Tabucchi erzählt in seinem Roman die Geschichte eines einsamen alternden Mannes, der so sehr in seiner eigenen Welt gefangen ist, dass er die alarmierenden Ereignisse, die sich in seiner Umgebung abspielen, kaum wahrnimmt: In Portugal, seinem Heimatland, herrscht Diktatur, in Spanien ist Bürgerkrieg, das Deutsche Reich rüstet zum weltweiten Krieg.
Doch dann begegnet Pereira einem engagierten jungen Paar, und ganz allmählich verändert sich seine Haltung gegenüber dem Leben, der Welt. Er begreift, dass der Mensch erst zum Mensch wird, wenn er in einer bestimmten Situation rebelliert.
Hanser E-Book
Antonio Tabucchi
Erklärt Pereira
Eine Zeugenaussage
Aus dem Italienischen von
Karin Fleischanderl
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Sostiene Pereira bei Feltrinelli in Mailand.
ISBN 978-3-446-25377-3
© 1994 by Antonio Tabucchi
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 1995/2016
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1
Pereira erklärt, er habe ihn an einem Sommertag kennengelernt. An einem sonnigen, wunderschönen Sommertag, an dem eine leichte Brise wehte und Lissabon strahlte. Pereira scheint sich in der Redaktion aufgehalten zu haben, er wußte nicht, was er tun sollte, der Herausgeber war auf Urlaub, und er befand sich in der unangenehmen Situation, die Kulturseite zusammenstellen zu müssen, denn mittlerweile besaß die Lisboa eine Kulturseite, und ihm hatte man sie anvertraut. Und er, Pereira, dachte über den Tod nach. An diesem schönen Sommertag, trotz der Brise vom Atlantik her, die über die Wipfel der Bäume strich, und trotz der strahlenden Sonne und der Stadt, die unter seinem Fenster funkelte, buchstäblich funkelte, und eines Blaus, eines, erklärt Pereira, noch nie gesehenen Blaus, das so klar war, daß es fast in den Augen weh tat, begann er an den Tod zu denken. Warum? Das vermag Pereira nicht zu sagen. Vielleicht weil sein Vater, als er noch ein Kind war, ein Bestattungsinstitut besaß, das Pereira La Dolorosa hieß, vielleicht weil seine Frau vor ein paar Jahren an Tuberkulose gestorben war, vielleicht weil er fett und herzkrank war und einen hohen Blutdruck hatte und der Arzt ihm gesagt hatte, wenn er so weitermache, bleibe ihm nicht mehr sehr viel Zeit, jedenfalls begann er an den Tod zu denken, erklärt Pereira. Und zufällig, rein zufällig, begann er eine Zeitschrift durchzublättern. Es war eine Literaturzeitschrift, in der sich jedoch auch ein Philosophieteil befand. Eine avantgardistische Zeitschrift vielleicht, dessen ist sich Pereira nicht ganz sicher, die aber viele katholische Mitarbeiter hatte. Und Pereira war Katholik, oder zumindest fühlte er sich in diesem Augenblick als Katholik, als guter Katholik, auch wenn er an eines nicht glauben konnte, an die Auferstehung des Fleisches. An die Seele schon, gewiß, denn er war sich sicher, eine Seele zu besitzen; aber das ganze Fleisch, das Fett, das seine Seele umschloß, das würde nicht auferstehen, und warum auch, fragte sich Pereira. Der ganze Speck, der ihn Tag für Tag begleitete, der Schweiß, die Atemnot beim Treppensteigen, warum sollte das auferstehen? Nein, auf all das konnte Pereira verzichten im Jenseits, in der Ewigkeit, und er wollte nicht an die Auferstehung des Fleisches glauben. Also begann er in dieser Zeitung zu blättern, gleichgültig, denn er langweilte sich dabei, und er fand einen Artikel, in dem es hieß: »Aus einer Dissertation, die letzten Monat an der Universität von Lissabon diskutiert wurde, veröffentlichen wir hier eine Betrachtung über den Tod. Der Autor heißt Francesco Monteiro Rossi, er hat in Philosophie summa cum laude promoviert, und die ist nur ein Auszug aus seinem Werk, denn vielleicht wird er in Zukunft weiterhin mit uns zusammenarbeiten.«
Pereira erklärt, er habe den Artikel, der keinen Titel hatte, zerstreut zu lesen begonnen, dann fing er automatisch von vorne an und schrieb ein Stück davon ab. Warum er das tat? Das kann Pereira nicht sagen. Vielleicht weil ihn diese katholische Avantgardezeitung ärgerte, vielleicht weil er an diesem Tag genug hatte von Avantgarde und von Katholizismen, auch wenn er selbst streng katholisch war, oder vielleicht weil er in diesem Augenblick, in diesem strahlenden Sommer in Lissabon, wegen der ganzen Körpermasse, die auf ihm lastete, die Idee der Auferstehung des Fleisches verabscheute, jedenfalls begann er den Artikel abzuschreiben, vielleicht um die Zeitschrift in den Papierkorb werfen zu können.
Er erklärt, er habe nicht alles abgeschrieben, nur ein paar Zeilen, die, wie er nachweisen kann, folgendermaßen lauten: »Die Beziehung, die den Sinn unseres Daseins am feinsten und umfassendsten bestimmt, ist jene von Leben und Tod, denn die Begrenzung unserer Existenz durch den Tod ist entscheidend für das Verständnis und die Wertschätzung des Lebens.« Dann nahm er das Telefonbuch und sagte zu sich: Rossi, was für ein merkwürdiger Name, mehr als einen Rossi kann es im Telefonbuch nicht geben, er erklärt, daß er eine Nummer wählte, denn an die Nummer erinnert er sich gut, und am anderen Ende hörte er eine Stimme, die sagte: Hallo. Hallo, sagte Pereira, hier spricht die Lisboa. Und die Stimme sagte: Ja? Nun, habe er gesagt, die Lisboa ist eine Lissaboner Zeitung, sie ist vor ein paar Monaten gegründet worden, ich weiß nicht, ob Sie sie kennen, wir sind apolitisch und unabhängig, glauben jedoch an die Seele, ich meine, wir haben katholische Neigungen, und ich möchte mit Herrn Monteiro Rossi sprechen. Pereira erklärt, daß am anderen Ende einen Augenblick lang Stille herrschte, und dann sagte die Stimme, daß er Monteiro Rossi sei und nicht allzuviel an die Seele denke. Pereira schwieg ebenfalls ein paar Sekunden, weil es ihm seltsam erschien, erklärt er, daß jemand, der so tiefgründige Betrachtungen über den Tod anstellte, nicht an die Seele dachte. Und folglich dachte er, daß ein Mißverständnis vorliege, und augenblicklich fiel ihm wieder die Auferstehung des Fleisches ein, was eine fixe Idee von ihm war, und er sagte, er habe einen Artikel Monteiro Rossis über den Tod gelesen, und dann sagte er, daß auch er selbst, Pereira, nicht an die Auferstehung des Fleisches glaube, sofern Monteiro Rossi das damit habe sagen wollen. Mit einem Wort, er verhaspelte sich, erklärt er, und das ärgerte ihn, er ärgerte sich in erster Linie über sich selbst, weil er riskiert hatte, einen Unbekannten anzurufen und mit ihm über derart heikle, um nicht zu sagen intime Dinge wie die Seele und die Auferstehung des Fleisches zu sprechen. Pereira erklärt, er habe es bereut. Und beinahe hätte er den Hörer aufgelegt, aber dann fand er aus irgendeinem Grund die Kraft, weiterzureden, und so sagte er, daß er Pereira heiße, Doktor Pereira, der die Kulturseite der Lisboa leite, und daß die Lisboa im Augenblick zwar nur eine Abendzeitung sei, mit einem Wort, eine Zeitung, die es gewiß nicht mit anderen Zeitungen aufnehmen konnte, daß er jedoch sicher war, daß sie sich früher oder später etablieren würde, und daß die Lisboa im Augenblick zwar hauptsächlich Gesellschaftsnachrichten brachte, daß man jetzt jedoch beschlossen hatte, eine Kulturseite hinzuzufügen, die samstags erschien, und daß die Redaktion noch nicht vollständig war, weshalb man Personal brauchte, einen freien Mitarbeiter, der eine ständige Kolumne betreute.
Pereira erklärt, daß Herr Monteiro Rossi augenblicklich zu stottern begann, er werde noch diesen Tag in die Redaktion kommen, er sagte auch, die Arbeit interessiere ihn, jegliche Arbeit, denn, nun ja, er brauchte wirklich eine Arbeit, jetzt, da er mit der Universität fertig war und für sich sorgen mußte, aber Pereira war vorsichtig genug, ihm zu sagen, nicht in die Redaktion, vorläufig lieber nicht, vielleicht konnten sie sich außerhalb, in der Stadt, treffen, und daß es besser wäre, einen Treffpunkt auszumachen. Das sagte er, erklärt er, weil er einen Unbekannten nicht in das trostlose kleine Zimmer in der Rua Rodrigo da Fonseca kommen lassen wollte, in dem ein kurzatmiger Ventilator summte und wo es immer nach Gebratenem roch wegen der Portiersfrau, einer Megäre, die alle argwöhnisch beobachtete und nichts anderes tat als braten. Und außerdem wollte er nicht, daß ein Unbekannter feststellte, daß die Kulturredaktion der Lisboa nur aus ihm, Pereira, bestand, einem Mann, der in dieser Rumpelkammer vor Hitze und Unbehagen schwitzte, und schließlich, erklärt Pereira, fragte er ihn, ob sie sich in der Stadt treffen könnten, und er, Monteiro Rossi, sagte zu ihm: Heute abend findet auf der Praça da Alegria ein Volksfest mit Liedersängern und Gitarrespielern statt, man hat mich eingeladen, eine neapolitanische Romanze zu singen, wissen Sie, ich bin ein halber Italiener, aber Neapolitanisch verstehe ich nicht, jedenfalls hat mir der Besitzer des Lokals ein Tischchen im Freien reserviert, auf meinem Tischchen steht ein Kärtchen mit Monteiro Rossi darauf, was halten Sie davon, wenn wir uns dort treffen? Und Pereira sagte zu, erklärt er, legte den Hörer auf, wischte sich den Schweiß ab, und dann hatte er eine großartige Idee, und zwar, eine kleine Kolumne mit dem Titel »Jahrestage« zu machen, und er nahm sich vor, sie bereits nächsten Samstag zu veröffentlichen, und so schrieb er fast automatisch, vielleicht weil er an Italien dachte, die Überschrift nieder: Vor zwei Jahren starb Luigi Pirandello. Und dann schrieb er den Untertitel: »Der große Theaterautor hatte in Lissabon sein Ich träume, aber vielleicht auch nicht vorgestellt.«
Es war der fünfundzwanzigste Juli neunzehnhundertachtunddreißig, und Lissabon strahlte im Blau einer Atlantikbrise, erklärt Pereira.
2
Pereira erklärt, an jenem Nachmittag habe das Wetter umgeschlagen. Plötzlich legte sich die Atlantikbrise, vom Ozean her zog eine dicke Nebelwand auf, und die Stadt war wie in ein klatschnasses, heißes Tuch eingewickelt. Bevor er sein Büro verließ, warf Pereira einen Blick auf das Thermometer, das er auf eigene Kosten gekauft und hinter der Tür aufgehängt hatte. Es zeigte achtunddreißig Grad. Pereira machte den Ventilator aus, begegnete auf der Treppe der Portiersfrau, die zu ihm sagte: Auf Wiedersehen, Doktor Pereira, atmete noch einmal den Geruch von Gebratenem ein, der im Hauseingang hing, und ging schließlich ins Freie hinaus. Vor der Haustür lag der Markt des Viertels, und die Guarda Nacional Republicana hatte zwei Polizeiwagen postiert. Pereira wußte, daß auf dem Markt Aufregung herrschte, weil die Polizei am Tag davor im Alentejo einen Fuhrmann erschossen hatte, der den Markt belieferte und Sozialist war. Deshalb war die Guarda Nacional Republicana vor den Toren des Marktes aufgezogen. Aber die Lisboa oder, besser gesagt, der Stellvertreter des Herausgebers, hatte nicht den Mut besessen, davon zu berichten, denn der Herausgeber war auf Urlaub, er hielt sich in Buçaco auf, wo er die kühle Luft und die Thermen genoß, und wer hatte schon den Mut, zu berichten, daß ein sozialistischer Fuhrmann im Alentejo auf seinem Karren massakriert worden war und alle seine Melonen mit Blut bespritzt hatte? Niemand, denn das Land schwieg, es konnte gar nichts anderes als schweigen, und derweil starben die Leute, und die Polizei spielte sich als Machthaber auf. Pereira begann zu schwitzen, weil er schon wieder an den Tod dachte. Und er dachte: Diese Stadt stinkt nach Tod, ganz Europa stinkt nach Tod.
Er begab sich ins Café Orquídea, das nur einen Katzensprung entfernt war, neben der jüdischen Fleischerei, und setzte sich an ein Tischchen, aber ins Innere des Lokals, wo es wenigstens einen Ventilator gab, denn draußen hielt man es vor Hitze nicht aus. Er bestellte eine Limonade, ging zur Toilette, wusch sich Hände und Gesicht, ließ sich eine Zigarre bringen, bestellte die Abendzeitung, und Manuel, der Kellner, brachte ihm ausgerechnet die Lisboa. An diesem Tag hatte er die Korrekturfahnen nicht gesehen, deshalb blätterte er darin wie in einer fremden Zeitung. Auf der ersten Seite stand: »In New York stach heute die luxuriöseste Yacht der Welt in See.« Pereira betrachtete lange die Überschrift, dann betrachtete er die Fotografie. Auf dem Bild war eine Gruppe von Menschen zu sehen, mit Strohhut und im Hemd, die Champagnerflaschen entkorkten. Pereira erklärt, daß er zu schwitzen begann, und er dachte aufs neue an die Auferstehung des Fleisches. Wie, dachte er, wenn ich auferstehe, befinde ich mich in Gesellschaft dieser Leute mit Strohhut? Er stellte sich tatsächlich vor, er befinde sich mit den Leuten von der Yacht in irgendeinem nicht näher bestimmten Hafen der Ewigkeit. Und die Ewigkeit erschien ihm als unerträglicher Ort, auf dem ein dunstiger Hitzeschleier lastete, mit Leuten, die Englisch sprachen, sich zuprosteten und dabei ausriefen: Oh, oh! Pereira ließ sich noch eine Limonade bringen. Er überlegte sich, ob er nach Hause gehen sollte, um ein kühles Bad zu nehmen, oder ob er lieber seinen Freund, den Pfarrer, besuchen sollte, Don António von der Mercês-Kirche, zu dem er vor einigen Jahren, als seine Frau starb, beichten gegangen war und den er einmal im Monat besuchte. Er dachte, es sei besser, Don António zu besuchen, vielleicht würde es ihm guttun.
Und das tat er. Pereira erklärt, diesmal habe er vergessen zu bezahlen. Er erhob sich gleichmütig, besser gesagt, ohne daran zu denken, und ging einfach weg, und auf dem Tisch ließ er seine Zeitung und seinen Hut liegen, vielleicht weil er bei dieser Hitze keine Lust hatte, ihn aufzusetzen, oder weil es seine Art war, seine Sachen liegenzulassen.
Pater António war abgespannt, erklärt Pereira. Er hatte Augenringe, die ihm bis zu den Wangen reichten, und einen erschöpften Gesichtsausdruck, wie jemand, der nicht geschlafen hat. Pereira fragte ihn, was mit ihm los sei, und Pater António sagte zu ihm: Also so was, hast du es denn nicht erfahren, sie haben einen aus dem Alentejo auf seinem Fuhrwerk umgebracht, es gibt Streiks, hier in der Stadt und anderswo, in welcher Welt lebst du denn, du, der du in einer Zeitung arbeitest, hör mal, Pereira, informier dich doch ein wenig.
Pereira erklärt, dieses kurze Gespräch und die Art und Weise, in der er verabschiedet worden war, habe ihn verwirrt. Er fragte sich: In was für einer Welt lebe ich? Und es kam ihm der groteske Gedanke, daß er vielleicht gar nicht lebte, sondern schon so gut wie tot war. Oder besser gesagt: Er tat nichts anderes als an den Tod denken, an die Auferstehung des Fleisches, an die er nicht glaubte, und ähnliche Dummheiten, sein Leben war nur ein Überleben, die Illusion eines Lebens. Und er fühlte sich erschöpft, erklärt er. Es gelang ihm, sich bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle zu schleppen, und er nahm eine Straßenbahn bis zum Terreiro do Paço. Und dabei betrachtete er durch das Fenster, wie sein Lissabon langsam an ihm vorbeizog, er betrachtete die Avenida da Liberdade mit ihren schönen Gebäuden und dann die im englischen Stil gehaltene Praça da Rossio; und am Terreiro do Paço stieg er um in die Straßenbahn, die bis zum Kastell hinauffuhr. Auf der Höhe der Kathedrale stieg er aus, denn er wohnte hier in der Nähe, in der Rua da Saudade. Er stieg mühsam die steile Straße hinauf, die zu seinem Haus führte. Er läutete bei der Portiersfrau, weil er keine Lust hatte, die Haustürschlüssel zu suchen, und die Portiersfrau, die auch seine Zugehfrau war, öffnete ihm. Doktor Pereira, sagte die Portiersfrau, ich habe Ihnen zum Abendessen eine Karbonade gebraten. Pereira dankte ihr und stieg langsam die Treppe hinauf, holte den Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte hervor, wo er ihn immer aufbewahrte, und ging hinein. Im Vorzimmer blieb er vor dem Bücherregal stehen, wo sich das Bild seiner Frau befand. Er hatte das Foto selber geknipst, neunzehnhundertsiebenundzwanzig, während einer Reise nach Madrid, und im Hintergrund sah man die wuchtigen Umrisse des Escorial. Entschuldige, daß ich ein wenig spät komme, sagte Pereira.
Pereira erklärt, daß er seit einiger Zeit die Gewohnheit angenommen hatte, mit dem Bild seiner Frau zu sprechen. Er erzählte ihr, was er während des Tages gemacht hatte, vertraute ihr seine Gedanken an, bat um Ratschläge. Ich weiß nicht, in was für einer Welt ich lebe, sagte Pereira zum Foto, auch Pater António hat es mir gesagt, das Problem ist, daß ich an nichts anderes als an den Tod denke, mir ist, als ob die ganze Welt tot wäre oder drauf und dran sei, zu sterben. Und dann dachte Pereira an das Kind, das sie nicht bekommen hatten. Er hätte zwar eines gewollt, aber das konnte er von dieser zarten und kränkelnden Frau nicht verlangen, die nächtelang wach lag und lange Zeiten im Sanatorium verbrachte. Und es tat ihm leid. Denn wenn er jetzt einen Sohn gehabt hätte, einen erwachsenen Sohn, mit dem er hätte am Tisch sitzen und sich unterhalten können, dann hätte er nicht mit diesem Bild sprechen müssen, das auf einer lange zurückliegenden Reise entstanden war, an die er sich kaum mehr erinnerte. Und er sagte: Nun, was soll’s. So verabschiedete er sich immer vom Bild seiner Frau. Dann ging er in die Küche, setzte sich an den Tisch und nahm den Deckel von der Pfanne mit der gebratenen Karbonade. Die Karbonade war kalt, aber er hatte keine Lust, sie aufzuwärmen. Er aß sie immer so, wie sie ihm die Portiersfrau hinterließ: kalt. Er aß rasch, ging ins Bad, wusch sich die Achseln, zog ein frisches Hemd an, band sich eine schwarze Krawatte um und legte ein wenig von dem spanischen Parfüm auf, das sich noch immer in dem Flakon befand, den er neunzehnhundertsiebenundzwanzig in Madrid gekauft hatte. Dann zog er ein graues Jackett an und verließ das Haus, um zur Praça da Alegria zu gehen, denn inzwischen war es neun Uhr abends, erklärt Pereira.
3
Pereira erklärt, daß die Stadt an diesem Abend in der Hand der Polizei zu sein schien. Er begegnete ihr überall. Er nahm ein Taxi zum Terreiro do Paço, und unter den Arkaden standen Jeeps und Polizisten mit Karabinern. Vielleicht hatten sie Angst vor Demonstrationen oder vor Menschenansammlungen auf den Plätzen, und deshalb überwachten sie die strategischen Punkte der Stadt. Er wäre gern zu Fuß weitergegangen, denn der Kardiologe hatte ihm gesagt, er brauche Bewegung, aber er hatte nicht den Mut, an den unheimlichen Soldaten vorbeizugehen, und so nahm er die Straßenbahn, die die Rua dos Fanqueiros hinunterfuhr und deren Endstation sich auf der Praça da Figueira befand. Hier stieg er aus, erklärt er, und traf wiederum Polizei an. Diesmal mußte er an den Truppen vorbeigehen, und das verursachte ihm leichtes Unbehagen. Im Vorbeigehen hörte er, wie ein Offizier zu den Soldaten sagte: Und denkt daran, Jungs, daß die Subversiven ständig auf der Lauer liegen, ihr tut gut daran, die Augen offenzuhalten.
Pereira blickte sich um, als ob dieser Rat für ihn bestimmt gewesen wäre, und er hatte nicht den Eindruck, daß er die Augen offenhalten mußte. Die Avenida da Liberdade war ruhig, der Eiskiosk war geöffnet, und an den Tischchen saßen Leute, die die kühle Luft genossen. Er begann ruhig den Gehsteig in der Mitte entlangzuspazieren, und in diesem Augenblick, erklärt er, hörte er die Musik. Es war eine sanfte und melancholische Musik, Gitarren aus Coimbra, und diese Verbindung aus Musik und Polizei erschien ihm merkwürdig. Er dachte, sie komme von der Praça da Alegria, und so war es auch tatsächlich, denn je näher er kam, desto lauter wurde die Musik.
Der Platz sah nicht gerade aus, als befände er sich in einer belagerten Stadt, erklärt Pereira, denn er sah keine Polizei, ganz im Gegenteil, er sah nur einen Nachtwächter, der betrunken zu sein schien und auf einer Bank ein Schläfchen machte. Der Platz war mit Papiergirlanden geschmückt, und gelbe und grüne Glühbirnen hingen von Drähten, die von einem Fenster zum anderen gespannt waren. Ein paar Tischchen standen im Freien, und einige Paare tanzten. Dann sah er ein Transparent, das zwischen zwei Bäumen des Platzes gespannt war und auf dem riesengroß geschrieben stand: Francisco Franco zu Ehren. Und darunter, in kleineren Buchstaben: Den portugiesischen Soldaten in Spanien zu Ehren.
Pereira erklärt, erst in diesem Augenblick habe er verstanden, daß es sich um ein Fest von Parteigängern Salazars handelte und daß es deshalb nicht von der Polizei überwacht werden mußte. Und erst jetzt bemerkte er, daß viele Menschen ein grünes Hemd und ein Tuch um den Hals trugen. Er blieb entsetzt stehen, und in einem Augenblick dachte er an viele Dinge gleichzeitig. Er dachte, daß Monteiro Rossi vielleicht einer der Ihren war, er dachte an den Fuhrmann aus dem Alentejo, der seine Melonen mit seinem Blut besudelt hatte, er dachte daran, was Pater António sagen würde, wenn er ihn hier sähe. An all das dachte er, und er setzte sich auf die Bank, auf der der Nachtwächter sein Schläfchen hielt, und gab sich seinen Gedanken hin. Oder besser gesagt, er gab sich der Musik hin, denn die Musik gefiel ihm trotz allem. Da waren zwei alte Männer, die spielten, einer Geige und der andere Gitarre, und sie spielten herzzerreißende Melodien aus Coimbra, die aus seiner Jugend stammten, als er Student war und an die Zukunft wie an ein strahlendes Abenteuer dachte. Und auch er hatte damals bei Studentenfesten Geige gespielt, er war dünn und beweglich gewesen und hatte den Mädchen den Kopf verdreht. Wie viele schöne Mädchen waren verrückt nach ihm gewesen. Er hingegen hatte sich in ein zerbrechliches, bleiches Mädchen verliebt, das Gedichte schrieb und oft Kopfweh hatte. Und dann dachte er an andere Dinge aus seinem Leben, aber darüber will Pereira nicht sprechen, denn er erklärt, sie gingen ihn und nur ihn etwas an und fügten jenem Abend und jenem Fest, auf dem er gegen seinen Willen gelandet war, nichts hinzu. Und dann, erklärt Pereira, habe er irgendwann gesehen, wie sich von einem der Tischchen ein großer und schlanker junger Mann in einem hellen Hemd erhob und sich zwischen die beiden alten Musikanten stellte. Und er spürte, wer weiß, warum, einen Stich ins Herz, vielleicht weil er sich in diesem jungen Mann wiederzuerkennen glaubte, vielleicht weil es ihm schien, sich selbst zu der Zeit von Coimbra wiederzufinden, denn irgendwie ähnelte er ihm, nicht in den Zügen, sondern in der Art und Weise, wie er sich bewegte und die Haare trug. Und der junge Mann, dem eine Locke in die Stirn fiel, begann ein italienisches Lied zu singen, O sole mio, dessen Worte Pereira zwar nicht verstand, das jedoch ein Lied voller Kraft und Leben war, schön und klar, und er verstand nur die Worte »o meine Sonne« und sonst nichts, und derweil sang der junge Mann, eine leichte Atlantikbrise hatte sich wieder erhoben, und der Abend war kühl, und alles erschien ihm schön, sein bisheriges Leben, von dem er nicht sprechen möchte, Lissabon, die Kuppel des Himmels, die man über den bunten Glühbirnen sah, und er verspürte eine große Sehnsucht, aber Pereira will nicht sagen, wonach. Auf jeden Fall begriff er, daß er am Nachmittag mit dem jungen Mann, der sang, telefoniert hatte, und sobald dieser zu singen aufgehört hatte, erhob sich Pereira von der Bank, denn die Neugier war größer als seine Zurückhaltung, ging zu dem Tischchen und sagte zu dem jungen Mann: Herr Monteiro Rossi, nehme ich an. Monteiro Rossi machte Anstalten aufzustehen, stieß gegen das Tischchen, das Bierglas, das vor ihm stand, fiel um, und er bekleckerte völlig seine schöne weiße Hose. Ich bitte Sie um Entschuldigung, stammelte Pereira. Ich bin es, der unachtsam war, sagte der junge Mann, so etwas passiert mir oft, Sie sind Doktor Pereira von der Lisboa, vermute ich, ich bitte Sie, nehmen Sie Platz. Und er streckte ihm die Hand hin.
Pereira erklärt, er sei verlegen gewesen, als er sich an das Tischchen setzte. Insgeheim dachte er, daß er hier fehl am Platz war, daß es absurd war, einen Unbekannten bei diesem nationalistischen Fest zu treffen, daß Pater António sein Verhalten nicht gebilligt hätte; und daß er am liebsten schon wieder zu Hause gewesen wäre, um mit dem Bild seiner Frau zu sprechen und sie um Verzeihung zu bitten. Und das, was er dachte, gab ihm den Mut, eine direkte Frage zu stellen, nur um ins Gespräch zu kommen, und ohne sich allzu viele Gedanken zu machen, fragte er Monteiro Rossi: Das hier ist ein Fest der Salazar-Jugend, gehören Sie zur Salazar-Jugend?
Monteiro Rossi strich die Haarlocke zurück, die ihm in die Stirn fiel, und antwortete: Ich bin Doktor der Philosophie, ich interessiere mich für Philosophie und Literatur, aber was hat das hier mit der Lisboa zu tun? Viel, erklärt Pereira, gesagt zu haben, denn wir machen eine freie und unabhängige Zeitung und wollen uns nicht in die Politik einmischen.
Inzwischen begannen die beiden alten Männer wieder zu spielen, sie entlockten ihren melancholischen Saiten ein falangistisches Lied, aber Pereira begriff in diesem Augenblick, daß er sich auf ein Spiel eingelassen hatte und daß er weiterspielen mußte. Und merkwürdigerweise begriff er, daß er imstande war, es zu tun, daß er die Situation im Griff hatte, denn er war der Doktor Pereira von der Lisboa, und der junge Mann, der ihm gegenübersaß, hing an seinen Lippen. Und so sagte er: Ich habe Ihren Artikel über den Tod gelesen, er erschien mir sehr interessant. Ich habe eine Dissertation über den Tod geschrieben, antwortete Monteiro Rossi, dazu muß ich allerdings sagen, daß sie nicht zur Gänze auf meinem Mist gewachsen ist, den Ausschnitt, den die Zeitung veröffentlicht hat, habe ich abgeschrieben, ich gestehe es Ihnen, teilweise von Feuerbach und teilweise von einem französischen Spiritualisten, nicht einmal mein Professor hat es gemerkt, wissen Sie, die Professoren sind gar nicht so gebildet, wie man glaubt. Pereira erklärt, er habe hin und her überlegt, bis er die Frage stellte, die er den ganzen Abend hatte stellen wollen, aber schließlich entschloß er sich, und davor bestellte er bei dem jungen Kellner im grünen Hemd, der sie bediente, etwas zu trinken. Entschuldigen Sie, sagte er zu Monteiro Rossi, aber ich trinke keinen Alkohol, ich trinke nur Limonade, ich nehme eine Limonade. Und während er seine Limonade schlürfte, fragte er leise, als ob ihn jemand hören und zensieren könnte: Aber Sie, entschuldigen Sie, aber ich möchte Sie das fragen, Sie interessieren sich für den Tod?
Pereira nahm einen Schluck von seiner Limonade, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und sagte: Einfach weil man in einer Zeitung hin und wieder einen Nachruf auf einen bedeutenden Schriftsteller bringen muß, und einen Nachruf kann man nicht von einem Augenblick zum anderen schreiben, man muß ihn bereits fertig vorliegen haben, und ich suche jemanden, der im voraus Nachrufe auf die großen Schriftsteller unserer Epoche schreiben kann, stellen Sie sich vor, morgen stürbe Mauriac, wie könnte ich mich da aus der Affäre ziehen?
Pereira erklärt, er habe gesagt, daß ihm García Lorca nicht als besonders geeignet erschien, aber man könne es ja probieren, solange man maßvoll und vorsichtig vorging und sich ausschließlich auf seine Person als Künstler bezog, ohne daß man andere Aspekte erwähnte, die in Anbetracht der Situation heikel sein konnten. Und da sagte Monteiro Rossi zu ihm, so natürlich wie nur möglich: Hören Sie, entschuldigen Sie, wenn ich Sie darum bitte, ich schreibe einen Nachruf auf García Lorca, aber könnten Sie mir nicht einen Vorschuß geben? Ich muß mir eine neue Hose kaufen, diese da ist völlig bekleckert, und morgen möchte ich mit einem Mädchen ausgehen, die mich jetzt abholt und die ich auf der Universität kennengelernt habe, sie ist eine Studienkollegin und gefällt mir sehr, ich möchte sie ins Kino ausführen.