Informationen zum Buch

Die junge Lehrerin S. aus Bosnien bringt Anfang der neunziger Jahre in Schweden ein Kind zur Welt. Aber im Gegensatz zu den anderen Babys auf der Station hat dieses Neugeborene weder Sicherheit noch Heimat. Es hat keinen Namen und statt eines Vaters viele Väter: die gesichtslose Masse der Soldaten, die S. in einem serbischen Frauenkonzentrationslager immer wieder vergewaltigt haben. Im Wochenbett suchen sie die schrecklichen Ereignisse der letzten Monate heim.

»Ein Roman, der weitererzählen will, wo das Erzählen anderer versagt.« Der Tagesspiegel.

»Das Buch, das vom Inferno erzählt, lässt sich als ein Plädoyer für Hoffnung und Versöhnung lesen.« FAZ

Slavenka Drakulić

Als gäbe es mich nicht

Roman

Aus dem Kroatischen
von Astrid Philippsen

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Stockholm, Karolinska Krankenhaus, 27. Februar 1993

Bosnien, Dorf B., Ende Mai 1992

Bosnien, Lager, Mai 1992

Bosnien, Juni 1992

Bosnien, Lager, »Frauenraum«, Juni/Juli 1992

Bosnien, »Frauenraum«, Juli 1992

Bosnien, »Frauenraum«, August 1992

Bosnien, »Frauenraum«, September 1992

Bosnien, »Frauenraum«, Oktober 1992

Bosnien, Dezember 1992

Zagreb, Flüchtlingslager, November/Dezember 1992

Zagreb, Flüchtlingslager, Dezember 1992

Stockholm, Dezember 1992

Stockholm, Januar 1993

Stockholm, Februar 1993

Stockholm, Rinkeby, März 1993

Stockholm, Karolinska Krankenhaus, 27./28. März 1993, nachts

Über Slavenka Drakulic

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Ein intensives, körperliches, unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause und mitten unter befreundeten Menschen zu sein und über so vieles berichten zu können. Und doch, es ist nicht zu übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen.

Da erhebt sich in mir eine verzweifelte Pein, gleich wie mancher kaum noch bewußte Schmerz aus frühester Kindheit: Schmerz in seinem reinen Zustand, nicht abgemildert vom Sinn der Wirklichkeit und vom Eindringen fremder Umstände …

Primo Levi, Ist das ein Mensch?

Und ganz unbewußt, vielleicht gerade wegen des übertriebenen Angstgefühls, schien mir zeitweise, als sei das gar nicht ich, es geschieht einem anderen, und alles Gesehene ist eigentlich ein Teil einer anderen, unwirklichen Welt.

Eva Grlić, Erinnerungen

Ein Mensch überlebt durch seine Fähigkeit zu vergessen.

Warlam Schalamow, Geschichten von der Kolyma

Stockholm, Karolinska Krankenhaus, 27. Februar 1993

Das Kind liegt nackt in seinem Bettchen. Ausgestreckt auf dem Laken, ganz ruhig, die Arme und Beine ausgebreitet, als hätte es sich in sein Schicksal ergeben.

S. sieht die ganz kleinen Finger mit richtigen kleinen Nägeln. Sein Kopf ist zur Seite gewandt. Es schläft und schmatzt im Schlaf mit den winzigen Lippen, und flink bewegen sich seine Augen unter den durchsichtigen Lidern. Es hat lange dunkle Wimpern. Sein dichtes dunkles Haar klebt vor Schweiß. Es atmet schnell und rhythmisch. Beim Atmen hebt und senkt sich sein Bäuchlein, auf – ab. Am Rest der Nabelschnur vibriert ein Stückchen Gaze. Seine trockene Haut um die Knie herum und in den Halsfalten ist fast lila. Seine Füßchen ragen reglos in die Luft.

Wenn sie es von der Seite anschaut, erscheint es ihr wie tot, und S. wendet rasch den Blick von ihm.

Das sollte ihr Sohn sein. Sie hat ihn am Nachmittag im Karolinska Krankenhaus in Stockholm geboren. Doch für sie ist es nur ein namenloses Geschöpf, das nach neun Monaten aus ihr herauskam. Mehr verbindet sie nicht mit ihm. Bei diesem Gedanken spürt S. Erleichterung. Sie ist frei. Mit diesem Kind ist aus ihrem Körper auch ihre Vergangenheit geflossen. Sie fühlt sich so leicht, als könne sie augenblicklich aufstehen und fortgehen.

S. ist nicht allein im Zimmer. Im anderen Bett liegt Maj. Sie wendet sich zu ihr und sagt: Ich heiße Maj. S. erwidert nichts darauf. Maj stillt gerade ihr Kind. Sie hat riesige weiße Brüste, und als sie dem Kind die Brustwarze in den Mund stopft, sieht es aus, als würde sie es ersticken. Bisweilen rückt das Baby von der Mutterbrust ab, fuchtelt ärgerlich mit den Ärmchen und schneidet Grimassen. Dann lehnt Maj es an ihre Schulter, lächelt und schaut S. an. Diese erwidert das Lächeln nicht. Sie denkt daran, daß ihr Leben so ganz anders ist. Maj ist in ihrer Heimat. S. kommt aus Bosnien, und das ist so, als hätte sie keine Heimat. Das andere Kind, ein Mädchen, hat schon einen Namen. Es heißt Britt. Sicherlich hat es auch einen Vater, dessen Vor- und Nachname, Beruf, Augenfarbe, Gewohnheiten bekannt sind. Das Kind hat alles: Mutter, Vater, Sprache, Heimat, Sicherheit. Dieser kleine Körper, den S. geboren hat, besitzt nichts davon.

S. nimmt das Geschöpf nicht in den Arm. Sie möchte es nicht anfassen. Wenn sie es nur einmal berührt, wird sie sich auch verantwortlich fühlen. Es ist so wie bei einem ausgesetzten Kätzchen, das man irgendwo findet. Solange man es nicht vom Boden aufhebt, hat man nichts damit zu schaffen. Sobald man es in den Arm nimmt, ist’s vorbei. Dann ist es vorhanden …

Gegenüber dem Geschöpf neben ihr empfindet sie nur Abneigung. Tod war ihr erster Gedanke, als sie begriff, daß sie schwanger war. Das Kind war von Anfang an zum Tode verurteilt. Am Leben blieb es nur dank des Umstands, daß es für eine Abtreibung bereits zu spät war, als S. aus dem Lager entlassen wurde. Danach sollte sie monatelang mit dem Bewußtsein leben, die Schwangerschaft bis zum Ende ertragen zu müssen. Mit einem Bauch, der wächst, sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt und sie zwingt, ihren eigenen Körper zu hassen.

Am Morgen beim Frühstück verspürte sie zuerst einen scharfen Schmerz im Leib, wie einen Durchstich. Doch vor den Wehen war ihr nicht bange, sie hatte sie sogar herbeigesehnt. Kaum konnte sie es erwarten, sich von der Last zu befreien. Schmerzen war sie schon gewohnt: die Schläge mit dem Gewehrkolben, die Ohrfeigen, das Fesseln, der dumpfe Schmerz, wenn der Kopf gegen die Wand schlägt, der Stiefeltritt in die Brust. Sie kannte auch den Schmerz, von dem man bewußtlos wird, den Schmerz, den ein Körper dem andern zufügt, den Schmerz, den man empfindet, wenn einem Dritten weh getan wird. Und schließlich die Schmerzen, die man nicht mehr spürt.

Die Wehen empfand sie als eine Art Erleichterung. Die letzten Monate hatte sie wie eine Pflanze gelebt, in dumpfer Erstarrung, im Warten auf die Entbindung. Der Schmerz war nun etwas Konkretes, etwas Starkes, das sie aus ihrem leblosen Zustand holte und sie einen Moment lang daran erinnerte, daß es sie gab.

Während die Wehen ihren Leib zerrissen, dachte S., sie muß noch aushalten, ein wenig noch, nur kurze Zeit. Sie wird das Kind aus sich herauspressen. Ihr Leben wird sich verändern. Sie wird den Sommer 1992 vergessen, vergessen … Die Krankenschwester sagte ihr etwas, vielleicht, daß sie sich entspannen oder stärker pressen sollte, doch das war S. nun völlig egal. Sie hörte nicht mehr hin. Die Krankenschwester konnte ihr sowieso nicht helfen. S. glaubte, niemand könnte ihr helfen.

Dann sah sie, wie die Ärztin sich über sie beugte, und spürte die Berührung der Hand auf ihrem Gesicht. Geschafft, sagte sie. Das war die erste liebevolle Berührung einer fremden menschlichen Hand nach langer Zeit. Erst da entspannte sich S. und weinte. All die restlichen angestauten Schmerzen flossen langsam mit den Tränen aus. Und mit dem Blut, das noch immer zwischen ihren gespreizten, zitternden Beinen austrat.

Danach Ruhe. Sie empfand die Schmerzen nicht mehr. Aus dem Halbschlaf weckte sie die Krankenschwester, die ihr das Kind, an den Füßen gehalten, brachte. Sie sah seinen kleinen, langen, blutigen Körper. Er gab keinen Laut von sich, und S. dachte, vielleicht hätte sich ihr Wunsch erfüllt und das Kind wäre tatsächlich totgeboren. In dem Moment hörte sie ein Weinen. Sie wandte den Kopf zur anderen Seite. Das Kinderweinen ging sie nichts an. Mit diesem Kind hatte sie nichts mehr zu tun.

Schon vor der Entbindung hatte sie Bescheid gesagt, daß sie das Kind nicht sehen wolle. G., die sie ins Krankenhaus gebracht hatte, hatte ihr Verlangen mehrmals wiederholt, und die Schwester in der Aufnahme hatte es ordnungsgemäß notiert. S. hatte für alle Fälle (für welchen Fall? Daß man ihr nicht glaubte?) auch eine Kopie des Briefs von der Psychologin mitgenommen, in dem ihre Entscheidung begründet wurde, daß S. das Kind zur Adoption freigab, weil sie psychisch nicht imstande sei, sich darum zu kümmern.

Sie hatte geglaubt, sie sei auf das Leben nach der Entbindung gut vorbereitet. Im Laufe der letzten Monate hatte S. Zeit gehabt nachzudenken. Sie war mit sich übereingekommen, das Kind zu gebären unter der Bedingung, es danach niemals wiederzusehen. Dies schien ihr unter ihren Umständen die beste Lösung, am rationalsten für beide. Da sie schon nicht mehr hatte abtreiben oder das Kind mit ihren eigenen Händen umbringen können.

S. sieht das Geschöpf reglos schlafen und denkt an F. Als F. im Flüchtlingslager in Zagreb entband, war S. zufällig im selben Zimmer untergebracht. Sie waren zu acht in dem engen Zimmerchen mit eisernen Bettgestellen im ersten Stockwerk. F. nahm selbst das Kopfkissen und legte es auf das Kind. Sie erinnert sich, F. hatte ein winziges Mädchen geboren. Sie wusch ihm nicht einmal das Blut ab, das verübelte S. ihr am meisten … Eine Nachbarin schnitt die Nabelschnur mit einem gewöhnlichen Messer durch. F. drückte einfach das Kopfkissen auf das Kind. Das Kissen bedeckte es ganz. Nach etwa zehn Minuten sagte sie: Fertig. Da nahm die Nachbarin das schlaffe Körperchen und steckte es in eine blaue Plastiktüte mit der Aufschrift Unikonsum. S. sah nicht, was sie danach mit dieser Tüte tat. Auf F.s Gesicht lag nur Müdigkeit. Später stand sie auf und wusch mit eigener Hand den blutigen Kissenbezug.

Vielleicht hätte auch S. das tun können. Ein leichter Druck, und alles wäre im Nu erledigt, ihre und seine Qualen. Der Kleine schläft so ruhig, sicherlich würde er nichts spüren. Sie läßt den Arm hinab, berührt ihn fast. Sie spürt die Wärme seiner Haut und sieht seinen Brustkorb vibrieren vom Schlag seines Herzens. Dann zieht sie rasch die Hand zurück, als hätte sie Angst, sich zu verbrennen.

Nein, sie hätte es nicht tun können. So häufig hat sie den Tod gesehen, daß ihr schon bei dem Gedanken daran übel wird. Das schlimmste ist: Der Tod hat seinen eigenen Geruch. Es ist nicht jener Geruch, den die Leute gewöhnlich mit dem Sterben verbinden und vor dem ihnen graut: der Geruch nach frisch vergossenem Tierblut, verwesendem Fleisch, nach Alter, Krankheit und Moder. Es handelt sich nicht um das natürliche Sterben, sondern um einen gewaltsamen, plötzlichen Tod, um den Moment, da der Mensch fühlt, daß er stirbt, es ihm aber noch nicht bewußt ist, nicht völlig. Das dauert kurze Zeit. Aus dem noch lebenden Menschen verbreitet sich der Geruch von Todesangst in dem Augenblick, da sein ganzer Körper weiß, es ist zu Ende, während er noch immer hofft. Gerade dieser Zwiespalt bringt den Geruch des Todes hervor, herb und widerwärtig. Wer ihn einmal von nahem gerochen hat, vergißt ihn schwerlich. Wenn man dann schon gestorben ist, nimmt man einen ganz anderen Geruch an, süßlich, wie Fäulnis, die Übelkeit hervorruft.

Früher, vor all dem, was ihr im vergangenen Jahr widerfahren ist, hat sie sehr wohl daran gedacht, einmal ein Kind zu haben. Nun scheint ihr, als sei das in einer anderen Zeit gewesen, so weit fort, als handele es sich nicht um ihr eigenes Leben. Sie kann nicht mehr sicher sein, sich nicht mehr auf ihre früheren Erinnerungen verlassen. Es war in einer Zeit, die ihr nun ganz fern liegt, als die Wünsche und Entscheidungen der Menschen noch lebensbezogen waren.

In der Zwischenzeit hat sich ihr Leben gewandelt, es ist anders, nicht wiederzuerkennen. Oder vielleicht nicht vorstellbar. Nun liegt sie im Krankenbett in Stockholm und weiß noch immer nicht, wie sie es nennen soll, obwohl ihr klar ist, das Wort existiert, es lautet: Krieg. Aber Krieg ist für sie nur der allgemeine Nenner, ein Sammelbegriff für so viele Einzelschicksale. Der Krieg betrifft jeden einzelnen Menschen, das, was einem zustößt und wie sich das Leben dadurch verändert. Für S. ist der Krieg dieses Kind, das zu gebären sie gezwungen war.

Seit dem Tag, da sie erfahren hatte, daß sie schwanger war, haßte sie dieses Wesen mehr als alles andere. Wer weiß, ob sie ihren Haß woanders als in diesem schwedischen Krankenhaus überhaupt überlebt hätte. So ein Haß ist kaum zu überleben. Auch S. tat sich schwer damit. Wenn sie sich nachts im Bett gewälzt und gespürt hatte, wie sich jener Fremdkörper in ihrem Bauch regte, dann hatte sie Gesichter über sich gesehen, die Gesichter der Männer, seiner Väter. Namenlose Männer, meist betrunken, deren Zahl sie nicht kannte. Aber sie erinnerte sich an jemandes Augen, vielleicht an ein Gesicht, an Hände, den Geruch, oft Gestank. Jeder von ihnen konnte der Vater sein.

Sie kamen in den Träumen zu ihr, sie kamen wieder. Ließen ihr keine Ruhe, auch hier nicht, in Schweden, wie ein verlegtes Gepäckstück, das nachgesendet wird. Häufig hatte sie den gleichen Traum: Sie geht auf der Straße in einer fremden Stadt. Plötzlich sieht sie in der Menge ein bekanntes Gesicht. Bestimmt ist es einer von denen. In diesem Traum hat sie immer ein Messer bei sich. Sie geht auf den Mann zu und rammt ihm das Messer in den Bauch, dabei gibt sie acht, daß er ihr Gesicht sieht. In dem Moment, als sie zusticht, spürt sie Erleichterung, vielleicht sogar Glück. Doch in seinen Augen bemerkt sie nur Verwunderung. Der Mann erkennt sie nicht und wundert sich, daß ihm eine völlig unbekannte Frau den Todesstoß versetzt. S. weint vor Wut, daß er in ihr nicht sein Opfer erkannt hat und daß ihre Rache deshalb sinnlos war.

Dann begann es in ihr zu wachsen, das Geschöpf, seine Frucht. Wie ein Tumor. Seit S. erfahren hatte, daß sie es in sich trug, kämpfte sie gegen diesen Fremdkörper, gegen die kranken Zellen, die sich wider ihren Willen in ihr vermehrten … Irgendwo hatte sie gelesen, man könnte Krebszellen visualisieren und somit ihr Wachstum zum Stillstand bringen. Doch sie spürte, wie schnell der Tumor wuchs. Wenn sie die Augen schloß, sah sie sie ganz deutlich, jene fremden Zellen, die sich vermehrten und sie von innen okkupierten. Sie sah sich als ein riesiges Gefäß, das nur dazu diente, die gefräßigen Anhäufungen immer neuer Zellen zu ernähren. Dieses Bild machte sie verrückt.

Nun liegt der Tumor neben ihr, wie durch ein Wunder in ein Kind verwandelt. S. kann das nur schwer begreifen. Nie hat sie an das Kind gedacht, sondern alles nur als Krankheit, als Last empfunden, von der sie sich befreien wollte. Wie von einem Schmarotzer, den sie aus ihrem Organismus beseitigen wollte. Der Gedanke, daß er gegen ihren Willen in ihr wuchs, hatte ihr Angst gemacht. Die ganze Zeit über, die ganzen neun Monate lang. Daß er sich, ihr zum Trotz, bis zum Schluß an ihrer Gebärmutterwand festhielt und dann geboren wurde, daß er überlebte. So wie sie selbst.

Ohne die Last des Kindes ist ihr Körper noch immer matt, aber irgendwie befreit. Dennoch quält sie etwas: das Gespaltensein. Sie spürt noch nicht, daß ihr Körper ganz ihr gehört, daß er ihrem Willen gehorcht, daß das nun sie ist. Vielleicht würde sie eine Zeitlang so leben müssen, mit diesem Riß, der sich nicht schließen will.

Wieder überkommt sie das Gefühl, beschmutzt zu sein. Auch dieses Gefühl wiederholt sich häufig und ist ebenso quälend wie der Traum von der Rache. Sie betrachtet ihre Hände, den Schmutz unter den Nägeln, spürt den Geruch unterm Arm, sieht die Haut, die sich in winzigen, fast unsichtbaren Plättchen löst – eine dünne Schmutzschicht wie eine zweite Haut … Sie weiß, nie wieder wird sie sauber genug sein. Es gibt kein Wasser, das sie reinwaschen kann. Mit Anstrengung steht sie auf und geht ins Badezimmer. Stellt sich hinter den blauen Vorhang und läßt das Wasser lange über ihr Gesicht laufen. Im Bad ist keine Wanne, nur ein metallener Halbkreis, umschlossen von einem Vorhang, und auf dem Fußboden ein Rost, durch den das Wasser abfließt. Sie setzt sich auf den Plastikstuhl unter der Dusche. Spürt die warmen Tropfen, die ihr auf Schultern und Brust trommeln. Das lange Duschen mit warmem Wasser empfindet sie als angenehmen Luxus.

Zwischen ihren Beinen sieht sie einen hellen Streifen Blut und Wasser rinnen. Mit diesem Blut spürt sie etwas Quälendes, Lastendes abfließen, das sich in den vergangenen Monaten in ihr verschanzt hat. Wie eine innere Spülung hilft ihr das Wasser zu vergessen.

Als sie in den Spiegel blickt, sieht sie, ihr Gesicht hat sich nicht verändert. Auf diesem Gesicht ist nichts zu bemerken, es ist klar, unbeschrieben, normal. Ein wenig blaß, mit Augenrändern, das ist alles. Zum ersten Mal hatte sie sich richtig angeschaut, als sie nach Zagreb gekommen waren. Es war in dem gemeinsamen Waschraum, sie erinnert sich genau daran. Die Beleuchtung bestand aus einer bloßen Glühbirne, und in dem gelblichen Halbdunkel sah sie ihr Gesicht. Dieselbe glatte Haut, dieselben Rehaugen, die geraden Brauen und die vollen Lippen.

Im ersten Moment gefiel S. nicht, daß man an ihrem Gesicht nicht erkannte, wie verändert sie war. Wie kann man das durchmachen, was sie durchgemacht hat, ohne daß die Ereignisse eine äußere Spur hinterließen? Waren diese Spuren wirklich unsichtbar, oder mußte man sie nur zu lesen verstehen? Doch nun, während sie sich im Badezimmer des Krankenhauses betrachtet, scheint es ihr günstiger, wenn man nichts sieht. Besser, daß alle Spuren der Leiden von der Oberfläche verschwunden sind. Das wird ihr ein Schutz sein. Mit einem so unschuldigen Gesicht wird es ihr eher gelingen, den anderen über ihre Person etwas vorzulügen.

Es bereitet ihr besonderen Genuß, die Cremedose zu öffnen. Wie schön, wieder Creme für das Gesicht und einen Spiegel zu haben. Und ein Gesicht im Spiegel. Endlich wieder. Sieht so die Zukunft aus?

Wann hatte sie begriffen, daß es trotz allem eine Zukunft gab? Vielleicht in dem Augenblick, als sie sich mit dem eigenen Tod abfand. Ihr war bewußt geworden, daß der Tod besser wäre, und dabei war etwas in ihr zerbrochen. Und ganz unerwartet hatte der Moment der völligen Aussöhnung mit dem Tod sie für die Zukunft geöffnet.

Alles war bereits geschehen. Sie lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Den Kopf zur Seite gewandt. Sie wollte sein Gesicht nicht sehen. Das war ihre einzige Verteidigung. Sie spürte einen dumpfen Schmerz, öffnete aber nicht die Augen. Rührte sich nicht. Gab keinen Laut von sich. Der Soldat setzte den Stiefel auf ihre Brust. Dreh dich zu mir, befahl er. S. wandte ihm den Kopf zu, ließ die Augen jedoch geschlossen. Noch nicht. Mach den Mund auf, befahl der Soldat. S. öffnete den Mund. Sie spürte den warmen Strahl seines Harns auf ihrem Gesicht. Trink, schrie er, trink! Es gab keinen Ausweg. Sie trank die salzige Flüssigkeit. Das kam ihr endlos lange vor, und sie wollte nichts als sterben.

Im Hof fährt ein Mann im Rollstuhl, langsam, von einem Ende zum andern. Neben ihm geht eine Krankenschwester in blauem Kittel. Die Luft ist schneidend kalt, fast wie in den bosnischen Bergen. Für einen Augenblick fühlt sie sich so einsam, daß sie gern in den Hof gegangen wäre und sich in den Rollstuhl gesetzt hätte, nur damit jemand neben ihr ginge.

Sie sieht das Geschöpf an, das kein Teil mehr von ihr ist, das ihr nicht gehört. Auch seine Zukunft gehört ihr nicht. In dem Moment glaubt sie, völlig frei von Verantwortung ihm gegenüber zu sein, und doch ist sie zufrieden, daß sie es geboren hat, daß sie ihm statt des Todes das Leben geschenkt hat. Wie leicht vergißt man, daß der Tod auch Spuren bei dem hinterläßt, der ihn verursacht, denkt S.

Sie spürt einen heftigen Druck in den Brüsten. Ihr Hemd ist naß. Die Milch schießt ein. Verwirrt sitzt sie da und weiß nichts mit sich anzufangen. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie nimmt ein Handtuch und stopft es unters Nachthemd. Was soll nun aus der vielen Milch werden?

Bosnien, Dorf B., Ende Mai 1992

Den Geruch. Den Geruch nach Staub in der trockenen Luft, den sollte sie in Erinnerung behalten. Den Geschmack von übersüßtem Kaffee im Mund. Das Bild der Frauen, die ruhig in den Autobus einsteigen, eine nach der anderen, als wollten sie einen Ausflug machen. Und den Geruch nach dem eigenen Schweiß. Der Bus fährt los, und S. merkt plötzlich, sie ist schweißgebadet, der Schweiß läuft ihr übers Gesicht, unter den Achseln, über den Bauch, zwischen den Beinen. Sie fühlt sich unbehaglich. Ja, vielleicht ist es gerade dieses körperliche Unbehagen, das ihr am meisten im Gedächtnis bleibt. Es ist das erste Zeichen, daß ihr Körper nicht mehr nur ihr gehört und daß sie von da an damit rechnen muß …

Es ist später Nachmittag. Die Luft im Autobus ist stickig. S. atmet schwer, bedrückt von dem herben Geruch menschlicher Angst. Die Frauen sitzen dicht gedrängt, sogar im Durchgang zwischen den zwei Sitzreihen. Zwischen ihren Füßen, den Taschen, Bündeln und Plastiktüten mit Essen ist das rostige Blech des Fußbodens zu sehen. Der schwitzende Kopf eines Kindes hängt über dem Arm seiner Mutter, als würde er jeden Augenblick abfallen.

S. löst sich von dem Plastiksitz, auf dem sie angeklebt ist, und drängt sich zum Fenster durch. Lehnt sich hinaus. Schaut zurück zum Dorf. Hinter der Kurve sieht sie die Umrisse der letzten Häuser. Hinter ihnen ist der Himmel schon dunkel von Rauch. Das Dorf ist nun leer, menschenleer. Dageblieben sind nur die Tiere. Ihre gelbe Katze, die Spatzen, die sie am Fenster gefüttert hat, und die Dorfhunde an der Kette. Die Kühe und Schweine werden die Soldaten wegführen, denkt S., und das ist ihr irgendwie tröstlich. Sie kehrt auf ihren Sitzplatz zurück. Sie weiß, wenn sie sich noch einmal umwendet, wird sie nichts weiter sehen als eine graue Staubwolke, die die Sonne verdeckt, und bald wird sie bezweifeln, daß es das alles einmal gegeben hat, das Dorf B., ihr Leben, sie selbst. All das, was ihr bis zu diesem Sommertag 1992 als sicher erschienen ist.

An diesem Morgen hatte sie zuerst Stimmen gehört. Ja, es war derselbe Tag, irgendwann gegen Morgen, obwohl die normale Zeit nicht mehr existiert, seit sie in den Bus eingestiegen ist. S. weiß, mit diesem Autobus übersiedelt sie von einer Wirklichkeit in eine andere, von einer Zeit in eine andere. Bisher verständliche Dinge werden plötzlich unbegreiflich, das Eigene wird fremd, und es ist, als gäbe es sie nicht mehr, als löste sie sich auf in ein Dasein, das ihrer Begriffswelt unzugänglich ist.

So war es gewesen: Im Halbschlaf hört sie Männerstimmen, Flüche und Rufe. Sie öffnet die Augen. Sieht, wie sich der weiße Store vor ihrem Fenster im Luftzug von der Straße bewegt, sie sieht die blaugetönte Wand des Schlafzimmers, und das gibt ihr augenblicklich das Selbstvertrauen zurück. Doch die seltsamen fremden Stimmen nähern sich. Der Store bläht sich, als atmete er. Der leichte Wind berührt ihre Haut. Auf dem Kirschbaum im Nachbargarten zwitschern die Stieglitze und übertönen für einen Moment den Lärm. Wenn S. aufstünde und sich aus dem Fenster lehnte, könnte sie sehen, woher die Stimmen kommen, wer die Leute sind, die am frühen Morgen durch das Dorf gehen. Aber S. will das nicht. Sie will nicht völlig wach werden. Vielleicht geht sie das gar nichts an, was da draußen geschieht. Für kurze Zeit fällt sie wieder in Schlaf, in der Hoffnung, der Lärm werde verschwinden.

Etwas später erwacht sie von der Stimme ihrer Nachbarin im Haus gegenüber. Tu’s nicht, sagt sie zu jemandem, zuerst bittend, dann weinerlich. Die Stimme ist ganz klar, als wäre sie hier, im Zimmer nebenan, nur durch den weißen Store getrennt. Der Mann, an den die Bitte gerichtet ist und der sie offenbar kennt, stößt einen argen Fluch aus. Wo sind die Waffen? Wo hast du sie versteckt? Wo ist dein Mann? schreit er. Seine Stimme verliert sich in ihrem Schluchzen.

An diesem Tag gehen die Soldaten von Haus zu Haus. Offenbar durchsuchen sie alles. Sie sagen, sie kämen nach Waffen, aber wer weiß, was sie wirklich suchen … S. steht hinter der Gardine und sieht zwei unbekannte Männer in Uniform die Straße entlanggehen. Sie führen einen älteren Mann in Zivil ab. Er lebt allein, er ist krank. S. kennt ihn. Sie sieht, wie einer der beiden in einen Hof abbiegt und der Frau, die er dort findet, ein Goldkettchen vom Hals reißt. Vielleicht ist es das, was sie wollen? Gewöhnliche Räuber, die sich als Soldaten ausgeben? Sie versucht sich zu erinnern, wohin sie ihren Goldschmuck getan hat; wenn sie ihnen den gleich gibt, vielleicht werden sie sie in Ruhe lassen. Sie ist ohnehin nur eine Frau.

Dann kommen drei Autobusse. Sie halten vor ihrer Schule an. Drei orangefarbene Busse mit grauen Streifen an der Seite. Dem einem entsteigt eine Gruppe Männer. Etliche von ihnen tragen Tarnuniformen, andere sind nicht uniformiert. Alle haben Waffen. Sie verteilen sich im Dorf.

Die Zeit vergeht, und noch ist keiner an ihrer Tür erschienen. Trotzdem wagt S. nicht, die Schule zu verlassen. Noch immer denkt sie, sie könnten bei ihr nichts weiter als Gold suchen. Sie glaubt, die Soldaten würden um sie einen Bogen machen.

Etwas später, als sie sich gerade Kaffee kocht, hört sie jemanden die Treppe heraufkommen, sie hört ein Scharren von Füßen vor ihrer Wohnungstür im Schulgebäude. S. weiß, das sind sie, es ist zu spät. Sie fühlt sich, als hätte sie den letzten Zug verpaßt oder etwas Wichtiges zu tun versäumt, obwohl sie nicht genau weiß, was. Erst in dem Moment fällt ihr ein, daß sie hätte fortlaufen können. Sie hätte noch am Morgen zur Schulhofseite hinausgehen, sich das Fahrrad nehmen und sich auf den Weg machen können. Vielleicht hätte sie auch früher fortgehen sollen, als das Schießen in Sarajevo begann. Warum ist sie in diesem Dorf geblieben? Was hat sie erwartet, was erhofft?

Ihre Kehle wird eng. Die Tür öffnet sich rasch, durch einen Fußtritt. Sie ist gar nicht verschlossen. Sie hat nicht einmal die Tür abgeschlossen, so naiv ist sie gewesen. Es hätte mir ohnehin nichts genützt, denkt S., als sie im Krankenhaus in Stockholm liegt. Wie oft kehren meine Gedanken zu jenem Augenblick zurück, und noch immer bin ich nicht sicher, ob ich begreife, wie das alles geschehen ist.

An der Tür ist ein junger Mann. Er scheint sicher zu sein, daß sie ihn erwartet. S. steht in der Küche neben dem Herd. Sie wendet sich ihm zu und verharrt reglos. Sie sagt nichts. Wir sammeln hier die Leute ein, sagt der junge Mann ziemlich laut, obwohl sie ihn nichts gefragt hat. Nicht, welche Leute, und nicht, warum. Es soll wohl eine Art Erklärung sein, denkt S. Sie wundert sich, daß der junge Mann nicht lauter brüllt und daß er ihr überhaupt eine Erklärung anbietet und nicht nur ein Kommando, auf das sie gefaßt war. Der junge Mann ist groß und schmal, mit schlaksigen Armen. Er trägt schmutzige Tarnhosen und ein Unterhemd. Aus seinem zerrissenen leinenen Turnschuh lugt der große Zeh mit schmutzigem Zehennagel hervor. In seinem kindlichen Gesicht, aufgepfropft auf einen langen Hals, bemerkt S. den Anflug eines Oberlippenbarts.

S. steht am Herd wie erstarrt. Sie wagt es nicht, sich zu rühren oder etwas zu sagen. Sie weiß, das, was sie gerade sieht, ist das Gesicht des Krieges: Jemand öffnet einfach die Wohnungstür, und der Krieg tritt ein in das Leben, in den Menschen. Sie weiß, von nun an gibt es zwischen dem Krieg und ihr kein Hindernis mehr.

Er schaut sie abschätzend an. Und sie ihn. Wird er sie schlagen? Wird er ihr Gold verlangen? In der Zwischenzeit hat sie ihr Schmuckkästchen gefunden und es in Reichweite hingestellt. Der junge Mann wirkt nicht gefährlich, obwohl er ein Gewehr in der Hand hat. Er scheint sogar vor Verlegenheit rot zu werden. Vielleicht hat ihn in seinem vorangegangenen Leben jemand gelehrt, zuerst an die Tür zu klopfen, weil es unhöflich ist, so ohne weiteres in eine fremde Wohnung einzudringen. Vielleicht hat er daran gedacht, als er die kleine Küche betrat, in der es nach Kaffee duftet, und hat es gleich wieder vergessen. Jetzt, da er ein Gewehr besitzt, muß er nicht mehr anklopfen. Er sieht das Mädchen, das ihn anstarrt. Er könnte das Gewehr heben und auf sie richten, um sie noch mehr einzuschüchtern. Er denkt nach, nimmt das Gewehr langsam hoch zur Schulter, dann überlegt er es sich anders und läßt es wieder sinken. S. rührt sich nicht, und er ist zufrieden. S. entschließt sich zu einem vorsichtigen Lächeln.

Setz dich, bringt S. schließlich hervor, möchtest du Kaffee? Sie weiß nichts anderes zu sagen. Eigentlich will sie erklären: Ich kann nirgendwohin entkommen, wozu die Eile? Völlig unerwartet nimmt der junge Mann ihre Einladung an. Er setzt sich. Stellt das Gewehr zwischen den Beinen ab. Wagt nicht, es an die Wand zu lehnen. Auch sie nimmt Platz, ihm gegenüber. Dann schlürft er ohne Eile den frisch gekochten Kaffee, als gehe ihn das, was außerhalb der Küche geschieht, nicht allzuviel an. Der Kaffee ist heiß und zu süß. Sie glaubt, sie sei ganz ruhig, und doch hat sie aus Verwirrung zu viel Zucker ins Wasser geschüttet. Nun fragt sie sich, ob der junge Mann ihre Verwirrung bemerkt. Doch er schlürft den Kaffee wortlos, wie abwesend.

Bis heute bin ich mir nicht sicher, weshalb ich ihm den Kaffee angeboten habe, vielleicht tat er mir leid, so kindlich und ungeschickt, wie er war. Ich hatte ihn noch nicht ernstgenommen, wohl wegen der Turnschuhe, denkt S.

Für einen Moment ist alles ruhig. Sie schweigen und trinken. Dieses Schweigen quält S. Sie überlegt, ob sie ihn nach einer Erklärung fragen soll. Warum? Nur diese einzige Frage lauert in ihr wie ein Raubtier, das zum Sprung ansetzt. S. fragt sich, was geschehen würde, wenn sie es jetzt ausspräche, wenn sie es endlich über die Lippen brächte … Sie sieht den jungen Mann gegenüber an. Er hat eine pickelige Stirn. Die Hand, mit der er ungeschickt den Henkel der Porzellantasse hält, ist grob und kräftig. In dieser Hand hat er wohl noch bis gestern eine Schaufel gehalten. Nichts, überhaupt nichts wird passieren, wenn sie die Frage ausspricht. Sie bliebe in der Luft zwischen ihnen hängen. Er würde sie nicht verstehen und wütend werden, daß sie es wagt, ihn etwas zu fragen. S. würde es bedauern, die Frage überhaupt ausgesprochen zu haben. Im übrigen ahnt sie den ganzen Morgen schon die Antwort.

Die Tasse des jungen Mannes ist leer. Dennoch, er ist Soldat und kein gewöhnlicher Besucher und beschließt, ihr das zu zeigen. Er steht auf und fingert am Gewehr herum. Machen Sie sich fertig, sagt er ganz offiziell, Sie müssen fort. S. bemerkt, daß er sie siezt, vielleicht, weil sie Lehrerin ist. Normalerweise duzen die Bauern sie. Sie denkt, der junge Mann ist wohl noch nicht lange aus der Schule heraus, und dieser Gedanke entlockt ihr ein Lächeln.

Fort? Natürlich sagt er nicht, wohin sie gebracht wird und weshalb man überhaupt irgendwohin fahren muß.

Schon haben sich Leute in der Turnhalle im Erdgeschoß eingefunden. Stimmen und Rufe sind zu hören. S. denkt an eine Szene, die sie am Abend zuvor im Fernsehen gesehen hat: Ein Autobus voller Kinder, die das vom Krieg erfaßte Gebiet verlassen. Darunter auch ganz kleine Babys. Frauen klopfen an die Busscheiben und weinen. Kinder winken … Noch gestern abend geschah das irgendwo anders, es betraf andere Menschen. Wer weiß warum, aber sie hatte geglaubt, so etwas könne in diesem Bergdorf nicht geschehen. Vielleicht denken alle Menschen so, bis ihnen selbst etwas Ähnliches passiert.

Schon vorher hatte sich in der Gegend die Nachricht verbreitet, die Armee nähere sich ihrem Dorf. Mehrere Dorfbewohner hatten ihre Kinder zu Verwandten nach Deutschland geschickt. Sie war dagegen gewesen, das Schuljahr war noch nicht zu Ende. Ich habe den Eltern gesagt, ich könne ihren Kindern keine Zeugnisse ausstellen. Aber wo mögen sie heute sein, ob sie noch leben? Manche waren auch selber fortgegangen, als rechneten sie damit, das werde schon vorübergehen, und sie wollten wiederkommen, wenn sich die Situation beruhigt hätte. Die Mehrzahl aber war dageblieben. Sie hatten keine andere Bleibe. Die Männer sagten, sie brauchten sich nicht zu fürchten, sie hätten immer mit den Serben zusammen gelebt, Waffen besäßen sie ohnehin nicht und die Armee würde schon die Ruhe wiederherstellen. Es waren wenige Männer im Dorf, überwiegend ältere. Die jungen arbeiteten in Slowenien oder in den bosnischen Städten. In der Umgebung wurde noch nicht geschossen. Und daß Krieg war, daß der Krieg begonnen hatte, glaubten sie kaum, nicht einmal, als man nicht mehr reisen konnte. Doch dann waren die Autobusse gekommen.

Der junge Mann sagt ihr natürlich nicht, wohin die Busse die Menschen transportieren und wie lange die Fahrt dauern wird. Sie ist sicher, er hat selber keine Ahnung. Er wiederholt nur, sie solle sich beeilen, die Busse warteten. Nun klingt seine Stimme mit jedem Wort, das er sagt, schärfer. Gleich wird er losschreien, denkt S. und fährt zusammen.

Wenn man von zu Hause fortgeht, kann man überhaupt an etwas anderes denken als an eine Reise? Alles übrige ist unvorstellbar. S. muß an eine Rückkehr glauben, auch wenn sie nur für eine gewisse Zeit in das Bergdorf gekommen ist. Es ist nicht leicht, jemanden von seinem Platz fortzureißen, der Mensch ist wie eine Pflanze mit tiefen Wurzeln. S. spürt, wie sie sich an diese altbekannte Wahrheit klammert, wie sie verhaftet ist mit den Gegenständen, mit der Erde, den Menschen, der Sprache. In dem Moment kann sie sich nicht vorstellen, daß dieser Milchbart sie vertreibt, nicht nur aus ihrer Wohnung, sondern aus ihrer Heimat, von der sie, bevor er seinen Fuß in ihre Küche gesetzt hat, glaubte, diese Heimat sei ihnen gemeinsam.

Durch die offene Zimmertür sieht sie ihr ungemachtes Bett und das weiche Kissen mit der Mulde, die ihr Kopf hinterlassen hat. Der Store bewegt sich noch immer. S. spürt, dieses Zimmer und das Bett haben in ihrem neuen Leben keinen Sinn mehr. Sie steht zwischen Zimmer und Küche in dem vollen Bewußtsein, rein gar nichts tun zu können, was ihre Situation verändern würde.

Wieviel Zeit hat sie, um sich fertigzumachen? Fünf Minuten? Eine Stunde? Unentschlossen läuft sie durch die Wohnung. Was soll sie mitnehmen, wenn sie nicht weiß, wohin es geht? Welche Kleidung? Nur Sommersachen oder auch etwas für den Winter? Und Bücher? Hat es Sinn, Bücher mitzunehmen? Es tut ihr leid, die Bücher dazulassen, ebenso die neue Stereo-Hifi-Anlage. Wenn man verreist, wenn man weiß, wohin es geht und wann man wiederkommt, dann weiß man auch genau, was man einpacken muß. Doch diesmal ist es keine gewöhnliche Reise. S. spürt instinktiv, sie wird diese Wohnung, die Schule und das Dorf nicht so bald wiedersehen. Sie denkt, dort, wohin man sie bringt, wird sie womöglich gar nichts brauchen. Dann unterdrückt sie rasch diesen verhängnisvollen Gedanken.

Sie versucht, klar zu denken: Man sollte nur das Nötigste mitnehmen. Wahrscheinlich werden sie in einem Flüchtlingszentrum untergebracht, und das kann nicht lange dauern. Aber vielleicht werden sie auch gleich über die Grenze geschickt, nach Kroatien oder noch weiter. Wenn es sich machen läßt, wird sie ihre Verwandte in Zagreb aufsuchen. Bisher ist ihr noch nichts passiert, deshalb bemüht sie sich nun, möglichst rational vorzugehen. Sie nimmt ihren blauen Leinenrucksack, den sie gewöhnlich bei Schulausflügen trägt. Aus der Schublade im Schlafzimmer holt sie etwas Unterwäsche, ein paar T-Shirts, ein Hemd, einen Pullover. Außerdem steckt sie in den Rucksack noch das Fotoalbum, das Schmuckkästchen mit einem Goldkettchen, einem Paar Ohrringen und einem Medaillon, ein leeres Notizheft und zwei Kugelschreiber. Dazu die Zahnbürste und Zahnpasta, Seife, Creme fürs Gesicht und Binden. An Binden nimmt sie alles mit, was sie im Haus hat: zwei Päckchen zusätzlich und ein Päckchen Watte. Sonst fällt ihr nichts ein, was sie noch brauchen könnte auf dieser Reise ins Unbekannte.

Wäre es ein früheres Jahr und nicht das Jahr 1992, dann hätte sie sich bald ebenso auf ihren Sommerurlaub vorbereitet. Mit dem Autobus wäre sie gefahren, dann mit dem Schiff. So war es noch im vergangenen Jahr. Sie erinnert sich an die Küste. Jedes Jahr hat sie ihren Sommerurlaub mit mehreren Bekannten in M. verbracht, in jenem Wäldchen, wo die Wurzeln der Kiefern bis hinunter zum Wasser reichen. Wenn sie nachts schwimmen waren, glänzten ihre Körper wie Fische. Sie denkt auch an B., an die Berührung seiner Lippen auf ihrer Schulter und wie er in jenem nun so fernen Sommer die Hand in den Ausschnitt ihres roten Kleides schob und ihre Brust streichelte. Und später: der Geruch seiner Haut auf dem Badelaken. Das allgemeine Chaos hat inzwischen auch B. verschlungen, schon früher als sie selber. Während des Sommerurlaubs mußten einige der jungen Leute zur Armee. In Kroatien wurde bereits geschossen, sie aber schwammen und brieten Fische und glaubten das alles nicht. Sie dachten, es sei weit fort, es gehe sie nichts an. Plötzlich, ausgerechnet in jenem Sommer, hat sie das, was in Kroatien geschah, nicht mehr berührt. Als wären wir absichtlich blind gewesen; wir dachten, wir schützen uns vor den Schrecken, indem wir die Augen verschließen. Nicht hinschauen …