Armin Fuhrer | Christian Nawrocki (HG.)
Ein Plädoyer für mehr Offenheit
in der Flüchtlingspolitik
Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN 978-3-95768-181-2
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Satz und Layout: Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek
Von Armin Fuhrer
Von Ole von Beust
Von Gabrielle Scharnitzky
Von Uwe-Karsten Heye
Von Marina Lessig und Dominic Herold
Von Klaus-Peter Grap
Von Marina Weisband
Von Henning Vöpel
Von Bettina Müller
Von Arnd Schimkat
Von Anke Rauthmann
Von Farid Müller
Von Gregor Gysi
Von Vivian Daniel
Von Monty Arnold
(Und was hat Frau Merkel mit Brünnhilde gemein?)
Von Bruno Merse
Von Anne Pütz
Von Rudolf Seiters
Von Aarash D. Spanta
Ein Doppel-Interview von Gloria Viagra mit Sahidad aus Syrien und Narwa aus dem Irak.
Von Hans-Diedrich Kreft
Von Wieland Holfelder
Von Till Dunckel
Von Patrick Khatami
Armin Fuhrer arbeitete über 20 Jahre als Politikredakteur und Korrespondent für die „Welt“ und den „Focus“. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher, unter anderem über den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff sowie die jüdischen Attentäter David Frankfurter und Herschel Grynszpan. Fuhrer, geboren 1963, lebt und arbeitet als Journalist und Autor in Berlin.
Christian Nawrocki gründete 2009 die Agentur für Öffentlichkeitsarbeit Nawrocki-PR & Communication. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Arbeit als politischer Berater. Der 1978 geborene Bochumer mit brasilianischen Wurzeln war zuvor für verschiedene Fernsehsender und die Nachrichtenagentur DPA im In- und Ausland tätig. Nawrocki lebt und arbeitet in Hamburg.
Keine Frage: Angela Merkels Zitat „Wir schaffen das“ wird in die Geschichte eingehen wie John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“ 1963 oder Willy Brandts Kniefall von Warschau 1970. Ob die Bundeskanzlerin tagelang mit ihren Medienberatern zusammenhockte und an einem griffigen Spruch feilte, oder ob diese drei Worte, gesprochen am 31. August 2015 vor der Bundespressekonferenz in Berlin, ganz zu Beginn des Massenandrangs von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern spontan aus dem Bauch herauskam, wissen wir nicht; vielleicht wird sie uns davon eines Tages in ihren Memoiren berichten. Der Satz jedenfalls ist seitdem offizielle Regierungspolitik. Die Art, wie die Kanzlerin mit Herz und Härte in den Monaten danach gegen alle Kritiker aus Deutschland, Europa und sogar der eigenen Partei ihre Linie verfolgte, löste bei den einen Bewunderung aus, bei den anderen Empörung.
Dem berühmten Zitat folgte ein Satz, der in Vergessenheit geraten ist: „Und wo etwas im Wege steht, muss es überwunden werden“. „Wir schaffen das“ wirkt optimistisch, zupackend, es ist eine Aufforderung, die Ärmel hochzukrempeln und mitzumachen. Der zweite Satz ist das alles auch – aber er besagt zugleich, dass es Probleme geben werde bei der Bewältigung einer der größten Herausforderungen, der das demokratische Deutschland sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegenübersieht. Angela Merkel war keineswegs naiv in ihrem Optimismus an jenem Spätsommertag. Aber sie war getragen von der Überzeugung, dass ein Land wie Deutschland Menschen helfen muss, die Kriegen und Bürgerkriegen entfliehen, Tot, Hunger, Vergewaltigung und Versklavung oder einem schlicht menschenunwürdigen Leben in den Zeltlagern, die rund um das vom Bürgerkrieg heimgesuchte Syrien errichtet worden waren. Es ist richtig, dass der Westen Fehler im arabischen Raum begangen hatte, zuletzt durch die viel zu schwache finanzielle Hilfe für die syrischen Flüchtlinge in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei. Deutschland und seine Bundeskanzlerin waren da nicht besser als andere. Aber als es darum ging, im Angesicht akuter Not Herz zu zeigen und Humanität, war Merkel zur Stelle.
Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen auch viele, die nicht aus Angst um ihr Leben nach Deutschland und Europa wollen, sondern aus Hoffnung auf ein besseres. Darauf musste reagiert werden, denn Deutschland wäre schlicht überfordert damit, alle diese Menschen aufzunehmen. Das mag auf den ersten Blick inhuman wirken, aber die Hilfe für die Menschen, die sie nötiger haben, muss im Vordergrund stehen. Wer Bilder aus zerbombten syrischen Städten wie Aleppo oder Homs sieht oder sich die Lebensumstände der Flüchtlinge in Syriens Nachbarländern ansieht, erkennt unschwer, worin die eigentlichen Gründe liegen. Die einführende Reportage in diesem Buch über zwei Unterkünfte in der libanesischen Stadt Saida und die Menschen, die darin hausen, belegt das. Viele dieser Menschen wollen trotzdem gar nicht nach Deutschland beziehungsweise hoffen, dass ihre Angehörigen – meistens sind es die Ehemänner, Söhne oder Brüder – wieder zurückkehren, wenn sich die Lage bessert und es wieder die Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben in ihrer Heimat gibt. Und viele dieser Ehemänner, Söhne oder Brüder, die jetzt in Deutschland und anderen europäischen Ländern leben, möchten auch wieder zurück in ihre Heimat, sobald dort Frieden herrscht.
Als im Spätsommer 2015 eine Welle der Hilfsbereitschaft über Deutschland schwappte, war klar, dass es dabei nicht bleiben würde. Es ging um erste Hilfe am Münchner Hauptbahnhof und anderswo. Der Staat versagte zum Teil und ganz normale Menschen sprangen ein. In diesem Buch findet sich ein Bericht einer jungen Helferin und eines jungen Helfers vom Münchner Hauptbahnhof, die zugepackt haben und die uns erzählen, was eine Zivilgesellschaft schaffen kann, wenn man sie lässt – oder wenn sie muss, weil die Behörden überfordert sind. Beim Betrachten der Fernsehbilder, die als Zeichen eines humanitären Deutschlands um die Welt gingen, war uns, den Herausgebern dieses Buches, aber unmittelbar klar, dass diese geradezu euphorische Stimmung, die auch ein Ausdruck einer gewissen Naivität war, verfliegen würde. Es stellte sich nicht die Frage, ob es Gegenwind geben, sondern wann er aufkommen und wie stark er werden würde; ob er die Zeichen der Hilfsbereitschaft und Humanität wegfegen könnte. Unser Gedanke war, Autoren zu finden, die sich damit auseinandersetzen. Es sollte sich dabei aber nur um solche Autoren handeln, die auf dem Boden von „Wir schaffen das“ stehen – aber nicht als naive Utopisten die Augen vor den Problemen verschließen. Es sollte dabei nicht um Tagespolitik und Politikerstreit gehen, deshalb haben wir auch nur ein paar wenige Politiker zum Mitmachen gebeten. Wir wünschten uns als Autoren beispielsweise auch solche aus dem kulturellen Leben, weil diese Gruppe viel zu selten gehört wird oder sich äußert. Und es sollten wenigstens ein paar Menschen dabei sein, die tätige Mithilfe geleistet haben oder leisten.
Dass die Ankunft einer großen Menge von Menschen aus einem ganz anderen Kulturkreis, die kein Wort deutsch und zumeist nicht einmal englisch sprechen, die teilweise andere Wertevorstellungen haben als wir, bei vielen Menschen Angst und Besorgnis auslösen würde, lag auf der Hand. Ebenso, dass schon bald nach der ersten Hilfe Fragen von großem Gewicht aufkommen würden: Wie integrieren wir diese Menschen? Wo sollen sie wohnen? Wie lange werden sie bleiben? Wer gibt ihnen Jobs? Wie bezahlen wir das alles? Wie gewährleisten wir unsere Sicherheit? „Es ist vollkommen in Ordnung, sich davon überfordert zu fühlen“, schreibt die junge Piratenpolitikerin und Publizistin Marina Weisband in ihrem Beitrag. Nur darf daraus nicht folgern, dass wir den Kopf in den Sand stecken oder gar denen folgen, die unsere liberalen, demokratischen Werte abschaffen wollen. Sondern wir müssen für diese Werte kämpfen, so Weisband, die als eine Art intellektuelles Sprachrohr vieler junger Erwachsener gilt. Und dass die Flüchtlinge mittelfristig Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft bieten, legt Henning Vöpel dar, der Geschäftsführer des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI).
Auf all die erwähnten Fragen hat Merkels einfaches „Wir schaffen das“ keine Antworten gegeben. Das konnte die Bundeskanzlerin damals auch gar nicht. Aber das sind natürlich Fragen, die beantwortet werden müssen. Denn sie beunruhigen viele Menschen in Deutschland. Sie schüren Ängste und Sorge, und zwar berechtigte wie irrationale. Und sie bieten menschenverachtenden Populisten die Möglichkeit, ihre kruden Thesen unters Volk zu bringen und daraus Profit zu schlagen. Damit war zu rechnen. Dass aber Vertreterinnen einer Partei ernsthaft im Winter 2016 fordern würden, an den Grenzen auf Kinder und Frauen schießen zu lassen, hätten wir uns niemals vorstellen können. Am Ende wird wohl nur eine gute Politik die Menschen in Deutschland beruhigen und auch den Feinden der Demokratie, die die Flüchtlingsfrage zu nutzen versuchen, um ihre rückwärtsgewandten Forderungen durchzusetzen, den Wind aus den Segeln nehmen. Daran hapert es noch, keine Frage.
Und viel ist geschehen seit Merkels „Wir schaffen das“: Die Terroranschläge von Paris, die Silvesternacht von Köln und anderen Städten mit den massenhaften sexuellen Übergriffen auf Frauen, Prügeleien in Flüchtlingsunterkünften, Integrationsverweigerer, die lieber untertauchen, als einen Deutschkurs zu belegen; und nicht zuletzt die Befürchtung, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge gemischt und unerkannt nach Deutschland gekommen sind. Noch einmal: Sich Sorgen zu machen ist verständlich, das darf nicht unter den Tisch gekehrt werden. Und hüte man sich davor, diese Menschen, die sich Sorgen machen, pauschal als „rechts“ zu bezeichnen.
Aber noch etwas Anderes ist geschehen. Noch nie wurden so viele Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, wie derzeit. Die Täter setzen inzwischen zum Teil bewusst das Leben der Bewohner aufs Spiel. Das ist erschreckend und darf nicht toleriert werden. Der Aufschrei scheint allerdings im Winter 2016 von Woche zu Woche leiser zu werden.
Dieses Buch mit seinen Beträgen von ganz unterschiedlichen Autoren wird solche Täter nicht erreichen; mit Bildung, Lesen und Nachdenken haben diese Leute nichts am Hut. Sie sind auch nicht die Zielgruppe. Wir hoffen, dass es Leser findet, die reflektieren können, die sich jenseits der hektischen und aufgeregten (Tages-)Politik und der aufgepeitschten Debatten zum Innehalten bewegen lassen. Es scheint ja so, dass die Frage der Flüchtlinge oftmals mehr das Gefühl der Menschen in Deutschland berührt als ihr politisches Verständnis, auch, wenn man das häufig erst auf den zweiten Blick erkennt. Nicht umsonst sprechen wir von Ressentiments. Wir hoffen als Herausgeber und Autoren dieses Bandes, dass wir Leser finden, die sich durch die Lektüre zum Nachdenken animieren lassen. Und die mit anderen Menschen das Gespräch suchen.
Das Buch gibt bewusst keine Handlungsanweisungen für eine „richtige“ oder „gute“ Flüchtlingspolitik, keine Zehn-Punkte-Pläne. Es soll seinen Lesern Denkanstöße vermitteln. Zum Beispiel durch die Erfahrung der Schauspielerin Gabrielle Scharnitzky, die sich häufig in London aufhält, dort das multikulturelle Leben auf der Straße als völlig normal empfindet – und dann, zurückgekehrt nach Berlin, diese Offenheit zu ihrer eigenen Verwunderung zu einem gewissen Grad in Frage stellt. Zum Beispiel durch den früheren Hamburger Ersten Bürgermeister Ole von Beust, ein CDU-Politiker, der durch die grassierende Fremdenfeindlichkeit einige seiner früheren Einstellungen selbstkritisch hinterfragt. Zum Beispiel durch den Schauspieler Klaus-Peter Grap, der durch seine Hilfe in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zu einer eigenen Anschauung der Flüchtlinge gekommen ist. Dass demgegenüber ein Politiker wie Gregor Gysi, langjähriger Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, sich kritisch mit der Politik der Bundeskanzlerin auseinandersetzt, kann nicht überraschen; dass seine Kritik die Linie des „Wir schaffen das“ grundsätzlich unterstützt ist indes ein interessantes Beispiel dafür, wie die Flüchtlingsfrage die deutsche Politik durcheinandergewirbelt hat.
Diese Beispiele sollen keine bestimmten Texte dieses Bandes herausheben. Wir waren erstaunt, wie unterschiedlich die Ergebnisse waren, nachdem wir die Autoren gebeten hatten, etwas zu schreiben. Wir hatten ganz bewusst keinerlei Vorgaben gemacht, was Inhalt und Form angeht – wenn man einmal davon absieht, dass „Wir schaffen das“ die Grundlage dieses Buches sein sollte. Das hat übrigens nichts mit Zensur zu tun. Doch es ist unübersehbar, dass die kritischen Stimmen in der Überzahl sind – dagegen wollen wir ein kleines Gegengewicht setzen.
Dass viele der Flüchtlinge eines Tages wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen, steht außer Frage. Das belegt die Entwicklung der Flüchtlinge, die vor dem Balkankrieg Anfang der neunziger Jahre zu uns geflohen waren. Der allergrößte Teil dieser Menschen ist längst wieder zuhause, obwohl die kulturellen Unterschiede bei weitem nicht so groß waren, wie die zwischen Deutschen und Syrern oder Irakern. Diese Erkenntnis gehörte auch immer zu „Wir schaffen das“ dazu.
Doch viele Flüchtlinge werden auch bleiben. Deutschland steht durch die Flüchtlingsfrage vor großen Schwierigkeiten. Viele Hürden sind zu überwinden, bis die Menschen aus fernen Ländern auch nur einigermaßen in Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialsystem integriert sind. Dazu braucht es eine gute Politik und guten Willen von allen Seiten. Integration der Flüchtlinge ist ein Fordern und Fördern, ein Geben und Nehmen. Es wird unvorhergesehene Ereignisse geben und viele Rückschläge. Nur sollten wir darüber die großen Chancen nicht übersehen, die in den selben drei Bereichen liegen: Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialsystem. Vor allem aber sollte ein anderer Begriff ein reiches, starkes, verantwortungsbewusstes Land wie Deutschland leiten: Humanität. Jahrzehntelang war „Auschwitz“ die inoffizielle Staatsdoktrin der Bundesrepublik. Diese Doktrin löst sich – zurecht – mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges seit einiger Zeit auf. Zunehmend wird unser Land heute weltweit mit Menschlichkeit und Hilfe für Hilfebedürftige identifiziert. Auch das ist eine großartige Chance für unser Land. So betonte die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Ruth Klüger, eine Überlebende von Auschwitz, am 27. Januar 2016 in ihrer Rede während der Holocaustgedenkveranstaltung im Bundestag: „Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit großer Freude ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutenden und dabei heroischen Wahlwort: Wir schaffen das.“
Berlin / Hamburg, Februar 2016
Armin Fuhrer / Christian Nawrocki
„Deutschland steht durch die Flüchtlingsfrage vor großen Schwierigkeiten. Viele Hürden sind zu überwinden, bis die Menschen aus fernen Ländern auch nur einigermaßen in Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialsystem integriert sind. Dazu braucht es eine gute Politik und guten Willen von allen Seiten.“
Armin Fuhrer / Christian Nawrocki
Von Armin Fuhrer
Abou Hafez will reden. Er muss reden, denn das Reden über das Schicksal, das den Menschen hier am Stadtrand von Saida droht, ist seine letzte verbliebene Hoffnung. Wir stehen in einem dunklen, feuchten Flur im ersten Stock, mit Pfützen auf dem nackten Steinboden. Draußen scheint die Sonne, ein leichter Wind treibt die Schönwetterwolken vor sich her. Man hört Kindergeschrei. Doch hier, zwischen den kahlen Betonwänden hat sich ein eigentümlicher Geruch eingenistet, kein Gestank, eher ein miefiger Modergeruch. Und statt des strahlenden Sonnenlichts herrscht ein Halbdunkel. Vier Stockwerke hoch ist dieses Haus. Es sollte ursprünglich eine Universität werden, doch als den Bauherrn das Geld ausging, wurden die Arbeiten gestoppt und die Arbeiter abgezogen. Sie ließen eine kaum halbfertige Bauruine zurück, irgendwo am Stadtrand von Saida, einer alten Stadt rund 40 Kilometer südlich von Beirut mit 200 000 Einwohnern. Als die Flüchtlinge aus Syrien vor dem Bürgerkrieg flohen und auch nach Saida kamen, mietete das UHNCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, 2011 das unfertige Gebäude. Seitdem leben rund 1300 Menschen hier. „Die Umstände sind schlimm, aber es ist besser, als ein Zeltlager“, sagt Abou Hafez. „Die Menschen in den reichen Ländern müssen sehen, wie es hier aussieht, damit sie verstehen, warum hier so viele wegwollen.“ Deswegen will Abou Hafez reden.
Saida ist eine Flüchtlingshochburg im Libanon, dem kleinen, armen Land, das so viele der Fliehenden aufgenommen hat. 180 Familien, wohl um die 1300 Menschen, leben allein in dieser grauen Bauruine, die meisten schon seit vier Jahren. Es ist irgendwie ihr Zuhause geworden, auch, wenn das Haus keine Fenster aus Glas hat, sondern offene Luken, die an Schießscharten erinnern, und es insgesamt ein wenig aussieht wie ein überdimensionaler Schuhkarton. Für einen Europäer wäre dieses unfertige Gebäude einfach unbewohnbar und einen Deutschen mag es an die zerstörten Häuser in Berlin oder Köln oder Hamburg erinnern, in denen viele Menschen unmittelbar nach dem Ende des Krieges 1945 hausen mussten. Doch nun ist dieses Zuhause bedroht. Das UHNCR will die Zahlungen über kurz oder lang einstellen. Das Geld geht ihm aus, denn die reichen Industriestaaten sind knauserig geworden, nachdem der Krieg in Syrien partout nicht aufhören will. „Was dann mit den Menschen, die hier leben, passieren wird, ist völlig unklar. Klar ist nur, dass sie auf keinen Fall ihre Unterkunft verlassen wollen“, sagt Abou Hafez. Etwas später, als er ein wenig Vertrauen zu dem Journalisten aus Deutschland gewonnen hat, sagt er, was viele hier sagen: „Wenn unser Haus geschlossen wird, haben wir keine andere Chance mehr – dann gehen wir nach Deutschland.“
Abou Hafez ist nicht sein richtiger Name, den nennt er lieber nicht. Im Libanon wissen geflohene Syrer nie genau, ob sie einem fremden Gesprächspartner trauen können, oder ob der geschickt wurde vom syrischen Machthaber Assad, vom Islamischen Staat oder von wem auch immer. Und das gilt auch für Journalisten aus dem Ausland, selbst für solche aus Deutschland, das auch hier für viele wie ein fernes Paradies wirkt. Abou ist so etwas wie der offizielle Vertreter der Bewohner. Nicht gewählt, sondern qua natürlicher Autorität. Die Menschen vertrauen ihm, und nun spricht er für sie. Als der Bürgerkrieg 2011 ausbrach in Syrien begab sich der 35-Jährige wie viele Menschen auf die Flucht in den Libanon. Die Regierung des kleinen, selbst schwer gebeutelten Landes wusste nicht, wohin mit all den Hilfesuchenden, und schon bald war ihr alles, was irgendwie als Unterkunft gelten konnte, recht. Auch die Bauruine am Stadtrand von Saida.
Kalter Beton, kein Licht, Stromkabel hängen überall abenteuerlich offen herum, und die Pfützen im Treppenhaus des vierstöckigen Gebäudes lassen erahnen, wie es hier aussieht, wenn es regnet. „Der Regen dringt durch die Luken, Sturzbäche setzen die Wohnungen unter Wasser“, berichtet Abou Hafez. Das, was er als Wohnungen bezeichnet, sind tatsächlich kleine Betonlöcher, vielleicht 15 oder 20 Quadratmeter groß und ursprünglich als Büros gedacht. Ganze Familien wohnen darin, nicht selten mehr als eine. Sie schlafen hier, schützen sich im Sommer vor der unbarmherzigen Hitze und im Herbst und Winter vor dem Regen, so gut es eben geht. Manche schlafen auf dem nackten Beton, andere können sich über den Luxus einer total verschmutzten Matratze freuen, die hilfsbereite Menschen aus Saida gebracht oder die Mitarbeiter des UHNCR besorgt haben. Die Kinder hocken auf dem Boden, ihre Hosen, T-Shirts oder Blusen stehen vor Dreck. Wenn man diese menschenunwürdigen Lebensumstände sieht, relativieren sich die Diskussionen über Standards für Flüchtlinge, wie sie in Deutschland mit sehr deutscher Vehemenz geführt werden, sehr schnell. Von der Frage, ob man diesen Menschen helfen soll, ganz zu schweigen.
300 000 Dollar muss die UHNCR für das Gebäude, das einem Investor gehört, jedes Jahr hinblättern. Viel Geld ist das; zu viel nach Ansicht der UHNCR. Sie will all die Menschen, die hier leben, in kostengünstigere Zeltunterkünfte unterbringen. Das klingt ökonomisch sinnvoll. Das Problem aber ist, dass die Betroffenen das nicht wollen. Sie fühlen sich als Solidargemeinschaft. Man hilft sich gegenseitig, legt zusammen, wenn einer schwer erkrankt ist und eine kostspielige ärztliche Behandlung braucht. Oder passt auf die Kinder auf, wenn der Vater nach Deutschland geflohen ist und versucht, das Nachholen der Familie vorzubereiten, während die Mutter unter Lebensgefahr noch einmal nach Syrien zurück ist, um dort bei Verwandten Geld für die Schleuser locker zu machen. Denn ohne einen Schleuser ist es kaum ins gelobte Deutschland zu schaffen. 3000 Dollar muss man rechnen, pro Person. Eine ungeheure Summe für diese Menschen. Das Gemeinschaftsgefühl hat aber noch einen tieferen Hintergrund: „Die Leute hier kommen alle aus den selben vier Dörfern, viele kannten sich schon vor der Flucht untereinander“, erklärt Abou Hafez. Das bindet sie zusammen, gibt das Gefühl von Geborgenheit fern der Heimat und dem alten, gewohnten Leben. „Wer diese Gemeinschaft auseinanderreißt, nimmt uns das letzte, das wir noch haben.“
Aybane Moutih Said und die anderen Frauen, die auf dem Boden zusammensitzen und Essen zubereiten, blicken immer wieder auf die Bilder, die über den kleinen, alten Monitor flimmern, der in den siebziger Jahren vielleicht mal aktueller technischer Standard gewesen sein mag. Irgendwelche Bomber bombardieren irgendwelche feindliche Stellungen oder irgendeine Stadt, Panzer kurven durch enge Straßen, Rauch steigt zum Himmel empor, Männer in Zivilkleidung schießen mit ihren Maschinengewehren irgendwohin. Alltag in Syrien. Und Alltag in dem großen Schuhkarton von Saida. In vielen Wohnungen steht ein solcher Fernseher, auch dabei handelt es sich meist um Geschenke von Einheimischen, die ihre alten Geräte ausgemistet haben. Meistens flimmern Bilder aus den syrischen Bürgerkriegsgebieten über den Bildschirm. Für die Flüchtlinge ist das neben den Kontakten zu den Verwandten oder Freunden, die in dem Bürgerkriegsland zurückgeblieben sind, die einzige Möglichkeit, Informationen aus ihrer Heimat zu bekommen. Manchmal gibt es auch Zeichentrickfilme für die Kleinen.
Aybanes Mann ist vor ein paar Monaten über die Türkei nach Deutschland geflohen. „Wir telefonieren regelmäßig“, sagt die junge Frau, die schwanger ist, vielleicht im sechsten Monat. „Er ist sehr glücklich in Deutschland“, sagt sie. Er bekomme kostenlose medizinische Betreuung, gut zu essen. Und er lerne fleißig Deutsch. „Wenn er deutsch kann, dann darf er arbeiten. Und dann nehme ich meine beiden Töchter und wir fahren auch nach Deutschland.“ Vom komplizierten deutschen Bürokratismus weiß Aybane nichts, von den Protesten in Deutschland gegen die „Flüchtlingsflut“ aber hat sie gehört und Bilder davon im Fernsehen gesehen. Trotzdem ist sie voller Hoffnung, voller Bewunderung und voller vorauseilender Dankbarkeit gegenüber dem Land im fernen Europa. Deutschland ist ihr einziger Lichtblick, vor allem, wenn sie vielleicht bald fernab ihrer Gemeinschaft aus dem Schuhkarton in irgendeinem Zeltlager leben muss. Ob sie nicht lieber wieder nach Syrien zurück möchte? „Doch, aber das wird noch sehr lange dauern. Und hier im Libanon wird die Situation immer unerträglicher.“
Während die Frauen in den „Wohnungen“ um die Mittagszeit auf dem Steinboden das Essen vorbereiten – die Zutaten wurden kurz zuvor von Mitarbeitern einer islamischen Hilfsorganisation geliefert, die unter dem Dach der UHNCR arbeitet – sitzen die meisten Männer draußen auf dem großen Platz vor dem Haus. Für viele ist das Areal wie ein Gefängnis. Denn viele haben keine offizielle, von der libanesischen Regierung geforderte Registrierung. Ohne dieses Papier aber können sie sich nur unter Gefahr frei bewegen. Wer heute von den libanesischen Sicherheitskräften ohne Papiere aufgegriffen wird, riskiert Gefängnis oder gar die Abschiebung zurück nach Syrien. In den ersten Jahren des Bürgerkrieges war die Regierung in Beirut großzügiger, doch inzwischen sind viele Menschen in dem kleinen Land genervt von den vielen Flüchtlingen. 4,5 Millionen Einwohner hat der Libanon. Dazu kommen rund 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge sowie eine unbekannte Zahl nichtregistrierter. Wie viele es sind, weiß niemand. Schätzungen belaufen sich auf Zahlen zwischen 500 000 und 1,2 Millionen. Doch damit nicht genug, denn schon vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges lebten im Libanon rund eine halbe Million Syrer als Gastarbeiter. Die meisten von ihnen haben ihre Familien inzwischen geholt – und die werden gar nicht als Flüchtlinge gezählt.
Wer registriert ist, darf offiziell arbeiten. Doch die Registrierung kostet 400 US-Dollar. Bei einer syrischen Großfamilie kommen da schnell ein paar tausend Dollar zusammen – und das können sich viele Familienoberhäupter gar nicht leisten. Über Wasser halten sich viele Flüchtlinge mit Gelegenheitsjobs oder als absolute Billiglöhner. Damit aber drücken sie das Lohnniveau für die Einheimischen, von denen selbst viele arm sind. Zugleich treiben sie die Mietpreise in die Höhe. Schon für ein Zimmer, in denen dann eine ganze Familie haust, müssen die Flüchtlinge oft bis zu 600 US-Dollar zahlen. Dabei leben bis zu 80 Prozent der Syrer im Libanon nicht in Zeltlagern, wie man sie in Deutschland aus dem Fernsehen kennt, sondern sind privat untergebracht. Bei Verwandten und Freunden, in Unterkünften von Hilfsorganisationen oder eben als Mieter. Wer mit offenen Augen durch die Millionenmetropole Beirut läuft, erkennt das schnell. Ganze Familien teilen sich den Müllraum eines der zahlreichen Hochhäuser oder hausen in den ärmeren Viertel der Hauptstadt, die fast schon an die Favelas von Rio erinnern. Mehrere Familien leben im Gerätehaus eines Parks, von den Armeesoldaten, die in 50 Metern Entfernung ihren Dienst auf einem LKW absitzen, geduldet. Flüchtlingskinder dürfen die Schule besuchen und bekommen einen arabischen Unterricht. Dass es trotzdem viele nicht tun, liegt daran, dass die Eltern sich die Fahrtkosten für den Bus nicht leisten können oder die Kinder für den Lebensunterhalt der Familie mitarbeiten müssen. Mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche.
Der kleine Libanon ächzt unter dieser Last schwer. Flüchtlinge werden hier nicht offiziell anerkannt, sondern gelten als „displaced persons“. Der Begriff Flüchtling ist den Palästinensern vorbehalten, die bereits seit 1948 zu hunderttausenden in Lagern im Libanon leben. Auch die Lager für die Syrer sind nicht offiziell zugelassen, sondern nur geduldet. Dass bei vielen Libanesen trotzdem immer noch Menschlichkeit und Mitgefühl dominieren, grenzt an ein Wunder. Aber die Situation der Syrer wird immer kritischer. Die Hoffnung darauf, dass ihre Lage sich im Libanon verbessert, haben sie aufgegeben. Die meisten würden gerne sobald wie möglich in ihre Heimat zurück. Viel lieber als nach Europa und Deutschland. In Gesprächen wird schnell klar, dass sich täuscht, wer glaubt, die Menschen strebten wegen der vergleichsweise sehr guten Bedingungen nach Deutschland. Der Strom der Flüchtlinge setzte sich in Marsch, als das UHNCR die Lebensmittel-Unterstützung rapide senkte – auf inzwischen nur noch zwölf Dollar pro Person und pro Monat. Das ist nichts in einem Land, in dem Lebensmittel im Supermarkt so teuer sind wie in Deutschland. Da die libanesische Regierung den Flüchtlingen keine Unterstützung gewährt, standen vor allem die Menschen, die keine Arbeit haben, vor der Alternative: Hunger oder Flucht. Die Lage im Libanon ist für die Syrer inzwischen so schlecht geworden, dass einige schon freiwillig wieder nach Syrien zurückgehen, zumindest, wenn sie aus einer Gegend wie die Hauptstadt Damaskus kommen, wo nicht gekämpft wird.
Zwei Kilometer entfernt denkt Hanadi Lawah nicht an so einen gefährlichen Schritt. Die Lebensumstände der Lawahs sind fast noch schlimmer als die der Menschen in dem großen Schuhkarton. Die fünfköpfige Familie haust mit rund 40 anderen Personen in einem aus Stein, Holz und Wellblech zusammengezimmerten Gebilde am Stadtrand von Saida, das das Wort Haus nicht verdient hat. Im Erdgeschoss befindet sich eine Gerberei, darüber sind acht Familien mit zahllos erscheinenden Kindern untergebracht. Das Dach besteht aus Wellblech, Fenster gibt es nicht, dafür zwischen Dach und Mauerwerk eine große Lücke. Auch hier steht alles unter Wasser, wenn es geregnet hat: die völlig verschmutzen Räume, die noch stärker verschmutzen Matratzen, die tagsüber aufgestapelt in Ecken liegen und nachts zum Schlafen nebeneinandergelegt werden. Als Tische dienen rostige Blechtonnen. Eine Gemeinschaftsküche, in der ein Europäer nichts kochen, geschweige denn essen würde, gibt es und immerhin auch Strom, der die Räume über abenteuerlich unterm Dach verlegte Kabel erreicht. Auch hier laufen in mehreren Räumen kleine, alte Fernseher. Und auch hier sind überall Kriegsbilder aus Syrien zu sehen – die TV-Apparate sind neben direkten Kontakten zu Daheimgebliebenen die wichtigste Informationsquelle für die Flüchtlinge. Und jede Familie hat ein Smartphone. Nur so können die Lawahs Kontakt zu ihren Söhnen halten.