ISBN: 978-3-95428-627-0
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Wellhöfer Verlag
Ulrich Wellhöfer
Weinbergstraße 26
68259 Mannheim
Tel. 0621/7188167
www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Alle Rechte vorbehalten.
Der Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Ich widme dieses Buch
meiner geliebten Mutter Eleonora Jung, geb. Noé
und meinem lieben Onkel Hans,
die meinen schriftstellerischen Werdegang
stets begleitet haben,
das Erscheinen dieses Romans jedoch leider
nicht mehr miterleben durften.
Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen blickte das Mädchen zwischen den feinen Spalten des aus Weide grob geflochtenen Wäschewagens hindurch. Es hielt seine Hand vor den Mund gepresst, versuchte keinen Laut von sich zu geben. Sein Atem war flach und geräuschlos, aber in ihm tobte, hechelte es wie in der Brust eines gehetzten Tieres. Sein Herz pulsierte bis zum Hals. Es wagte nicht, sich zu rühren, keinen Millimeter, denn jede Bewegung, auch nur die kleinste, konnte die Räder des riesigen Wäschekorbs in Bewegung setzen oder ihn zum Knarren bringen. Dann würde man es entdecken und es wäre verloren.
Trotzdem zuckte es unmerklich in sich zusammen, als erneut eine Gewehrsalve zu hören war, dieses Mal in seiner unmittelbaren Nähe. Die Kugeln waren augenscheinlich ins Mauerwerk der Hauswand und in die Tür aus schwerem Eichenholz eingedrungen. Von draußen war das Jammern und Kreischen von Verzweifelten zu vernehmen, die augenscheinlich um ihr Leben liefen.
Und wieder erscholl dieses grausame todbringende Knattern, als wolle es nie mehr aufhören, immer und immer von Neuem. Abermals vernahm es die markerschütternden Schreie von Menschen in der Stunde ihres Todes. Dann herrschte eisige Stille.
Es fürchtete sich, fühlte sich von Gott und der Welt verlassen, begann fast lautlos vor sich hinzuweinen. Und doch nicht lautlos genug.
»Pscht!« Die Stimme war ihm vertraut.
Wieder blinzelte es zwischen den schmalen Spalten des Geflechts hindurch, zum gegenüberliegenden Bett, unter dem nun ein Gesicht hervorschaute, das zu ihm herüberblickte und in dessen liebevollem Lächeln so viel Zuversicht lag.
Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Zwei Männer stürmten in die Wäscherei, rannten den Tisch um, auf dem sich die bereits gemangelte und zur Abholung bereit liegende Wäsche befand und rissen die Leinen herunter. Dann schleuderte einer das schwere Bügeleisen gegen das Fenster, dessen Scheiben klirrend in sich zusammenfielen.
Das Mädchen konnte die Beine der Männer erkennen und die Gewehrläufe, die nach unten gerichtet waren. Für ein paar Sekunden standen sie regungslos mitten im Raum – misstrauisch – lauernd. Plötzlich bewegte sich der eine. Er kam auf das Mädchen zu. Näher und näher. Unmittelbar vor dem Wagen mit der dreckigen Wäsche blieb er stehen. Es wagte kaum noch zu atmen, spürte wie seine Beine feucht wurden und es seine Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren konnte. Es presste seine Körperöffnungen zusammen. Was, wenn der Urin unter dem Wäschewagen herauslaufen würde? Aber vielleicht war es eh egal und es war sowieso verloren. Denn wenn der Mann jetzt die Bettbezüge und Laken über ihr zur Seite schöbe, würde er es unweigerlich entdecken. Schon spürte es die Schwere seiner Hand, die über ihm in den Korb griff.
Im selben Augenblick ertönte ein leichtes Poltern aus der Richtung des Bettes, so als wäre jemand mit seinem Schuh gegen die hölzernen Bodenplanken gestoßen. Unwillkürlich ließ der Mann die Wäsche los und wandte sich um. Er schritt hinüber zum Bett, griff forsch darunter. Er schien gefunden zu haben, was er gesucht hatte, denn er verfiel sogleich in ein triumphierendes Lachen, in das sein Kumpan miteinstimmte.
Während der Mann die schreiende, sich heftig wehrende Frau unter dem Bett hervorzerrte, glaubte das Mädchen in seinem Versteck ersticken zu müssen. Als die Frau nun da am Boden lag, blickte sie dem Mädchen ein letztes Mal ins Gesicht. Die Zuversicht war der Verzweiflung gewichen. Es wäre am liebsten herausgesprungen, um ihr zu Hilfe zu eilen, aber deren Augen geboten ihm, das Versteck auf gar keinen Fall zu verlassen. Dann zog der Mann die Frau hoch und schleuderte sie auf die Matratze.
Was nun folgte, würde dem Mädchen nur noch bruchstückhaft in Erinnerung bleiben. Zwei lachende, grölende Kerle, in bis zu den Kniekehlen heruntergelassenen Hosen, die sich abwechselnd auf den Körper der Frau auf dem Bett warfen, um sie wie ein Tier zu nehmen, wie ein seelenloses Stück Fleisch.
Am Anfang hatte sie sich noch gewehrt, sich gewunden wie ein Aal, gespuckt, gekratzt, getreten, gebissen. Doch sie hatte keine Sekunde auch nur die geringste Chance gegen die beiden gehabt. Im Gegenteil, ihr Widerstand schien sie noch mehr zu reizen und ihre Brutalität anzustacheln. Irgendwann war sie verstummt.
Zusammengekauert in seinem Versteck hatte das Mädchen jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren. Schließlich hatten die Kerle von der Frau abgelassen. Triumphierend hatten sie ihre Hosen hochgezogen, ihre Gürtel zugeschnallt und die Knöpfe ihrer Jacken geschlossen. Gerade als sie das Haus verlassen wollten, hatte die Frau sich noch einmal aufgebäumt und ihnen mit letzter Kraft etwas hinterhergeschrien, worauf der hintere sich reflexartig umgewandt, seine Pistole gezogen und abgedrückt hatte. Zielsicher und kaltblütig schoss er ihr in den Kopf.
Sie sackte in sich zusammen, ihr Körper rutschte von der Matratze und fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. Ihr Kopf schlug unmittelbar neben dem Wäschewagen auf die harte Erde. Der Aufprall war nur noch vom heftigen Zuschlagen der Tür übertönt worden.
Lange Zeit hatte das Mädchen nicht gewagt, sich zu rühren und hatte wie versteinert in seinem Versteck gekauert. Dann jedoch ergriff es plötzlich eine unbeschreibliche Panik. Es wollte nicht länger in seinem Versteck bleiben, das ihm nun wie eine tödliche Falle erschien. Es musste hier raus. Angestrengt lauschte es in die Stille. Nichts war zu hören. Absolut nichts. Die Männer schienen tatsächlich weg zu sein.
Vorsichtig erhob es sich und drückte die schmutzige Wäsche nach oben, worauf diese hinunter zu Boden fiel. Da es nicht sehr groß war, kostete es das Mädchen einige Mühe, aus dem hohen Wäschewagen herauszusteigen.
Langsam ließ es sich an der Außenseite hinuntergleiten. Es spürte, wie seine Füße am Boden kleben blieben. Als es an sich hinunterschaute, erstarrte es vor Abscheu und Entsetzen. Dunkelrotes Blut quoll zwischen seinen Zehen hindurch, denn es stand mitten in einer riesigen Blutlache. Es war das Blut der Frau, die mit zerschossenem Gesicht und geschundenem Körper neben dem Wäschewagen lag.
Das Mädchen sank zu Boden, beugte sich über den Körper der Frau und schüttelte sie. »Du darfst mich nicht allein lassen, hörst du!«, schrie es die Tote an, während es laut schluchzend über ihr zusammenbrach. Dann legte es sich neben sie auf die Erde. Minutenlang? Stundenlang? Es streichelte ihren Körper, ihre Arme, ihr Gesicht oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war. Die Frau hatte ihm das Leben gerettet, indem sie die Männer abgelenkt hatte. Tränen strömten ihm über die Wangen, während es die Hände der Frau küsste. Dabei blieb es plötzlich mit der Lippe an etwas Metallenem hängen. Es richtete sich auf und schaute genauer hin. Was war das? Die linke Hand der Toten hatte anscheinend etwas umklammert.
Vorsichtig öffnete es ihre Finger, denen sogleich ein Amulett an einer goldenen Kette entglitt. Das Mädchen überlegte, es musste einem der Männer gehört haben. Es betrachtete das Amulett von allen Seiten und konnte erkennen, dass auf der Rückseite etwas eingraviert war. Etwas in einer seltsamen Schrift, die es nicht entziffern konnte. Vielleicht war es der Name von einem der Männer. Vielleicht sogar der Name des Mörders.
Als die Tränen des Mädchens versiegt waren, legte sich für den Bruchteil eines Augenblickes ein kleines, kaum erkennbares, bitteres Lächeln um seinen Mund, während es der Toten zuflüsterte: »Mama, ich verspreche dir, irgendwann werde ich die Männer finden, die dir das angetan haben, und dann werden sie dafür büßen. Ich werde sie aufspüren, und wenn ich sie auf dem ganzen Erdball suchen müsste.«
»Dzierwa! Jozefina Dzierwa!« Die zierliche Frau um die fünfzig mit den kurzen hellblonden Haaren lächelte ihre Platznachbarin freundlich an.
»Jadwiga Kaczmarek«, erwiderte diese mit sichtlich gestresstem Gesichtsausdruck, während sie sich gleichzeitig mit einem Papiertaschentuch den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Die Frau hatte sich kurz zuvor in den Sitz neben ihr fallen lassen, nachdem sie mehrere Taschen und Plastiktüten in den oberen Ablagen des Busses verstaut hatte.
»Das ist ja eine Hitze, nicht zum Aushalten, alles klebt!« Sie wischte sich eine lange braune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und eng ist es hier in dieser Kiste! Eine Frechheit, wenn man überlegt, was die für das Busticket verlangen.« Sie atmete schwer, während sie nach oben griff und an einem hellen Rädchen drehte. »Hoffentlich gibt es wenigstens eine anständige Lüftung. Das hält ja sonst kein Mensch aus in dieser Sauna«, sie schüttelte missmutig den Kopf.
»Na, ja, wenn man im August reist, muss man mit solchen Temperaturen auch bei uns rechnen. Aber mir macht das nicht soviel aus. Im Zweifelsfall ist mir die Wärme lieber als die Kälte«, entgegnete Jozefina Dzierwa.
»Ich konnte mir ja den Zeitpunkt leider nicht aussuchen, denn eigentlich wollte ich schon im Juni fahren. Aber da war bereits alles belegt. Ich hatte gedacht, ich muss nicht allzu lange vorher reservieren, weil sowieso fast jeder vor der Glotze sitzt und die Fußball-WM in Südafrika anschaut. Aber da habe ich mich getäuscht. Alles voll bis auf den letzten Platz. Es gab erst wieder Tickets ab August. Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt 23 Stunden in dieser Affenschaukel hocken soll!« Jadwiga wirkte entnervt.
»Dann fahren Sie wohl auch nach Süddeutschland?« Jozefina Dzierwa blickte die Frau neben sich zum ersten Mal etwas länger an. Sie schätzte, dass die andere etwa in ihrem Alter war, sie wirkte jedoch durch ihr erhebliches Übergewicht um einiges älter. Darüber hinaus schien sie nicht viel auf sich zu halten. Ihr ungepflegtes, strähniges Haar, ihre ausgebeulten Leggins und das verwaschene, ausgeleierte T-Shirt zeugten von wenig Sorgfalt im Umgang mit sich selbst. Ihre ganze Aufmachung verstärkte den Ausdruck ihres eh schon derb wirkenden Gesichts.
»Ja, ganz runter in den Süden muss ich, bis fast an die französische Grenze. Irgend so eine Stadt am Rhein. Friedrichshafen oder Wilhelmshaven …, ach, Quatsch, Ludwigshafen heißt sie ‒ glaub ich zumindest. Ich muss nachher nochmal in meine Unterlagen schauen. Das scheint eine unbeschreiblich hässliche Industriestadt zu sein. Da gibt es nix wie Fabriken und es soll stinken wie die Pest, hat man mir erzählt. – Und du, wo fährst du hin?«, fuhr Jadwiga Kaczmarek fort. »Ist doch okay, dass wir ›du‹ sagen, oder?«
Obwohl es Jozefina nicht recht war, sich mit der Frau zu duzen, die sie ja überhaupt nicht kannte und die ihr darüber hinaus auch nicht sonderlich sympathisch war, wollte Jozefina sie nicht vor den Kopf stoßen, schließlich würde sie die nächsten Stunden mit ihr auf engstem Raum verbringen müssen.
»Geht schon in Ordnung«, erwiderte sie darum zurückhaltend.
»Du kannst Iga zu mir sagen, so nennen mich alle daheim. Wo fährst du überhaupt hin? Sag bloß nicht, auch nach Ludwigshafen?«
»Nein. Ich reise nach Mannheim. Aber das ist ganz in der Nähe von Ludwigshafen, genau genommen, direkt auf der anderen Rheinseite. Das sind zwar verschiedene Bundesländer, aber eigentlich ist es wie eine einzige große Stadt«, erwiderte Jozefina.
»Du kennst dich da unten ja ganz gut aus. Warst du schon mal dort?« Jadwiga wunderte sich, dass Jozefina über so genaue Ortskenntnisse verfügte.
»Nein, aber mein Vater hat Anfang der 90er-Jahre, unmittelbar nach der Öffnung der Grenzen zum Westen, fast jedes Jahr seinen alten Freund dort besucht und dann erzählte er uns stets alles ganz ausgiebig. Jede Kleinigkeit!«, erklärte Jozefina lächelnd. »Aber das ist ja nun auch schon eine ganze Weile her«, fügte sie versonnen hinzu.
»Du scheinst trotzdem ein gutes Gedächtnis zu haben, wenn du das alles noch so genau weißt. Ja, und was willst du jetzt da unten?«, wollte Jadwiga wissen.
»Ich werde den Freund meines Vaters pflegen. Er ist alt und gebrechlich und hat sich das wohl so gewünscht, und da ich zurzeit sowieso keine Arbeit habe, ist das eine gute Möglichkeit, ein bisschen Geld zu verdienen«, erklärte Jozefina ihrer Busnachbarin.
»Hab ich mir schon gedacht, dass du auch jemanden pflegen willst.« Jadwiga lachte. »Wahrscheinlich sind wir nicht die Einzigen hier im Bus, die sich nach Deutschland karren lassen, um dort denen ihre Alten zu hüten.«
Jozefina blickte nach hinten zu den anderen Mitreisenden. Es waren tatsächlich fast ausschließlich Frauen mittleren Alters, die sich wohl alle aus ähnlichen Gründen in Richtung Westen aufgemacht hatten. Jadwiga schien mit ihrer Vermutung nicht ganz falsch zu liegen.
»Aber was soll’s«, fuhr Jadwiga fort, »die ›Szkopy‹ zahlen gut. Und Geld stinkt nicht. Bei denen verdienen wir in einem Monat mehr als zu Hause in einem halben Jahr, wenn wir in unserem geliebten Polen überhaupt eine freie Stelle finden.«
»Da hast du allerdings recht. Ich dachte immer, ich hätte einen guten Job. Ich war in der Buchhaltungsabteilung einer Textilfabrik beschäftigt. Aber dann haben die einfach dicht gemacht. Die lassen mittlerweile doch nur noch in Bangladesch oder anderen Billiglohnländern arbeiten. Und wir schauen in die Röhre. Und dann stand ich zusammen mit über vierhundert Kolleginnen von heute auf morgen auf der Straße.« Jozefina konnte nicht umhin, Iga in diesem Punkt beizupflichten. »Darum habe ich auch keinen Augenblick gezögert, als man mich bat, die Pflege zu übernehmen«, fuhr Jozefina fort. »Und abgesehen davon hat es ja auch etwas durchaus Bereicherndes, sich um einen alten Menschen zu kümmern.«
»Bereicherndes? Du hast vielleicht Nerven! Ich wüsste mit meiner Zeit durchaus etwas Besseres anzufangen, als so einen Alten rund um die Uhr zu versorgen. Wenn ich mir vorstelle, wie die alles vollspucken und am Ende auch noch inkontinent sind. Da bist du den ganzen lieben langen Tag nur am Schuften und nachts geht es dann grad so weiter. Also, ich mach das nur wegen des Geldes.«
»Du magst wohl keine alten Leute?«, hakte Jozefina nach.
»Ich mag vor allem keine Szkopy«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Die Tatsache, dass Jadwiga das Schimpfwort »Szkopy« für »Deutsche« gebrauchte, sprach Bände. »Meine Familie hat im Krieg wegen diesen Faschisten-Schweinen einiges mitgemacht. Aber wer hat das nicht in Polen? Ich konnte es mir halt leider nicht aussuchen, in welchem Land ich arbeite.«
»Kommst du aus Sczcezin?« Jozefina versuchte das Thema zu wechseln.
»Ja, ich bin da geboren, aber meine Eltern sind erst nach dem Krieg dorthin umgesiedelt worden. Die stammen ursprünglich aus Byalistok, das ist ganz im Osten. 1945 sind die dann nach Stettin, so hieß es ja früher wohl mal, und haben die ›Adolfkis‹ zum Teufel gejagt.« Jadwiga lachte und fügte nach einer Weile leicht sarkastisch hinzu: »Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mal für die schaffe. – Wo kommst du eigentlich her?«, fragte sie kurz darauf.
Jozefina erwiderte, dass auch sie in Szczecin geboren sei.
»Und deine Familie? Kommt die auch daher?«
Jozefina schüttelte den Kopf. »Nein, die Vorfahren meines Vaters kommen aus dem ehemaligen Galizien, genauer gesagt aus Lemberg, das liegt heute in der Ukraine«, erklärte sie.
»Ich weiß, wo das liegt. Aber es heißt Lwów auf Polnisch oder Lwiw auf Ukrainisch, das müsstest du doch eigentlich wissen. Warum benutzt du noch immer den alten deutschen Namen?« In Jadwigas Stimme lag ein Hauch von Misstrauen. »Stammst du etwa von Deutschen ab?«
»Nein, ich bin Polin wie meine verstorbene Mutter. Und mein Vater war auch kein Deutscher. Er war Galizier oder wenn dir das lieber ist, ›Ukrainer‹. Dass ich noch immer die deutschen Namen benutze, kommt wahrscheinlich durch ihn, weil er das bis zu seinem Tod vor sechs Jahren so getan hat. Mein Vater lebte immer irgendwie in der Vergangenheit. In Galizien gab es nun mal viele Deutsche. Er hat fast seine ganze Jugend mit ihnen verbracht und darum auch sehr gut Deutsch gesprochen. Das hat ihn einfach geprägt. Auch während des Krieges war er mit Deutschen zusammen. Da hat er auch seinen Freund Friedrich kennengelernt. Er meinte, er sei stets gut mit ihnen ausgekommen. Sie hätten ihm nie etwas in den Weg gelegt«, versuchte Jozefina ihr zu erklären.
»Ach, so einer war dein Vater, jetzt verstehe ich. Einer dieser verdammten Überläufer, die mit den Deutschen gemeinsame Sache gemacht haben. Davon gab es ja mehr als genug. Für mich waren und sind das Vaterlandsverräter, Gesinnungsschweine und sonst gar nichts!« Iga machte keinen Hehl aus ihren Gefühlen und zeigte deutlich ihre Verachtung und ihre Abneigung.
»Mein Vater hat niemanden verraten.« Jozefina war empört über die Art und Weise, wie Iga sie und ihre Familie angriff. »Das waren ganz schwere Zeiten damals und jeder hat versucht, irgendwie durchzukommen. Ich will ja gar nicht abstreiten, dass mein Vater vielleicht auch irgendwelche Fehler gemacht hat, aber das gibt dir noch lange kein Recht, ihn zu verurteilen und ihn schlecht zu machen. Außerdem ist er tot und Tote bewirft man nicht mit Dreck.«
Jozefina wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus. Sie war verletzt und hatte Tränen in den Augen.
Iga merkte, dass sie zu weit gegangen war. »Ist ja schon gut. Interessiert mich im Prinzip auch gar nicht, was dein Alter gemacht hat. Aber jetzt wird mir auch klar, warum du so gut Deutsch sprichst. Ich hab mich vorhin schon darüber gewundert, wie gut du dich mit dem deutschen Busfahrer unterhalten hast.« Iga schlug einen verbindlichen Ton an. Sie zählte zwar nicht zu den Menschen, die Auseinandersetzungen aus dem Wege gingen, aber in diesem Augenblick verspürte sie nur wenig Lust, mit ihrer Busnachbarin einen Streit vom Zaun zu brechen. Eigentlich wollte sie lieber ihre Ruhe haben.
Trotzdem war offensichtlich geworden, dass Iga ein heikles Thema angeschnitten hatte. Obwohl Jozefina ihren Vater verteidigte, war sie insgeheim nicht glücklich darüber, dass er im Krieg auf der Seite der Deutschen gekämpft hatte. Sie war deshalb auch ganz froh darüber, dass Iga nicht mehr nachhakte und das Thema auf sich beruhen ließ. Darum meinte sie in verbindlichem Ton: »Weißt du, mein Deutsch ist gar nicht so perfekt. Ich kenne zwar viele Wörter, aber von der Grammatik habe ich wenig Ahnung.«
»Na ja, im Vergleich zu meinen Deutschkenntnissen ist das schon ein gewaltiger Unterschied! Die Agentur hätte mich beinahe abgelehnt, sie meinten, ich hätte nicht genug Sprachkenntnisse. Die haben doch einen an der Waffel! Um eine verkalkte Oma zu pflegen, dafür reicht mein Deutsch doch allemal, obwohl es mir bei dem Gedanken, monatelang Deutsch sprechen zu müssen, schon jetzt graut.«
Jozefina gefiel Igas überhebliche Art überhaupt nicht. Sie fand es gemein, wie sie über alte, kranke Menschen sprach.
»Und wie geht das bei dir jetzt weiter, wenn du in Mannheim ankommst?«
»Du, das weiß ich selbst noch nicht genau. Morgen werde ich mich erst einmal in Göttingen, wo wir einen längeren Zwischenstopp machen, mit Harald von Sploen, das ist der Sohn des Freundes meines Vaters, treffen. Und der wird mir dann bestimmt alles erklären. Ich gehe davon aus, dass er mich instruieren wird, wie er sich die Pflege seines Vaters in Mannheim vorstellt. Ich bin selbst gespannt, was da auf mich zukommt«, erklärte Jozefina ein wenig unsicher.
»Aha, ›von Sploen‹! Adlige! Die haben doch bestimmt ganz schön Kies.
Hoffen wir, dass sie dir wenigstens einen anständigen Lohn zahlen«, erwiderte Iga, »aber meist sind die mit der dicksten Brieftasche auch die Geizigsten. Die hocken auf ihrem Geld. Deshalb haben sie ja auch genug davon.«
»Ich denke schon, dass die von Sploens mich angemessen bezahlen. In den vielen Jahren, in denen mein Vater seinen Freund besuchte, war der immer sehr großzügig. Es gibt also keinen Grund für mich, daran zu zweifeln, dass er mich für meine Arbeit angemessen entlohnen sollte. Ich habe da, ehrlich gesagt, ein gutes Gefühl. Aber ganz abgesehen davon, mache ich das auch nicht nur wegen des Geldes. Geld ist doch schließlich nicht alles.«
»Für mich ist Geld das Wichtigste überhaupt«, widersprach Iga energisch. »Schau dir doch die Welt an: ›Hast du nichts, bist du nichts‹. Geld kann man nie genug haben. Ich würde alles dafür geben, wenn ich endlich frei und finanziell unabhängig leben könnte.«
Nach rechts geneigt, akkurat, zackig, schnörkellos ‒ so hatte er einen Buchstaben nach dem anderen zu Papier gebracht. Kein einziger Abweichler, keine Neigung nach links. Undenkbar! Unanständig wäre das, gehörte sich nicht, zeugte von Orientierungslosigkeit.
Friedrich von Sploen. Die Initialen »F« und »S« überragten alles, während sich das »von« dazwischen eher bescheiden abhob. Die Kapitälchen waren wie Generäle, die alle nachfolgenden Lettern kompromisslos in dieselbe Richtung zwangen. Der militärische Drill war selbst in seiner Unterschrift unverkennbar.
Er hatte alles geplant. Bis ins Kleinste und bis zum letzten Augenblick. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben und schon gar nicht sollten andere über sein Leben Entscheidungen treffen, am allerwenigsten sein Sohn.
Professor Harald von Sploen atmete tief durch. »Das passt zu dir, du bleibst dir treu, bis zum bitteren Ende.« Er ließ das notariell beglaubigte Testament auf seinen Schreibtisch gleiten und nahm seine Pfeife aus dem Aschenbecher. Er zog mehrmals genüsslich daran, so als wollte er sich das Nikotin im Voraus zuführen, das ihm während seines Transatlantikfluges stundenlang vorenthalten bleiben würde. Er blickte zur Tür, wo sein Koffer mit dem Kleidersack und der kleine Bordcase standen, und gleich danach zu der Uhr auf seinem Schreibtisch. »Jetzt könnte sie langsam kommen, sonst wird es knapp«, murmelte er vor sich hin.
›Vielleicht stand der Bus ja im Stau?‹ Er schaltete das Radio ein. Aber statt des Verkehrsfunks ertönte Frank Sinatras My way. ›Das auch noch! Perfekt! Das passte! Man könnte meinen, das Lied wäre für meinen Vater geschrieben worden.‹
Harald von Sploen hatte das Dokument, seit man es ihm zugeschickt hatte, immer mal wieder durchgelesen und stets darauf gewartet, dass es irgendeine Reaktion bei ihm auslösen würde: Überraschung, Trauer, Wut, Schmerz. Aber nichts von alledem hatte er empfunden. Was da geschrieben stand, rührte ihn in keiner Weise, war ihm schlicht und ergreifend egal. Vielleicht empfand er es sogar als Erleichterung, denn es war für ihn wie eine Art Legitimation, sich auch künftig aus allem raushalten zu können. Sollte der Alte doch machen, was er wollte. Schließlich hatte er ihn ja im Vorfeld auch nie nach seiner Meinung gefragt.
Sein Vater hatte stets einsame Entscheidungen getroffen und sich einen Teufel darum geschert, was seine Familie darüber gedacht hatte. Aber nachdem zwei Monate zuvor sein Schulfreund, der Neurologe Dr. Hans-Rüdiger Carstens, bei ihm angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass er bei seinem Vater Alzheimer in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert habe und er in absehbarer Zeit eine Vierundzwanzig-Stunden-rund-um-die-Uhr-Betreuung benötige, hatte er sich doch verpflichtet gefühlt, das, was sein Vater notariell verfügt hatte, auf den Weg zu bringen. Es wäre das Letzte, was er für ihn tun würde.
Friedrich von Sploen war nun mal sein Vater und er sein einziger noch lebender Verwandter. Seine Mutter war früh gestorben. In einer ihrer depressiven Phasen hatte Birgitta von Sploen sich mit 34 vor einen Zug geworfen. »Personenschaden!« Wie oft hatte er diese Durchsage gehört, wenn er mal wieder auf einer seiner Vortragsreisen mit der Bahn quer durch die Lande fuhr. Die meisten Reisenden wussten, was das bedeutete. Ihre Emotionen galten jedoch weniger dem Opfer als vielmehr der Tatsache, dass dies eine erhebliche Verspätung bedeutete, denn nun würde erst einmal die Staatsanwaltschaft zur Unfallstelle gerufen und das konnte dann Stunden dauern. Und die Anschlusszüge waren mit Sicherheit weg. Für ihn war es jedoch jedes Mal ein kleiner Alptraum, ein Film, der immer gleich in seinem Kopf ablief: mit einer schönen verzweifelten Frau in einem beigen Trenchcoat, die sich vor eine Lok wirft, mit einer Frau, welche stets die Gesichtszüge seiner Mutter trug.
Er hatte seine Mutter unendlich geliebt. Nach ihrem Selbstmord durfte ihr Name jedoch im Hause von Sploen nicht mehr erwähnt werden. Sein Vater hatte es ihm und seiner Schwester strengstens verboten, über die Mutter zu sprechen. Er hatte sie zur »Unperson« erklärt und seinen Kindern damit gedroht, sie ins Heim zu stecken, sollten sie nicht gehorchen.
Harald war damals sieben gewesen, seine Schwester Annika fünf. Sein Vater hatte zwar erreicht, dass die Kinder aus Angst nicht mehr über die Mutter sprachen, aber ihre Gedanken konnte er nicht kontrollieren und auch nicht die Liebe, die sie für sie empfanden. Haralds Erinnerungen an seine geliebte Mutter waren stets präsent gewesen.
Es wird ja alles wieder gut,
nur ein kleines bisschen Mut,
lässt das Schicksal dich manchmal allein,
es wird ja immer wieder Mai
auch dein Kummer geht vorbei
und du brauchst nicht mehr traurig zu sein.
Denn es kann nicht jeden Tag die Sonne scheinen
und wer lacht, der muss auch hin und wieder weinen,
es wird ja alles wieder gut,
nur ein kleines bisschen Mut
und du brauchst nicht mehr traurig zu sein.
Mit diesem Lied hatte seine Mutter ihn stets getröstet, wenn er sich wehgetan hatte oder wenn sein Vater, was viel schlimmer war, mal wieder versucht hatte, seinem Sohn die preußischen Tugenden auf recht unsanfte Art und Weise nahezubringen. Aus Harald sollte ein »richtiger Mann« werden, was auch immer sein Vater darunter verstand. Im Nachhinein war er sich ziemlich sicher, dass seine Mutter dieses Lied auch ein Stückweit für sich selbst gesungen hatte, wahrscheinlich um sich zu beruhigen, wenn sie spürte, wie wieder einmal dunkle Gefühle sie mehr und mehr umklammerten. Erstaunlicherweise war es Birgitta von Sploen erfolgreich gelungen, ihre Krankheit vor ihren kleinen Kindern gut zu verbergen, sodass denen nie etwas Außergewöhnliches an der Mutter aufgefallen war.
Erst als Harald in die Pubertät kam und er mehr und mehr verstand, woran seine Mutter letztendlich gestorben war, hatte ihn die Angst geplagt, er könne die Krankheit seiner Mutter geerbt haben und möglicherweise auch eines Tages psychisch krank werden. Dass Harald den Tod seiner Mutter dennoch recht unbeschadet überstand, verdankte er letztendlich seiner Tante Evelyn. Die Schwester seiner Mutter hatte ihn nämlich damals zur Seite genommen und ihm von seiner Mutter und ihrer gemeinsamen Kindheit erzählt.
»Weißt du, Harald, deine Mutter war am Ende des Krieges nicht einmal so alt wie du heute. Als die Russen damals von Osten nahten, hat unsere Mutter, deine Großmutter, versucht, mit Birgitta und mir zu fliehen. Wir wollten uns damals im Winter 1944/45 einem riesigen Treck anschließen. Aber es kam nicht mehr dazu. Irgendwie waren wir zu spät dran, unsere Mutter hatte zu lange gewartet. Die Soldaten drangen damals in unser Haus ein. Ich hatte Glück, ich war unterwegs, um Brennholz zu sammeln und habe alles vom Waldrand aus beobachtet. Dort habe ich mich im Unterholz vor den Männern versteckt. Birgitta hat es wohl auch geschafft, sich irgendwo im Haus zu verbergen. Es grenzt an ein Wunder, ich weiß bis heute nicht wirklich, wie sie das bewerkstelligt hat. Jedenfalls haben sie deine Mutter nicht entdeckt. Aber deine Großmutter hat es nicht überlebt. Die Soldaten haben sie fürchterlich zugerichtet. Als sie dann weg waren, habe ich mich ins Haus zurückgeschlichen.
Der Anblick, der sich mir bot, war schrecklich. Birgitta saß wie versteinert neben der Leiche unserer Mutter. Ich musste sie damals mit Gewalt wegziehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer mir das fiel. Denn auch ich habe unsere Mutter unendlich geliebt. Aber wir waren in Gefahr und mussten uns schnellstens in Sicherheit bringen, die konnten doch jederzeit zurückkommen. Was meinst du, wie furchtbar es für uns beide war, unsere tote Mutter einfach so zurückzulassen. Ich hab mich oft gefragt, was wohl mit ihrem Leichnam passiert ist und ob jemand sich ihrer erbarmt und sie begraben hat.
Wir sind dann monatelang umhergeirrt. Frag mich nicht, Junge, was wir alles gesehen haben. Für mich mit meinen sechzehn Jahren war es schon schlimm genug, aber für Birgitta, sie war kurz zuvor zwölf geworden, muss es die Hölle gewesen sein. Sie hat das alles nie verkraftet. Besonders schlimm war eben, dass sie miterleben musste, wie unsere Mutter umgebracht wurde. Sie hat niemals mit mir darüber geredet. Ich weiß, wie gesagt, bis heute nicht, was damals in unserem Haus alles passiert ist.«
»Und was war mit meinem Großvater?«, hatte Harald wissen wollen.
»Dein Großvater ist schon 1943 gefallen, irgendwo im Osten, in Russland. Auch ihn konnten wir nie zu Grabe tragen.« Tante Evelyn hatte ihm dann berichtet, wie sie sich durchschlugen und schließlich nach Kriegsende elternlos, unterernährt und total verwahrlost in Litauen landeten. »Dort nahm man uns auf einem Bauernhof auf. Wir mussten hart arbeiten, aber wir hatten wenigstens etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf. Doch dann haben sie uns aufgespürt, deine Mutter und mich, die ›Wolfskinder‹, wie sie uns Kriegswaisen nannten. Sie steckten uns in ein sowjetisches Kinderlager. Zwei Jahre später hat man uns dann in ein Heim in der DDR eingewiesen.«
Sie hatte Harald weiter erzählt, dass man sie 1950 zusammen entlassen hatte. Tante Evelyn musste damals der Heimleitung versprechen, sich um ihre noch minderjährige Schwester Birgitta zu kümmern. »Ich hätte deine Mutter niemals alleine in diesem Heim zurückgelassen. Irgendwie habe ich mich für sie verantwortlich gefühlt. Wir sind dann nach Berlin gezogen. Ich erinnere mich noch an die schnuckelige kleine Wohnung. Eigentlich war sie gar nichts Besonderes, wir hatten ja am Anfang fast keine Möbel, nur das Allernötigste, aber wir waren so was von glücklich. Endlich in den eigenen vier Wänden! Na ja, und den Rest kennst du ja, Harald. 1955 begegnete Birgitta dann deinem Vater. Er sprach sie auf dem Kudamm an und wollte von ihr wissen, wo das KaDeWe ist. Aber er ging dann gar nicht in das Kaufhaus, sondern lud deine Mutter ins Kranzler zum Kaffeetrinken ein. Du kannst dir vorstellen, dass er sie damit sehr beeindruckt hat, denn wir hatten ja nichts, waren arm wie die Kirchenmäuse. Sie war jedenfalls sehr von deinem Vater angetan. Er war zehn Jahre älter als sie, stand mit beiden Beinen fest im Leben und wusste genau, was er wollte. Vielleicht zu genau! Jedenfalls empfand deine Mutter ihn als Beschützer und fühlte sich bei ihm geborgen. Endlich schien sie angekommen zu sein. Und so folgte Birgitta ihm nach Mannheim.« Tante Evelyn lächelte. Es war jedoch ein Lächeln, das ein gewisses Maß an Bitterkeit erkennen ließ.
»Manchmal denke ich, Mama wäre ihm besser nicht begegnet«, hatte Harald seiner Tante entgegnet und geseufzt.
»Ich kann dich ja verstehen, mein Junge. Aber trotzdem solltest du so etwas nicht sagen. Denn sieh mal, ohne ihn gäbe es dich nicht. Und das fände ich richtig schade.« Tante Evelyn hatte ihn auf die Stirn geküsst. »Und außerdem hat deine Mutter ihn geliebt und irgendwie wusste sie deinen Vater auch ganz gut zu nehmen. Aber das Trauma, das sie im Krieg durchleben musste, das hat sie eben doch nie verkraftet. Als wir klein waren, war sie ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen gewesen, wir hatten unglaublich viel Spaß miteinander, aber nach dem Krieg habe ich sie nie wieder richtig lachen sehen. In Birgittas Lächeln lag stets eine große Melancholie.
Aber warum erzähle ich dir das alles, mein Junge? Weißt du, ich möchte einfach nur, dass du begreifst, dass der Selbstmord deiner Mutter in den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit begründet liegt. Und die sind Gott sei Dank nicht erblich. Du musst dir also keine Sorgen um deine Zukunft machen. Du bist kerngesund, Harald.« Tante Evelyn hatte ihn in ihre Arme genommen und ihm liebevoll über den Kopf gestreichelt.
Das Gespräch mit Tante Evelyn hatte Harald sehr geholfen und ihm vor allem die Ängste genommen, möglicherweise so wie seine Mutter zu enden. Es hatte ihm die Kraft gegeben, seinen Weg ins Leben zu finden.
Seine zwei Jahre jüngere Schwester Annika hingegen hatte der frühe Tod der Mutter wesentlich stärker entwurzelt und die strenge Erziehung des Vaters hatte bei ihr genau das Gegenteil bewirkt. Anstatt zu kuschen, war sie in einer Nacht- und Nebelaktion mit 17 von zu Hause abgehauen. Ein halbes Jahr später hatte sie dann eine Karte aus dem ägyptischen Assuan geschickt und mitgeteilt, sie werde nun weiter nach Tansania reisen. Sie habe sich in einen jungen Mann aus Bukoba an der Westküste des Viktoriasees verliebt und werde ihm nach Tansania folgen. Er sei die große Liebe ihres Lebens und sie wüsste nun endlich, wo sie hingehöre.
Friedrich von Sploen hatte zunächst getobt und dann auch sie zur Unperson erklärt, deren Namen in seinem Hause nie mehr fallen dürfe.
Harald hatte insgeheim gegrinst, dass seine kleine Schwester so viel Mut gehabt und es verstanden hatte, sich aus den Klauen des despotischen Vaters zu befreien. Allerdings war ihm das Lachen schnell wieder vergangen. Annika hatte sich nämlich einen denkbar ungünstigen Moment für die Reise in das zentralafrikanische Land ausgesucht, denn im Oktober 1978 war die ugandische Armee von Idi Amin in die Provinz Kagera eingedrungen und hatte in den tansanischen Dörfern im Grenzgebiet Tausende Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder massakriert. Eine der Frauen war Annika gewesen. Ende 1979 war ihre Leiche nach Deutschland überführt worden. Sie hatte das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Als Harald damals nach der Beisetzung mit Tante Evelyn allein den breiten Weg des Mannheimer Hauptfriedhofs entlangging, war seine Tante plötzlich stehen geblieben und hatte gemeint: »Wie sich die Dinge doch wiederholen: erst die furchtbare Ermordung deiner Großmutter, dann vor zwölf Jahren der Freitod deiner Mutter und jetzt die grausame Bluttat an deiner kleinen Schwester. Als hinge das alles irgendwie zusammen und hinterließe seine Spuren bei der jeweils folgenden Generation. Manchmal habe ich den Eindruck, dass auf unserer Familie ein Fluch lastet.«
Mit den Jahren war Harald von Sploen gegenüber seinem Vater etwas milder geworden. Er war seinen Weg gegangen, hatte sein Leben so realisiert, wie er sich das als junger Mann vorgenommen hatte und war mit allem, was er anfasste, erfolgreich. Das Schicksal war ihm wohlgesonnen und er hatte keinen Grund, sich über irgendetwas zu beklagen. Tante Evelyns Prophezeiung schien auf ihn nicht zuzutreffen. Vielleicht hatte sich dieser »Fluch«, so es ihn überhaupt gab, nur auf die weiblichen Familienmitglieder bezogen, vielleicht hatte er aber auch mit dem Tod seiner kleinen Schwester sein Ende gefunden.
Harald hatte unter die Vergangenheit einen dicken Strich gezogen. Die Tragödie um den Tod seiner Mutter und seiner Schwester lag nun über dreißig Jahre zurück. Es waren harte Schicksalsschläge gewesen, doch er glaubte, dass er an ihnen gewachsen war. Auch wenn er beide sehr geliebt hatte, so war er doch zu sehr Rationalist, um nicht irgendwann einmal die Dinge auf sich beruhen zu lassen und nicht weiter mit dem Schicksal zu hadern oder dagegen anzukämpfen. Natürlich hätte er sich ein liebevolles und vor allem vertrauensvolles Verhältnis zu seinem Vater gewünscht. Aber Friedrich von Sploen war unnahbar und nicht imstande, Gefühle zu zeigen. Harald hatte sich oft gefragt, ob er erst nach dem Tod seiner Frau so geworden war. Aber so sehr Harald auch in seinen frühen Kindheitserinnerungen grub, es kam ihm keine einzige Situation in den Sinn, in dem sich sein Vater ihm gegenüber liebevoll oder gar zärtlich gezeigt hatte. Aber wer weiß, vielleicht hatte er das auch über die Jahre hinweg verdrängt. Er nahm seinen Vater nur als schlechtgelaunten, oftmals zynischen Menschen wahr, der sich in nichts reinreden ließ und der jetzt als Greis darüber hinaus auch noch einen ausgeprägten Altersstarrsinn entwickelt hatte. Mit ihm zu reden oder sogar zu versuchen, einen Sinneswandel bei ihm herbeizuführen, das wäre ein Kampf gegen Windmühlen gewesen. Es war nicht die Mühe wert, kostete nur Energie, die er viel nötiger für andere Dinge brauchte. Trotzdem brachte es Harald nicht fertig, den »Alten« einfach so seinem Schicksal zu überlassen.
Das Testament, das Friedrich von Sploen aufgesetzt hatte, trug sicher nicht dazu bei, das Verhältnis der beiden zu verbessern und Vater und Sohn einander näher zu bringen. Wahrscheinlich hätten die meisten Kinder mit ziemlicher Sicherheit sogar versucht, diesen seinen »Letzten Willen« juristisch anzufechten.
Harald wusste selbst nicht, warum er sich so verhielt. Vielleicht war es ja trotz allem eine gewisse Dankbarkeit, weil sein Vater ihn schließlich allein groß gezogen und ihm das Studium finanziert hatte. Vielleicht war es auch so etwas wie Mitleid, weil er nun im Alter mit dieser furchtbaren Alzheimer-Krankheit allein dastand. Vielleicht war es aber auch sein schlechtes Gewissen, weil er gleich nach dem Abitur sein Bündel gepackt und Mannheim verlassen hatte. »Bloß schnell raus aus dem Oststadt-Mief«, das war das Einzige, was er damals wollte. Natürlich hätte er auch in Heidelberg studieren und zu Hause wohnen bleiben können, aber er hatte sich in Göttingen für einen Studienplatz in Astrophysik beworben. Nur fort, und zwar so weit wie möglich! Weg aus dem Dunstfeld des »Alten«. Er konnte es nicht länger ertragen, dieses autoritäre Verhalten, das keinerlei Widerspruch zuließ. Aber was Harald vor allem nicht ertrug, war, dass sein Vater reaktionär war bis auf die Knochen.
Nachdem Harald von Sploen damals aus der Villa in der Oststadt ausgezogen war, hatte er seine Besuche in Mannheim auf Heiligabend beschränkt und war stets am ersten Weihnachtsfeiertag in aller Frühe bereits wieder abgereist. Da sein Vater regelmäßig unterm Christbaum beim traditionellen Weihnachtskarpfen in verklärten Kriegserinnerungen geschwelgt und mit jedem Glas Riesling die alten Zeiten mehr und mehr gerühmt hatte, war es stets zu heftigen Streitgesprächen zwischen Vater und Sohn gekommen.
»Ja, ja, früher war alles viel besser. Bei meinen Eltern damals in Ostpreußen hätte es so was nicht gegeben. Da hatte alles seine Ordnung und jeder hatte seinen Platz. Ich denke oft, es war ein großer Fehler, dass mein Vater Ende der 20er-Jahre unser Gut aufgegeben hat und mit uns nach Mannheim gezogen ist. Meine frühe Kindheit auf dem Sploen'schen Gutshof, das sind meine schönsten Erinnerungen. Wir hatten viele Arbeiter aus dem Osten, Russen und Polacken hauptsächlich. Von denen hätte es keiner gewagt, gegen den Gutsherrn aufzumucken. Das war nicht so wie heute, wo das ganze Gesindel aller Herren Länder nach Deutschland kommt und dann auch noch einen Haufen Geld in den Hintern geschoben bekommt. Die sollten erst mal was schaffen, aber stattdessen plündern sie unsere Sozialkassen aus. Früher, da konnte man noch stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein, aber heute?!«, hatte Friedrich von Sploen im Brustton der Überzeugung festgestellt.
»Oh, Vater, hör doch auf mit diesem kalten Kaffee! Ich kann diese Parolen einfach nicht mehr hören«, hatte Harald abgewinkt.
»Das verstehst du nicht. Ihr seid doch heute alle verweichlichte Memmen, keinen Mumm habt ihr mehr in den Knochen! Das war in meiner Zeit anders. Wir waren ganze Kerle, standen unseren Mann. Wir haben noch für unsere Ideale gekämpft.« Der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Hör mir bloß auf mit deinen Idealen. Größenwahnsinnig wart ihr, wolltet die ganze Welt versklaven. Ich fass es nicht, wie man so verbohrt sein kann.« Harald hatte ihn kopfschüttelnd betrachtet.
Doch sein Vater hatte ihn gar nicht wahrgenommen. »Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt …«, hatte der alte Mann vor sich hin gesummt. »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten«, hatte er sinniert, um dann weiter festzustellen, »davon hätte die ganze Welt nur profitiert. Dann sähe es heute überall anders aus. Die hätten alle von uns Deutschen lernen können: Ordnungsliebe, Gehorsam, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit ‒ alles deutsche Tugenden, die den anderen abgehen.«
»Ja, ja, am deutschen Wesen soll die Welt genesen …, ich fasse es nicht!« Harald hatte einen großen Schluck Weißwein genommen. Diesen Schwachsinn konnte er nur im alkoholisierten Zustand ertragen.
Sein Vater hatte jedoch unbeirrt weiter in seinen Erinnerungen geschwelgt. »Weißt du, der Adolf, der war gar nicht so schlecht, wie er immer dargestellt wird. Im Gegenteil, das war ein exzellenter charismatischer Politiker, ein richtig kluger Kopf und wacher Geist. Ich gebe ja zu, das mit den Juden, das war ein Fehler gewesen, diese Geschichte hätte er anders angehen müssen. Aber irgendwie musste er das Judenproblem lösen, denn die Gefahr des Weltjudentums sollte man nicht unterschätzen.«
Spätestens bei dieser Feststellung hatte Harald regelmäßig das Weite gesucht. Er hatte die Gegenwart des Alten einfach nicht länger ertragen. Obwohl sein Vater studiert und als Ingenieur auch überaus erfolgreich gewirkt hatte, war er Haralds Meinung nach, was seine Weltanschauung anbelangte, auf der Stufe eines Neandertalers stehengeblieben und zwar nicht nur geistig, sondern auch was seine Fähigkeit zur Empathie anbelangte. Wie konnte sein Vater nur angesichts von weltweit 65 Millionen Kriegstoten und 6 Millionen ermordeter Juden solche Reden schwingen?
Obwohl Harald sich jedes Jahr vorgenommen hatte, den Alten einfach reden zu lassen und die Ohren auf Durchzug zu stellen, war es seinem Vater immer wieder gelungen, ihn aus der Reserve zu locken. Er hatte ohne Ende gestichelt und seinen Sohn so lange provoziert, bis dem der Kragen geplatzt war. Und so hatte jeder Weihnachtsabend mit einem Eklat im Hause von Sploen geendet. Vater und Sohn hatten sich alles Mögliche an den Kopf geworfen, wobei »Nazi« und »Terrorist« noch zu den harmloseren Bezeichnungen gehört hatten.
Wenn er heute darüber nachdachte, drängte sich ihm oft der Verdacht auf, dass dies vielleicht schon die ersten Anzeichen seiner Alzheimer-Erkrankung gewesen sein konnten, denn sein Vater hatte damals bereits damit begonnen, mehr und mehr in der Vergangenheit zu leben.
Durch ein stürmisches Klingeln wurde Harald von Sploen aus seinen Gedanken gerissen.
»Sie müssen Jozefina Dzierwa sein!« Die Frau mit den kinnlangen hellblonden Haaren, die ein wenig atemlos vor seiner Tür stand, nickte und begann, irgendetwas in leicht polnischem Akzent zu stammeln, das wie eine Entschuldigung klang.
»Schön, dass es noch geklappt hat. Zumindest können wir noch einen Kaffee zusammen trinken und uns über ein paar Dinge unterhalten«, begann Harald von Sploen das Gespräch, während er Jozefina in den Wohnraum geleitete. »Sie trinken doch einen Kaffee?«
Jozefina nickte. »Sehr gerne. Mein Bus machen hier zwei Stunden Pause. Das ist sehr gut, dass Bus über Göttingen fahren.«
»Ja, das war wirklich ideal, sonst hätten wir uns nicht mal persönlich kennengelernt und alles über Rechtsanwalt Jantzen regeln müssen.« Harald ging kurz hinaus, um gleich darauf mit zwei Kaffeebechern zurückzukehren.
»Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen keine gediegene Kaffeetasse anbieten kann, aber ich habe eben einen typischen Junggesellenhaushalt.« Harald lächelte.
»Ach, das macht nichts«, erwiderte Jozefina und fuhr fort: »Ich möchte Ihnen danken. Sehr nett, dass Sie mich anrufen und mir die Stelle bei Ihrem Vater anbieten. Ich kann Arbeit sehr gut brauchen.«
»Eigentlich müssen Sie da eher meinem Vater danken, das war seine Entscheidung. Ich bin nur das ausführende Organ und leite alles in die Wege, was er notariell festgelegt hat.«
Jozefina blickte ihn irritiert an: »Dann Sie das gar nicht wollen, dass ich komme?«
Harald schüttelte den Kopf: » Nein, das ist schon in Ordnung!«
»Ich möchte nix tun, was Sie nicht wollen, Herr von Sploen.« Jozefina wurde unsicher.
»Nein, alles ist gut, so wie es ist. Machen Sie sich keine Sorgen um mich! Wissen Sie, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden: Das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir ist schon seit vielen Jahren – ja, wie soll ich es ausdrücken? ... ‒ gelinde gesagt, sehr schwierig. Und da ich nun mal der einzige Verwandte bin, der ihm geblieben ist, war es ihm auch immer klar, dass, falls er je zum Pflegefall werden würde, ich mit Sicherheit nicht für ihn sorgen würde. Darum hat er schon vor Jahren verfügt, dass die Tochter seines alten Freundes und Kriegskameraden Oleg Dzierwa, also Sie, ihn bis zu seinem Ableben pflegen solle. Ihr Vater hat wohl immer in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt, das muss meinem alten Herrn mächtig imponiert haben.«
Jozefina lächelte verschämt. »Das kann schon sein. Mein Vater immer sehr stolz sein auf mich.«
»Schön für Sie«, antwortete Harald ein wenig bitter, »das kann man von meinem Vater leider nicht behaupten. Der hätte sich bestimmt andere Kinder gewünscht, wenn er es sich hätte aussuchen können. Aber lassen wir das! Das würde jetzt zu weit führen.« Harald von Sploen hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen. »Jedenfalls war mein Vater davon so sehr beeindruckt, dass er Sie in seinem Testament bedacht und mich auf meinen Pflichtteil zurückgesetzt hat«, stellte Harald nüchtern fest.