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BEAT KAPPELER

STAATS-
GEHEIMNISSE

WAS WIR ÜBER UNSEREN STAAT WIRKLICH WISSEN SOLLTEN

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

INHALT

Titelei

Vorwort

Kapitel 1 – Die Regierung in der Höhle – mit Notizblöcken versehen

Kapitel 2 – Das Volk auf der Couch Sigmund Freuds

Kapitel 3 – Im Durcheinandertal

Kapitel 4 – Wer zieht die Sprachgrenzen?

Kapitel 5 – Die souveränen Gemeinden

Kapitel 6 – Das offene Land

Kapitel 7 – Das betonierte Land

Kapitel 8 – Macht ist lokal – das Geheimnis Alt-Europas

Kapitel 9 – Die Eidgenossenschaft – kein Bauernbund, ein Städtebund

Kapitel 10 – Steuern mit offenem Handmehr abgelehnt

Kapitel 11 – Vor aller Augen: Zentralstaaten scheitern öfter

Kapitel 12 – Die Volksrechte schalten die Verbände ein

Kapitel 13 – Das Panaschieren schaltet die Parteien aus

Kapitel 14 – Die Kassen der Parteien – ein lässliches Geheimnis

Kapitel 15 – Berufsparlamentarier als Milizionäre verkleidet

Kapitel 16 – Volk und Faust

Kapitel 17 – Verordnungen regieren, also die Verwaltung, ihre Mandarine, ihre Geheimräte

Kapitel 18 – Das Parlament hat keinen Plan A, keinen Plan B

Kapitel 19 – Verfassungsbruch – jederzeit und leichten Herzens

Kapitel 20 – In der EU wären die Bundesräte, nicht die Volksrechte das Problem

Kapitel 21 – Ganz geheim – es gibt keinen Sonderfall, keinen Alleingang der Schweiz

Kapitel 22 – Der geheime Spin der Europa-Turbos

Kapitel 23 – Die Intellektuellen – ein Geheimbund?

Kapitel 24 – Radio, Fernsehen unterdrücken Geheimnisse

Kapitel 25 – Geheimnis, Datenschutz oder Transparenz?

Kapitel 26 – Lasst neue Geheimnisse blühen

Kapitel 27 – Immer schon: geheim oder offen?

Kapitel 28 – Vom Ärgernis zum Geheimnis: Frauenrechte

Kapitel 29 – Auch die Proporzwahl fällt unter die Mythen

Kapitel 30 – Geheimer Tausch «Wiedervereinigung gegen Euro»?

Kapitel 31 – Das Reduit General Guisans – und andere Mythen

Kapitel 32 – Der Mythos «starke Armee» – im Selbstversuch

Kapitel 33 – Die grösste Hungerkrise und das beste Vorratssystem

Kapitel 34 – Finanzausgleich – fast alle Kantone sind armengenössig

Kapitel 35 – Die Hälfte der Haushalte abhängig

Kapitel 36 – Vermögenslose Arme sind allen wurscht

Kapitel 37 – Sozialhilfe – die fremdbestimmte Gemeinde

Kapitel 38 – Direktzahlungen an die Bauern sind die geheimste und teuerste Sozialpolitik

Kapitel 39 – Die verborgene Demagogie der Verfassungsversprechen

Kapitel 40 – Mortalität, Morbidität – das Geheimnis der Buchhalter

Kapitel 41 – Klubs, nicht so geheim, aber meist übersehen

Kapitel 42 – Alle packen an, aber auch das sieht wieder niemand

Kapitel 43 – Arbeitsfriede und seine kleinen Klauseln

Kapitel 44 – Das heimliche Imperium

Kapitel 45 – Banknoten durch Privatbanken – Geheimsache

Kapitel 46 – Nicht weitersagen – die Nationalbank stochert im Nebel

Kapitel 47 – Geheime Pläne für offenen Strassenraub

Kapitel 48 – Die geheimen Totengräber des Finanzplatzes

Kapitel 49 – Nicht nur das Politsystem, auch das Politverhalten ist wichtig

Kapitel 50 – Streng geheim – Schiedsgerichte?

Kapitel 51 – Das Geheimnis um die groben Fehler: Politiker

Kapitel 52 – Kritik an den Boni – ein Geheimnis für die Bosse

Kapitel 53 – Die hartnäckigsten Geheimnisse

Schlussbemerkung

Anmerkungen

Der Autor

Vorwort

«Im Schweizerischen Vaterland, wo viele Herren sind, aber kein Meister, geht es zu, wie es sich unter solchen Umständen erwarten lässt.»

Appenzeller Zeitung, 1. Nummer, 5. Heumonat 1828

Aber wie genau geht es zu? Der grosse Weise aus Asien, Laotse, steht uns zur Seite, wenn wir hier ein paar Dutzend Staatsgeheimnisse aufdecken, und zwar ohne einzubrechen, ohne Schlösser zu knacken, denn: «Was ist ein wahres Geheimnis? Etwas, das für jeden offen daliegt – der eine erkennt es, der andere jedoch nicht.» Das gilt auch für zahllose Einrichtungen, Verhaltensweisen unseres Staats, unseres Landes, unserer Bevölkerung. Jedes Land ist ein Sonderfall, geprägt durch Geschichte und Gewohnheiten. Wir nehmen oft gar nicht wahr, wie Staat und Gesellschaft funktionieren. Deshalb deckt dieses Buch viele Eigenheiten der Schweiz auf, einige ganz verborgene, andere offen daliegende, die aber selten jemand genauer ansieht. Laotse hat seine kluge Bemerkung auch für die Schweiz gemacht – denn sie ist ein Land wie alle anderen in dieser Hinsicht: geheim und wie ein offenes, aber ungelesenes Buch.

Aber da die Leser vielleicht auch kernige Sachen erwarten, beginnen wir mit einem handfesten Staatsgeheimnis.

Noch zwei Hinweise zur Handhabung des Buches: Die Ziffern in Klammern im Lauftext verweisen auf andere Kapitel, und die Anmerkungen am Schluss bieten einige bunte Luftballone und Nadelstiche.

1Die Regierung in der Höhle – mit Notizblöcken versehen

Der Schweizer Bundesrat liess sich vor gut zwei Jahrzehnten einen Bunker tief im Gebirge bauen, einen mehr. Dass er in der Nähe von Kandersteg im Berner Oberland liegt, hat sich zwar herumgesprochen. Der damalige Kriegsminister Adolf Ogi kam von dort und sah die Standortwahl wohlwollend. Aber wie der felsige Zufluchtsort der Regierung innen aussieht, wissen wenige. Hohe Militärpersonen sprachen laut darüber in der ersten Klasse der SBB, dem idealen Ort für indiskrete Ohren im Nebenabteil:

Man fährt mit einem Schmalspurbähnchen sehr lange, sehr weit in des Berges Tiefe hinein, zehn Minuten lang. Dann öffnet sich eine riesige, aus dem Felsen gesprengte Kaverne. In diese Kaverne wurde ein mehrstöckiges grosses Haus hineingebaut, auf Rolllagern ruhend. Es beherbergt Wohngelegenheiten für die Regierung, für ausgewählte Parlamentarier sowie Verwaltungsbüros für die Chefbeamten aller sieben Departemente der Regierung. Das Bundeshaus wurde sozusagen nachgebaut. Darüber wölbt sich der Fels wie ein steinerner Himmel.

Auch ein Sitzungszimmer des Bundesrats findet sich darin, und auf den Pulten der Sieben und des Kanzlers liegen saubere, leere Notizblöcke, der Schreibstift gleich daneben. Von hier aus gedenkt der Bundesrat allenfalls ein Land zu lenken, das draussen vielleicht schon in Schutt und Asche liegt, jedenfalls vom bösen Feind besetzt ist. Da wird er Weisungen erlassen, Manifeste formulieren, Appelle richten, Hilferufe an Amerika wohl auch, und am Schluss die Kapitulationserklärung aussenden.

Enorme logistische und gedankliche Vorarbeit wurde für diesen felsigen Rückzug aufgewandt, sehr viel Zement und Geld natürlich. Wasser ist vorhanden, Treibstoff, Notstromaggregate, Nahrungsvorräte – und eben Notizblöcke. Der intellektuelle Aufwand stockte hingegen bei der Formulierung des Hauptzwecks, was das Ganze denn soll. Wie regiert man ein kaputtes Land, wie übt man Verhandlungsmacht aus dem letzten Loch aus, in dem nur noch die Regierung sitzt? Diese von der Spieltheorie wie vom gesunden Menschenverstand nahegelegten weiteren Schritte wurden nicht überdacht, und das ist das wahre Geheimnis an der Kaverne.

Daher schreiten wir zu den eher positiven Geheimnissen, die zwar offener als jede Felshöhle daliegen, die wir aber selten kennen, die wenige bemerken, die aber wesentlicher als eine unterdessen verstaubte Befehlszentrale sind.

2Das Volk auf der Couch Sigmund Freuds

Der Zusammenhalt der Schweiz? Es ist nicht die Liebe zueinander, zur anderen Sprache, zum anderen Landesteil, zum anderen Kanton. Schweizerinnen, Schweizer, legt euch auf die Couch, denn Doktor Sigmund Freud hat es 1930 schon diagnostiziert: Es ist der kleine Unterschied der Deutschschweizer zu den Deutschen, der Romands zu den Franzosen, der Tessiner zu den Italienern, der uns allen bewusst macht, wir sind nicht ganz so wie diese. Deshalb wollen wir uns nicht deren Staaten anschliessen, deshalb werfen wir uns einander lieber selbst an den Hals. Die drei Landesteile haben eigentlich gar keine Wahl, als zusammenzustehen.

Schöner als Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur kann man es kaum sagen: «Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, dass er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Aussenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine grössere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äusserung übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, dass gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen ‹Narzissmus der kleinen Differenzen›, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird.»1

Diese Haltung gegenüber den leicht anderen europäischen Nachbarn schwankt, sie kann auch in Stolz umschlagen. Die Schweiz als Föderation solcher Sprach- und Kulturgruppen ist doch auch gleich ein Abbild ganz Europas.

Wird ein Deutschschweizer, ein Romand, ein Ticinese hingegen im anderen Kulturraum wahrgenommen, setzt er sich ganz gerne ab und sagt, ich bin Schweizerin, Schweizer.

Die Deutschschweizer üben diesen Kampf um die «kleine Differenz» gegenüber den nördlichen Nachbarn offenbar schon lange. Denn Julius Cäsar hat zu Beginn seines Buchs über seinen Gallischen Krieg geschrieben: «Die Helvetier übertreffen die übrigen Gallier an Tapferkeit, weil sie in fast täglichen Gefechten mit den Germanen kämpfen.» Man stärkt sich, wo und wie man kann.

Der Ausdruck «die Schwaben» für alle Deutschen war übrigens nicht herablassend gemeint, sondern man nahm wie in ganz Europa nach der Völkerwanderung den Namen des jeweils nächstgelegenen Stamms für das ganze Volk dahinter. So nennen die Franzosen die Deutschen «les Allemands», weil die Alemannen ihnen am nächsten waren (und die sie in Strassburg 506 kräftig zurechtstutzten), so heissen die Bewohner Galliens für Deutsche eben Franzosen nach den Franken, so die Westschweizer und früher alle Lateiner «die Welschen» vom Stamm der Volscae. Die Italiener aber, höflich wie immer, nennen die Deutschen nach deren eigener Bezeichnung in Althochdeutsch («duitisc»), «i tedeschi».

Den seelischen Aufwand zur Selbstfindung müssen wir also gegenüber den Nächstgelegenen treiben, jedoch nie gegenüber einem Finnen, Koreaner oder Amerikaner. Dass wir von diesen verschieden sind, ist klar, braucht keine Begründung. Die grössere Differenz macht es leicht, von gleich zu gleich, ohne Selbstzweifel mit diesen Menschen zu verkehren.

Diese Freud’sche Analyse gilt sicher für die hier Geborenen, die hier zur Schule gegangen sind. Wie das Viertel der zugezogenen Einwohner denkt, kann Freud leider nicht mehr untersuchen. Aber wagen wir aus verschiedenen Beobachtungen die These, dass diese Zuzüger nach einer für sie seelisch aufwendigen, neuen Selbstdefinition als Einwohner dieses Landes oft sogar in der Identifikation überschiessen.

Nach einer Fernsehdiskussion in Genf wurde es zu spät für den letzten Zug, sodass Hans Fehr, der Gründer der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz, Auns, und ich ein Taxi zurück nach Bern nahmen – gesteuert von einem Schwarzen. Er fragte, wer wir seien, und maliziös gab ich Fehrs oft umstrittene Tätigkeit preis sowie das Thema am Fernsehen – die Öffnung für Osteuropäer. Da fing der Wagen an zu schlingern, mit 130 Kilometer auf der Autobahn, weil der Chauffeur sich enervierte und umdrehte: «Exactement, lasst ja die Polen nicht herein, die wollen hier billig arbeiten, senden dann alles Geld nach Hause, und wir haben nichts davon. Moi, j’ai une femme suisse, je suis d’ici.»

Also, wir halten zusammen, nicht aus Liebe zueinander, sondern aus Abscheu vor den anderen. Das ist unser Geheimnis.

3Im Durcheinandertal

Ganz so kunterbunt wie in Friedrich Dürrenmatts Roman dieses Titels geht es hierzulande nicht zu, aber ein weiterer, meist verkannter Grund des Zusammenhalts hat damit zu tun. Manche Staaten mit gemischten Teilen, von Belgien über Spanien, die Ukraine bis nach Arabien und Afrika, leiden unter den Streitereien ihrer Teilgebiete. Katalonien spricht anders als andere Spanier, ist aber gleichzeitig auch reicher, peripherer. Oder in Belgien sprechen die Flamen anders als die Wallonen, sind aber gleichzeitig reicher. Wallonien ist ärmer und wählt sozialistisch.

Die Kantone der Schweiz unterscheiden sich ebenfalls stark, in sogar vielen Beziehungen: Armut  Reichtum, Katholiken  Protestanten, Stadt  Land, französisch  deutsch, Berg  Tal, Rand  Zentrum. Doch siehe da – diese Merkmale liegen nicht immer schön abgegrenzt entweder alle im lateinischen oder deutsch sprechenden Teil des Landes. Denn alles ist durcheinander, in beiden Teilen kommen Protestanten und Katholiken vor, ihre Kantone sind sowohl den Reichen wie den Armen zuzurechnen, es gibt auf beiden Seiten Städte, Weltstädte, Landgebiete oder Berggebiete und ein breites Mittelland mit grossen Seen, und alle Teile stossen an die Landesgrenzen, haben aber auch innere Kerngebiete. Sah man früher die Westschweiz generell eher als linksorientiert an, so finden sich jedenfalls heute alle Parteineigungen in allen Landesregionen quer durch aufgemischt. Universitäten liegen – in kantonaler Zuständigkeit übrigens – in allen Sprachgebieten, aber die unter den zehn weltbesten Hochschulen rangierende ETH des Bundes hat zwei Standorte, nämlich in Zürich und in Lausanne.

Deshalb finden sich in den meisten Entscheiden, Abstimmungen im Volk wie im Bundesparlament die allenfalls widerstreitenden Lager in beiden Teilen der grossen Sprachgebiete, sogar die Kantone in sich sind oft entzweit. Fragen der Landwirtschaft, der Bundesbahnen wie der kleinen Bergbahnen, der Autobahnen, der Energiesteuern, der Steuern überhaupt und vieles mehr bringen die Sprachgebiete nicht geschlossen gegeneinander auf. Auch der Finanzausgleich zwischen den steuerkräftigen und -schwachen Kantonen zählt Nettozahler und Nettoempfänger im französisch wie im deutsch sprechenden Teil.2

Vor 20 Jahren hingegen kam die Angst vor einem Graben entlang der Saane auf, zwischen den grossen beiden Landesteilen, auch Röstigraben genannt. Denn in der Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 war die Romandie dafür, die deutsche Schweiz mehrheitlich dagegen, und sie überstimmte die anderen im Gesamtergebnis. Doch seither sind mehrere europabezogene Abstimmungen ins Land gezogen, und die Mehrheiten, die Minderheiten folgten nicht dieser Sprachgrenze – etwa beim Nein von Volk und Kantonen zu neuen Beitrittsverhandlungen mit der EU oder bei der mehrmaligen Zustimmung zu bilateralen Verträgen mit der EU.

Diesem beruhigenden Geheimnis der nicht kongruenten, daher stabilisierenden Unterschiede innerhalb der Landesteile selbst fügt sich ein kleines, schmutziges Geheimnis an: Meist löst Bundesbern allfällige Widerstände im einen oder anderen Landesteil einfach durch kumulierte Grosszügigkeiten überall. Wie in einer Ehe kann genügend Geld viele Wünsche ohne Ärger lösen helfen (34).

4Wer zieht die Sprachgrenzen?

Belgien, die Ukraine, andere Länder mit mehreren Sprachen, mit Sprachgebieten als Minderheit im Ganzen, streiten sich über die Sprachgrenzen. Nur schon welche Brüsseler Agglomerationsgemeinde als französisch oder flämisch gelten soll, lässt Regierungen erzittern oder fallen. Und welches Bundesgesetz regelt in der Schweiz die Sprachgrenzen? Keines, was kaum jemand weiss. Die drei zweisprachigen Kantone mit französisch- und deutschsprachigen Einwohnern (Bern, Wallis, Freiburg) und Graubünden mit drei Sprachen kennen komplexe Regeln, welche Sprachen in Gerichten, in den einzelnen Bezirken gepflegt werden, welche kantonalen Erlasse und Gerichte zweisprachig sind.

Anarchie? In der Praxis legen die einzelnen Gemeinden fest, ob sie französisch, deutsch, italienisch oder rätoromanisch sprechen oder wieweit sie zweisprachig sind. Oft werden für die Minderheiten die Unterlagen dennoch in deren Sprache gedruckt oder sind durch den zweisprachigen Kanton verfügbar. Kleinere Gemeinden allerdings können dies nicht, sogar das grössere Sierre/Siders im Wallis entschuldigt sich auf der Webseite, weil sonst über 1000 Seiten laufend übersetzt und angepasst werden müssten. Grundsätzlich hat ein Einwohner des Landes das Recht, sich in einer der Amtssprachen auszudrücken, je nachdem in Verwaltung, Gericht, in den Parlamenten, bei Universitätsexamen.

Wegen der dezentralen Entscheide aber wanderte die Sprachgrenze überall im Land im Lauf der Jahrhunderte. Rückte vor vielen Jahrzehnten das Deutsche gegen Westen vor, verbreitete es sich auch im Bündnerland recht rasch zulasten des Romanischen, so wandert die Sprachgrenze seit gut 50 Jahren zurück, und mehr Randgemeinden wählen das Französische. Desgleichen entdecken viele Bündner Gemeinden wieder ihre romanischen Wurzeln, pflegen sie in den Schulen und Ämtern und gehen zum Rätoromanischen über. Das geschieht meist pragmatisch. Und eben, die zur Minderheit gewordenen Einwohner werden auch bedient.

Kein Geheimnis ist es allerdings, dass viele Einwohner aus den verschiedenen Sprachgebieten auf Englisch umstellen, wenn sie miteinander Sitzungen abhalten oder in der Freizeit zusammen sind. Während die Politiker darum ringen, ob eine zweite Landessprache in der Schule zu lernen ist, wie lange, ab welchem Altersjahr, dispensieren sich die Einwohner ganz automatisch, auch ohne zentrale Befehle. In Frankreich will «la loi Toubon» den Gebrauch des Französischen in Öffentlichkeit, Ämtern, ja sogar Werbung vorschreiben. In der Schweiz wissen die Deutschschweizer, dass das Französische ein lokaler Dialekt geworden ist, seit das Englische die Welt dominiert, und die Westschweizer geben gerne zu, dass die in den Schulen ihnen auferlegte Pflicht zum Deutschlernen lästig ist, weil die Sprache schwierig ist und weil sie in der Welt draussen auch eher das Englische brauchen.

Das Unverstandene, das Geheimnis liegt eher darin, dass die Politiker so tun, als ob das nicht so wäre, und dass sie aus der Lernpsychologie genau zu wissen glauben, wann ein Schüler wie viele Sprachen lernen soll.

Schwierigkeiten tauchen im Alltag natürlich schon auf. Mit deutschen Argumenten im Bundesparlament oder in der Bundesverwaltung eher gehört zu werden, ärgert manche Romands, und im Kanton Freiburg, der mehr und mehr zum Französischen neigt, haben die Deutschsprachigen dieses Gefühl.

Zum Trost hilft sicher die Einsicht, dass die Schweiz viersprachig ist, dass die Schweizer es aber nicht sind.

5Die souveränen Gemeinden

Fast ein Geheimnis ist es für viele Einwohner und für die meisten Ausländer, dass die Gemeinde in der Schweiz noch vier weitere grosse Zuständigkeiten hat – für das nationale Bürgerrecht, die Sozialhilfe, die Bauzonen und die Besteuerung der Einwohner.

Vorerst zum Bürgerrecht jener, die es nicht in der Familie erben. Das Schweizer Bürgerrecht setzt eine Person in die Rechte und Pflichten der Nation ein, wird aber von der Gemeinde verliehen. Ausser wenn jemand das Bürgerrecht erbt oder durch Adoption erhält, müssen die Bewerber in die Prozedur einsteigen, die bei einer Kommission des Gemeinderats oder bei der Gemeindeversammlung, wo üblich, endet. Das Bundesamt für Migration prüft zwar die Voraussetzungen wie Leumund, bisherige Aufenthaltsdauer und gibt dann grünes Licht. Der Bundesrat schlägt (Sommer 2015) vor, Sprachkenntnisse, Schulbesuch vorauszusetzen und, man staune zustimmend, Bewerber abzuwehren, die drei Jahre zuvor Sozialhilfe bezogen. Die Kantone setzen vielleicht weitere, unterschiedliche Bedingungen fest, aber letztlich entscheidet die Gemeinde.

Nur bei der «erleichterten Einbürgerung» übt die Bundesbehörde die Kompetenz aus, um eigentlich auch nur eine «erweiterte Vererbung» des Bürgerrechts festzustellen – wenn drei, zwei Generationen in der Schweiz lebten oder einzelne Vorfahren Schweizer waren beispielsweise. Das Verfahren liegt im Moment beim Parlament. Auch dann wird aber die Gemeinde über die Integration und das allgemeine Verhalten der Kandidaten befragt.

Der Vorteil der Gemeindekompetenzen liegt darin, dass die Gemeindebehörden und die übrigen Einwohner besser als eine Bundesbehörde beurteilen können, ob sich die Bewerber um die lokalen Belange kümmern, diese kennen. Ausnahmsweise haben Gemeinden auch schon spitzfindig argumentiert. Ein Zahnarzt wollte sich einbürgern lassen, spendete aber vorher bei einer Sammlung der lokalen Musikgesellschaft keine Uniform, wie das von vermögenden Bürgern eigentlich erwartet wird, und er erlitt eine Abfuhr. Oder in der Gemeinde Einsiedeln wusste ein seit Langem zugezogener und hervorragender Professor der ETH die einzelnen Bezirke des Kantons nicht aufzuzählen und wurde abgewiesen. Dagegen können die Bewerber rekurrieren, und die Sache wird ein zweites Mal der Gemeindebehörde zugewiesen.

Die Gemeindesouveränität löste auch die Sezession des Jura vom Kanton Bern, die international als Muster gilt. Nach einer Grundsatzabstimmung, ob ein neuer Kanton durch die jurassische Bevölkerung gewünscht sei, wählten die Distrikte (die so gross waren wie anderswo Gemeinden) ihre Zugehörigkeit und skizzierten den groben Umriss des neuen Kantons. Dann aber stimmten die Grenzgemeinden ab, wo sie verbleiben wollten, und erst so fand der Kanton seine Kontur.

Die Managementlehre, heute das Mass aller Dinge, streicht hervor, dass man «von vorne führen» müsse. Im Aufbau und in der Praxis des Staats erfüllt die Gemeindesouveränität dieses Postulat bestens.

6Das offene Land