Mit »Landratten« auf dem Wasser unterwegs im
wunderschönen Schärengebiete Ostschwedens
bis zu den Ålandinseln und zurück -
spannende Erlebnisse und viel, viel mehr
Eine Reiseerzählung
von Ariane K.
Diese Reiseerzählung nimmt Sie auf ein fesselndes Abenteuer mit und
berichtet sehr lebendig, amüsant und zugleich informativ
über eine Segeltour durch das
östliche Schärengebiet Schwedens und die Ålandinseln.
Begleiten Sie die Chaoscrew auf ihrem Segler bei
spannenden Erlebnissen und lernen Sie die Prinzessin
und den verzweifelten Käpt‘n kennen
Wer in meiner Geschichte einen fachmännischen Segelführer erwartet, der sollte für Überraschungen bereit und offen sein. Ich erzähle über interessante Menschen und ihre Erlebnisse, über Anna und Kay, über Herkules und Madam, über die ostschwedischen Schären und die Ålandinseln. Nebenbei werfen meine Betrachtungen einen kurzen Blick auf die Kultur, Geschichte und sehenswerte Landstriche Schwedens Ostküste, die meiner Ansicht nach einen Besuch verdient haben.
Das Besondere: Ich beschreibe diese Segeltour aus der Perspektive einer Frau, die keine Ahnung vom Segeln hat! Aber sie hat Träume, Ideale, Fantasien und sucht für sich den richtigen Weg. Sie freut sich begeistert aufs Segeln, ohne zu wissen, was sie erwartet. Dieses bedeutet erstens, dass detaillierte, fachliche Wind- und Segelbeschreibungen zu kurz kommen und zweitens, dass Annas Betrachtungsweisen jedem passionierten Segelsportler sicherlich die Nackenhaare hochstehen lassen werden. Gleichzeitig möchte ich mit genauen Positionsangaben, Beschreibungen der angelaufenen Häfen und Ankerbuchten, den echten Seglern unter den Lesern lobenswerte Anlegeplätze beschreiben.
So hoffe ich, Seglern und allen »Landratten« eine Reise zu schildern, auf der Humor, Spannung und interessante Unterhaltung im Vordergrund stehen. Begleiten sie einen erfahrenen Seebären mit seiner chaotischen Touristencrew auf ihren Entdeckungen und haben sie dabei viel Spaß!
Viel Freude und einige Tränen beim Lachen und Mitfühlen
wünscht Ihnen
Anmerkung: Diese Reiseerzählung ist auch in gedruckter Form erhältlich, siehe unter meiner Internetseite www.hemme-web.de
Sommer, vor vielen Jahren
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Anna.
Annas Vater baute den »Kiek ut« und diese Segelyacht war der Stolz der ganzen Familie. Gemeinsam nahmen sie an großen Regatten teil und verbrachten ihre Freizeit auf diesem Boot. Annas Vater arbeitete als freischaffender Architekt und er nutze jede freie Minute, den Segelsport als Ausgleich für durchgearbeitete Nächte zu genießen.
Der »Kiek ut« war Mitte der fünfziger Jahre einer der erfolgreichsten Regattasegler in Warnemünde und Rostock. Als Krönung der vielen Regattaerfolge gewann der Vater 1958 die Gesamtdeutschen Segelmeisterschaften in seiner Schiffsklasse. Stolz feierten sie diesen Sieg, wie den Gewinn einer Olympiamedaille.
Die kleine Anna wurde bereits als Baby auf den Segeltouren mitgenommen und der
»Kiek ut« war ihr schaukelndes Kinderzimmer. Eine akribisch sicher konstruierte Hängematte hing am Mastbaum des Seglers. In dieser abenteuerlichen Konstruktion hielt Anna bereits im Alter von wenigen Wochen ihren Mittagsschlaf und blinzelte vorsichtig in die Sonne. Damals nahm sie das Gefühl für Wind und Sonne mit in ihr weiteres Leben, wobei ihr großer Bruder singend auf dem Großbaum saß und sein Schwesterchen in den Schlaf schaukelte.
Gute Freunde segelten mit der Familie über die Ostsee und begleiteten sie während dieser schönen und fröhlichen Zeit. Lustige Begebenheiten und Anekdoten sorgen noch sechzig Jahre nach ihrem Geschehen für amüsante Erzählungen und freudige Stunden. Dieses unbeschwerte, heitere Miteinander prägte das tägliche Leben, auch wenn kein Fruchtischwein in der Kombüse vernichtet wurde.
Eines Tages, sie segelten von Stralsund zur Insel Hiddensee, bewölkte sich der blaue Himmel und es kam starker Wind auf. Die zweijährige Anna saß in der Plicht vom
»Kiek ut«, zwischen den Beinen von Herkules und spielte verträumt mit Eimer und Schaufel vor sich hin. Die blonden Locken fielen ihr ins Gesicht und der Sand rann kribbelnd durch ihre Fingerchen.
Herkules war ein Schiffbaustudent und Segelfreund, der Annas Vater regelmäßig auf den Törns und Regatten begleitete. Übrigens wunderten sich alle Freunde und Bekannten, dass seine Eltern schon bei der Namensgebung »Herkules« die Ausmaße seiner zukünftigen Statur berücksichtigt hatten. Ebenso passten die dichten schwarzen, zurückgekämmten Haare, die ihm bei starkem Wind immer wieder ins Gesicht fielen, zu seinem eindrucksvollen Erscheinungsbild.
Dieser Riese, mit den markanten Gesichtszügen, warf ab und zu einen wachsamen Blick auf das spielende Mädchen, um sicher zu stellen, dass ihr bei dem aufbrausenden Seegang nichts geschah. Das Boot schaukelte zusehends kräftiger von einer Seite zur anderen. Der Wind nahm mit jeder Minute zu und die Wellen schlugen mächtig gegen die Bordwand. Zur Sicherung wickelte Herkules der Kleinen einen langen Strick um den Oberkörper, wie ein Leibchen und so wurde das Mädchen vor der brausenden Gefahr geschützt. Aus ihrer schaukelnden Sandkiste blinzelte Anna Herkules an und feixte keck.
Gern spielte sie mit seinem großen Zeh und freute sich, ihn ein wenig zu kitzeln.
Herkules zuckte bei ihren Berührungen kurz zusammen, grinste und sah zu dem kleinen Frechdachs hinunter. Anna wollte schon damals Aufmerksamkeit und sie bekam, was sie wollte. Herkules beobachtete sie in Gedanken versunken und musste über ihre Unbeschwertheit lächeln. Plötzlich lief etwas Warmes über seinen Fuß. Erschrocken zog er sein Bein zur Seite und sah nach unten. Anna blickte ihn etwas verlegen an und schluckte, beugte den Kopf weit nach vorn und übergab sich abermals in einem hohen Bogen. Damals wurde Anna seekrank und spielte unbeeindruckt weiter mit den, jetzt glitschigen Zehen von Herkules.
1961 schob die Stasi diesem Sport für Annas Familie und den Segelfreunden einen endgültigen Riegel vor. Die Segler durften nur noch mit Sondergenehmigungen auf der Ostsee ihren Sport ausüben.
Noch vor dem Bau der Berliner Mauer wurde Annas Vater als Staatsfeind verhaftet. Das Boot, sowie das gesamte Eigentum der Familie wurde beschlagnahmt. Die Yacht ging in sozialistisches Volkseigentum über und ist heute im Besitz der Universität Greifswald.
Die Staatsanwaltschaft Rostock machte sich mit der Verhaftung von Annas Vater viel Arbeit. Es wurde ein großer Schauprozess mit viel Medienrummel »gegen die Feinde des Sozialismus« inszeniert. Die Zeit während der Untersuchungshaft war die schlimmste Demütigung und Menschenverachtung, die sich der Architekt je hatte vorstellen können. Im Prozess wurde der Vater als Kopf einer antisozialistischen Bande dargestellt, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Sozialismus im Bezirk Rostock gezielt zu untergraben und zu vernichten. Selbst bei Beginn des Prozesses konnten sich die später Verurteilten nicht vorstellen, dass die Anklage mit solchen haltlosen Beschuldigungen ans Ziel kommen würde. Sie irrten sich. Im Urteil wurde deutlich gezeigt, was Feinden des Sozialismus droht ...
Das Leben von Annas Familie änderte sich schlagartig. Die Mutter wurde zu Bewährung verurteilt und ihr wurde von höchster Stelle, der Bezirksleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, eine Arbeit zugewiesen und somit wurde sie unter die Obhut eines »Kollektivs der sozialistischen Arbeit« gestellt. In dem volkseigenen Frauenbetrieb sollte sie zu einem würdigen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft erzogen werden.
Resigniert arrangierte sie sich mit diesen Gegebenheiten, denn sie wusste nun, zu welchen Konsequenzen das Regime fähig war. Sie musste ihre Kinder allein großziehen und ihr fehlte Geld und Geborgenheit. Jeder Tag war ein Kampf um ihre Existenz. Diese Jahre waren für alle eine schwere Zeit, in der ihnen gegenseitige Liebe und das Warten auf den Vater die nötige Zuversicht gaben, Probleme zu bewältigen, und nur heimlich zu weinen. Die Mutter wünschte sich manches Mal abends einzuschlafen, ohne sich über den nächsten Tag Gedanken machen zu müssen.
In der Schule mussten die Kinder um Anerkennung kämpfen, da ihr Vater im Knast saß. Anna hatte zum Glück ihren großen Bruder, der nicht zuließ, dass die anderen Kinder sie hänselten.
Das kleine Mädchen wurde in dieser Zeit stark und sie lernte sich zu wehren. Kinder sind bekanntlich in ihren Urteilen und Handlungen gnadenlos. Die gesamte Familie hielt tapfer sechs Jahre diese Momente der Anfeindungen aus. Sie schafften es, zusammenzuhalten und zu überleben.
Erst im Jahr 1966 wurde Annas Vater aus der Haft entlassen und konnte zu seiner Familie zurückkehren. Sie begannen, ihr Leben neu zu ordnen. Sie kannten nun die Konsequenzen, die Nichtsympathisanten des Regimes zu erwarten hatten.
Nach den körperlichen und physischen Quälereien der Machthaber versuchten sie, sich den vorhandenen sozialistischen Gegebenheiten anzupassen und ein normales Leben zu führen.
Der Familie war es erst im Jahr 1990, nach der Änderung der Machtverhältnisse im sozialistischen Deutschland möglich, auf der Ostsee zu segeln. Annas Eltern wurden rehabilitiert, doch diese Geste konnte die Entbehrungen der vergangenen Jahre nicht wieder gut machen.
Jahrhundertsommer
Die vorhergegangenen Schilderungen sind lange her und mit den großen Zehen von erwachsenen Männern spielt Anna zwar immer noch gern, allerdings nur selten und unter ganz besonderen Umständen.
Herkules segelt seit Jahrzehnten mit seiner eigenen Familie auf selbstgebauten Segelyachten über die Ostsee und besucht die skandinavischen Länder und Inseln im ganzen Ost- und Nordseebereich. Zu seiner Familie gehört besonders Madam, die er auf dem »Kiek ut« kennen und lieben lernte. Sie haben geheiratet und ihre gemeinsamen Söhne sind schon lange erwachsen. Die Jungs haben die Segelleidenschaft ihrer Eltern bereits als kleine Buben übernommen und Sven begleitet seine Eltern, wann immer er Zeit hat auf ihren interessanten Reisen.
Herkules hat sich gleich nach der ersten Begegnung für seine damalige Freundin den respektablen Kosenamen »Madam« ausgesucht. Auch heute charakterisiert »Madam« ihre konsequente Entschlossenheit Problemsituationen zu bewältigen, ihr besonderes Organisationstalent, ihren Beschützerinstinkt und bestimmt somit ihre souveräne Stellung an Bord und im Leben. Madam ist außerdem in der Lage, auch körperlich ihre autarke Position beim Ineinandergreifen der Zahnräder zu unterstreichen. Die Laufgeschwindigkeit des Motors für den Lebensrhythmus und die Festlegung des einzulegenden Ganges unterliegen ihren Anweisungen. Madam ist für die Software eines funktionierenden Getriebes zuständig. Sie übernimmt die Überwachungsfunktion für allgemeine und weitläufige Netzwerke ihrer gesamten Umgebung.
Wer anders, als Madam übernimmt folglich die Organisation der jährlichen Sommertouren und Segeltörns? Sie managt diese Reisen für die Gesamtcrew, Chartergäste und Eigner: Sie bunkert Proviant, beläuft Zollformalien, chartert die Besatzungsmitglieder und ist verantwortlich für die umfangreiche Organisation des Crewwechsels. Jahrelange Erfahrungen helfen ihr dabei, nichts zu vergessen.
Der Skipper Herkules hingegen, kümmert sich mit seinem Sohn Sven um die Hardware, um alle Dinge, die das Schiff und die Route betreffen. Sie besorgen Kartenmaterial, Hafenhandbücher und bereiten das Schiff im Vorfeld auf den Sommer im Norden vor. Sie übernehmen Reparaturen und sorgen dafür, dass die »Brise« in ausgezeichnetem Zustand zu den Sommerabenteuern auslaufen kann.
Die Freundschaft zwischen Herkules und Madam mit Annas Eltern hat sich über mehr als sechs Jahrzehnte erhalten und jedes Jahr, bevor die Segler ihren Sommertörn antreten, besuchen sie tags zuvor das ältere Ehepaar. Sie besprechen mit ihnen die geplanten Segeltouren und verabschieden sich von ihnen für die nächsten Wochen.
So sitzen die Freunde am 4.Juli zusammen beim Kaffeetrinken im Garten und tauschen sich über das kommende Segelabenteuer aus.
Herkules und Madam wollen morgen mit Sven und Marina ihren vierwöchigen Sommerurlaub in Richtung Schwedens Ostküste beginnen. Sie berichten, dass nach vierzehn Tagen ein Crewwechsel erfolgen wird. Sven und Marina können nicht länger als zwei Wochen Urlaub nehmen und sie werden von Max und Krümel abgelöst. Die neue Crew wird sich mit Herkules und Madam auf weitere Segelabenteuer begeben und sie zurück bis in den Heimathafen begleiten. Alles ist bis ins Kleinste vorbereitet und abgesprochen.
Heute aber sitzen die Segler mit Annas Eltern schwatzend unter dem großen Fliederstrauch im Garten und genießen den lauen Sommerabend in der Heimat. Langsam verschwindet die Sonne hinter den angrenzenden Häusern, es ist spät geworden. Der gemütliche Snack hat sich erheblich in die Länge gezogen und Madam drängelt zum Aufbruch. Sie müssen vor dem morgigen Ablegen noch tausend Dinge erledigen, da ihnen die Zeit in den Vorbereitungswochen davongelaufen ist. Somit erhebt sich Madam etwas schwerfällig aus dem bequemen Gartenstuhl und nimmt ihre Tasche unter den Arm, als diese zu klingeln beginnt. Lachend sehen sich die Umstehenden an und Madam kramt umständlich ihr Handy hervor.
»Was ist geschehen? Wann? Wo? Wie ist das möglich?«, Madam wird blass und setzt sich auf die Hollywoodschaukel, »Wie geht es ihm? Können wir helfen?«
Die Umstehenden beobachten Madam ungeduldig, da etwas Schlimmes geschehen sein muss. Nach einigen weiteren Sätzen beendet sie nachdenklich das Gespräch: »Na, um uns macht euch mal keine Gedanken, wir kriegen das schon irgendwie in den Griff! Und wenn wir einen kürzeren Törn machen, dass ist nicht wichtig! Kümmere dich um Max, damit er im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine kommt!«
Herkules fährt sich ungehalten durch die grauen Haare und flucht lauter als gewollt: »Verdammte Scheiße, was ist denn da los?«
Madam lässt sich in die Hollywoodschaukel zurückfallen, stößt sich mit den Füßen vorsichtig ab und antwortet resigniert: »Das war Krümel. Max ist beim Joggen über einen Stein gestolpert und hat sich das Fußgelenk gebrochen. Er wird gerade operiert und für mindestens sechs Wochen nicht laufen können.«
»Schiet!«, bemerkt Herkules und schlägt mit seiner großen, wuchtigen Hand ein wenig unkontrolliert auf den Gartentisch, »heißt das, dass die Beiden nicht mitkommen können und wir für die zweite Urlaubshälfte keine Crew haben?«
»Ja, so ist das!«, bestätigt seine Frau.
Jetzt setzt sich Herkules wieder, beugt sich nach vorn und fährt sich erneut grübelnd durch seine Haarpracht: »Wir bekommen nie im Leben bis morgen neue Mitsegler. Wer kann so kurzfristig Urlaub nehmen und lässt sich dermaßen überhastet auf einen Segeltörn ein?«
In der Runde herrscht stumme Ratlosigkeit.
Da meldet sich Annas Vater zu Wort: »Ich wüsste da jemanden. Die neue Crew hätte ja zwei Wochen Zeit ihre Angelegenheiten zu ordnen, und als Selbstständige können sie eine Reise vielleicht einordnen und möglich machen.«
Vor Enttäuschung und Überraschung reagieren Herkules und Madam nicht. Sie überhören die Worte ihres Freundes und nehmen in Gedanken von ihren vier Wochen Urlaub Abschied. Die Segler versuchen, sich mit vierzehn Tagen Sonne und Meer zufriedenzugeben.
Annas Mutter hingegen überlegt nicht lange und ist auf dem Weg zum Telefon. Als sie mit dem Mobiltelefon zurückkommt, fragt sie aufgeregt in die Runde: »Würdet ihr Anna und Kay auf eure Reise mitnehmen wollen? Sie haben zwar keine große Ahnung vom Segeln, doch es würde ihnen sicher Spaß machen. Auf ihrem kleinen See bewegen sie sich mit ihrer Jolle geschickt und sicher!«
Herkules starrt auf einen kleinen bunten Schmetterling, der sich auf seinen Fuß setzt, und hebt ganz gemächlich seinen gesenkten Kopf: »Klar, warum nicht! Frag, ob sie mitmöchten!« Madam nickt zustimmend.
Schon hat die Mutter gewählt und nach Sekunden ist Anna am Telefon: »Ja, Lehmann!«
Die Mutter überlegt einen kurzen Augenblick und beschließt, mit der Tür ins Haus zu fallen: »Hallo Kindchen, hast du was für deinen Urlaub geplant?«
»Guten Tag, Mutti, was ist das für eine Frage? Ja, wir wollen auf der Müritz segeln, haben aber keine Zeit oder sonst was festgemacht. Das wird sich nach der Auftragslage richten.«
»Was hältst du von einer längeren Segeltour in den schwedischen Ostschären?«
»Mütterchen, hast du irgendwas genommen? Ist alles in Ordnung? Ist was mit Vati?«
Ungeduldig übernimmt der Vater den Telefonhörer und erklärt seiner Tochter kurz und sachlich die Zusammenhänge.
»He, Anna bist du noch da?«, fragt er verwundert, als er seine Schilderungen beendet hat und keine Antworten von der anderen Seite bekommt.
»Ja, ja ich hab dich verstanden, nur kann ich das nicht glauben. ... Ich weiß nicht, was ich denken soll und wann soll es losgehen und wohin? ... Mit Herkules und Madam? ... Und mit der »Brise« ? ... Und wie lange? ...?«
»Ganz ruhig Prinzessin!«, unterbricht der Vater, »Hol erstmal tief Luft und sprich mit Kay darüber, dann ruft ihr in einer Stunde zurück und wir sehen weiter. Ist das O.K.?«
Anna erscheint das Gespräch wie im Nebel, die Schilderungen ihres Vaters verwandeln sich in ein flimmerndes Fabelwesen, welches plötzlich vor ihr steht und sie mit süßen Worten und Versprechungen zu sich in die Ferne lockt. Anna erkennt nicht, ob sie
dieses Traumbild anfassen kann oder ob es bei einer Berührung im Nichts verschwindet. Verdattert legt sie den Hörer auf, ohne ihrem Vater zu antworten.
In diesem Moment betritt Kay das Zimmer und entdeckt seine Freundin völlig verwirrt auf dem Sofa. Sie hat ein Kissen im Arm und knüllt es nervös zusammen, als ob sie nicht weiß, wo sie ihre Arme und Hände lassen soll. Kay stutzt, ist erschrocken über ihren Anblick und erkundigt sich beunruhigt: »Anna ist alles gut? Du hast doch mit deinen Eltern telefoniert, ist bei ihnen was passiert? He, sprich bitte mit mir!«
Die junge Frau sieht ihm starr in die blauen Augen, streicht die eine helle Locke, die ihr immer wieder in die Stirn fällt ungeschickt hinters Ohr und winkt ab: »Meinen Eltern geht es gut! Nur Herkules und Madam nicht. Sie wollen morgen ihre diesjährige Sommertour beginnen und eben gerade ist ihnen durch einen Unfall die Crew ausgefallen.«
»Na, das ist ja wirklich blöd. Sie wollten doch nach Schweden bis hoch nach Stockholm, wenn ich mich richtig erinnere. Können sie jetzt gar nicht lossegeln?», erkundigt sich Kay mitfühlend.
»Die zweite Urlaubshälfte fällt sicherlich ins Wasser!«
Pause.
»Es sei denn, ... wir springen ein!«
Anna schaut ihren Freund herausfordernd an.
Stille!
Er hält ihrem Blick stand und wortlos begeben sie sich zusammen in die vor ihnen stehende, undurchsichtige Nebelwand. Keiner traut sich, das erste Wort zu sagen. Keiner möchte das Fabelwesen berühren, um für einen Augenblick die Möglichkeit der Realisierung festzuhalten. Ihre Gedanken fliegen durcheinander. So eine Tour ist schon seit Jahren ihr großer Traum: Schwedens Ostküste mit dem Segelboot erkunden! Nein, überhaupt auf der Ostsee segeln!
Als Erster versucht Kay aus dem Nebel zu rudern und kämpft um klare Sicht. Er sitzt neben Anna auf der Couch, legt seinen Arm um sie und erklärt: »Das geht nicht. ... Dieses Angebot kommt so plötzlich, so unerwartet, so unangemeldet und du weißt nicht, ob wir den Anforderungen gerecht werden können. ... Wir kennen das Boot nicht! Die Crew soll in Schweden ausgetauscht werden, wie soll das überhaupt bewerkstelligt werden? Wann? ... Wo? ... ?«
»Sag mal, was erzählst du da?«, Anna schiebt ihren Freund aufgebracht zur Seite, »so ein Angebot bekommt man nur e i n m a l im Leben! Einen O s t s e e t ö r n! Das ist einer meiner großen Lebenswünsche und nun wird mir die Erfüllung dieses Traumes vorgeschlagen und du kommst mir mit deinen ewigen Bedenken, tausend Mal WENN und ABER ...!« Sie ist wütend und außer sich.
»Nun reg’ dich nicht auf! Was weißt du denn? ... Wie soll die Tour aussehen? ... Wo soll es hingehen? ... Wie lange sind wir unterwegs? ... Wann geht es los? ... Wo geht es los? ... Welche Voraussetzungen müssen wir erfüllen? ... Wie kriegen wir unsere Termine koordiniert? ... Wer übernimmt in unserer Abwesenheit den Telefondienst in der Firma? ... Was müssen wir mitnehmen? ... Haben wir die nötige Ausrüstung? ... Wir haben für diese Gewässer keinen Segelschein! … Wo hast du eigentlich deine Gummistiefel gelassen?«
Anna steht ruckartig auf, wirft ihrem Gegenüber das Kissen an den Kopf und hält sich zornig die Ohren zu: »Scheiße, verdammte Scheiße! Du machst mir alles kaputt!«
Sie hat Tränen in den Augen, greift zum Telefon und wählt die Nummer ihrer Eltern. Sie kann kaum sprechen und schluchzend meldet sie sich: »Hallo Vati, ich bin es. Danke, dass ihr an uns gedacht habt, aber Kay scheint keine Lust auf so eine Reise zu haben!«
Daraufhin wird der Hals des jungen Mannes immer länger, er spitzt die Ohren und reißt seiner Freundin sehr abrupt den Telefonhörer aus der Hand. Bestürzt schüttelt er den Kopf und schreit protestierend ins Telefon: »So stimmt das nicht! Das habe ich SO nicht gesagt! Natürlich habe ich Lust auf einen Segelurlaub! So eine Segeltour wäre sogar das Allergrößte! Ein Traum!«
Bevor Kay sein ABER und die vielen Bedenken äußern kann, fällt ihm der Vater entschieden ins Wort: »Na, dann ist ja alles in bester Ordnung! Wir erwarten euch morgen gegen Mittag bei uns. Am frühen Nachmittag wollen Madam und Herkules aufbrechen und vorher solltet ihr euch mit ihnen unterhalten. Euer Einsatz beginnt in zwei Wochen. Bis morgen! Ich freue mich auf euch! Grüß meine Prinzessin, Tschüß!«
Kay hört das monotone Tuten des Telefons und sieht den Hörer verdutzt an. Dann legt er ihn auf, immer noch kopfschüttelnd.
Was war denn das? Bleich und fassungslos erklärt er: »Ich glaube es nicht! Das kann nicht sein! Wir fahren morgen Mittag nach Rostock, um mit Herkules und Madam über unser eventuelles Mitsegeln zu reden! Das ist unmöglich!«
Anna trocknet schnell die Tränen und grinst schweigend – ihr Papa ist der Allerbeste!
Am darauf folgenden Tag sitzt das überrumpelte Paar im Auto, fährt zu den Eltern und mit ihnen zusammen am Nachmittag zum Segelclub, um sich dort mit Herkules, Madam, Sven und Marina zu treffen. Nach kurzem Suchen finden sie die Anlegestelle der »Brise«. Madam und Herkules lassen den Seesack und die Verpflegungskiste auf dem Bootssteg stehen und freuen sich sehr, ihre neuen Mitsegler zu begrüßen.
Die Mannschaft bereitet gehetzt das Absegeln vor und hat ihre Vorbereitungen fast abgeschlossen. Beim Eintreffen der Freunde übernimmt Madam sofort das Kommando. Bevor die Neuen richtig Luft holen können, sind alle bedeutenden Absprachen getroffen. Als Erstes und Wichtigstes werden die Handynummern ausgetauscht und sie verabreden, in zwei Wochen die Zeit und den genauen Treffpunkt der Mannschaften über die Handys zu vereinbaren.
Dann übernimmt vorübergehend Sven die Erklärungen und erläutert in Kurzfassung das Gesamtvorhaben: »Euer erster größerer Törn auf einem Seekreuzer soll so aussehen: Ihr fahrt mit eurem Auto von Rostock nach Stockholm. Wir werden uns in den nächsten zwei Wochen mit dem S e g e l b o o t nach Stockholm bewegen. Wir treffen uns bei Stockholm und dort wird der Crewwechsel erfolgen. Wir steigen vom Schiff ab und ihr werdet aufsteigen. Wir werden das Schiff verlassen und mit eurem Auto die Heimreise antreten. Nach dem Mannschaftswechsel segelt ihr auf der »Brise« in nicht bekannte Fernen.
Zwei Wochen Erholung, Freiheit, neue Erfahrungen und Spaß. Zurück schippert ihr über den östlichen Schärengarten bis nach Rostock. Alle konkreten Entscheidungen über den einzuschlagenden Kurs werdet ihr zusammen mit Herkules und Madam »vor Ort« fällen und diese aufgeführten Alternativen sind wetter- als auch zeitabhängig. Außerdem wird eure Seetauglichkeit bei der Entscheidung der Eigner, welche Route sie wählen, eine wichtige, durchgreifende Rolle spielen. Madam träumt vage von einer Reise zu den Ålandinseln, die sie immer schon besuchen wollte. Dafür müsst ihr allerdings erst eure Fähigkeiten beweisen.«
Alles klar?
Ein Trip zu den Ålandinseln, von denen die Segelamateure noch nicht mal wissen, wo sie auf dem Atlas zu finden sind!
»Ah, haaa – zu den Ålandinseln!?«, Kay schüttelt vor Entsetzen energischer, als am Tag zuvor den Kopf. Annas grüne Augen hingegen funkeln bei dem Gedanken an ein Abenteuer voller romantischer Erwartungen.
Herkules und seine Mannschaft sehen dieses Kopfschütteln als eine Geste der Überraschung und Freude und widmen sich weiter dem Bunkern des Proviants und dem Verstauen der restlichen Segelutensilien. Sie haben es eilig.
Nach diesem Gespräch schauen sich alle unsicher an und Anna gibt zu: »Mich interessiert das Wohin im Augenblick nicht so richtig, denn ich habe Vertrauen in die langjährigen Erfahrungen des Skippers und bin bereit, mich auf ein Abenteuer einzulassen, egal wo der Wind uns hin wehen wird.«
Sie schaut bei ihren Worten auf Kays nicht enden wollendes Kopfschütteln und hofft ein wenig zynisch, dass diese Schwankungen, die seit dem gestrigen Tag zu einer Dauerbewegung geworden sind, nicht bleibende Schäden bei ihrem Freund hinterlassen. Ob da was zu retten ist? Sein Kommentar klingt allerdings wenig zuversichtlich: »Prinzessin, wir kennen das Schiff überhaupt nicht, ... haben keine Ahnung von Navigation ... und müssen charakterlich ein wenig zusammenpassen. Wir müssen zwei Wochen auf wenigen Quadratmetern miteinander auskommen. ... Da reicht es nicht, Interesse und Einsatzbereitschaft zu zeigen, dazu gehört Kenntnis der Materie. Vor allem in diesem Segelrevier!! ... Das Schärengebiet ist voller Felsen und Untiefen, wenn du da nicht aufpasst, bist du ganz schnell aufgelaufen. ... Ich glaube, du träumst mit offenen Augen. ...!«
Anna ist genervt: »Ja, völlig richtig! Von so einem Törn träume ich seit beinahe dreißig Jahren. Ich möchte einen ganzen Sommer auf der Ostsee verbringen, da sind zwei Wochen ein guter Anfang, oder?«
Wie so oft nimmt Anna den berechtigten Einspruch ihres Partners nicht ernst und sie hofft, ihn von dieser Tour überzeugen zu können. Sie vertraut darauf, dass die Liebe zur Natur und das Interesse am Segeln auch bei ihm stärker sind, als alle Bedenken. Unter ihren Lieblingsbüchern sind zahllose Geschichten über die Seefahrt. Unzählige Stunden ihrer Freizeit verbringen sie am Strand der Ostsee, in den mecklenburgischen Wäldern, auf dem Schweriner See und alles, was sich in der freien Natur abspielt, erweckt ihre Aufmerksamkeit.
Zu den beinahe unerreichbaren Träumen gehört die Vorstellung, auf einem richtigen Segelboot die Ostsee zu überqueren. Und jetzt ist dieser Traum zum Greifen nah! Kann es einen ernsthaften Grund geben, diesen Traum nicht zu verwirklichen? Außer einem gebrochenen Bein oder einer schweren Krankheit, fallen Anna keine Gründe ein!
Der Vater, der die Reaktionen der Beiden aufmerksam beobachtet, bemerkt die Unsicherheit des Paares und lädt sie zu einem kurzen Ausflug entlang des angrenzenden Spazierweges an der Warnow ein.
Er versucht sie mit einem kleinen Resümee zu dieser Reise zu ermuntern: »Ihr habt schon kurze Touren auf der Ostsee gemacht und ihr wisst, dass das Segeln mit einem Kielboot ganz andere Segelmanöver verlangt, als beim Segeln mit einem Schwertboot. Bedenken zu kentern, braucht ihr bei einem Kielboot nicht zu haben. »Umfallen« kann die »Brise« nicht, nur leckschlagen und versinken. Das sollte aber zu verhindern sein. Ihr habt vierzehn Tage Zeit, euch vorzubereiten. Was soll schief gehen? Ich finde, dass euch ein einmaliges Erlebnis angeboten wird. Ihr solltet diese Gelegenheit für neue Erfahrungen nutzen!«
Kay holt tief Luft, um frei denken zu können, und versucht die Situation sachlich zu betrachten, ohne überschwängliche, begeisterte Emotionen. Sein kritischer Verstand soll objektiv entscheiden und er will diese Beurteilung nicht romantischen und verträumten Fantasien überlassen. Bei diesen differenzierten Betrachtungen verstärken sich seine Zweifelt an der Richtigkeit des Vorhabens und er kann sich zu keiner Zusage durchringen: »Ich finde diese Idee ja prinzipiell toll, doch in meine Freude mischen sich Respekt, Unsicherheit und Verantwortung. Was ist, wenn Herkules als Skipper ausfällt? Mit einem Segelboot auf der großen Ostsee, der fremden Technik an Bord, in einem völlig fremden Segelgebiet und den nicht bekannten Bedingungen.«
Die beharrlichen Bedenken verunsichern auch Anna: »Immerhin ist es möglich, dass wir durch fehlendes Training und ohne notwendige technische Kenntnisse selbst für Havarien sorgen. ... Diese Bauchlandung könnte unter anderem mangelnde Erfahrung mit Navigationsbesteck und Seekarten verursachen sowie ungenügende Beherrschung der Takelage. Was ist, wenn Herkules uns nicht sagen kann, was zu tun ist? ... Wenn wir Entscheidungen treffen müssen?«
Lauter als gewollt mischt sich jetzt die Mutter in die Unterredung und kommentiert ungeduldig und verständnislos die Furcht der Beiden. Sie baut sich vor ihrer Tochter auf und schaut ihr herausfordernd ins Gesicht: »K i n d c h e n, du machst mich wahnsinnig! Wenn du diese Herausforderung nicht annimmst, wirst du dich ein Leben lang fragen, ob du es eventuell geschafft hättest? So zögerlich kenne ich dich nicht! Wenn dein Mann nicht mit möchte, soll er zuhause bleiben! Lass dich nicht runterziehen! Du kommst mir vor wie ein kleines Schulkind, was nicht weiß, ob es den Unfug der Anderen mitmachen darf«, die ältere Dame macht eine kleine Pause und legt abermals los, »Du bist erwachsen und ich finde keinen Grund, warum du die Reise nicht versuchen solltest! Ich garantiere dir, dass wir in den nächsten vierzehn Tagen jemanden finden, der dich begleitet! Dein Freund muss ja nicht mitkommen, aber du solltest trotzdem fahren!«
Erschrocken durchzuckt es Anna bei diesen Worten. Sie stutzt. Was ist mit ihr los? Warum überlegt sie so lange? Plötzlich ist sie sich sicher und verkündet mit fester Stimme: »Ja, ich segle mit! Ich wollte so eine Tour schon immer und wer weiß, ob mir die Gelegenheit noch einmal in meinem Leben geboten wird. I c h krieg’ das hin!«
Kay ist alarmiert und die letzte Farbe ist aus seinem Gesicht entwichen. Er schaut seine Frau von der Seite an, als er ungläubig fragt: »Du würdest tatsächlich ohne mich mitsegeln?«
»Ja, ich habe für mich die Entscheidung getroffen! Ich will dieses Abenteuer auf jeden Fall und unbedingt und sogar egal mit wem!«
Kay fehlen die Worte und er schluckt schwer. Wie kann seine Partnerin eine derart wichtige Entscheidung ohne sein Einverständnis treffen? Er dreht sich um und geht in Richtung Auto. Keiner hält ihn zurück. In seinem Kopf herrscht Chaos. Ihm ist übel, gleich wird er sich übergeben. Und tatsächlich, ein am Weg stehender Papierkorb übernimmt das köstliche Mittagessen. Anna ist sofort an seiner Seite und reicht ihm ein Taschentuch.
»Auch wenn du kotzt segle ich mit, ganz sicher!«, flüstert sie ihm leise ins Ohr. Diese Entschiedenheit gibt ihm den Rest.
Wo ist s e i n e Anna? Kreideweiß stützt er sich auf dem Korb ab und sieht dem blonden Lockenkopf in die Augen. Sie kneift die Lippen fest aufeinander und hebt leicht die Augenbrauen. Nun holt sie tief Luft und lächelt ihn mitleidvoll und entschlossen an. Das ist zu viel. Ein Stich ins Herz. Ihr Mitleid braucht er in diesem Moment nicht.
Kay öffnet seinen Mund, bewegt die Lippen. »Du lässt mir keine Wahl, ich lass dich nicht wochenlang allein auf der Ostsee herumschippern«, hört er seine eigenen Worte und ist sich sicher, sie niemals ausgesprochen zu haben.
»Doch, du hast eine Wahl und musst nicht mitkommen, wirklich nicht! Wenn du nicht von der Richtigkeit überzeugt bist, bleib hier«, versichert Anna energisch, »Ich bin dir nicht böse. Und ich werde ganz, ganz sicher nicht allein auf der Ostsee sein! Nur weil du mich nicht weglassen willst, will ich dich nicht dabei haben! Du musst die Reise schon selbst, und zwar für DICH, wollen!«
Kay wird lauter: »Ich will es ja!!! Für mich ist diese Reise auch ein Traum! ... Verdammt noch mal, das Angebot kommt so überraschend, ... ich kann unser Vorhaben nicht fassen und einordnen. Es gibt so viel zu bedenken. ...«
Entschlossen fällt Anna ihm ins Wort, sie will keine ABER mehr hören: »Na gut, zum Nachdenken hast du zwei Wochen Zeit. Also machen wir es gemeinsam?«
Kay nickt ein wenig zögerlich und zu viel zu leise, als mit seinen Worten überzeugen zu können, bemerkt er: »Ja, wir werden Schweden erobern! Es wird viel Neues auf uns zukommen, ich bin neugierig und ehrlich gesagt, freue mich auf die kommenden Manöver!«
Anna schaut ihn skeptisch an: »Selten haben sich Inhalt und Ausdruck so widersprochen. Euphorische Freude stelle ich mir anders vor!«
»Das kommt, wenn er sich an den Gedanken gewöhnt hat!«, beruhigt der Vater und klopft dem Freund seiner Tochter freundschaftlich auf die Schulter.
Kaum zu glauben, aber in den nächsten Minuten nimmt das Paar das Angebot von Herkules und Madam an. Sie lassen sich auf das Abenteuer ein!
Der Trupp steht am Bootssteg und hilft beim Ablegen der »Brise«. Sie winken den Seglern und wünschen eine gute Reise.
Kay schüttelt verständnislos den Kopf und sieht die Prinzessin fragend an.
Diese lächelt aufmunternd: »Ja, wir müssen uns blind auf die Organisation von Herkules und Madam verlassen. Ja, wir haben in den nächsten vierzehn Tagen viel zu tun! Ja, es wird spannend und ja, ich freue mich!«
Die Beiden haben keine Vorstellung davon, wie lange und wo sie unterwegs sein werden und was sie erwartet.
In den nächsten zwei Wochen träumt Anna tatsächlich - manchmal auch am Tag - von weißen Segeln, wochenlangem Sonnenschein, immer dem richtigen Wind, brauner Haut, kühlem Wasser, Seehunden, Adlern, Elchen, romantischen Sonnenuntergängen, Nordlichtern, kahlen Felsen, langen Spaziergängen am Strand mit anschließendem Lagerfeuer, den hellen Nächten des Nordens, Sturm, Regen und Gewitter, guter Laune und viel, viel Spaß!
Im Fernsehen, aus interessanter Literatur, herrlichen Bildbänden und aus spannenden Erzählungen haben die Segeltouristen viel von den schwedischen Schären gehört:
Also - keine Ahnung!
Die Strategie
Die Vorbereitungszeit für diese Reise ist sehr kurz. Alle geschäftlichen und privaten Termine der Reisecrew müssen für die Urlaubswochen neu koordiniert, Aufträge vorzeitig abgeschlossen und übergeben oder Kunden auf eine spätere Abarbeitung vertröstet werden. Die Unmenge dieser anderen Verpflichtungen verhindern eine gründliche und sachliche Einstimmung auf ihre Tour. Die Beiden wissen, dass sie sich am 18. Juli mit Herkules und Madam an der Ostküste Schwedens treffen, dort aufs Schiff aufsteigen und zirka zwei Wochen unterwegs sein werden.
Dennoch sind nötigen Vorbereitungen für die Mitsegler verhältnismäßig unkompliziert. Sie brauchen sich nur um ihre persönlichen Sachen und eventuellen Nachschub von frischem Gemüse oder Brot zu kümmern. Unter diesen Bedingungen sollte für sie das Sachenpacken ein Klacks werden.
Anna hat sich angewöhnt, beim Zusammenstellen der Reiseutensilien, all ihr Gepäck auf einen großen Haufen mitten im Zimmer zu legen, bis sie der Meinung ist, dass sie nichts mehr vergessen hat. Dann erst bekommt ihr Freund das Startzeichen, den Koffer zu packen. Auch bei diesem Unternehmen versucht sie, diese altbewährte Taktik anzuwenden. Ihr »Haufen« wird größer und größer und größer und es fallen ihr immer wieder wichtige Dinge ein, die sie unbedingt auf ihrem Törn benötigen.
Nach einigen Stunden des »Packens« bemerkt Kay ungeduldig: »Prinzessin, was tust du hier? Wir wollen nicht auswandern, sondern zwei Wochen segeln!«
Die Prinzessin zieht die Augenbrauen hoch, streckt sich und klemmt die Haarsträhne hinters Ohr, die schon wieder vor ihren Augen hin und her wippt: »Ach so!?! Vielleicht gefällt es uns ja da, wo wir hinfahren und wir möchten dort bleiben?«
Weiterhin rennt sie aufgelöst von einem Zimmer ins andere und ist lange nicht mit dem Zusammenstellen der Ausrüstung fertig. Trotz seiner berechtigten Zweifel, versucht der Packer die Sachen zu verstauen. Im Handumdrehen sind zwei große Seesäcke und zwei Reisetaschen gefüllt. Kay verkneift sich ein Grinsen, denn der vorbereitete »Haufen« ist nicht kleiner geworden. Mürrisch sieht die Prinzessin ein, dass ihre Strategie geändert werden muss.
Der Stauer nimmt die Feststellung »Alles von vorn. Jetzt aber mit mehr System«, erleichtert zur Kenntnis. Und der Aufforderung: »Kay, stellst du bitte die Packliste für die Angaben: zwei Personen und zwei Wochen segeln zusammen?«, kommt er allzu gerne nach.
Endlich übernimmt der Partner tatkräftig die Instruktionen: »Segelanzug, Stiefel, Bootsschuhe, Trainingsanzug, Jeans, dicker Pullover, dicke, wasserdichte Jacke, T-Shirts, kurze Hose, Unterwäsche, Strümpfe, warme Hose, Waschzeug und Kosmetiktasche, Handtücher, Badesachen, Badelatschen, Schlafsack, Bettlaken, Kopfkissen, Mütze, Tuch, Segelhemd und das kleine Schwarze beziehungsweise den feinen Anzug.«
Nachhaltig ermahnt er: »Für jede Wetterbedingung die wichtigsten Sachen.«
Dieser zweite Packversuch hat Aussichten auf Erfolg, und scheint zu gelingen. Das einzige Kleidungsstück, um das Anna jetzt kämpft, ist ihr leichtes grünes Sommerkleid aus Seide. Sie liebt dieses Stück, hat den Stoff selbst bemalt und zeigt, zu was für einem kleinen Paket sie dieses Ding zusammenrollen kann: »Schau mal, das passt in jeden Seesack. Es kann möglich sein, dass wir durch eine Stadt bummeln und die Sonne scheint und es warm ist und zu bügeln brauche ich das Kleid auch nicht. Oder wir gehen chic aus ...«
Kay nimmt ihr das Kleid wortlos aus der Hand und stopft es provokativ unsensibel in die Seite des großen Seesacks. Außerdem stellt er die Foto- und Filmausrüstung sowie Zubehör für die Technik, Bücher, Tischstaffelei, Zeichen-und Kartenmaterial für die Anfahrt und die Informationen vom ADAC zusammen.
Die nächste Frage für die Beiden ist, wie kommen sie preisgünstig und schnell an Schwedens Ostküste, in die Umgebung von Stockholm? Nach einigen Recherchen im Internet und beim ADAC ist geklärt, dass sie mit dem, von der Scandlines angebotenen Schweden-Ticket, die Reise beginnen werden. So führt ihre geplante Route mit dem Auto über Rostock, mit der Fähre nach Gedser, von dort vorbei an Kopenhagen nach Helsingör und per Fähre nach Helsingborg und in Schweden, bis zum nicht bekannten Treffpunkt mit der »Brise«. Bei der Fahrt durch Dänemark und Schweden wollen sie sich Zeit lassen und ein wenig vom Land sehen, die Luft Schwedens erschnuppern, um nicht im Stress auf die »Brise« umzusteigen. Aufgrund dieser Überlegungen wird klar, dass sie für die Anreise eine Übernachtung einplanen sollten. Sie beschließen also, sich Verpflegung mitzunehmen, und eine Nacht im Auto zu verbringen.
Sie buchen die Tickets für die Fähren und machen sich mit den Reisebedingungen vertraut. Anna hat im Vorbeigehen einen schwedischen Reiseführer gekauft, den »Baedeker«, wie sie später lernen wird, doch keine Zeit gehabt, das Buch auch nur flüchtig anzuschauen, oder sich mit ihrem Reiseziel zu beschäftigen. Sie tröstet sich mit der Ausrede, dass sie dieses, auf sie zukommende Reiseziel, nicht genau kennt.
Bei den vielen Fragen, die Anna in den kommenden Wochen an die Schiffsführung stellt, wird Madam antworten: »Hör doch endlich auf und schaue selbst in den ‚Baedeker’, der liegt auf dem Kartentisch!« Anna wird sie darauf fragend anschauen: »Was ist denn das? Der ‚Baedeker’?« Und dann wird zweifelndes Gelächter von ihrem Begleiter erschallen: »Seit Jahren hältst du mir lange Vorträge über die Länder, die wir besuchen und hast dieses schlaue Wissen aus Büchern des Baedeker-Verlages und fragst, was der ‚Baedeker’ ist? Geh dich schämen!«
Gut, das hat Anna getan!
Die Akteure vertrauen darauf, eventuell auftretende Probleme intuitiv aus dem Weg zu räumen. Sie glauben von sich, spontan und flexibel zu sein.
Da ihnen Schweden, ein vom »Hören-Sagen« vertrautes Land ist, kann ihrer Meinung nach nichts schief gehen. Einen Tag vor Reisebeginn fahren sie nach Rostock, um von dort den Törn zu beginnen.
Annas Eltern, die das gesamte Arrangement ins Rollen gebracht haben, sind ebenso gespannt und neugierig, wie die beiden angehenden Segeltouristen.
Ablegen in Rostock
Am späten Mittwochvormittag fahren Kay, Anna und ihr Sohn Ben nach Rostock. Bevor sie nach Marienehe, einem Stadtteil von Rostock fahren, machen sie einen kleinen Umweg zum ehemaligen Überseehafen. In den letzten Jahren hat sich im Rostocker Hafen viel verändert und so wollen sie auskundschaften, wo am nächsten Morgen die Fähre nach Gedser abfährt. Die großen Fähranlagen an der Warnow wurden nach der Wende, ab 1990 enorm ausgebaut und das gesamte Hafenareal des ehemaligen Überseehafens den neuen Bedingungen angepasst.
Am Vortag hatte Kay mit Madam telefoniert und sie teilte der kommenden Besatzung mit, dass die »Brise« sich südlich von Stockholm aufhält, und dass sie in der nächsten Zeit weiter nördlich segeln werden. Madam konnte nicht genau sagen, auf welche Route sich die Crew in den folgenden Tagen einigt und in welchem Hafen die »Brise« am Freitag zum Crewwechsel anlegen wird. So gibt sich der Freund mit dem Treffpunkt: »südlich Stockholm« zufrieden. Genaueres werden sie morgen, am Donnerstag erfahren.
Bei Annas Eltern angekommen, laden sie einen Teil des Gepäcks aus, um Frachtraum zu schaffen und fahren einkaufen. Madam hat ihnen eine Einkaufsliste per Telefon übermittelt, die abgearbeitet werden muss. Nach den Informationen vom Smutje werden für die Reise frische Kartoffeln und Gemüse, Brot, Wurst, vier Pakete Küchenrollen (sprich zwölf Rollen), Marmelade, einige Getränke, wie Rotwein oder so was Ähnliches und eine neue Fußmatte benötigt. Bei dem Auftrag: »zwölf Rollen Küchenpapier« kommt die Prinzessin ins Grübeln. Da sie sich nicht vorstellen kann, was sie in vierzehn Tagen mit zwölf Rollen Küchenpapier anfangen könnten, kauft sie nur acht und hofft, mit dieser eigenmächtigen Entscheidung keinen »Engpass« herauf zu beschwören.
Nach dem Einkauf versorgt die Mutter die Crew mit Zucchini, frischem Kräuterquark, getrockneten Backpflaumen und vielen guten Ratschlägen. Der Chef verstaut das Gepäck, die frische Verpflegung, die Fußmatte und andere Utensilien gekonnt und fachmännisch im Auto. Anna hält lieber Abstand. »Packer vom Dienst« ist Kay. Für die Anreise durch Schweden ist die große Kühltasche mit Verpflegung für zwei Tage bestückt und die notwendigen Papiere liegen griffbereit im Handschuhfach.
Die Schlafsäcke und Kopfkissen verpacken sie morgen früh auf dem Rücksitz, da sie sich vorgenommen haben, die folgende Nacht im Auto zu verbringen. Endlich ist alles für die Exkursion vorbereitet und sie haben einige Stunden Ruhe vor dem Start.
An diesem Nachmittag ist das Wetter schön, die gesamte Familie sitzt bei Kaffee und Kuchen im Garten unter dem Fliederbaum und sie plaudern über das bevorstehende Abenteuer.
Plötzlich leuchten die Augen von Annas Mutti und sie schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn: »Sagt mal, warum wollt ihr eigentlich eine Nacht irgendwo in der Wildnis von Schweden verbringen? Ihr könnt vielleicht am Häuschen von Herbert und Chris euer Auto abstellen und dort schlafen. Wir rufen sie nachher an und fragen nach, ob sie zuhause sind und ob es möglich ist, dass ihr bei ihnen übernachtet. Dass ich auf diese Idee nicht viel früher gekommen bin? Wenn ihr bis in die Nähe Stockholms müsst, dann fahrt ihr beinahe an ihrem Häuschen vorbei!«
Die Urlauber sehen sich überrascht an und die Idee gefällt ihnen sofort. Herbert und Chris sind sehr gute Freunde, die in Hamburg wohnen, jedoch die Sommer in ihrem Häuschen in Schweden verbringen. Es wäre schön, wenn dieses Arrangement klappen könnte, denn dann brauchten sie sich keine Gedanken über eine Herberge für die folgende Nacht zu machen. Außerdem freuen sie sich, das nette Ehepaar zu treffen. Wenige Minuten später sitzt der Vater am Telefon und versucht in Schweden anzurufen. Niemand nimmt das Gespräch entgegen, niemand ist Zuhause!
Es ist gegen siebzehn Uhr und so hofft die Familie, am späteren Abend eine Verbindung herstellen zu können. Gegen einundzwanzig Uhr versucht Annas Vater einen weiteren Anruf. Jetzt haben sie Glück und Chris meldet sich. Die Freunde aus gemeinsamen Segeljahren, sind gerade von einer mehrtägigen Reise zurückgekehrt, als sie mit Mutters Vorschlag überrumpelt werden. Trotzdem sind sie sofort bereit, dem Pärchen für die kommende Nacht Unterschlupf zu gewähren.
Zum Schluss des Telefongespräches wird eine w e i ß e Plastiktüte als Erkennungszeichen für den Abzweig zum Häuschen der Eheleute vereinbart. Wenn sie also in Schweden eine weiße Plastiktüte an einem Busch des Weges entdecken, müssen sie links abbiegen. Die Prinzessin strahlt. So ist die letzte Schwierigkeit ihrer Anreise aus dem Weg geräumt. Der Vater macht ihnen zur Sicherheit eine genaue Wegskizze, nach der sie die Unterkunft auf keinen Fall verpassen können.
Am Abend, vor dem Schlafengehen, verabschieden sich Kay und Anna von den Eltern und ihrem Sohn, um sie am Morgen nicht wecken zu müssen. Die Spannung vor ihrer unbestimmten Reise steigt und steigt und so langsam wird der blonde Lockenkopf nervös. Sie steckt den Freund mit ihrer Zappeligkeit an.
In der Nacht kann die Prinzessin nicht schlafen und sie wälzt sich im Bett hin und her. Die Zweifel und Unsicherheit der letzten beiden Wochen haben sie verrückt gemacht. Jetzt, vor dem Start des Unternehmens weiß Anna nicht, ob ihre Entscheidung die Richtige war? Was ist, wenn die vielen Bedenken Wirklichkeit werden? Was ist, wenn sie sich mit Herkules und Madam nicht verstehen? Was ist, wenn das Wetter regnerisch und windig wird und sie nie trockenen Sachen zum Anziehen haben? Was ist, wenn sie schrecklich seekrank werden? Was ...?
Mitten in der stockdunklen Nacht klettert sie aus dem Bett, schleicht sich aus dem Haus und geistert durch den Garten. Plötzlich steht ein großer, finsterer Mann vor ihr. Sie erschrickt sich fast zu Tode und ihr schriller Schrei fliegt durch die Finsternis.
Der dunkle Mann zuckt ebenfalls zusammen und die beiden Gespenster der Dunkelheit benötigen einen Augenblick, um zu sich zu orientieren.
Dann nimmt Annas Vater sie lachend in den Arm und sie setzen sich auf die Hollywoodschaukel unter dem Fliederbaum. Sie schauen in die Dunkelheit und suchen am Himmelszelt gemeinsam die leuchtenden Sterne des großen Wagens. Anna verspricht ihrem Vater, dieses Sternbild jeden Abend zu suchen und an ihre Familie zu denken.
»He, meine kleine Prinzessin, nun werde mal nicht sentimental! - Aber gut, wir verabreden uns jeden Abend und dann erzählst du mir, ob alles in Ordnung ist! Einverstanden?«, erwidert der Vater, nimmt sie noch fester in den Arm und geht mit ihr zurück ins Haus.
von Rostock nach Pellemond
Pünktlich um 5.45 Uhr küsst der Chauffeur seinen Passagier wach: »Aufstehen, du Faultier! Das Bad ist frei! Vati hat schon gestern Abend den Frühstückstisch gedeckt.
Sei leise, es schlafen noch alle.«