ISBN: 978-3-95428-631-7
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Wellhöfer Verlag
Ulrich Wellhöfer
Weinbergstraße 26
68259 Mannheim
Tel. 0621/7188167
www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Alle Rechte vorbehalten.
Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Ich liebe die Nordseeinseln. Sowohl in Nordfriesland als auch in Ostfriesland. Und ich liebe die Historie, gepaart mit Mysterien und kriminellen Handlungen.
So wuchs in mir die Idee, zwei Geschichtensammlungen herauszugeben, die genau diese Dinge vereinen. Wahre Historie, gepaart mit fiktiven Kriminalfällen, die sich vor diesen Hintergründen genauso zugetragen haben könnten. Herausgekommen sind zwei Anthologien über die mörderische Vergangenheit der Ostfriesischen und Nordfriesischen Inseln. Hier nun »Möwenschrei und Meuchelmorde« aus Ostfriesland.
Sie liegen allesamt vor der gesamten ostfriesischen Küste und es sind, ohne die Vogelinseln Mellum und Memmert, sieben an der Zahl. Auch wenn Helgoland nicht zu den Ostfriesischen Inseln zählt, so habe ich sie dennoch mit in diesen Band hineingenommen, denn Helgoland ist vor der Küste sehr präsent.
Merken kann man sie sich wunderbar mit dem altbekannten Spruch:
Welcher – Wangerooge
Seemann − Spiekeroog
Liegt − Langeoog
Bei − Baltrum
Nanni − Norderney
Im – Juist
Bett − Borkum
Viele engagierte Kollegen haben sich auf die Suche gemacht, in der Historie gewühlt und sind fündig geworden. Entstanden ist ein bunter Mix von Krimis mit historischem Hintergrund, der nach den Texten stets offengelegt wird. Immer wieder wird ein kurzes Blitzlicht auf Begebenheiten in einer Epoche gelegt und eine Geschichte darum gewoben. Sie werden von gestrandeten Schiffen lesen, von Sturmfluten und den ersten Besiedlungen der Inseln. Sie erfahren vom Bombenangriff auf Wangerooge, aber auch von der mondänen Seebadzeit auf Norderney.
Lassen Sie sich in längst vergangene Zeiten entführen, erleben Sie Geschichte einmal anders. Mörderischer …
Regine Kölpin, Schriftstellerin und Herausgeberin
Wangerooge ist die östlichste der Ostfriesischen Inseln, und gilt als zweitkleinste Insel. Aus geografischer Sicht zählt sie zu den Ostfriesischen Inseln, ist aber friesisch. Denn historisch gesehen gehörte sie nie zu Ostfriesland. Auch heute noch ist sie ein Teil des Landkreises Friesland.
Zu Wangerooge zugehörig zählt auch die Minsener Oog, die allerdings nicht bewohnt ist, sondern ein Naturschutzgebiet.
Erstmals urkundlich erwähnt wird die Insel im Jahr 1306.
Wangerooge galt von jeher als labile Insel und war oft von Sturmfluten gezeichnet. Von daher hat sich ihre Form häufig verändert. Dank der Küstenschutzmaßnahmen hat sich Wangerooge stabilisiert.
Bis 1570 bestand das Dorf aus etwa 50 Häusern, nach der Weihnachtsflut 1717 sanken die Bevölkerungszahlen. 1885 wurde Wangerooge in drei Teile gerissen. Auch die Flut 1962 setzte der Insel heftig zu.
1804 wurde Wangerooge zum Seebad erklärt.
Mit der Entwicklung Wilhelmshavens zur Kriegshafenstadt wurde Wangerooge ein wichtiger strategischer Punkt, auf dem Geschützbatterien aufgestellt wurden. So wundert es nicht, dass im Zweiten Weltkrieg 6000 Sprengbomben auf die Insel niederfielen.
Heute ist Wangerooge ein ruhiges und beschauliches Seebad mit wunderbaren Stränden, die Bunker sind nur noch schwer auszumachen, es gibt allerdings einen großen, der versteckt auf einem Privatgelände liegt, und einen Besucherbunker. 2004 feierte Wangerooge sein 200-jähriges Bestehen. Kuren, vor allem gegen Atemwegserkrankungen sind einer der Schwerpunkte. Die Insel ist autofrei, lediglich ein paar Elektrofahrzeuge werden zur Versorgung eingesetzt.
Paul liegt im Dünensand, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und genießt die erste warme Frühlingssonne auf seinem Gesicht. Der Blick in den stahlblauen Himmel zaubert ein Lächeln auf seine Lippen. Als er vor einem Jahr nach Wangerooge abkommandiert wurde, hätte er niemals vermutet, dass ihn so viel Glückseligkeit erwarten würde.
Damals bei Kriegsbeginn war es ihm egal gewesen, wo er als Soldat seine Pflicht erfüllte. Hauptsache, der Krieg bescherte seinem Dasein ein schnelles Ende. Einige Kugeln hatten ihn auch getroffen, doch nicht so sehr wie die Abschiedsworte seines Vaters: »Junge, es ist wohl besser für uns alle, wenn du nicht zurückkommst.« Bitter stoßen ihm diese Worte immer noch auf. Zurückkommen wird er nie wieder, da konnten seine Eltern sicher sein. Er hat anderes im Sinn und er ist nicht mehr allein.
Paul schließt die Augen und seine Finger greifen in den warmen Sand, als halte er die Hand von jemandem. Ganz langsam zeichnet sein Zeigefinger ein großes E in den feinen Kies. Er ist rundherum glücklich. Einzig die dunkle Wolke Krieg schiebt sich, wie sein Vater damals, zwischen seine Liebe.
Diesmal wird ihn nichts von seinem Vorhaben abbringen. Vielleicht ist an dem Gerücht, dass der Krieg dem Ende entgegensieht, ja ein Funken Wahrheit. Oder er könnte die nächste Gelegenheit zur Flucht nutzen, er hat auch schon eine Idee: Da soll doch dieser Kriegsgefangene von der Insel gebracht werden ...
In Paul reift ein Plan, und ein Gefühl in ihm wird stark, dass er sich dringend mit einer ganz bestimmten Person treffen muss, die ihm behilflich sein kann.
Edith fasst unter die lose Holzplatte vom Schrankboden, holt ein braunes, in Leder gebundenes Buch hervor, und beginnt zu schreiben.
Liebes Tagebuch!
Heute am 24.04.1945 ist ein wunderschöner Tag, der Frühling zeigt sich von seiner besten Seite. Was man vom Krieg nicht gerade behaupten kann. Einige sagen, er ist bald zu Ende, andere tuscheln von einer Geheimwaffe, die den Endsieg bringen soll. Das einzige Ende, das ich sehe, ist das unserer Vorräte. Sogar an Munition wird gespart, wir holen die Flugzeuge nur noch vom Himmel, wenn sie in Gruppierungen auftreten, einzelne lassen wir vorbeiziehen. Gestern habe ich zufällig ein Gespräch belauscht, da hieß es, dass der Russe und die Amis sich in Berlin treffen wollen. Das macht mir Angst. Man sollte sie alle zum Teufel jagen und wieder über das Leben nachdenken. Heiraten und Kinder kriegen zum Beispiel. Am besten einen Stall voll. Ganz im Sinn des Führers. Sollte der überhaupt noch was zu sagen haben. Als mir das kürzlich bei meinem Auserwählten rausgerutscht ist, hat er laut gelacht und gemeint, ich wäre auf jeden Fall die richtige Frau dafür. Weißt du, was das bedeutet, liebes Tagebuch? Das ist sicher eine Anspielung auf den nächsten Schritt, den er wagen will. Er ist ja so süß, genauso wie die köstlichen Backwaren, die er mir oft zusteckt. Er ist schon sehr zurückhaltend, oder wohl eher schüchtern, aber das spricht auch für ihn. Schließlich habe ich mir ja diesmal auch fest vorgenommen, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Zu oft habe ich in der Vergangenheit gedacht, das ist der Richtige, dann immer diese Enttäuschungen. Obwohl ich den Männern gegeben habe, wonach sie verlangten. Danach war ich die Blöde, stand wieder allein da. Weil sie was Besseres gefunden hatten. Ich will mich nie wieder so ausgebrannt, schmutzig und leer fühlen. Nie wieder. Ich bin mir sicher, mein Liebster ist da völlig anders. Er ist weder aufdringlich noch anzüglich, hält sich zurück. Wie ein hochkarätiger Gentleman, mit dem man sich wunderbar unterhalten kann. Trotzdem, ich sehne mich so sehr nach einer Familie und Beständigkeit und einem Mann, der mich in seinen starken Armen hält. Mit meinen 29 Jahren tickt die biologische Uhr auch immer lauter. Gott im Himmel, ich bin ja so verliebt. Ich denke, ihm geht es ebenso. Die Herren der Schöpfung können das nur nicht immer so zeigen. Manchmal glaube ich, dass es da noch etwas gibt, das er mit sich rumschleppt. Vielleicht sind es ja die Kriegserlebnisse, die ihn nicht loslassen, oder Heimweh. Egal was es ist, ich stehe ihm mit einer großen Portion Liebe zur Seite. Etwas, das der Krieg nicht rationalisieren kann.
Für heute muss ich schließen, meine Marinemädels warten auf mich. Wir wollen die Matratzen zum Auslüften ins Gebälk vom Wohnturm schleppen, und Großreinemachen ist auch angesagt. Das gibt immer einen Heidenspaß. Danach fahre ich noch ein bisschen mit dem Fahrrad oder ich treffe mich mit ..., du weißt schon wem.
Edith malt ein Herz am unteren Blattrand, dabei verblasst die Tinte zusehends. Als sie die gemeinsamen Initialen einsetzen will, kratzt die Feder nur noch trocken über das Papier. Das Herz bleibt leer.
Er ist Franzose und ein Boulanger (Bäcker), aber kein Zauberer. Ohne Zutaten kann auch der Beste seines Fachs keine Wunder vollbringen. Für die Madeleines fehlen Zitrone, Rum und Natron. Für die Chinois gibt es keine Sahne, Vanille und Rosinen. Aber er hat sich fest vorgenommen, seinem Grand Trèsort eine Überraschung zu backen. Die Lebensmittel waren bereits öfter knapp, bis jetzt ist ihm immer noch etwas eingefallen. Beherzt greift er in die Trickkiste beziehungsweise in die Gewürzschublade und findet einen Rest Anis. »Mon duie, das Glück ist mit den Liebenden.« Nur wie lange noch? Es ist gefährlich, diese Liebe, auch wenn er als Kriegsgefangener viele Freiheiten genießt, bleibt er dennoch der Feind und nicht nur das. Aber wer denkt schon an die Gefahr, wenn er vom Küssen träumt. Das Träumen kann kein Krieg der Welt verbieten.
Mit Wasser verdünnte Milch, Mehl, Hefe, etwas Zucker, einer Prise Salz, einem Esslöffel Aniskörnchen und dem letzten Stückchen Butter bereitet er fröhlich pfeifend einen geschmeidigen Teig. Teilt diesen später in drei Teile, rollt sie zu Würsten und verdreht sie dann kunstvoll zu einem Zopf. Mit der Messerspitze ritzt er ein E in den Teig, als er einen zweiten Anfangsbuchstaben hinzufügen will, betritt der Bäckermeister die Backstube, augenblicklich verstummt sein Pfeifen, schnell schiebt er das Backwerk in den Ofen.
Zwei Soldaten fuchteln wild mit den Armen und rufen etwas von der Flakstellung, aber Edith versteht sie nicht. Sie schmunzelt und glaubt, der Frühling ist den beiden zu Kopf gestiegen. Dann schaut sie den Kindern, vier Jungen und ein Mädel, auf der Buhne beim Angeln zu. Gleich darauf erkennt sie den Grund für die Aufregung der Männer. Sie lässt ihr Fahrrad in den Sand fallen und rennt auf die Buhne zu.
Das Flugzeug fliegt so tief, dass Edith die Kokarde identifizieren kann. Aber sie kann sich nur noch schreiend zu Boden werfen und sieht, dass die Kinder es ihr gleich tun. Dann eröffnet der Tommy das Feuer. Die Kugeln ploppen neben der Buhne ins Wasser, einige schlagen dicht neben Edith in den Sand, dabei spritzen winzige Steinchen auf ihren Kopf und rieseln ihr durch die Haare in den Nacken. Gänsehaut überzieht ihren Körper und lässt sie frösteln. Der Beschuss ist heftig, aber kurz und das Glück mit ihnen, niemand hat auch nur einen Kratzer abbekommen. Der Tiefflieger brummt noch ein wenig in ihren Ohren, danach ist es still.
Während sie den Schreck verdaut, kreischen die Rotzlöffel schon wieder fröhlich herum, und halten ihre Angel drohend zum Himmel. Ist ihnen denn nicht bewusst, dass es gerade um ihr Leben ging? Der Krieg stumpft selbst die Kinder ab. Es ist ja auch nicht der erste Angriff dieser Art. Fast täglich wird Wangerooge auf diese oder schlimmere Weise attackiert. In Ediths Magen aber breitet sich ein seltsames Gefühl aus. Zu dem ganzen Spektakel lacht die Sonne, doch der Schein trügt.
25. April 1945
Liebes Tagebuch!
Der gestrige Tag war so schön wie verrückt. Ein paar Inselkinder und ich wären fast einem Tiefflieger-Angriff zum Opfer gefallen. Es war verdammt knapp. Zwei Soldaten haben versucht uns zu warnen, aber ich hab sie einfach nicht verstanden. Einen Fliegeralarm habe ich nicht gehört, das lag wohl an den hohen Dünen. Ich habe immer noch ein Zittern im Bauch. Aber Schwamm drüber, es gab auch was Tolles. Ich habe meinen Schatz kurz getroffen, er war unheimlich aufgeregt und hatte es sehr eilig, aber er will, dass wir uns heute Abend um 17:30 Uhr im Bremer-Heim treffen, weil er mir unbedingt etwas Wichtiges sagen muss.
Ich glaube, es ist so weit, er will mir einen Antrag machen. Es war niedlich, ihn so aufgekratzt zu sehen. Er hatte ganz rote Wangen. Sicher plant er eine tolle Überraschung für mich. Ich kann es kaum noch erwarten.
Edith legt die Hände in den Schoß und lehnt sich zurück, schließt dabei ihre Augen und stellt sich vor, wie ihre beste Freundin ihr den grünen Myrtenkranz mit Schleier auf den Kopf legt.
Ihre Lippen formen die Worte und ein leises »Ja, ich will« verlässt ihren Mund. Sie sieht zu dem kleinen Wecker, der ihr 14 Uhr anzeigt. Dann klappt sie ihr Tagebuch zu und haucht verschwörerisch: »Später werde ich deine Seiten mit Liebesgeflüster füllen.«
Sie legt das Buch zurück in sein Versteck. Nicht ahnend, dass es dort für immer bleiben wird.
Um 14:25 Uhr desselben Tages starten in Südost-England auf 25 Flugplätzen 480 Bomber. Die Piloten sind kampfbereit und besteigen unter Jubelrufen ihre Maschinen. Der Krieg ist so gut wie vorbei, das werden sie den Deutschen jetzt mal so richtig deutlich machen. Franzosen, Kanadier und Engländer steigen mit ihren Lancaster-Halifax-Bombern und den Mosquitos in den klaren Himmel und hinterlassen ein ohrenbetäubendes Geräusch.
Er will, dass alles hübsch wird, für den wichtigsten Moment in seinem Leben. Die gelben glockenartigen Blumen findet er schön, ihren Namen mag er nicht. Trotzdem ist er stolz, dass er der Frau aus der Pastorei die Narzissen abschwatzen konnte. Obwohl sie ein Geschenk ihrer Schwester vom Festland waren. Seinem Charme zu widerstehen, ist eben nicht leicht.
»Wenn die wüsste«, kichert er leise vor sich hin. Die Kuschelecke hat er mit alten Kissen und Decken ausgelegt. Für das leibliche Wohl ist auch gesorgt, na ja, das ist auch eher Nebensache. Zufrieden reibt er sich die Hände und ist stolz auf die gemütliche Atmosphäre, die er geschaffen hat. Leider ist von dem schönen Wetter in der kleinen Kammer nichts zu sehen. Das Fenster ist mit Brettern vernagelt. Was wiederum auch neugierige Blicke abhält, das seinem Vorhaben mehr als dienlich ist.
»Angriffsziel ist Wangerooge«, kam es um 16 Uhr von der Marinehelferin Ilse und ihre Stimme zittert, als sie sagt: »Es sind viele, verdammt viele.«
Edith hat es geahnt, ihr Gefühl sie nicht betrogen. Der Vorfall gestern an der Buhne hat ein übles Nachspiel. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich doch eigentlich auf ihr Rendezvous vorbereiten will. Nein, das darf nicht sein. Ist die Lage wirklich so ernst? Es wird ja noch nicht mal Alarm gegeben.
Edith lässt den Bleistift nervös zwischen ihren Fingern hin und her tanzen und knabbert dabei an der Unterlippe. Die Stimme von Obergefreiten Georg reißt sie aus ihrer Lethargie: »Das wird schlimm, Leute, wir haben an die 500 Bomber ausgemacht, die wollen uns rösten. Alle, die hier nicht gebraucht werden, ab in den Bunker!« Der Bleistift rollt über die Tischkante, noch bevor er zu Boden fällt, hat Edith den Raum der Signalstation schon verlassen. Ihr Weg führt nicht in den Schutzbunker.
Das schöne Wetter kann nicht über die Bedrohung hinwegtäuschen, die sich am Wangerooger Himmel zusammenbraut. Sie tritt so fest in die Pedale, dass es quietscht, als würden die Tritte dem Fahrrad Schmerzen bereiten. Eigentlich hatte sie sich ein bisschen aufhübschen wollen, bevor sie sich mit ihm trifft. Nun wird sie ihm wohl verschwitzt das Jawort geben.
Plötzlich wird ihr klar, wie irrsinnig dieser Gedanke ist. Wie kann sie nur glauben, dass alles seinen normalen Gang geht. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass er gar nicht am verabredeten Ort wartet, weil er auch in einem Bunker …, und wenn ich zu früh bin? Ich habe ja noch über eine halbe Stunde Zeit.
Edith schüttelt den Gedanken von sich. Er muss einfach da sein, er muss. »Sollte ich heute sterben, dann nur in den Armen des Mannes, den ich liebe«, keucht sie über den Lenker gebeugt. Nichts anderes wird sie zulassen, Luftangriff hin oder her.
Hastig betritt Paul das Bremer Haus, die kleine Verspätung lässt das Flattern in seiner Magengrube anschwellen. Verstohlen sieht er sich um, die Luft ist rein. Schnell huscht er durch die schmale Kammertür. Viel Zeit bleibt ihm nicht.
Im nächsten Moment blickt er in die für ihn schönsten Augen der Welt. Das Lächeln, das den Mund umspielt, sagt mehr als tausend Worte. Alle Bedenken fallen ebenso schnell wie die Kleidung von ihm ab. Diese schiebt er mit dem Fuß zur Seite in die Ecke, dicht neben dem Gewehr. Dann sinkt er in die ihm entgegengestreckten Arme.
Seine Finger gleiten sanft über die weiche Haut. Ihre Hände greifen sich und krallen fest ineinander. In inniger Umarmung rollen sie über den Boden und hauchen sich Liebesschwüre ins Ohr. Er taucht seine Nase in das dunkle kräftige Haar, das sich durch den Schweiß leicht zu kräuseln beginnt, und zieht den Duft tief ein. In diesem Moment werden zwei Körper zu einem. Raum und Zeit sind vergessen und die Gefahr, die sich am Himmel zusammenbraut, nicht existent. Der Fliegeralarm in weiter Ferne.
16:50 Uhr. Der Tod fliegt in großer Formation und unaufhaltsam der Insel Wangerooge entgegen. Das Brummen der Motoren lässt die Spiekerooger nichts Gutes ahnen. Nur noch wenige Minuten und sie wissen, dass kein Gebet der Nachbarinsel noch helfen wird.
Edith kümmert das nicht, sie ist bereit, ihre guten Vorsätze über Bord zu werfen. Sie ist sich auch sicher, dass sie einen Weg finden werden, diese Insel gemeinsam zu verlassen. Ihre Haare kleben schweißnass im Gesicht und ihr Kopf glüht. Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Mauer, um kurz zu verschnaufen.
Das Dröhnen, das sich unheilvoll durch die Luft schiebt, treibt sie zur Eile.
Sie findet die Kammer wie beschrieben. Doch bevor sie eintritt, ist ihr, als höre sie Geräusche von drinnen. Das Ohr fest an die Tür gepresst, vernimmt sie ein Flüstern.
»Mon Chou Chou, davon abe isch geträumt.«
Ehe sie sich selbst fragt, wer diese Chou Chou ist, stößt Edith die Kammertür so heftig auf, dass der Griff hart gegen die Wand knallt.
Erschrocken drehen sich Paul und Etienne um und starren in das entsetzte Gesicht von Edith. Das schummrige Licht einer Laterne lässt sie anfangs nur mühsam erkennen, was sie jetzt, niemals, hatte sehen wollen. Mit weit geöffnetem Mund steht sie da und begreift nur langsam, dass für sie wieder einmal alles falsch läuft.
Paul findet als Erster zur Sprache zurück. »Edith, es tut mir leid, so solltest du das nicht erfahren. Deshalb wollte ich dich hier treffen, dir alles erklären und dich um Hilfe bitten. Weil wir von der Insel fliehen wollen. Aber du bist zu früh, viel zu früh. Du verstehst uns doch? Beste Freunde müssen zusammenhalten, oder? Edith, sag was!«
Verlegen greift Etienne nach dem Zipfel einer Decke, um ihre nackten Leiber zu bedecken. Er will etwas sagen, aber sein Gefühl warnt ihn, jetzt besser in Schweigen zu verharren. Edith schluckt den trockenen Kloß hinunter und schnappt nach Luft, bevor die Empörung aus ihr herausbricht. »Das ist ja ekelhaft, einfach widerlich, wie kannst du nur glauben, dass ich das verstehe, geschweige denn gutheiße. Ich dachte, du liebst mich, willst mich heiraten und mit mir eine Familie gründen. Stattdessen treibst du es mit diesem Franzmann, verdammt, das ist der Feind. Ich war also nur so was wie eine Tarnung für dich«, schreit Edith den beiden so heftig entgegen, dass ihr die Stimme versagt. Tränen rinnen dabei über ihre Wangen und tropfen auf die Bluse.
Während Paul sich in Beteuerungen verliert, dass es weder eine Liebesbeziehung zwischen ihnen gab, noch die Absicht auf eine Heirat bestand und das alles nur ein furchtbares Missverständnis sei, wächst in Edith ein Geschwür von purem Hass.
»Edith, bitte, ich habe mir gerade von dir Hilfe erwartet, lass uns nicht im Stich. Bedeutet dir unsere Freundschaft denn nichts?« Paul senkt seinen Blick und lehnt sich an Etiennes Schulter. Etienne kann vor Angst die Augen nicht von Edith wenden und flüstert: »Du bist zutiefst verletzt, ich verstehe das, aber Paul wollte das nicht, wirklich.«
Das Gewinsel der beiden, sie doch wenigstens nicht zu verraten, erreicht Edith nicht mehr. Ihr Blick fällt auf das Gewehr in der Ecke. Ohne Zögern ergreift sie es, legt an und feuert zwei Schüsse ab. Der Boden unter ihren Füßen bebt und Edith ist erstaunt, was einfache Gewehrschüsse für eine Kraft hervorbringen. Dann wird ihr klar, dass der Luftangriff begonnen hat. 17 Uhr zeigt Pauls Taschenuhr, die auf den Holzdielen neben seiner Hose liegt.
Edith dreht den leblosen nackten Männerkörpern den Rücken zu und geht, wie sie gekommen ist.
Draußen ist der Himmel schwarz und die Hölle offenbart ihr wahres Gesicht. Edith fühlt sich, als sei der Teufel höchstpersönlich in sie gefahren, ihr Körper zittert so stark, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Es hilft ihr auch nicht, sich einzureden, nur ihre Pflicht als Deutsche erfüllt zu haben.
Der Ekel steigt wieder in ihr hoch, diesmal gegen sich selbst. Ihr Magen krampft sich zusammen, Saures fließt in die Mundhöhle. Edith fällt auf allen Vieren in den Sand, wo ein Schwall Erbrochenes aus ihrem Mund schießt.
Um sie herum hagelt es Bomben ohne Pause. Edith kann sich noch zur St.Willehad-Kirche schleppen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, glaubt sie sich in Sicherheit. Einen Augenblick später machen Bomben die Kirche dem Erdboden gleich.
Am 25.04.1945 gegen 14:25 Uhr machen sich auf 25 Flugplätzen in Südost-England Flugzeuge für einen letzten Feindflug startklar. Die Flugzeugbesatzung betrug etwa 3.300 Mann. Sie führten insgesamt 2.176 Tonnen Bombenfracht mit sich.
482 viermotorige Lancaster und Halifaxbomber, davon 16 zweimotorige Mosquitos als Zielmarkierer, heben um 14:30 Uhr mit dem Ziel Wangerooges Küstenbatterien ab. Um 17 Uhr werfen die Royal Air Force, die Royal Canadian Air Force und der Forces aériennes françaises libres in nur 15 Minuten und 3 Angriffswellen über 6000 Bomben auf die Insel ab. Erst um 16:47 Uhr wurde der Voralarm für die Bevölkerung ausgelöst.
Am Boden starben:
–131 Soldaten
–121 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus den Niederlanden, Belgien, Polen, Frankreich und Marokko
–6 Marinehelferinnen
–21 einheimische Frauen und Kinder
– 20 Personen im Befehlsbunker starben bei einem Volltreffer
Nur 13 Tage später war der Krieg zu Ende.
Quellennachweis: Zeugnisse aus unheilvoller Zeit von Hans-Jürgen Jürgens, Wikipedia
Da stand sie jetzt ganz alleine am Strand von Wangerooge und hielt die kleine Schatulle zwischen ihren kalten Fingern. Es war über eine Woche her, dass ihre geliebte Großmutter Birgitta Steen auf dem Inselfriedhof beerdigt worden war. Jetzt endlich hatte Britta die Kraft gehabt, in der Hinterlassenschaft der Verstorbenen zu stöbern. Es war an ihr, auszusortieren und ein paar Dinge an karitative Einrichtungen zu verschenken, denn es gab niemanden, der Interesse an dem Erbe von Birgitta Steen gezeigt hatte.
Britta starrte aufs Meer hinaus. Der Wind trocknete die Tränen, die immer wieder in den Augenwinkeln funkelten, wenn sie an ihre Großmutter dachte. Sie war der liebste Mensch in ihrem Leben gewesen. Immer hatte ihre Omima, wie Britta sie auch im Erwachsenenalter noch liebevoll genannt hatte, ein offenes Ohr für die Probleme eines heranwachsenden Teenagers gehabt und dann auch für die junge Frau, zu der sie mit den Jahren geworden war.
Britta blickte auf den Gegenstand in ihren Händen. Es war der Wunsch ihrer Großmutter gewesen, dass sie die Schatulle erst nach ihrem Tode öffnen sollte. So hatte sie es auf dem Sterbebett liegend immer wieder mit bebender Stimme zum Ausdruck gebracht. »Kind, mein Liebes«, hatte die alte Dame geflüstert und Britta mit eindringlichem Blick angesehen, »die Schatulle unter meinem Kopfkissen, nimm sie, wenn ich von euch gegangen bin und du dich stark genug dafür fühlst.«
War sie jetzt so weit?, fragte sich Britta und wischte sich eine lange dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Blick verfing sich in den Wellen, die ihr Mut zuzuflüstern schienen. Langsam lief Britta den Weststrand entlang und grub ihre Füße ab und an in den Sand, um darin Kreise zu ziehen, wie sie es auch immer gerne mit ihrer Omima gemacht hatte, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. Es half ja nichts. Irgendwann würde sie sich überwinden müssen. Mit einem tiefen Seufzer ging Britta auf einen Steinvorsprung nahe den Dünen zu und wischte mit der flachen Hand über die Kassette, um das schöne Moosgrün vom Sand, der sich darauf bereits abgesetzt hatte, zu befreien. Sie setzte sich auf den Stein und zog den goldenen Schlüssel, den ihre Großmutter ihr kurz vor ihrem Ende in die Hände gedrückt hatte, aus der Manteltasche und steckte den winzigen Bart in das kleine Schloss. Sie drehte den Schlüssel um und machte die Schatulle auf.
Ein wütender Sturm tobte schon seit Stunden über die Insel Wangerooge hinweg. Viele befürchteten, von einer schweren Sturmflut heimgesucht zu werden, und saßen bepackt mit den wichtigsten Papieren, verstaut in einer Handtasche oder einem Koffer, am Küchentisch und beteten. Auch Birgitta Steen hatte ihre Habseligkeiten vor sich auf den Tisch gelegt. Es war nicht viel, dachte sie und blickte aus dem Fenster. Es war auch nicht der erste Sturm, den sie auf der zweitkleinsten ostfriesischen Insel nach Baltrum erlebte. Und so machte sie sich kaum Sorgen. Sie wohnte schon seit einigen Jahren alleine nahe am Oststrand in einer bescheidenen, aber gemütlichen Kate, die sie von ihren Eltern übernommen hatte.
Ihr Vater war Leuchtturmwärter gewesen und hatte ihr etliche Dinge über das Leben zwischen Land und Meer erzählt. Sie hatte immer ein festes Band des Vertrauens umwoben, was ihrer Mutter, einer einfachen Hausfrau, stets ein Dorn im Auge gewesen war. »Du machst aus dem Mädchen noch einen Taugenichts«, hatte sie einmal mahnend gesagt, als Birgitta wieder freudestrahlend neben ihrem Vater gestanden hatte, um mit zum Leuchtturm zu laufen. »Sie wird nie lernen, was eine Frau im Haus alles zu erledigen hat«, waren oft die Worte, die sie ihrem Mann und ihrer Tochter mit auf den Weg gab. Birgitta fragte sich dann immer, was diese Qualitäten einer Hausfrau sein sollten, denn behaglich fand sie es in ihrem Zuhause nicht. Es war weder so einladend noch freundlich und sauber, wie sie es oft bei den Eltern ihrer Schulkameraden erlebte. Und dort gab es auch nicht so viele Schnapsflaschen im Haus.
Birgitta Steen seufzte und stand vom harten Küchenstuhl auf. Sie wollte ihre Gedanken jetzt nicht in Vergangenem vergraben. Auch wenn sie ihren Vater über alles geliebt hatte, so waren doch die Jahre ihrer Jugend nicht die schönsten gewesen. Ihre Mutter war irgendwann zu einer erbärmlichen Trinkerin geworden, die das nicht mehr vor Besuchern und der Öffentlichkeit versteckte. Ihr Vater hatte lange stillgehalten und gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Aber da auch er nur ein Mann mit begrenzter Leidensfähigkeit war, hatte er sich eines Tages von seiner Frau abgewandt und sie vor die Wahl gestellt. Birgittas Mutter hatte sich für den Alkohol entschieden und war von der kleinen Insel weggezogen.
Durch ein lautes Klopfen an ihre Tür wurde Birgitta Steen aus diesen Gedanken herausgerissen.
»Birgitta, bist du zu Hause?« Das war Otto Martens, ihr Nachbar.
»Ja, komm rein, Otto«, rief sie und die Tür ging auf.
»Das ist ja vielleicht ein Wind da draußen«, sagte er und nahm seine Mütze ab, um sich das Haar zu richten.
»Meinst du, dass es noch ärger wird mit dem Wetter?«, fragte Birgitta Steen.
»Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht. Aber man muss immer mit dem Schlimmsten rechnen, das weißt du ja.«
Wangerooge wurde nun schon seit einigen Jahren, neben den Gefahren von Sturmfluten, auch von den Kriegswirren der Naziherrschaft gebeutelt, da sie als wichtiger Stützpunkt zur See nahe der Stadt Wilhelmshaven gelegen betrachtet wurde.
»Ja, ich weiß«, murmelte Birgitta Steen, die ein wenig erleichtert war, sich dem Sturm jetzt in Gesellschaft widersetzen zu können. »Möchtest du vielleicht einen Tee?«
»Ja, das wäre wirklich nett«, antwortete Otto Martens und rückte sich einen Stuhl am Küchentisch zurecht. »Du hast deine Siebensachen schon zusammengesucht?« Er deutete auf die abgegriffene schwarze Mappe, die auf dem Tisch lag.
»Ach, das …«, Birgitta Steen schüttelte leicht mit dem Kopf. »Das habe ich ja immer bereitliegen. Für den Fall. Aber gebraucht habe ich das noch nie.« Sie musste Otto Martens nicht mehr viel erklären, sie kannten sich mehr als dreißig Jahre, wie man sich auf einer Insel kennt, wenn man sich praktisch Tag für Tag über den Weg läuft. Die beiden hatten in der vergangenen Zeit überdies engere freundschaftliche Bande geknüpft. Sie lebten jeder für sich alleine, und sie verstanden sich gut. Unterhielten sich gerne über ähnliche Themen und waren sich auch nicht fremd, wenn einmal nicht gesprochen wurde. Otto Martens hatte seine Frau durch eine heimtückische Krankheit verloren und Birgitta Steen, nun sie hatte aufgrund ihres Elternhauses nie das große Bedürfnis nach Nähe zu einem Menschen entwickeln können, mit dem es sich wirklich leben ließ.
»Bei mir zu Hause habe ich alles soweit dicht«, sagte Otto Martens. »Es scheint das Schlimmste an uns vorüberzuziehen. Die Menschen sind in ihren Häusern und warten. Was sollen sie auch sonst machen.« Es war Ende Oktober, eine Jahreszeit, in der die Inselbewohner meistens unter sich waren.
Birgitta Steen stellte die Teekanne mit einem zierlichen Blumenmuster auf ein kleines Stövchen, das auf dem Tisch stand. »Er muss noch ein bisschen ziehen«, sagte sie mehr zu sich selbst und holte zwei Tassen mit dem gleichen Muster aus dem Schrank. Dann setzte sie sich zu Otto Martens an den Küchentisch und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Sie konnte das Licht des Leuchtturms sehen, das über das Meer und die Dünen glitt. Sie ging jetzt auf die fünfzig zu, da wurde man wohl melancholisch, dachte sie und goss den Tee ein.
Gerade als Otto Martens in seinem Tee mit viel Kluntje und Sahne herumrührte, hörten die beiden draußen einen lauteren Tumult.
»Los, schnell … alle müssen mithelfen!« Diese Stimme kannten sie, sie gehörte dem Inselpastor Heinrich Fortmann.
»Wenn der so schreit, dann ist es ernst.« Otto Martens schnappte sich seine Mütze. »Ich geh mal raus und sehe nach, was da los ist.«
»Ja, ist gut«, sagte Birgitta Steen, die noch unschlüssig war, ob sie sich weiter an ihrem Tee festhalten oder auch hinauseilen sollte. Sie stellte sich ans Fenster und sah, wie ihr Freund zu einer Gruppe wild gestikulierender Männer eilte und sich ihnen anschloss.
Es muss etwas Schlimmes passiert sein, dachte sie und setzte sich wieder an den Küchentisch. Aber was soll eine Frau wie ich denn schon machen?
Als Otto Martens nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück war, hielt es schließlich auch Birgitta Steen nicht mehr in ihrer stillen Wohnung aus.
Eingepackt in ihren dicken Wintermantel und mit festen Schuhen ging sie nach draußen und sah sich um. Unschlüssig, wohin sie sich jetzt eigentlich wenden sollte, lief sie zunächst in Richtung Leuchtturm.
Nach ein paar hundert Metern traf sie Wiebke Flessner, die Besitzerin der größten Bäckerei auf Wangerooge. »Was ist hier los?«, fragte Birgitta Steen.
»Es hat ein Schiffsunglück am Weststrand gegeben«, antwortete die Bäckersfrau und rieb ihre behandschuhten Hände aneinander.
»Oh, ist es schlimm ausgegangen?« Birgitta Steen machte ein entsetztes Gesicht.
»Es haben alle überlebt, soviel ich weiß«, sagte Wiebke Flessner. »Wir sind jetzt damit beschäftigt, die Schiffsreisenden aufzupäppeln und Unterkünfte für sie zu suchen. Ich muss mich auch beeilen, weil ich Decken holen will. Es fehlt ja am Allernötigsten.« Und schon lief sie weiter und winkte Birgitta Steen noch einmal zu.
Das ist ja schrecklich, dachte sie und machte sich schnell auf den Weg zum Weststrand. Sie ärgerte sich, denn sie hätte schon viel früher mit Otto Martens mitgehen sollen, um zu helfen. Sie war doch sonst nicht so selbstsüchtig, dachte sie ärgerlich.
Als sie endlich dort ankam, sah sie die ganze Bescherung. Ein Segelschiff mittlerer Größe lag bäuchlings am Strand. Emsig waren die fleißigen Helfer damit beschäftigt, die Menschen aus dem Schiff zu retten und in warme Decken zu hüllen. Und da war ja auch Otto Martens. »Hallo, Otto«, rief Birgitta Steen und lief zu ihm hin. »Das ist ja furchtbar, was hier los ist.«
»Oh, Birgitta, du kommst gerade recht.« Ihr Freund zeigte auf ein kleines Mädchen, das sich ängstlich an seine Beine klammerte.
»Wer ist sie denn?«, fragte Birgitta Steen und beugte sich zu dem Kind hinunter.
»Ich weiß es nicht «, antwortete Otto Martens. »Ich bekomme keinen Ton aus ihr heraus. Ich bin mir sicher, dass du als Frau da mehr Erfolg haben wirst.« Er schob das Mädchen zu Birgitta Steen hinüber. »Ich mache mich jetzt mal auf die Suche nach weiteren Gestrandeten«, sagte er und ging davon.
»Komm mal zu mir«, lockte Birgitta Steen das dunkelhaarige Menschenkind und fasste es an der Hand. Sie zog es mit sich auf eine etwas geschütztere Seite des Schiffes, wo sie nicht so vom pfeifenden Wind erfasst wurden. »Na, willst du mir nicht deinen Namen verraten?« Birgitta Steen drückte das zitternde Mädchen fest an sich.
Große Augen sahen angstvoll zu ihr hoch. Der kleine Mund war blau vor Kälte angelaufen und Birgitta Steen hielt es jetzt für das beste, das Kind einfach mit zu sich nach Hause zu nehmen. Wem nützte es denn, wenn sie hier weiter frierend herumstand? Wer wusste schon, wann die Eltern gefunden wurden?
Sie nahm das Mädchen bei der Hand und zog es mit sich. »Komm mit! Bei mir zu Hause bekommst du erst mal einen schönen heißen Tee«, sagte Birgitta Steen und lief mit ihr los. Auf dem Weg traf sie wieder auf Wiebke Flessner.
»Wen hast du denn da im Schlepptau?«, fragte diese und blieb stehen.
»Das ist mein Findelkind«, sagte Birgitta Steen. »Ich gehe erst mal mit ihr zu mir nach Hause, sonst holt sie sich hier draußen noch den Tod.« Sie nahm die Decke, die Wiebke Flessner ihr hinhielt, und wickelte sie fest um das Kind, um es vor der Kälte und dem Wind zu schützen. »Aber es ist gut, dass ich dich treffe«, fügte sie hinzu, »denn jetzt wisst ihr ja, wo ihr die Lütte findet, wenn ihr die Eltern habt.«
Wiebke Flessner nickte. »Ja, ist gut. Du machst das schon richtig. Ich geh mal wieder runter zum Weststrand.« Die Frauen nickten sich noch einmal zu und gingen jede ihrer Wege.
Zu Hause angekommen nahm Birgitta Steen dem Mädchen die etwas klamme Decke und die Jacke ab. Auch die Schuhe und die Socken, die mittlerweile ganz durchgeweicht waren, zog sie dem Kind aus und rieb an ihren Füßen. »Setz dich bitte an den Tisch dort«, sagte Birgitta Steen lächelnd. »Ich hole dir mal ein paar dicke Stümpfe von mir, damit du nicht mehr frierst.« Das kleine Mädchen sah sich schüchtern in dem fremden Zimmer um.
»Hab keine Angst«, sagte Birgitta Steen. »Gleich, wenn du deinen warmen Tee getrunken hast, wirst du dich besser fühlen. Und dann werden sicher auch bald deine Mama und dein Papa gefunden und alles wird wieder gut.«
Das Kind schlich vorsichtig an den Küchentisch und kletterte auf einen Stuhl. Sie ist höchstens drei Jahre alt, dachte Birgitta Steen. Ein schreckliches Erlebnis für so eine kleine Kinderseele.
Sie seufzte und lief in ihr Schlafzimmer, um die Socken und eine dicke Decke zu holen. Anschließend stellte sie Teewasser in einem verbeulten Aluminiumkessel auf den Ofen. Als die Kleine gut verpackt wieder an Farbe gewann und der Tee aufgegossen war, setzte sich Birgitta Steen zu ihr an den Tisch.
»Na, geht es dir schon ein bisschen besser?«, fragte Birgitta Steen und das Mädchen nickte. »Magst du mir jetzt sagen, wie du heißt? Ich bin Birgitta.«
Das Kind fing an mit dem Kopf zu wippen, antwortete aber nicht. Birgitta Steen fühlte sich hilflos. Sie war den Umgang mit Kindern nicht gewohnt und konnte auch nicht aus eigener Erfahrung schöpfen. Ratlos sah sie zu ihrem Küchenschrank. Nie hatte sie Schokolade im Haus, wenn man sie am nötigsten brauchte. Vielleicht tut es ja Honig, dachte sie, stand auf, und lief zum Küchenschrank. »Sieh, hier habe ich etwas Süßes für dich.« Birgitta stellte das Glas auf den Tisch. »Möchtest du ein Brot für kleine Bärenkinder?«
Das erste Mal huschte ein zartes Lächeln über das Gesicht des Mädchens. Dann nickte es. Geschafft, dachte Birgitta Steen und nahm schnell Weißbrot, ein Brett und Messer sowie ein Stück Butter aus dem Schrank und fing an, dem Kind ein Brot zu schmieren. Als es fertig war, schob sie den Teller zu der Kleinen rüber. »Hier, für dich. Und jetzt hole ich den Tee, damit dein Bauch wieder warm wird.« Das Mädchen lachte.
»Das sagt Mama auch«, flüsterte es. »… und ich bin Britta.«
»Oh, was für ein schöner Name«, sagte Birgitta Steen und goss den Tee ein, tat Zucker und Milch dazu und rührte um. »Er klingt ja ähnlich wie meiner. Weißt du noch, wie ich heiße?«
»Nein«, sagte das Mädchen und ihr kleines Gesicht verdunkelte sich.
»Das ist nicht schlimm, so leicht ist der Name ja auch nicht zu behalten. Ich heiße Birgitta.«
Erleichtert seufzte das Mädchen auf und sagte: »Hm, Birgitta …« Dann biss es in das süße Honigbrot. »Hast du auch Kinder?« Das Eis schien gebrochen.
»Nein, leider nicht. Aber was meinst du, du könntest mich ja Omima nennen, wenn du magst, das lässt sich leichter aussprechen.«
»Omima«, kicherte das Mädchen, »das hab ich noch nie gehört. Das ist lustig. Omima … Omima … Omima.« Wie einen Refrain wiederholte das Kind dieses Wort, aß von dem Brot, trank vom Tee und schaukelte auf dem Stuhl hin und her.
Britta sah nur einen weißen Briefumschlag und fragte sich, was sie erwartet hatte. Auf dem Kuvert stand »Für meine Britta von ihrer Omima«. Schon wieder musste sie schluchzen. Sie griff nach dem Umschlag, stellte die Schatulle in den Sand und zog mehrere Seiten dicht beschriebenes einfaches Briefpapier heraus. Als sie die Seiten auseinanderfaltete, wurde ihr Blick von einem Schleier dicker Tränen ganz glasig. Britta zog ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche und wischte sie sich fort. Dann begann sie zu lesen.
Meine liebe Britta, wenn du dies liest, bin ich für immer fort. Und es schmerzt mich sehr, dass ich nie den Mut gefunden habe, noch mit dir zu Lebzeiten über das, was du nun erfahren wirst, zu sprechen. Nenn mich einen Feigling, schimpfe auf mich und verachte mich, wenn es deine Gefühle nicht anders verarbeiten können. Aber glaube mir eines, was du nun erfährst, hat nie etwas an meiner Liebe zu dir geändert.
Immer wieder blickte Britta für kurze Augenblicke auf das Meer hinaus. Sie hatte Angst, weiterzulesen, weil sie instinktiv spürte, dass das, was sie jetzt lesen würde, ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellte.
Als ich dich im Jahr 1944 bei dem gekenterten Schiff das erste Mal sah, gab es für mich keine Frage, was zu tun sei. Ich nahm dich mit, damit du nicht weiter frieren musstest. Und dann bist du nie mehr von mir gegangen. Und das war das schönste Glück, das ich je erlebt habe, meine geliebte Britta. Ich habe dir damals ein Bärenbrot mit Honig gemacht, vielleicht erinnerst du dich noch daran.
Und ob Britta sich erinnerte, dicke Tränen rannen ihre Wangen hinab. Das Bärenbrot war zu einem Ritual ihrer Kindheit geworden.
Wir haben lange nach deinen Eltern gesucht, als endlich alle Passagiere des Schiffsunglücks bei den vielen Helfern eine Notunterkunft gefunden hatten. Es schien, als würde niemand auf dem Schiff wissen, wer du überhaupt warst. Dann, nach einigen Tagen wurde auf der anderen Seite der Insel eine tote Frau an Land gespült. Sie trug ihre Habseligkeiten in einem Lederbeutel um den Bauch geschnürt. Die persönlichen Papiere waren in einem gut verklebten Plastikbeutel verpackt, was wohl den Kriegswirren geschuldet war. Wer wusste damals schon, wo ihn das alles hintreiben konnte. Und so erfuhren wir, dass diese Frau, die Hanna Schmidt hieß, offenbar deine Mutter gewesen sein musste, denn sie hatte auch ein Bild von dir bei sich, liebste Britta. Weitere Papiere zu dir fanden wir aber nicht. Und so bliebst du schlussendlich bei mir und ich nahm dich an Kindesstatt an. Du nanntest mich stets Omima, und nun, was machte es eigentlich für einen Unterschied, dass ich nicht deine wirkliche Großmutter war? Ich hatte dich genauso lieb, als sei ich es gewesen, und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Denn aus eigener Erfahrung meiner Kindheit weiß ich, wie sehr man die Liebe eines Menschen vermissen kann. Das sollte dir nie geschehen. Ja, ich habe dich immer geliebt, als seist du mein eigen Fleisch und Blut. Mein ganzes Herz gehörte dir.
Britta war hin und hergerissen, als sie dies alles las. Ihre Tränen waren getrocknet und hatten einer Neugier nach ihren Wurzeln Platz geschaffen. Sie wurde jetzt bald einundzwanzig Jahre alt, erwachsen, ein reifer Mensch, dem die Welt offen stand. Und plötzlich wurde sie durch einen Brief in eine Unsicherheit wie die des kleinen Mädchens, das sie damals am Strand gewesen war, zurückgeschleudert. Wer war sie wirklich? Sie musste weiterlesen, so weh es auch tat.
Britta, du bist auf unserer Insel herangewachsen und hast nie gefragt, wer du wirklich bist. Wie hättest du auch auf die Idee kommen sollen, dass dein Leben nur eine einzige große Lüge sein könnte. Vielleicht empfindest du es so, wenn du diese Zeilen liest. Und ich mag es dir nicht einmal verdenken. Du fühlst dich belogen und betrogen, weil wir dich hintergangen zu haben scheinen. Doch so war es nicht, und dies sage ich nicht nur zu meiner eigenen Entschuldigung, um meine Seele freizusprechen. Ich habe versucht, deine Wurzeln zu finden. Die Menschen, zu denen du rechtmäßig gehörst. Glaube mir, in den letzten Jahren der Kriegswirren war das gar nicht so leicht. Als endlich Ruhe einkehrte und wir wieder Luft zum Atmen fanden, da habe ich mich auf den Weg gemacht, um deine Vorfahren und die Verwandten deiner Mutter Hanna zu suchen. Ich fuhr nach Düsseldorf zu der Adresse, die in ihren Papieren angegeben war. Doch diese existierte schon lange nicht mehr. Keiner in der Straße hatte je von einer Hanna Schmidt gehört. So ging ich zum Meldeamt, um mehr zu erfahren. Und tatsächlich hatte man eine Frau namens Hanna Schmidt mit den gleichen Daten registriert. Allerdings hatte sie nie ein Kind gehabt. Der Fall wurde immer mysteriöser und ängstigte mich. Doch ich suchte weiter, weil ich es dir schuldig war, meine liebe Britta.
Meine nächsten Auskünfte erhielt ich in einem Krankenhaus, wo Hanna Schmidt als ungelernte Helferin in den Kriegsjahren beschäftigt war. Man konnte damals jede Hand gebrauchen. Ich fand sogar eine Frau, die seinerzeit mit ihr auf einer Station gearbeitet hatte. Sie erinnerte sich gut an Hanna Schmidt, wusste aber auch nichts von einem Kind. Sie hatte ihre Kollegin dann irgendwann aus den Augen verloren und nie wieder etwas von ihr gehört.
Bis zum heutigen Tag, an dem ich hier auf dem Sterbebett liege, habe ich es nicht geschafft, herauszufinden, wer du wirklich bist, meine liebe Britta. Und das schmerzt mich bei meinem Abschied von dieser Welt am allermeisten. Ich trage eine Schuld in mir, weil ich mit diesen Zeilen vermutlich dein ganzes Leben aus den Angeln reißen werde, und doch kann ich nichts dagegen unternehmen. Niemals hätte ich reinen Herzens mein Leben mit dieser Lüge verlassen können.
In Britta tobten Gefühle von Mitgefühl und Wut. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da soeben gelesen hatte. Sie war nicht das Enkelkind von Omima? Aber wer war sie dann? Auch diese Hanna Schmidt, mit der sie offenbar auf dem gekenterten Schiff unterwegs gewesen war, war nicht ihre wirkliche Mutter? Das war alles zu viel auf einmal. Sie fühlte sich nicht mehr als sie selbst. Britta und Omima, dieses Band der Liebe, es war durchschnitten, existierte nicht weiter. Und doch war Birgitta Steen der einzige Mensch gewesen, der immer für sie gesorgt hatte.
Britta sah aufs Meer hinaus. Sie fühlte sich müde und enttäuscht. Sie faltete den Brief zusammen und wollte ihn gerade zurück in den Umschlag stecken, als sie einen kleinen Zeitungsschnipsel darin entdeckte, der ihr vorher nicht aufgefallen war.
Kind aus Krankenhaus entführt
Am letzten Donnerstag den 12. Mai 1942 wurde in Dortmund ein Kind nur wenige Tage nach der Geburt aus dem städtischen Krankenhaus entführt. Die Polizei bittet um Hinweise nach Auffälligkeiten zu dem weiblichen Säugling, der kerngesund zur Welt kam.
Sollte ich dieses Kind sein?, fragte sich Britta. Warum hatte Omima diese Notiz mit in den Brief hineingelegt? Vielleicht war das die letzte Spur aus ihrem wirklichen Leben, zu der Birgitta Steen nie Weiteres hatte in Erfahrung bringen können. Aber gab es ein wirkliches Leben neben dem bisher gelebten überhaupt?
Britta schaute lange in die sich brechenden Wellen. Ihre Hände und Füße waren bereits blau gefroren, sie spürte sie schon gar nicht mehr. Dann endlich stand sie auf und lief zum Wasser. Sie zerriss die Zeitungsnotiz in kleine Fetzen und streute sie ins offene Meer.
Diese Geschichte ist rein fiktiv, könnte sich aber durchaus so zugetragen haben, weil die ostfriesischen Inseln immer wieder von schweren Sturmfluten heimgesucht werden. Auch wenn Schiffsunglücke nicht häufig vorkommen, so sind sie dennoch nicht auszuschließen und die damit einhergehenden menschlichen Dramen auch nicht.
Spiekeroog liegt zwischen Wangerooge und Langeoog und wurde urkundlich zum ersten Mal 1398 erwähnt. Sie ist, wie die anderen Ostfriesischen Inseln auch, eine Sandbank, die durch den stetigen Nordwestwind aufgetürmt wurde. So legte man auch hier das Inseldorf in der Mitte des Eilands an, weil dort die größtmögliche Sicherheit für die Menschen herrschte.
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Familien, die Anfang des 17. Jahrhunderts dort lebten, mit Fischfang, der Herstellung von Schill (Muschelkalkgewinnung) und mit der Landwirtschaft. Später kam noch der Walfang hinzu.
Der Walfang konnte allerdings mit Einsetzen der Kontinentalsperre nicht weiter fortgesetzt werden. Ein Teil der damaligen Inselbewohner verdiente sich damals etwas mit Schmuggel hinzu, was allerdings sehr risikoreich war.
Ab 1820 kamen die ersten Badegäste nach Spiekeroog und man baute eine Pferdebahn, damit die Gäste leichter vom Anleger zum Dorf gelangten. Später wurde diese von Dieselfahrzeugen ersetzt. Als die Bark Johanne sank, starben vor Spiekeroog viele Menschen, weil wegen fehlender Ausrüstung nicht geholfen werden konnte. Als sich ein paar Jahre später ein weiteres Schiffsunglück ereignete, gründete man in Emden den Verein zur Rettung Schiffbrüchiger an der ostfriesischen Küste.
Ab 1961 galt Spiekeroog als Nordseeheilbad, 1981 wurde der neue Hafen in Betrieb genommen. Heute gilt die Insel als eine der schönsten. Sie zeichnet sich durch eine pittoreske Dünenlandschaft aus und ist autofrei.