Manfred Lafrentz
Der Krieg in der Träumenden Stadt
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Entdeckt!
Stein!
Geheimnisse!
Der Schlüssel!
Impressum neobooks
Die Stadt träumt.
Tessa spürt es so heftig wie noch nie. Oben auf dem Turm, am höchsten Punkt der Stadt, sind die Träume wie Sturmwinde, toben gegeneinander, fauchen und fühlen sich krank an.
Wie ein Fieber.
Die Stadt hat Fieberträume.
Weit unten, auf den Straßen, merken die Menschen nichts davon. Von hier oben sehen sie aus wie Punkte und gleichen wimmelnden giftigen Körnern im Kessel einer Hexe. Sie gehen ihren Geschäften nach, laufen hinter ihren Wünschen her in die Einkaufsläden oder sitzen unsichtbar in ihren Autos, die wie träge, gutmütige Tiere durch die Stadt schleichen und mit ihren leuchtenden Scheinwerferaugen alles beobachten und beschnüffeln. Die Menschen tun, was sie immer tun und merken nichts. Doch über ihren Köpfen, im Reich der Träumenden Stadt, ist alles schon infiziert mit jener Fieberkrankheit. Hier oben, über den Dächern, tosen die Träume im Irrsinn des Krieges, der vor langer Zeit begonnen hat. Sie riechen wie eine Krankheit, süßlich und ein bisschen faulig, scharf und fremdartig, beängstigend und bitter.
Tessa schaudert, vom Wind und von den Träumen. Beides fühlt sich kalt an. Sie schaut in die Dämmerung. Auf den Straßen flimmert ein Lichterteppich, aber über den Dächern zieht Nebel auf, der von den Wolken heruntertropft und wie ein Geisterteppich das Leben auf dem Boden allmählich verbirgt. Die Menschen unten bemerken ihn nicht, schauen nicht einmal hinauf oder wenn, dann nicht auf das, was jenseits der hellen Lichter ist, der Grenze, hinter der sie sich sicher fühlen.
Ich sollte dort unten sein, denkt Tessa. Mit den anderen. Nichts wissen. Ein normales Leben führen. Warum muss ich spüren, wie die Stadt träumt? Warum niemand sonst?
Mit einem leisen Aufflammen von Wut blickt sie auf die Gestalt neben sich, die wie sie selbst im eisigen Wind an den offenen Bogenfenstern steht, die die kleine Plattform umgeben. Über ihnen ist nur noch eine grüne Zwiebelkuppel aus Kupfer mit einer goldenen Spitze. Dann der Himmel.
Die Gestalt schaut in den Nebel. Die verzerrten Züge ihres fratzenhaften Gesichtes sind unbewegt, die verschatteten Augenhöhlen zwei schwarze Löcher in der Wirklichkeit. Die ledrigen Schwingen, die ihr aus dem Rücken wachsen, knarren leise, wenn der Wind sie bewegt.
Ein Albtraumwesen, denkt Tessa.
Aber die ganze Welt ist ein Traum geworden, und um in ihm zu bestehen, müssen seltsame Bündnisse eingegangen werden.
Die Kreatur wartet mit ihr auf das Medusenhaupt, mit dem sie sich verabredet haben.
Versteinern, denkt Tessa. Wie das wohl sein wird?
Ihr Vater muss es wissen.
Ihr Vater, der sie verraten hat.
Der Wind treibt ihr Tränen in die Augen. Sie nimmt die Fliegerbrille, die ihr um den Hals hängt, setzt sie auf und lässt das Gummiband hinten auf die Lederkappe knallen, die ihren Kopf bedeckt.
Aber die Tränen fließen weiter.
Tessa weint, weil sie, einen Tag, nachdem sie dreizehn Jahre alt geworden ist, alles verloren hat.
Dreizehn Jahre und ein Tag.
Nicht genug.
Sie denkt zurück an ihren Geburtstag.
An jenem Tag war sie mit Kopfschmerzen aufgewacht. Die Träume hatten ihr zugesetzt. Es war der Krieg, von dem sie träumte, aber das wusste sie zu jenem Zeitpunkt nicht. Dreizehn. Eine Unglückszahl. Tessa konnte den Gedanken nicht loswerden.
Ihr Vater gratulierte ihr förmlich und übergab ihr einen Umschlag mit Geld. Sie murmelte ein Dankeschön. Es war wie immer.
Am Nachmittag saß sie allein in ihrem Zimmer und aß den Kuchen, den ihr Vater gekauft hatte. Dann hörte sie CDs, setzte sich auf die Fensterbank und schaute nach draußen. Fünfter Stock. Sie konnte auf die Bäume hinabsehen und die Blätter zählen, die der Wind von den Zweigen losriss. Es schien ihr die angenehmste Tätigkeit der Welt. Es verlangte so viel Konzentration, dass man an nichts anderes denken konnte, und es erschien sinnvoll, denn sie hatte sich oft gefragt, wie viele Blätter an einem Baum hingen. Jede Schätzung war mühsam, denn viele Blätter versteckten sich hinter anderen oder bildeten verwirrende Muster und Klumpen, die sich im Wind ständig veränderten. Aber wenn sie starben, gingen sie alle einzeln davon, und man konnte sie zählen und staunen, wie viele es waren.
Dann wurde es dunkel, und Tessa konnte nur noch ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe erkennen. Das schmale Gesicht. Die blonden Haare, die an den Seiten auf die Schultern herabfielen. Nur in der Mitte war eine Strähne zurückgelegt und mit einer Klammer am Hinterkopf befestigt. Die Augen waren im matten Spiegelbild des Fensterglases zwei schwarze Löcher. Diese Löcher machten Tessa Angst. Sie sah fremd aus, wie ein seelenloses, dunkles Wesen der Nacht. Später, als sie solche Wesen kennen gelernt hatte, fragte sie sich, ob diese sie dort sitzen gesehen und als eine der ihren erkannt hatten.
Den ganzen Tag über hatte sie Kopfschmerzen und ging früh zu Bett, obwohl sie sich davor fürchtete, einzuschlafen.
Dreizehn, dachte sie. Eine Unglückszahl.
Die Träume waren über die Jahre hinweg schlimmer geworden. Die Träume, die nicht ihre eigenen waren.
Immer häufiger wachte sie mit Kopfschmerzen auf und mit einem Gefühl der Angst und Verwirrung, das wie ein Knoten im Kopf war, der sich nur langsam den Tag über auflösen wollte.
Sie wusste, dass es nicht ihre eigenen Träume waren. An ihre eigenen Träume konnte sich Tessa nicht mehr erinnern. Sie hatte sie weggeworfen. Vor Jahren.
Manchmal waren die fremden Träume schön. Träume vom Wind und von den Wolken. Vom Fliegen bis hinauf zum Himmel. Von Sonnenlicht auf roten Mauern. Von Bäumen, deren grünes Laub wie Schmuck war. Vom Regen, der Schmutz und Ruß wegwusch.
Tessa mochte diese Träume, auch wenn es nicht ihre eigenen waren. Sie waren voller Freude und Zuversicht, schauten auf die Zukunft wie auf etwas, das lange währen würde und in dem sich das Glück verbarg, Versteck mit einem spielte, bis man es fand oder bis es einfach aufgab und sich zeigte.
Aber es hatte auch von Anfang an dunkle Träume gegeben. Sie waren zwischen den anderen wie Regentage. Schwarze Wolken am Himmel, die Gewitter brachten.
Es waren nur Träume. Jeder hatte ab und zu Albträume. Man wusste dann, dass man sich vor etwas fürchtete, und in den Träumen gab man es zu. Und wenn man sich an den Traum erinnerte, konnte man der Angst nachspüren und versuchen, sie loszuwerden.
Aber das, was Tessa träumte, war anders. Es war nicht ihre Angst, die darin zu spüren war, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie lastete auf ihr, beschwerte sie wie ein Gewicht, das sie
hinab in einen Abgrund ziehen wollte.
In den Angstträumen gab es zerstörte Häuser. Von den Menschen verlassene Ruinen, durch die Geisterwinde wehten. Tod.
Wessen Angst war das?
Und dann gab es die Träume, die Tessa selbst Angst machten. Von einem dunklen Wesen, das grausam und durch Gewalt herrschte, das Geisterwesen aus Blut und Nebel, aus Rauch und Gestank aussandte, die die Menschen bedrohten und den Willen des Herrschers durchsetzten. Sie schwangen Peitschen und trieben die Menschen durch die Straßen, wenn sie nicht gehorsam waren. Tessa hörte verzweifelte Schreie und schreckte auf davon, mit klopfendem Herzen und voller Angst.
Sie verstand es nicht.
Sie hatte den Eindruck, die hellen und die dunklen Träume kämpften gegeneinander. Wütend. Erbarmungslos. Es fühlte sich krank an. Wie ein Fieber. Und vielleicht machten die Träume auch Tessa krank, vielleicht würde sich die Verwirrung, die wie ein Knoten im Kopf war, eines Tages nicht mehr lösen lassen.
Vielleicht, dachte sie, werde ich verrückt.
An dem Tag, der auf ihren dreizehnten Geburtstag folgte, fühlte sie sich jedenfalls krank. An die morgendlichen Kopfschmerzen hatte sie sich fast schon gewöhnt, aber die Träume waren in letzter Zeit immer beängstigender geworden. Als wollte jemand sie einschüchtern. Schatten flogen über ihr, schienen sie zu suchen, sie einzukreisen. Und sie kamen immer näher. Manchmal glaubte Tessa zu spüren, wie die Schatten sie streiften. Eisiges Grauen nahm ihr den Atem. Sie hatte Angst zu ersticken, und manchmal, wenn sie in so einem Moment nicht aufwachen konnte, träumte sie, sie wäre tot.
Auch in dieser Nacht war es ihr so ergangen. Sie empfand keine Erleichterung, als sie aufwachte. Alles schien unwirklich. Sie schaute aus dem Fenster und suchte den dämmrigen Himmel nach Licht ab, aber er war hinter Nebel verborgen. Ihr graute davor, noch einmal einzuschlafen, daher stieg sie erschöpft aus dem Bett, in einen grauen Herbstsonntag hinein, der nichts Gutes versprach für ihre Zukunft. Er wirkte nicht wie ein Anfang von etwas Neuem, eher wie ein abgelegter, fadenscheiniger Tag, den man vergessen hatte wegzuwerfen.
Wie lange halte ich das noch aus?
Beim Frühstück blieb sie einsilbig, aber es machte nichts. Ihr Vater und sie redeten nie viel miteinander.
„Ich will mir ein Spiel anschauen”, sagte er. „Willst du mitkommen?”
Tessa schüttelte den Kopf. „Ich fühl mich nicht gut.”
Ihr Vater sah sie nicht an. „Wahrscheinlich brütest du eine Erkältung aus. Am besten legst du dich wieder ins Bett.”
Er war weit weg. Tessa kannte ihn nicht anders, und der Schmerz darüber war schon lange eingeschmolzen auf eine kleine silberne Kugel, die ihr im Herzen steckte und es manchmal wundrieb. Er war immer kühl, nahm nie Anteil. Sie kam ihm niemals nahe. Tessa erinnerte sich nicht, wann sie es aufgegeben hatte, es zu versuchen. Irgendwann hatte sie die Kälte, die von ihm kam, genommen, weil sie von ihm kam, und sich einen Eispanzer daraus geschmiedet, in dem sie sich versteckte und sich darum bemühte, genauso zu sein wie ihr Vater. Sie waren sich ähnlich. Zwei Eiswesen, die auch in der größten Gluthitze nicht auftauen konnten. Aber nicht einmal diese Gemeinsamkeit hatte sie einander wirklich näher gebracht. Mit der Zeit war ihr warm geworden in ihrem Panzer, wie in einem Iglu, und sie fürchtete sich, ihn zu verlassen, fürchtete sich vor der Kälte, die jenseits des Eises war. Oder vor der Wärme, sie wusste es nicht mehr.
Aber wenn sie ihren Vater ansah, spürte sie, dass etwas fehlte, spürte eine Leere, die sich durch alle dreizehn Jahre ihres Lebens zog. Daran hatte sie sich gewöhnt, wie an ein Gebrechen. Ein lahmes Bein oder ein taubes Ohr. Es ging auch so.
Aber wenn die Träume ihr zusetzten, wünschte sie sich oft, jemandem davon erzählen zu können.
„Soll ich lieber zu Hause bleiben?”, fragte ihr Vater.
Tessa winkte ab. Er wollte weder bleiben noch sie dabei haben, wenn er fortging. Sie hatte es versucht, war mitgegangen zum Fußball oder wenn er sich mit Freunden traf. Es waren verzweifelte Tage gewesen, gefolgt von ebenso verzweifelten durchweinten Nächten. Sie saß neben ihm, und es war so, als ob sie nicht da wäre. Manchmal sahen die Leute sie mitleidig an, und sie wurde wütend, schaute gleichgültig aus ihrem Eispanzer heraus, als ob alles normal wäre.
Was wollt ihr von mir? Ich bin die Tochter eines Eismenschen. Ihr könnt es nicht verstehen.
Aber sie verstand es selbst nicht. Bei ihrer Geburt war ihre Mutter gestorben. Es gab kein Foto von ihr, jedenfalls kannte Tessa keines, und so war es für sie, als ob die Frau, die ihr das Leben schenkte, gar nicht existiert hätte. Ihr Vater hatte nie etwas darüber gesagt, trotzdem fühlte sie sich schuldig. Weil er nie etwas darüber sagte. Manchmal glaubte sie, dass er ihr den Tod der Mutter vorwarf, aber sie verstand nicht, wieso. Sie hatte es nicht absichtlich getan. Sie fühlte sich ungerecht behandelt und gleichzeitig schuldig. Also schmiedete sie Jahr um Jahr an ihrem Eispanzer, bis es ihr nichts mehr ausmachte.
Fast nichts.
Sie saß in ihrem Zimmer und wartete, bis sie die Wohnungstür klappen hörte. Dann versorgte sie sich mit Tee, Kopfschmerztabletten und Keksen. Ins Bett wollte sie nicht. Sie fürchtete sich davor, einzuschlafen. Stattdessen kuschelte sie sich in einen Sessel, hörte leise Musik und beobachtete, wie aus dem grauen Tag ganz langsam ein dunkler, windiger Abend wurde. Sie schätzte Tätigkeiten, bei denen sie nicht an mehr denken musste als an das, was ihre Augen ihrem Gehirn meldeten. Denn wenn sie nachdachte, dachte sie an die Träume.
An die dunklen Träume.
Sie konzentrierte sich wieder darauf, den Schattierungen von Grau nachzuspüren, die durch das Fenster in ihr Zimmer sickerten. Sie hasste den Moment, in dem das Alleinsein in Einsamkeit überging. Dann fühlte sie sich, als ob sie auf der falschen Seite des Eispanzers wäre.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
Halb acht.
Der Tag war verschwunden. Sie hatte ihn überstanden, aber nun blieb nur die Aussicht auf die Nacht. Auf den Schlaf und die Träume.
Die Stille der Wohnung war wie ein Eisblock. Tessa hatte das Gefühl, als bräuchte sie eine Axt, wenn sie über den Flur gehen wollte. Nachdem der CD-Player sich abgeschaltet hatte, hörte sie das Ticken der altmodischen Küchenuhr, drei Zimmer weiter. Es war ein Geräusch, das nur Menschen hörten, die ganz allein waren.
Niemand sollte eine Uhr hören, die drei Zimmer entfernt tickt, dachte Tessa.
Sie sah wieder auf ihre Armbanduhr.
Viertel vor acht.
Es gab keinen Grund, beunruhigt zu sein. Ihr Vater kam vielleicht erst gegen zehn nach Hause. Sie hatte ein Handy, aber er rief nie an.
Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, was jemand denken mochte, der ihr Leben beobachtete. Sie hatte Angst davor, andere könnten merken, wie kalt es um sie herum war. Wie alleine sie war, mitten in ihrem Zuhause.
Einen Moment lang verspürte sie eine so verzweifelte Sehnsucht nach Normalität, dass sie fast geweint hätte.
Ich werde fernsehen, bis er zurückkommt.
Er wird zurückkommen.
Da war immer diese bange Frage, wenn ihr Vater lange weg war. Sie hasste sie, hasste es, diese Frage zu stellen. Aber es nützte nichts. Sie musste sie beantworten.
Er wird zurückkommen. Er ist immer zurückgekommen.
Sie stand auf und ging über den Flur ins Wohnzimmer.
Ich brauche keine Axt. Es ist nur still. Sonst nichts.
Aber bevor sie das Wohnzimmer betrat, durchbrach plötzlich ein Geräusch die eisige Stille.
Ein Klopfen.
Nicht zufällig. Kein Ast, den der Wind an die Wand peitschte. Es klopfte fünfmal. Dann blieb es still.
Und wieder klopfte es fünfmal. Es hörte nicht auf, wurde nur dringlicher.
Tessa war stehen geblieben. Ohne es sich erklären zu können, glaubte sie, das Klopfen gelte ihr.
Unsinn! Das ist jemand in den Nachbarwohnungen. Vielleicht reparieren sie etwas.
Aber das Klopfen ging weiter. Es war ein Signal. Tessa hatte keinen Zweifel.
Aber wieso sollte es mir gelten?
Dann kam ihr der Gedanke, dass vielleicht jemand um Hilfe rief.
Wenn ich nicht darauf reagiere, werden sie denken, ich sei ein Ungeheuer.
Sie ging zur Wohnungstür, öffnete sie und horchte hinunter ins Treppenhaus.
Nichts. Es kam eindeutig nicht von unten.
Tessa schlich verstohlen zur Tür der Nachbarwohnung auf der anderen Seite des Treppenflurs und horchte.
Wieder nichts.
Sie ging zurück in die Wohnung. Auf dem Flur war das Klopfen deutlich zu vernehmen.
Woher kommt es?
Tessa ging durch die ganze Wohnung, schaute in jedem Zimmer aus dem Fenster, konnte aber nicht feststellen, woher das Klopfen rührte.
Es war unheimlich. Tessa dachte an Gespenster. Poltergeister. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie an so was glauben wollte. Es war spannend, in Geschichten und Filmen, und wenn man es nicht wenigstens ein bisschen in Erwägung zog, daran zu glauben, war es längst nicht so spannend.
Wenn es Geister sind, dachte sie, was wollen sie dann von mir? Sie horchte an den Wänden, aber allmählich hatte sie den Eindruck, als käme das Klopfen von oben. Über der Wohnung war nur noch der Dachboden.
Tessa starrte unschlüssig an die Decke des Flurs. War es ratsam, auf den Speicher zu gehen und nachzuschauen? Hatte sich ein Spaßvogel hinaufgeschlichen, um die Bewohner des Hauses zu erschrecken? Der Dachboden war abgeschlossen. Eigentlich konnten nur die Leute, die hier wohnten, da hinein.
Das Klopfen wirkte inzwischen ungeduldiger, als verstünde sein Urheber nicht, warum Tessa so lange zögerte. Sie hatte mehr denn je das Gefühl, als gelte es ihr, ohne zu wissen, warum. Vernünftig schien es nicht, jetzt, wo sie allein war, dort hinaufzugehen. Andererseits war sie neugierig. Wäre ihr Vater da gewesen, hätte er ohne Weiteres nachgeschaut. Ernst, entschlossen und gleichgültig gegenüber solchen Merkwürdigkeiten. Hätte jedem, der da oben womöglich Schabernack trieb, klar gemacht, was er davon hielt. Aber nun, da sie allein war, lag es an ihr, nach dem Rechten zu sehen. Es war ein aufregendes Gefühl, so, als wäre sie eine Erwachsene, von der erwartet wurde, dass sie mit allem, was ihr begegnete, zurechtkam.
Ohne länger darüber nachzudenken, nahm sie den Schlüssel vom Brett neben der Wohnungstür und ging hinaus ins Treppenhaus. Die Tür ließ sie offen, um gegebenenfalls schnell wieder in der Wohnung verschwinden zu können.
Es waren zwei Treppen bis zum Speicher. Auf der Ebene zwischen ihnen gab es noch ein langes, niedriges Fenster. Tessa schaute hinaus. Sie hatte sich immer gewundert, warum von hier aus, obwohl es nur wenig höher als die Fenster in der Wohnung war, alles so anders und ungewohnt wirkte. Wie in einem Traum, in dem man über all dem schwebte, was man kannte. Wie ein Vogel oder ein Geist oder irgendein seltsamer Beobachter, in einem Fluggerät oder vielleicht von einem anderen Stern. Alles wirkte klein und weit weg. Die Gehwege vor den Häusern, die kleinen Rasenflächen und die Straße, auf der die Autos nur noch aus Dächern zu bestehen schienen. Jetzt, in der Dämmerung des grauen Tages, war alles noch ferner und fremder.
Tessa wandte sich vom Fenster ab und stieg die zweite Treppe hinauf. Dort, wo sie endete, gab es auf jeder Seite der Ebene eine grüne Metalltür. Die eine führte zum Trockenboden, die andere zum eigentlichen Speicher, in dem die Mieter ihr Gerümpel aufbewahrten. Tessa entschied sich für Letztere, denn der Speicher lag über der Wohnung. Wenn das Klopfen vom Trockenboden gekommen wäre, hätte sie es vermutlich gar nicht hören können.
Es war nicht einfach, im Zwielicht den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber Tessa mochte kein Licht anmachen. Die Flurlampe hing genau über ihr. Sie hätte im Licht gestanden, und der Speicher wäre eine undurchdringliche schwarze Höhle gewesen. Ehe sie innen den Lichtschalter gefunden hätte, der sich aus unerfindlichen Gründen nicht direkt neben der Tür befand, hätte der unbekannte Klopfer genug Gelegenheit, sie aus dem Dunkeln heraus anzugreifen.
Und sie hasste das Geräusch, wenn das Licht im Hausflur ausging. Es war ein geisterhaftes Ächzen, und ihr lief jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn sie es hörte.
Leise drehte sie den Schlüssel um und drückte die kalte schwarze Klinke nach unten.
Einen Augenblick lang überfiel sie heftige Panik. Sie wollte den Schlüssel schnell wieder umdrehen und zurück in die Wohnung laufen, den Fernseher oder laute Musik anmachen, um das Klopfen nicht mehr zu hören, mochte es ihr nun gelten oder nicht. Die Tür abschließen und warten, bis ihr Vater käme.
Später hatte sie sich gefragt, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie in diesem Augenblick ihrer Angst nachgegeben hätte. Aber sie bezweifelte es. Dreizehn Jahre und ein grauer Tag. Länger sollte ihre Kindheit nicht dauern. Sie wusste es nicht, in jenem Moment, nicht mit dem Verstand, aber die Träume hatten sie darauf vorbereitet.
Deshalb öffnete sie die Tür.
Die wenigen Sekunden, in denen sie nach dem Lichtschalter tastete, schienen ewig zu währen. Die Dunkelheit vor ihr war eine kalte Wand, die jeden Augenblick auf sie einstürzen konnte. Dann fand sie den Drehschalter, und mit einem Schnappgeräusch ging das Licht an. Ein mattes Glühbirnenlicht, das die Schatten nicht vertrieb, sondern nur in die Ecken scheuchte. Es befand sich in der Mitte des Ganges, der zwischen den Drahtkäfigen der Speicherabteile entlangführte. Vor jedem von ihnen hing ein Vorhängeschloss, als ob dort etwas Kostbares aufbewahrt würde. Zu sehen war aber nur Gerümpel. Umzugskartons, staubige, abgewetzte Koffer, hier und da ein Sessel mit Rissen, aus denen das Polstermaterial quoll. Und Schränke. Schränke, die uralt aussahen, so, als ob vor langer Zeit Gespenster in ihnen weggeschlossen worden wären.
Ein staubiger, scharf-säuerlicher Geruch lag in der Luft, der wie die Ahnung von einem Niesen war. Der Fußboden war rau, und Tessas Schritte verursachten kratzende Geräusche, als sie langsam an den Drahtgittern vorbeiging, die an rohen Holzgerüsten befestigt waren.
Krrrt. Krrrt.
Das Holz sah feindselig aus. Berühr mich, und ich stecke dir einen Splitter ins Fleisch, schien es zu sagen. Tessa schaute in alle Kammern. In jeder blieb ein Teil vom Licht ausgespart. Schattenränder, die sie nicht mit den Augen durchdringen konnte.
Sie dachte an das Klopfen. Seit sie die Wohnung verlassen hatte, war nichts mehr davon zu hören gewesen. Wenn hier jemand war, der ihre Aufmerksamkeit gewollt hatte, hatte er es sich jetzt entweder anders überlegt oder das Klopfen kam doch nicht vom Speicher.
Tessa wollte zurückgehen. Sie fror erbärmlich. Dann fiel ihr Blick auf das Abteil, das zur Wohnung gehörte, und sie zögerte.
Sie war lange nicht dort drin gewesen und verspürte Neugier auf das, was dort abgestellt worden war. Vielleicht war ihr vor längerer Zeit ein Irrtum passiert, und es war versehentlich dort etwas hingelangt und vergessen worden, das sie seitdem, ohne es zu wissen, schmerzlich vermisste. Oder zumindest wieder gebrauchen konnte. Sie suchte am Bund den kleinen Schlüssel für das Vorhängeschloss und öffnete die Tür.
Ihr Blick fiel zuerst auf einen Kaufmannsladen, mit dem sie früher gespielt hatte. Aber das war hundert Jahre her. Der konnte ruhig hier bleiben. Sie öffnete einen Schrank und einen der Koffer. Sie enthielten nur abgelegte Kleidung, die für wer weiß wen dort aufbewahrt wurde.
In einem Karton entdeckte sie ein Stofftier, einen Pandabären, an den sie sich erinnerte. Er sah mitgenommen aus. Eins der Glasaugen fehlte; die rote Zunge, die ihm aus dem Maul hing, war halb abgerissen und das Fell war an einigen Stellen so dünn, das man den weißen Stoff darunter sehen konnte, voller kleiner Löcher, wie bei einem Salzstreuer.
Tessa erinnerte sich, dass der Bär ausrangiert worden war, als sie eingeschult wurde. Sie hatte neue Stofftiere geschenkt bekommen und dem alten nicht nachgeweint. Jetzt, wo sie ihn in der Hand hielt, schien ihr das kalt und herzlos. Die Zeit, in der sie den Panda nachts in den Armen gehalten hatte, war eine Zeit anderer Träume gewesen. Träume, in denen sie geglaubt hatte, dass Eispanzer schmelzen konnten.
Tessa dachte an die Träume, die sie jetzt heimsuchten. Waren sie vielleicht eine Strafe, weil sie sich allzu leichtfertig und ohne Bedauern von alten Dingen getrennt hatte? War in diesem Stofftier oder auch in anderen Dingen ein Zauber verborgen, der sie geschützt und den sie treulos verspielt hatte? Waren die Schatten erst gekommen, nachdem sie den Panda verstoßen hatte?
Sie streichelte das jämmerliche Fell des Bären und überlegte, ob sie ihn mit zurück in die Wohnung nehmen sollte. Sie konnte ihn unter der Bettdecke verstecken, sodass niemand ihn sah, um ihn im Schlaf an die Brust zu drücken, wie ein Amulett zur Abwehr von bösen Zaubern.
„Erinnerungen?”, fragte eine Stimme aus der dunkelsten Ecke des Dachbodenabteils, dort, wo die Dachschräge auf den Fußboden traf und nichts sein sollte außer Spinnweben und Staub.
Tessa schrak so heftig zusammen, dass es wehtat. In einer Ruckbewegung zog sie scharf die Luft ein und krampfte die Arme vor dem Körper zusammen. Der Pandabär fiel zu Boden. Sein Aufprall war weich und leise, als wäre er nur ein Sack voll Federn.
Tessas Herz klopfte, wie es nicht klopfen sollte. Es schlug hart, wie eine Faust an eine Wand. Sie wollte fragen, wer da sei, aber sie brachte keinen Ton heraus, konnte sich nicht bewegen, zitterte am ganzen Körper. Das, was im Dunkeln lauerte, war nicht einmal zwei Meter von ihr entfernt. Es brauchte nur zu springen, um sie zu bekommen. Sie verspürte ein betäubendes Grauen, das nicht einmal Angst war, nur atemloses Abwarten. Warten auf das, was mit ihr geschehen würde.
„Verzeih”, sagte die Stimme. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber es ist besser, wenn du mich erst hörst, bevor du mich siehst.”
Tessa verstand nicht. Sie hörte, was gesagt wurde. Es klang beruhigend, aber es kam aus der schrecklichen Dunkelheit zwischen Dach und Boden, in dem abgeschlossenen Abteil, das ihr und ihrem Vater gehörte, wo niemand außer ihnen etwas zu suchen hatte und sich keiner verstecken durfte, um dort zu lauern und sie so zu erschrecken, dass es wehtat.
„Du brauchst keine Angst zu haben”, sagte die Stimme. Und dann, etwas leiser: „Nicht vor mir.”
„Wer ist da?”, brachte Tessa schließlich heraus. Mühsam, weil sie so kurz atmete, dass es kaum für ein ganzes Wort reichte.
„Ich versichere dir noch einmal, dass ich dir nichts tun werde. Erinnere dich daran, wenn ich jetzt ins Licht trete.”
Ein Scharren war aus den Schatten heraus zu vernehmen. Derjenige, zu dem die Stimme aus dem Dunkeln gehörte, trat hervor.
Tessa wimmerte, als sie ihn sah. Sie wollte an einen dummen Streich glauben, den jemand ihr spielte, um ihr einen Schrecken einzujagen.
Aber sie spürte.
Wusste.
Es war wirklich.
„Nein!”, flüsterte sie.
Sie wollte weglaufen, stolperte über den Pandabären und fiel zu Boden. Halb auf der Seite liegend, kroch sie zur Tür des Abteils.
Die Gestalt folgte ihr nicht. Stand nur da. Fast wie beschämt.
Und traurig.
„Hab keine Angst”, sagte sie. „Versuch es!”
Tessa versuchte es.
Sie schaffte es nicht.
„Was bist du?”, fragte sie. Es klang wie ein Schluchzen.
„Ein Wächter.”
Tessa konnte nichts damit anfangen.
Der Teufel, dachte sie. Das muss der Teufel sein. Oder ein Dämon. Aber so was gibt es doch gar nicht.
Die Gestalt war jedoch nur zu wirklich. Aus dem Kopf wuchsen ihr Hörner. Die Augenhöhlen waren verschattet, aber wenn sich der Kopf bewegte, waren ab und zu schräg stehende Augen zu sehen. Schwarz, ohne Pupillen. Unter der flachen Nase wölbte sich ein breiter, lippenloser Mund über einem fliehenden Kinn, an dem ein Ziegenbart hing. Große Fledermausohren standen seitlich vom Kopf ab, und dahinter waren Flügel zu sehen, ledrige Schwingen, die der Kreatur offenbar aus dem Rücken wuchsen. Der Körper war mit einer Art Kittel aus Leder bedeckt. Die nackten Arme und Beine, die daraus hervorschauten, waren muskulös, sehnig und knotig.
Trotz des Grauens, das sie empfand, war Tessa der Anblick seltsam vertraut.
„Was bist du?”, fragte Tessa noch einmal. „Ein Dämon?”
Der Geflügelte lachte kurz auf. „Ich sehe aus wie einer, aber ich bin ein Wächter.”
„Was für ein Wächter?”
„Ein Wächter der Stadt. Ich halte die Dämonen fern. Sie sehen mich, erschrecken und verschwinden. So war es, seit es die Stadt gibt. Aber jetzt ist die Stadt krank.” Er seufzte. „Sie träumt. Und die Träume sind dunkel.”
„Die Träume?”, fragte Tessa, und ihr Herz klopfte wieder schneller.
„Ich weiß, dass du sie empfängst. Und die Stadt weiß es auch. Deshalb bin ich hier. Wir brauchen deine Hilfe.”
„Die Stadt braucht meine Hilfe?” Die Worte klangen unsinnig.
Was konnte die Stadt von einem dreizehnjährigen Mädchen wollen? Und wer schickte ein Albtraumwesen? Der Bürgermeister vielleicht? Der Gedanke war so komisch, dass sie fast gelacht hätte. Aber sie bezwang sich, denn sie fürchtete sich vor diesem Lachen, davor, wie es klingen würde.
Verrückt.
Ich werde verrückt. Die Träume haben es geschafft.
Die Kreatur seufzte wieder. „In gewisser Weise, ja. Die Wächter tun was sie können, aber es herrscht Krieg im Reich der Träumenden Stadt.”
„Es gibt noch mehr Wächter?”
„Natürlich.” Das breite Maul der Kreatur verzog sich zu einem Lächeln. „Hast du nicht oft zu ihnen hochgeschaut und dich vor ihnen gegraust, als du kleiner warst?”
Plötzlich erinnerte sich Tessa, wusste, woher sie die Schreckensgestalt kannte.
„Die Wasserspeier!”, rief sie. Die grotesken Figuren an den Dächern von Kirchen und anderen hohen Gebäuden. Ja, als sie klein gewesen war, hatte sie sich manchmal gefürchtet, wenn sie zu ihnen hochgesehen hatte, und schnell den Blick abgewendet.
„Aber die sind aus Stein”, sagte sie.
Steine können nicht sprechen.
Sie musste wirklich verrückt sein. Oder es war ein Traum, auch wenn es sich nicht wie einer anfühlte.
„Stein und doch nicht Stein”, sagte der Wasserspeier. „Das ist die Magie der Stadt. Ich werde dir davon erzählen.” Er lächelte wieder. „Bist du bereit? Vertraust du mir so weit, dass du mich anhören willst?”
Tessa überlegte. Sie fürchtete sich immer noch. Nicht mehr so sehr vor dem Wasserspeier, aber vor dem, was er ihr erzählen würde. Traum oder nicht, es war, als lauerte ein Abgrund vor ihr. Ein Abgrund in Gestalt eines bizarren geflügelten und gehörnten Wesens, das freundlich zu ihr sprach, obwohl es ein Krieger war.
Der Krieg war es, vor dem Tessa sich fürchtete. Als der Wasserspeier das Wort aussprach, hatte sie sofort gewusst, was er meinte. Der Krieg war schon lange in ihren Träumen gewesen, und nun schien es, als geriete sie mitten hinein.
Ich träume sicher und vielleicht wache ich nie wieder auf.
Der Gedanke war beängstigend.
„Wie heißt du?”, fragte sie den Wasserspeier.
„Du kannst mich Fledermaus nennen. Wir Wächter haben keine Namen. Wir sind zusammengesetzt aus dem, was schrecklich anzusehen ist. Die Fledermausohren sind das Netteste an mir.” „Ich heiße Tessa”, sagte Tessa und setzte sich auf einen Koffer. Sie nahm den Pandabären auf und hielt ihn fest in den Armen.
„Eigentlich Theresa.”
„Ich weiß”, sagte Fledermaus.
„Du empfängst die Träume der Stadt.” Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Tessa nickte. Jemand träumte in ihrem Kopf. Sie hatte es gewusst, aber es war eine Erleichterung, es bestätigt zu bekommen, selbst wenn das nur in einem Traum geschah.
„Aber wieso träumt die Stadt? Wie kann das überhaupt sein? Sie ist doch aus Stein und kein lebendes Wesen.”
Fledermaus lächelte. „Ich wurde auch aus Stein gemacht. Willst du bestreiten, dass ich lebendig bin?”
Tessa schüttelte den Kopf. Wenn es ein Traum war, konnte sie alles akzeptieren. Aber wenn es kein Traum war? Fledermaus schien beängstigend real. Wenn er sich bewegte knarrten seine Flügel wie neue Schuhe. Konnte man so etwas träumen?
„Aber du hast recht”, fuhr Fledermaus fort, „eine Stadt träumt nicht von Anfang an. Zuerst ist sie nur eine Ansammlung von Steinen, Holz und anderen Dingen, gebaut von den Menschen, die darin leben wollen, weil sie sich Schutz versprechen. Aber für die Menschen ist es nie sicher genug, auch wenn sie noch so viele Steine um sich herum errichten. Sie brauchen mehr. Tief drinnen in den Menschen, dort, wo sie keine Steine errichten können, da fürchten sie sich am meisten. Da, wo sie gar nicht bluten können, haben sie die größte Angst, verletzt zu werden. Und dort entsteht die Magie.”
Tessa dachte an ihren Eispanzer und daran, wie sicher sie sich hinter ihm meistens fühlte. Sie hatte nicht gewusst, dass alle Menschen so etwas brauchten.
„Warum fürchten sie sich so?”, fragte sie. „Und wovor?”
„Sie fürchten sich vor dem Bösen. Es hat vielerlei Gestalt, und die Menschen haben Angst, verloren zu gehen. Heute versuchen die Menschen, das Böse mit dem Verstand zu kontrollieren. Aber früher haben sie Magie benutzt. Zauber gegen das Böse. Sie waren sehr unterschiedlich. Worte. Bilder. Symbole. Schutzschilde, die das Böse bannen sollten.”
Tessa schaute auf den Pandabären, den sie an sich gepresst hielt.
Fledermaus lachte. „Fast jeder hat so etwas. Es ist eine sehr wirksame Form der Magie, wenn man daran glaubt.”
„Gehörst du auch zu dieser Magie?”
Fledermaus nickte. „Die Erinnerung an vieles, was in der Stadt geschah, wurde von der Magie in Stein gewebt und ist Teil ihrer Träume.” Er nahm Tessas Hand in seine. „Schließ deine Augen!”
Tessa gehorchte, und eine Szene tauchte vor ihr auf.
Ich träume im Traum. Das geht doch gar nicht.
Ein großer Raum mit Holzwänden. Licht fällt durch hohe schmale Fenster und blendet sie. Flaches helles Hämmern ist zu hören, wie Stein auf Stein.
Zwei Männer treten in ihr Blickfeld und schauen sie prüfend an.
„Das ist er also”, sagt der eine. Er trägt ein langes Gewand und eine runde Kappe auf seinen schütteren Haaren. Er schüttelt den Kopf, und ein silbernes Kreuz, das ihm vor der Brust hängt, bewegt sich sachte mit. „Er ist noch schlimmer als die Tonfigur, die Ihr als Modell angefertigt habt. Ich habe Euch damals schon gesagt, dass Ihr Eure Fantasie zügeln solltet, Meister Hunold. Diese Fratze! Wie ein Knecht des Teufels.”
Der andere Mann lacht grimmig. Seine gebeugte Gestalt steckt in einer Art knielangem Kleid mit einem Seil um die Hüften als Gürtel. Darunter schauen enge, an den Waden geschnürte Hosen heraus. Lange strähnige Haare umrahmen sein düsteres Gesicht, und ein struppiger Vollbart sträubt sich wenn er spricht.
„So müssen sie sein, Bischof Anselm. Wenn die Teufel sie sehen, werden sie vor ihnen erschrecken und fliehen.”
Bischof Anselm seufzt. „So heißt es. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich wirklich so verhält.” Sein Gesichtsausdruck verrät Unbehagen. „Es will mir nicht in den Kopf, dass wir Dämonen brauchen, um Dämonen abzuwehren.”
Meister Hunold kneift seine kleinen Augen zusammen. „Wir müssen die Kirche sicher machen. Die ganze Stadt müssen wir sicher machen.” Er spricht erregt, mit Nachdruck. „Oben, direkt unterm Dach, da, wo die Steinwand beginnt, ist die Stelle, an der die Dämonen eindringen können. Wir brauchen die Wächter dort. Sie sammeln das Wasser des Himmels und speien es den Dämonen entgegen, die aus den Unwettern hervorkommen und uns verderben wollen.”
Bischof Anselm schweigt eine Weile. „Wir wollen hoffen, dass Ihr recht habt, Meister Hunold”, sagt er dann. „Woher nehmt Ihr nur diese schrecklichen Gesichter und Gestalten?” Er sieht den anderen misstrauisch an. „Sagt, habt Ihr jemals Umgang mit Dämonen gehabt?”
Meister Hunold senkt den Kopf. Seine Augen sind in ihren schattigen Höhlen nicht zu erkennen. „Ich kenne sie. Sie kommen in der Nacht und verhöhnen mich. Sie versuchen mich. So, wie sie uns alle auf schlechte Wege bringen wollen. Oh ja, ich kenne sie. Ihre Teufelsfratzen quälen mich und brennen sich in mein Gedächtnis ein. Sie tanzen um mich herum und schmähen den Herrn.”
„Meister Hunold”, sagt Bischof Anselm tadelnd, „hütet Euch, zu genau hinzuschauen!” Er deutet mit einem Kopfnicken nach vorn. „Ich spüre eine alte Macht in diesen steinernen Gesichtern. Es übergraust mich.” Er bekreuzigt sich. „Seid vorsichtig! Es ist Eure Aufgabe als Steinmetz, mit diesen Dingen umzugehen, aber hütet Euch und vertraut auf Gott. Ihr wandelt an einem Abgrund.”
Meister Hunold lacht wieder. „Seid unbesorgt, Herr. Die Wächter, die wir erschaffen, dienen uns.” Er tritt vor und streckt eine Hand aus. „Er ist wundervoll geworden! Das Abschleifen hat die Züge noch feiner hervorgebracht.” Seine Augen leuchten. „Seht, wie er die Zunge hervorstreckt! Er verhöhnt den Teufel.” Er lächelt. „Morgen bringen wir ihn hinauf. Winde und Flaschenzug stehen bereit.“
Bischof Anselm schaut nachdenklich auf Meister Hunold. „Ihr sprecht von Eurer Schöpfung so liebevoll wie von einem Kind. Es ist nur ein Werkzeug, vergesst das nicht! Ein Werkzeug aus Stein.” Er wendet sich ab. „Valete, Meister Hunold! Wir sehen uns morgen, wenn der Wächter mit seinem Block in der Mauer verankert wird.”
Meister Hunold hat den Blick nicht abgewandt. Er scheint den Abgang des Kirchenherrn nicht zu beachten. Dann aber sieht er sich verstohlen um.
„Ein Werkzeug aus Stein, sagt er. Nein, du bist mehr. Er weiß es und will es doch nicht wissen. Es ist die Magie, vor der es ihn graust. Alle wissen es und vertrauen auf euch. Helft uns! Gegen das Böse. Lasst die Dämonen in einen Spiegel schauen, der sie vertreibt. Möge die Magie euch Kraft verleihen!” Seine Augen glühen, und er flüstert geheimnisvolle Worte, die Tessa nicht versteht. Fremdartige Beschwörungen. Sie schaudert und schlägt die Augen auf.
„Und?”, fragte sie. „Hat es funktioniert?”
Fledermaus ließ ihre Hand los und seufzte. „Früher, als die Menschen noch an die Magie geglaubt haben, hat es funktioniert. Doch der Glaube an sie ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Die Menschen heute wissen nicht mehr, dass die Stadt voller Magie ist.”
„Sie ist immer noch da?”, fragte Tessa erstaunt.
Fledermaus lächelte, und Tessa begriff. Natürlich war die Magie noch da. Sie redete mit einem Wasserspeier, der aus Stein gemacht worden war.
Nein! Ich träume!
Ich träume! Ich träume! Ich träume!
Sie wiederholte es immer wieder, wie eine Beschwörung, bis die Worte nichts mehr bedeuteten, bis sie wehrlos war.
Ich träume nicht. Es geschieht wirklich.
Plötzlich wusste sie, dass es so war. Sie träumte nicht. Vielleicht war sie verrückt, aber sie träumte nicht.
Irgendwo in ihr drin regte sich etwas, fühlte sich komisch an. Wie ein Knäuel, das sich auseinanderfaltet.
Angst.
„Ja”, sagte Fledermaus, „die Magie ist immer noch in der Stadt. Sie verschwindet nie, wenn sie erst einmal gerufen wurde. Aber weil die Menschen sie vergaßen und niemand sie mehr kontrollierte, hat sie sich verselbstständigt. Sie ist überall in den Häusern, in denen zum Schutz der Stadt gezaubert wurde.”
Tessa stellte sich vor, dass die Magie wie ein funkelnder Sternennebel nachts durch die Häuser der Stadt wehte, ohne dass jemand sie jemals wahrnahm. Es war unheimlich.
„Bist du der Wasserspeier, den Meister Hunold geschaffen hat?”, fragte sie.
Fledermaus schüttelte den Kopf. „Aber ich kenne ihn. Er kämpft mit uns.”
„Wie kommt es, dass die Stadt angefangen hat zu träumen?”
„Es ist die Magie”, sagte Fledermaus. „Ich werde es dir später erklären.” Er wirkte plötzlich unruhig. „Wir haben jetzt nicht so viel Zeit. Die Stadt träumt, mehr brauchst du im Augenblick nicht zu wissen.”
„Schläft die Stadt denn wenn sie träumt?”, fragte Tessa verwirrt.
„Weder schläft sie noch wacht sie. Aber sie träumt in der Nacht, und wenn sie träumt, wird ihr Reich lebendig. Es ist ein Reich voller Magie, auf und über den Dächern der Stadt, wo die Menschen es nicht wahrnehmen können. Man sagt, manchmal seien ihre Träume wunderschön.”
„Sie träumt von Sonnenlicht auf ihren Mauern”, sagte Tessa. „Von den Wolken, die ihre Türme berühren. Vom Wind, der ihre Dächer streichelt und vom Regen, der sie sauber wäscht.“
Tessa hatte all das gesehen und gefühlt. Die Träume, die fremden Träume. Sie mussten von der Stadt gekommen sein.
Fledermaus nickte und sah sie neugierig an. „So hab ich es gehört. Du bist mit ihr verbunden. Wir glauben, es liegt an der Magie.” Er schüttelte den Kopf, als er sah, dass Tessa etwas fragen wollte. „Ich kann dir jetzt nicht mehr darüber sagen. Du wirst später mehr erfahren.” Sein Gesicht verdüsterte sich, was bei seinem ohnehin schon groteskem Aussehen furchterregend anzusehen war.
Ich sitze auf dem Dachboden und rede mit einem Wasserspeier aus Stein, der mir von Magie erzählt.
Wenn das alles wahr ist und ich nicht verrückt bin, dachte Tessa unruhig, was wird dann mit mir passieren?
„Es gibt zwei Seiten der Träumenden Stadt”, fuhr Fledermaus fort, „und die eine ist dunkel und gefährlich. Die beiden Hälften führen gegeneinander Krieg. Es ist wie eine Krankheit. Der Krieg hat schon vor einer Weile begonnen, in den Träumen, aber inzwischen ist er offen ausgebrochen im Reich der Träumenden Stadt, in der Nacht, über den Dächern, dort, woher ich komme. Wegen dieses Krieges bin ich hier.”
„Bei mir?”, fragte Tessa ungläubig. „Wieso bei mir?”
„Es herrscht ein richtiger Krieg”, sagte Fledermaus ausweichend. „Es ist wichtig, dass du das verstehst.”
Tessa nickte.
Ein Krieg.
Alle Vorstellungen, die sie damit verband, machten ihr Angst.
„Auf welcher Seite stehst du?”
Fledermaus lächelte. „Ich stehe auf der Seite, die den Menschen dient. So, wie die Wächter es immer getan haben.” Er wurde wieder ernst. „Aber die dunkle Hälfte ist grausam und denkt nur an sich. Sie dient nicht, sie verlangt nach Dienern.”
„Hat sie denn welche?”
„Die dunkle Hälfte der Träumenden Stadt hat ihre eigenen Kreaturen, die ihr dienen, aber sie hat auch schon ein Netz von Agenten unter den Menschen.”
„Wirklich?”, fragte Tessa entsetzt. „Bin ... bin ich einer davon?”
„Du meinst wegen deiner Träume?” Fledermaus schüttelte den Kopf. „Nein. Die Wächter glauben nicht, dass du zur dunklen Hälfte gehörst.” Er sah Tessa versonnen an. „Obwohl wir das nicht mit Sicherheit sagen können.”
„Warum bist du dann zu mir gekommen?”, fragte Tessa unbehaglich. Sie hatte keine Vorstellung, was es mit dieser dunklen Hälfte auf sich hatte, aber sie dachte an ihre Träume, die oft dunkel genug waren.
„Du bist in Gefahr”, sagte Fledermaus. „Die Träumende Stadt ist auf dich aufmerksam geworden, und nun sucht sie nach dir.”
Tessa erschrak. „Wieso? Was will sie von mir?”
„Du empfängst ihre Träume, obwohl sie das nicht will.”
„Wie kommt das?”
„Das wissen wir nicht. Es ist seltsam. Wie ich schon sagte, wir glauben, es liegt an der Magie.”
„Ich empfange die Träume der Stadt seit ich selber nicht mehr träume”, sagte Tessa nachdenklich.
„Wirklich?” Fledermaus sah sie erstaunt an. „Warum hast du damit aufgehört?”
Tessa zuckte die Achseln. Sie hatte keine Lust, darüber zu reden.
Fledermaus nickte. „Nun, jedenfalls hat die dunkle Hälfte Angst, du könntest versuchen, sie über ihre eigenen Träume zu
kontrollieren.”
„Was?” Tessa war verblüfft. „Wie sollte ich das machen können?”
Fledermaus schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber die Träumende Stadt hält es für möglich. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Wir erhoffen uns von dir, dass du uns hilfst.”
„Aber woher weiß die Träumende Stadt auf einmal von mir?”
Fledermaus sah sie merkwürdig an. „Sie sucht schon lange nach dir”, sagte er ausweichend. „Sie hat gespürt, dass jemand ihre Träume empfängt, aber sie weiß nicht, wieso. Nun, da sie von dir erfahren hat, gibt es einen Wettlauf zwischen den beiden Hälften. Man hat mich losgeschickt, um dich in Sicherheit zu bringen, aber ich fürchte, wir haben nicht viel Zeit ...”
„Was würde die dunkle Hälfte der Stadt tun, wenn sie mich in ihre ... na ja... Finger bekäme?”
„Etwas, das dem Tod gleich käme. Sie fürchtet dich. Das, was du tun könntest.”
Tessa schwieg betroffen. Das Knäuel in ihr drin hatte plötzlich Stacheln. Wo versteckt man sich in einer Stadt, wenn die Stadt selbst nach einem sucht?
„Was soll ich tun?”, fragte sie kläglich.
„Du musst mit mir kommen”, sagte Fledermaus eindringlich. „Zu den Wächtern. Wir kämpfen gegen die Geschöpfe der dunklen Hälfte.”
„Weggehen? Mit dir? Wohin denn?”
„Die Wächter werden dich beschützen. Wir dienen der Stadt im Sinne der Menschen, die uns erschaffen haben. Bei uns bist du sicher. Wenn du hierbleibst, bist du verloren.”
„Aber ich kann doch nicht einfach weggehen!”, rief Tessa. „Mein Vater ... Vielleicht ist er inzwischen zurück ...”
„Nein”, sagte Fledermaus traurig. „Er kommt nicht zurück.”
Tessa starrte ihn an. „Was meinst du damit? Natürlich kommt er zurück! Er ...” Sie brach ab. Vielleicht liebte ihr Vater sie nicht. Nicht wirklich. Aber er würde sie nicht verlassen. Sonst wäre er doch schon längst gegangen.
„Dein Vater”, sagte Fledermaus, „ist ein Agent der dunklen Hälfte der Träumenden Stadt.”
„Das ist nicht wahr”, flüsterte Tessa. Aber die Stacheln der Angst regten sich wieder, klammerten sich um ihr Herz, und es tat weh.
„Es tut mir leid”, sagte Fledermaus. „Aber es ist wahr. Durch ihn weiß die Stadt nun wer du bist. Er hat dich verraten. In dieser Nacht.”
Tessa begann zu weinen. „Das kann nicht stimmen”, stieß sie hervor. „Das ist alles nur ein böser Traum. Der Böseste von allen. Es ist nicht wahr! Es gibt dich nicht. Ich werde aufwachen und Kopfschmerzen haben, aber alles wird sein wie immer. Es ist nur ein Traum!”
Sie kauerte sich zusammen und versuchte, sich die ganze Schrecklichkeit des Traums bewusst zu machen, damit es so schlimm wurde, dass sie aufwachen konnte. Man wachte immer auf, wenn es zu schlimm wurde. Wenn man es nicht mehr aushielt. Man schreckte auf und schrie, und das Herz klopfte einem, als wollte es zerspringen. Aber dann merkte man, dass man nur geträumt hatte. Die Angst verschwand dann nicht, aber sie blieb an einem verwehten Ort zurück, den man nach und nach vergaß.
„Ich weiß, das alles ist schrecklich für dich”, sagte Fledermaus, und Tessa merkte verzweifelt, dass er immer noch da war.
Es war kein Traum.
Oder sie konnte nicht aufwachen. Vielleicht nie mehr. Und das war genauso, als wäre es kein Traum.
„Ich will nicht mit dir gehen”, sagte Tessa. „Ich kann nicht. Ich hab Angst.”
„Du hast keine Wahl”, sagte Fledermaus. „Nicht, wenn du überleben willst.”
„Wohin ist mein Vater gegangen?” Tessa hatte Mühe, diese Frage herauszubringen. Sie zweifelte nicht mehr an seinem Verrat. Sie hielt ihn für möglich, und das war das Schlimmste. Fast kam es ihr vor, als hätte sie dreizehn Jahre und einen Tag lang auf diesen Verrat gewartet. Als hätte sie immer gewusst, dass es so kommen musste.
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