlurfte in Richtung eines wartenden Gastes.
Da nun alle Gäste mit Essen versorgt waren, machte ich Hähnchen für Miss Irene und mich. Wir aßen in der Küche. Miss Irene würde niemals zulassen, dass die Küchenhilfe vor den Augen der Gäste Essen verspeiste. Sie fand das unansehnlich. Während ich aß, fragte ich Miss Eye, ob ich für den Abendbetrieb dableiben sollte, der in etwa einer Stunde losgehen würde. Ich dachte, dass es vielleicht half, die Dinge zwischen Mom und ihr wieder geradezurücken, aber sie meinte, sie und Checker hätten alles im Griff.
»Keine Ahnung, was sie an dem Typen finden, Miss Eye.« Ich nickte in Checkers Richtung.
»Er ist vielleicht nicht der Schnellste«, erwiderte sie, »aber er bekommt alles erledigt. Früher oder später.«
Miss Irene hatte Checker vor vielen Jahren eingestellt, als er ein pummeliges Straßenkind gewesen war und um Essen gebettelt hatte. Mittlerweile arbeitete er schon so lange im Shotgun Shack, dass er genauso zum Inventar gehörte wie das Geöffnet-Schild. Mir kam es immer so vor, als wäre Miss Irene zur Hälfte Checkers Boss und zur Hälfte seine Mutter.
Ich ging nach Hause, mit einem guten Gefühl im Magen und einem guten Geschmack im Mund. Ich konnte immer noch das Fett und den Knoblauch in den Mundwinkeln schmecken.
Überrascht stellte ich fest, dass ich an Azura dachte. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich in mein Bewusstsein zu schmuggeln. Ich sah ihre großen Augen, die durch den Türspalt spähten. Ich roch den Hauch ihres Parfums, das nach ihrem Verschwinden noch in der Luft gehangen hatte. Ich dachte immer noch an sie, als ich durch die Tür von ChooChoos Boxclub trat.
ChooChoo und meine Mom führten seit zehn Jahren mal mehr, mal weniger eine Beziehung miteinander. Vor Jahren hatte ChooChoo über der Boxhalle einen heruntergekommenen Lagerraum in eine heruntergekommene Wohnung umgebaut, und seit Mom ChooChoo zum ersten Mal getroffen hatte, waren wir in diese Wohnung ein halbes Dutzend Mal ein- und wieder aus ihr ausgezogen. Als die beiden zum ersten Mal beschlossen, dass sie ineinander verliebt waren, verließen wir das Motelzimmer auf der Pacific Avenue, in dem wir bis dahin gelebt hatten, und zogen in die Wohnung über dem Boxclub. Sechs Monate später gerieten die beiden in einen Streit, weil ChooChoo glaubte, dass Mom mit einem der Trainer flirtete. Mom und ich zogen zurück ins Motel. Dann wurde ChooChoo einsam und sie vertrugen sich wieder. Wir zogen wieder ein. Er wurde eifersüchtig, und es ging zurück ins Motel. Sie vertrugen sich. Wir zogen zurück. Sie stritten sich. Weg waren wir.
Trotzdem war der Boxclub so etwas wie ein Zuhause für mich. Ich betrachtete ChooChoo zwar nicht als meinen Vater, aber er war meistens ganz nett zu mir. Er konnte bei der geringsten Kleinigkeit ausflippen, und dann jagten mir seine massigen Schultern und seine riesigen Fäuste eine Heidenangst ein. Er hatte mich noch nie geschlagen, aber ein paarmal war er kurz davor gewesen. Doch dann verflog seine Wut urplötzlich und er wurde wieder so sanft und harmlos wie ein Kuscheltier.
An meinem siebten Geburtstag, der auf eine Zeit fiel, in der Mom und er kaum die Finger voneinander lassen konnten, kaufte er mir ein Paar leuchtend roter Everlast Boxhandschuhe. Obwohl es Kinderhandschuhe waren, waren sie mir damals noch viel zu groß. Ich liebte die Handschuhe. Ich aß mit ihnen meinen Geburtstagskuchen und ging mit ihnen am Abend ins Bett. Am nächsten Morgen waren meine Hände ganz verschrumpelt vom Schweiß. Noch am selben Tag brachte ChooChoo mir bei, wie man boxte. Ich glaube, er hatte die Handschuhe in der Absicht gekauft, den einzigen Sohn seiner wahren Liebe in eine Boxlegende zu verwandeln, so wie er einst eine gewesen war. Er hob mich in den Ring und zeigte mir, wie ich meine Hände halten sollte. Ich lernte schnell. »Guck dir seine Haltung an«, sagte er dann stolz. »Wie er aus der Deckung auftaucht und trotzdem das Kinn unten lässt.« Ich war zwar nicht der typische Boxer, aber meine Haltung war von Anfang an perfekt. Vor zwei Jahren hatte ChooChoo einen Boxer mit dem Kampfnamen Hector Heat trainiert. Hector war eine Kampfmaschine und steckte Schläge ein, als wären es Streicheleinheiten. Aber er stand im Ring wie ein übergewichtiger Cop. Als Hector eines Tages trainierte, rief ChooChoo: »Seth! Komm her und zeig diesem Typen, wie man richtig steht!« Hector Heat starrte auf meine dürren Arme und meine knochige Brust und fing an zu lachen. ChooChoo schlug Hector so hart auf den Hinterkopf, dass er zu Boden ging. »Wag es nich’, den Jungen auszulachen, solang du selbst keine ordentliche Haltung hast!«
Ich entwickelte weder genug Muskeln noch genug Geschwindigkeit, um ein wirklich guter Boxer zu werden. ChooChoo hatte das schon nach weniger als einem Jahr bemerkt, trotzdem trainierte er mich weiter. Er sagte immer: »Du hast die richtige Einstellung – nur nicht den richtigen Körper.« Immerhin verdankte ich es seinen Trainingsstunden, dass ich auf dem Schulweg nicht allzu schlimm verprügelt wurde. Ich geriet zwar dann und wann in Auseinandersetzungen, hatte aber bereits so viele Kämpfe gewonnen, dass ich mir ein wenig Respekt verschafft hatte. Und wahrscheinlich schadete es auch nicht, über dem Club eines der größten und angsteinflößendsten Männer von Hilltop zu wohnen.
Als ich nun also den Club betrat, stand ChooChoo gerade mit zwei jungen Boxern im Ring. »Ich hab dir doch gesagt, dass du mehr variieren musst«, unterwies er den größeren. »Du kannst nicht nach jedem zweiten Schlag deine Rechte bringen. Du musst auf die richtige Gelegenheit warten.« Sein Schüler nickte. ChooChoo schlug ihm spielerisch gegen den Kopfschutz und die beiden Jungen boxten weiter.
Ich ging zum Ring hinüber. »Hey, Chooch.«
»Was gibt’s, Seth?«
»Der Große hat’s drauf, oder?«
ChooChoo nickte, nippte an einem Pappbecher mit Kaffee und verzog dabei das Gesicht. »A.J. kann zuschlagen wie ’n Presslufthammer. Aber ich weiß jetzt schon, dass er es nich’ schafft. Nach einer Runde hat Little Ronny raus, wie A.J. tickt.«
Die beiden Boxer umkreisten sich. Little Ronny war fast zehn Kilo leichter als A.J., aber er war schnell und tänzelte flink durch den Ring. A.J. verfolgte ihn mit den Augen, kam aber nicht nah genug an ihn heran, um zuzuschlagen. Little Ronny startete einen Angriff und konnte eine Reihe von Geraden platzieren. A.J. steckte die Schläge scheinbar mühelos ein und schlug dann mit der Linken zu. Ronny duckte sich weg. A.J. schlug erneut mit der Linken, gleich darauf mit der Rechten, verfehlte sein Ziel jedoch. Er schlug wieder zwei Mal mit der Linken, dann mit der Rechten. Dieses Mal duckte Ronny sich unter dem letzten Schlag hindurch und holte zu einem Konter aus, der mit voller Wucht A.J.s ungeschütztes Kinn traf. A.J.s Kopf kippte nach hinten. Ronny traf ihn wieder, und wieder. A.J. ging zu Boden.
»Vielleicht solltest du deine Hoffnungen lieber auf Little Ronny setzen.«