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Für meinen Sohn.
Für meinen Vater.
Übersetzung aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Kollektiv Druck-Reif
ISBN 978-3-492-97348-9
Juni 2016
© XO Éditions, Paris 2015
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »L’instant présent« bei XO Éditions, Paris.
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: Leuchtturm: FinePic® München, Frau: Plainpicture/Glasshouse/J.Calvo
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Die Liebe hat Zähne, sie beißen, die Wunden schließen sich nie.
Die Geschichte unseres Lebens
ist die Geschichte unserer Ängste.
»Hab keine Angst, Arthur. Spring! Ich fang dich auf.«
»Bist du ... bist du sicher, Dad?«
Ich bin fünf Jahre alt. Mit baumelnden Beinen sitze ich auf der oberen Matratze des Stockbetts, das ich mir mit meinem Bruder teile. Die Arme weit geöffnet, sieht mein Vater mich wohlwollend an.
»Los, mein Großer!«
»Aber ich hab Angst ...«
»Ich fang dich auf, das hab ich dir doch gesagt. Du vertraust doch deinem Dad, was, mein Großer?«
»Na klar ...«
»Dann spring, Champion!«
Einen kurzen Moment zögere ich noch. Dann stürze ich mich mit einem breiten Lächeln ins Leere, bereit, meine Arme um den Hals des Mannes zu schlingen, den ich am meisten auf der Welt liebe.
Im letzten Augenblick weicht mein Vater, Frank Costello, bewusst einen Schritt zurück, und ich schlage der Länge nach auf dem Boden auf. Mein Kopf prallt schmerzhaft auf das Parkett. Benommen versuche ich, mich aufzurappeln. Alles dreht sich um mich herum, mein Kiefer tut höllisch weh. Bevor ich in Tränen ausbreche, erteilt mir mein Vater eine Lektion, die ich niemals vergessen werde.
»Im Leben darfst du niemandem vertrauen, verstehst du, Arthur?«
Ich starre ihn entsetzt an.
»Niemandem!«, wiederholt er, sein Ton ist eine Mischung aus Traurigkeit und Wut auf sich selbst. »Nicht einmal deinem eigenen Vater!«
Ich frage mich, was das Schicksal für uns bereithält.
Am ersten Samstag im Juni kreuzte gegen zehn Uhr morgens mein Vater unerwartet bei mir auf. Er hatte Mandelkuchen und Zitronen-Cannoli mitgebracht, die seine Frau für mich gebacken hatte.
»Weißt du was, Arthur? Wir könnten den Tag zusammen verbringen«, schlug er vor und betätigte die Espressomaschine, als wäre er bei sich zu Hause.
Ich hatte ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Die Ellenbogen auf die Küchentheke gestützt, betrachtete ich mein Spiegelbild im glänzenden Chrom des Toasters. Mein Gesicht verschwand fast unter dem Bart, das Haar war struppig, der Blick umschattet von Schlafmangel und übermäßigem Konsum an Apple Martinis. Ich trug ein altes Blue-Öyster-Cult-T-Shirt, das ich noch als Schüler erstanden hatte, und eine verwaschene Bart-Simpson-Unterhose. Am Vorabend hatte ich, nach achtundvierzig Stunden Bereitschaftsdienst, ein paar Gläser zu viel in der Zanzi Bar gekippt, zusammen mit Veronika Jelenski, der aufreizendsten und willigsten Krankenschwester des Massachusetts General Hospital.
Die schöne Polin hatte einen Teil der Nacht mit mir verbracht, dann aber vor zwei Stunden die gute Idee gehabt, das Feld mitsamt ihrem Päckchen Gras und dem Zigarettenpapier zu räumen, was ihr eine Kollision mit meinem Vater ersparte – einem hohen Tier in der chirurgischen Station des Krankenhauses, in dem wir beide arbeiteten.
»Ein doppelter Espresso, die beste Energiespritze, um den Tag zu beginnen«, verkündete Frank Costello und stellte eine Tasse vor mich.
Er öffnete die Fenster, um frische Luft in das Zimmer zu lassen, in dem es noch immer unverkennbar nach Shit roch, verzichtete allerdings auf jeden Kommentar. Ich biss in ein Stück Mandelkuchen und beobachtete ihn dabei aus den Augenwinkeln. Er hatte vor zwei Monaten seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, doch wegen seiner grauen Haare und der Falten in seinem Gesicht wirkte er leicht zehn bis fünfzehn Jahre älter. Trotz allem war er immer noch attraktiv mit seinen ebenmäßigen Zügen und blauen Augen à la Paul Newman. An diesem Morgen hatte er seinen Markenanzug und seine maßgefertigten Mokassins gegen eine alte kakifarbene Hose, einen abgetragenen Troyer und schwere Outdoorschuhe aus dickem Leder eingetauscht.
»Ruten und Köder sind im Pick-up«, erklärte er und trank seinen Espresso. »Wenn wir sofort aufbrechen, sind wir vor Mittag am Leuchtturm. Dort essen wir schnell einen Happen und haben dann den ganzen Nachmittag Zeit zum Angeln. Wenn die eine oder andere Dorade angebissen hat, fahren wir nach Hause und kochen uns den Fisch in Folie mit Tomaten, Knoblauch und Olivenöl.«
Er redete mit mir, als hätten wir uns erst am Vortag gesehen. Es klang ein wenig unecht, aber nicht unangenehm. Während ich mit kleinen Schlucken meinen Espresso trank, fragte ich mich, woher seine plötzliche Lust rührte, Zeit mit mir zu verbringen.
Während der letzten Jahre hatten wir kaum Kontakt gehabt. Ich war fast fünfundzwanzig Jahre alt und damit der Jüngste von drei Geschwistern – zwei Jungen und einem Mädchen. Mit dem wohlwollenden Einverständnis meines Vaters hatten mein Bruder und meine Schwester das von meinem Großvater gegründete Familienunternehmen – eine kleine Werbeagentur in Manhattan – übernommen und so erfolgreich geführt, dass sie hoffen konnten, es in den nächsten Wochen an einen großen Medienkonzern zu verkaufen.
Ich hatte mich immer aus ihren Geschäften herausgehalten. Ich gehörte zwar zur Familie, war aber sozusagen auf Abstand, ein bisschen wie ein Onkel, der ein Boheme-Leben irgendwo in einem exotischen Land führt und dem man gern mal zu Thanksgiving begegnet. Tatsächlich hatte ich die erstbeste Gelegenheit genutzt, um aus Boston zu verschwinden – ein medizinisches Vorbereitungssemester in Duke, North Carolina, vier Jahre Medizinstudium in Berkeley und ein Jahr Tätigkeit als Assistenzarzt in Chicago. Ich war erst vor wenigen Monaten nach Boston zurückgekommen, um hier das zweite Jahr meiner Ausbildung zum Facharzt für Notfallmedizin zu absolvieren. Ich arbeitete an die achtzig Stunden die Woche, aber ich liebte diesen Job und den damit verbundenen Stress. Ich liebte die Leute und die Konfrontation mit der brutalen Realität in der Notaufnahme. Die restliche Zeit trieb ich mich in den Bars von North End herum, rauchte Gras, schlief mit Mädchen, die ein bisschen verrückt und nicht sentimental waren, so wie zum Beispiel Veronika Jelenski.
Lange Zeit hatte mein Vater meinen Lebensstil missbilligt, aber ich hatte ihm kaum Angriffspunkte geliefert: Ich hatte mein Medizinstudium selbst finanziert, ohne ihn auch nur um einen Cent zu bitten. Mit achtzehn Jahren, nach dem Tod meiner Mutter, verließ ich das Elternhaus, ohne noch irgendetwas von ihm zu erwarten. Und dieser Abstand schien ihn nicht belastet zu haben. Später hatte er dann eine seiner Geliebten geheiratet, eine charmante und intelligente Frau, der das Verdienst zukam, ihn zu ertragen. Ich besuchte sie zwei- oder dreimal pro Jahr, und dieser Rhythmus schien allen zuzusagen.
Und so war die Überraschung an diesem Morgen umso größer. Wie aus dem Nichts tauchte mein Vater erneut in meinem Leben auf, packte mich beim Arm, um mich auf den Weg einer Versöhnung zu führen, mit der ich nicht mehr gerechnet hatte.
»Nun, verlockt dich diese Angelpartie, ja oder nein?«, beharrte Frank Costello, außerstande, seine Verärgerung angesichts meines Schweigens zu verbergen.
»Okay, Dad. Lass mir nur ein wenig Zeit zum Duschen und Anziehen.«
Zufrieden zog er eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine mit einem alten silbernen Sturmfeuerzeug an, das er immer bei sich gehabt hatte.
Ich äußerte mein Erstaunen: »Ich dachte, du hättest aufgehört nach deinem Kehlkopfkrebs ...«
Sein stählerner Blick durchbohrte mich.
»Ich warte im Pick-up auf dich«, erwiderte er, erhob sich von seinem Stuhl und stieß dabei eine langgezogene blaue Rauchwolke aus.
Der Weg von Boston bis zum Osten von Cap Cod dauerte eineinhalb Stunden. Es war ein schöner Spätfrühlingsmorgen, der Himmel erstrahlte in einem unglaublichen Blau, das Sonnenlicht überflutete die Windschutzscheibe und machte goldfarbene Partikel sichtbar, die über das Armaturenbrett tanzten. Getreu seiner Gewohnheit bemühte sich mein Vater gar nicht erst, mit mir ein Gespräch zu führen, doch das Schweigen war nicht bedrückend. Am Wochenende war er gern mit seinem Pick-up Marke Chevrolet unterwegs, wobei er immer dieselben Kassetten im Autoradio hörte: ein Best of Sinatra, ein Konzert von Dean Martin und ein seltsames Country-Album, aufgenommen von den Everly Brothers gegen Ende ihrer Karriere. An der Rückscheibe prangte ein Aufkleber, der für die Kandidatur von Ted Kennedy bei den Senatswahlen von 1970 warb. Von Zeit zu Zeit gefiel es meinem Vater, die Rolle des Bauerntölpels zu spielen. Dabei war er einer der angesehensten Chirurgen von Boston, und vor allem besaß er Anteile an einem Unternehmen, das zig Millionen Dollar wert war. Wenn es um Geschäfte ging, hatten alle, die sich von seiner vermeintlich hinterwäldlerischen Art einwickeln ließen, das Nachsehen.
Wir überquerten die Segamore Bridge, legten noch etwa vierzig Kilometer zurück, bis wir bei Sam’s Seafood eine Pause machten, um Lobster Rolls, Pommes frites und ein Sixpack Bier zu kaufen.
Es war kurz nach Mittag, als der Pick-up in den Feldweg einbog, der zur nördlichen Spitze der Winchester Bay führte.
Ein wilder, von Meer und Klippen umgebener Ort, fast ständig dem Wind ausgesetzt. Und dort, von Felsen eingerahmt, ragte das 24 Winds Lighthouse empor: der Leuchtturm der 24 Winde.
Das alte hölzerne Bauwerk war achteckig und etwa zwölf Meter hoch. Es erhob sich neben einem Gebäude, das mit weiß gestrichenen Latten verkleidet und einem spitzen Schieferdach versehen war. An schönen Sonnentagen war es ein angenehmes Ferienhaus, sobald sich der Himmel aber bewölkte oder die Nacht hereinbrach, wich die Postkartenidylle einem finsteren und traumähnlichen Gemälde wie von Albert Pinkham Ryder. Das Gebäude war seit drei Generationen im Familienbesitz. Mein Großvater, Sullivan Costello, hatte es 1954 von der Witwe eines Flugzeugingenieurs gekauft, der es wiederum im Jahr 1947 bei einer Versteigerung von der amerikanischen Regierung erworben hatte.
In jenem Jahr hatte sich der Bundesstaat aus Geldmangel mehrerer Hundert historischer Stätten entledigt, die nicht mehr von strategischem Interesse waren. Das galt auch für das 24 Winds Lighthouse, das nach dem Bau eines viel moderneren Leuchtturms auf dem Hill of Langford, fünfzehn Kilometer weiter südlich, überflüssig geworden war.
Stolz auf seine Anschaffung, begann mein Großvater, Leuchtturm und Cottage in einen komfortablen Zweitwohnsitz zu verwandeln. Und während dieser Umbauarbeiten war er zu Herbstbeginn 1954 auf mysteriöse Weise verschwunden.
Man hatte seinen Wagen vor dem Haus geparkt vorgefunden. Das Verdeck des Chevrolet Bel Air Cabrio war geöffnet, der Schlüssel lag auf dem Armaturenbrett. Da Sullivan die Angewohnheit hatte, seinen Mittagsimbiss auf einem der Felsen einzunehmen, gelangte man rasch zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich ertrunken war. Obwohl das Meer seine Leiche nie an Land gespült hatte, wurde mein Großvater für tot erklärt, ertrunken an den Küsten des Bundesstaats Maine.
Auch wenn ich ihn selbst nicht kennengelernt habe, so wurde doch oft von ihm erzählt – Anekdoten, in denen er mir stets als eine originelle, schillernde Persönlichkeit beschrieben wurde. Als meinen zweiten Vornamen hatte ich seinen Taufnamen geerbt, und da mein älterer Bruder sie verschmäht hatte, trug ich auch die Uhr von Sullivan, eine Tank Louis Cartier aus den frühen 1950er-Jahren mit rechteckigem Gehäuse und Zeigern aus bläulichem Stahl.
»Nimm die Papiertüte mit und das Bier, wir wollen in der Sonne picknicken!«
Mein Vater schlug die Wagentür zu. Ich bemerkte, dass er eine alte lederne Aktentasche unter dem Arm trug, die meine Mutter ihm zu einem ihrer Hochzeitstage geschenkt hatte.
Ich stellte die Papiertüte auf den Holztisch neben den Steingrill, ein gutes Stück vom Hauseingang entfernt. Seit zwei Jahrzehnten trotzten dieses Möbel und die beiden dazugehörenden Adirondack-Stühle allen Unbilden der Witterung. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, doch die Luft war noch frisch. Ich schloss den Reißverschluss meines Blousons, bevor ich die Lobster Rolls auspackte. Mein Vater zog ein Schweizer Messer aus der Tasche, öffnete zwei Budweiser-Flaschen und nahm auf einem der Stühle aus rotem Zedernholz Platz.
»Prost!«, sagte er und reichte mir eine Flasche.
Ich griff danach und setzte mich zu ihm. Während ich den ersten Schluck genoss, bemerkte ich in seinen Augen einen Schimmer von Ängstlichkeit. Wir schwiegen uns lange an. Er nahm nur wenige Bissen von seinem Sandwich und zündete sich eilig die nächste Zigarette an. Die Spannung war fast greifbar, und mir wurde klar, dass er nicht mit mir hierhergefahren war, um einen ruhigen, vergnüglichen Nachmittag zu verbringen, und dass es weder eine Angelpartie noch wohlwollendes Schulterklopfen noch Dorade in Folie mit Tomaten, Knoblauch und Olivenöl geben würde.
»Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen«, begann er schließlich, öffnete seine Aktentasche und holte mehrere Dokumente in Kartonmappen hervor. Auf jeder erkannte ich das unauffällige Logo der Anwaltskanzlei Wexler & Delamico, die seit Jahrzehnten die Interessen der Familie vertrat.
Er zog einmal kräftig an seiner Zigarette, bevor er fortfuhr: »Ich habe beschlossen, meine Angelegenheiten zu regeln, bevor ich gehe.«
»Gehen? Wohin?«
Ein mokantes Lächeln umspielte seine Lippen. Ich hatte Lust, ihn zu provozieren.
»Du wolltest sagen, bevor du stirbst?«
»Genau. Doch freu dich nicht zu früh: Es wird nicht morgen sein, auch wenn das Ende zwangsläufig näher kommt.«
Er kniff die Augen zusammen und suchte meinen Blick, bevor er mit klarer Stimme verkündete: »Es tut mir leid, Arthur, aber du bekommst nicht einen Dollar aus dem Verkauf des Unternehmens. Auch keinen Dollar aus meinen Lebensversicherungen oder meinen Immobilien.«
Ich konnte meine Verblüffung nur schwer verbergen, doch in der Flut der Gefühle, die mich überschwemmte, siegte die Verblüffung über den Zorn.
»Um mir das zu sagen, hättest du mich nicht hierherschleppen müssen. Ich pfeife auf dein Geld, das solltest du wissen ...«
Er neigte den Kopf, um auf die Dokumente auf dem Tisch zu deuten, so als hätte er keines meiner Worte gehört.
»Ich habe alle rechtlichen Vorkehrungen getroffen, damit mein gesamtes Vermögen an deinen Bruder und deine Schwester geht ...«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Was sollte dieses perverse Spiel? Dass mein Vater mich enterbte, okay, doch wozu der ganze Aufwand, um mir das zu verkünden?
»Dein einziges Erbe ...«
Er trat seine Kippe mit dem Absatz aus und ließ den Anfang des Satzes für einen Augenblick in der Schwebe, um eine Art von Spannung zu erzeugen, die ich äußerst fragwürdig fand.
»Dein einziges Erbe wird das 24 Winds Lighthouse sein«, erklärte er mit einem Blick auf das Gebäude. »Dieses Grundstück, dieses Haus, dieser Leuchtturm ...«
Der Wind wirbelte eine Staubwolke auf. Mittlerweile gänzlich verwirrt, brauchte ich mehrere Sekunden, bevor ich reagieren konnte.
»Und was, bitte schön, soll ich mit dieser Bruchbude anfangen?«
Er öffnete den Mund, um mir die Einzelheiten zu erläutern, bekam stattdessen jedoch einen beunruhigenden Hustenanfall. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich die Seele aus dem Leib hustete, und bereute, ihm hierher gefolgt zu sein.
»Mach, was du willst, Arthur«, erklärte er und rang nach Luft. »Und wenn du dieses Erbe annimmst, verpflichtest du dich, zwei Bedingungen zu akzeptieren. Zwei Bedingungen, die nicht verhandelbar sind.«
Ich machte Anstalten, aufzustehen, aber er fuhr fort:
»Zunächst einmal musst du dich verpflichten, Gebäude und Grundstück niemals zu verkaufen. Hörst du? Niemals. Der Leuchtturm muss in der Familie bleiben. Für immer.«
»Und die zweite Bedingung?«, fragte ich, zunehmend gereizt.
Er massierte lange seine Schläfen und stieß einen Seufzer aus.
»Komm mit«, sagte er und erhob sich von seinem Stuhl.
Widerwillig folgte ich ihm. Er führte mich in das Häuschen des Leuchtturmwärters – ein kleines Cottage, in dem es muffig roch. Die Wände waren mit Fischernetzen, einem lackierten Holzruder und verschiedenen Landschaftsbildern lokaler Künstler geschmückt. Auf dem Kaminsims standen eine Petroleumlampe und ein Flaschenschiff.
Mein Vater öffnete die Tür zum Korridor – ein etwa zehn Meter langer Gang, der mit lackierten Latten verkleidet war und das Haus mit dem Leuchtturm verband. Doch statt zum Turm hinaufzusteigen, hob er die Falltür an, unter der sich die Treppe zum Keller verbarg.
»Komm!«, befahl er und zog eine Taschenlampe aus seiner Aktentasche.
Gebeugt folgte ich ihm die knarrenden Stufen in den unterirdischen Raum hinab.
Unten angekommen, betätigte er den Lichtschalter, und ich fand mich in einem rechteckigen Raum wieder mit niedriger Decke und Wänden aus rötlichen Ziegelsteinen. In einer Ecke waren mit Spinnweben bedeckte Fässer und Holzkisten gestapelt, seit Urzeiten im Staub erstarrt. Rostige Rohrleitungen verliefen oben entlang der Decke. Trotz seines ausdrücklichen Verbots hatten mein Bruder und ich, als wir noch klein waren, den Kellerraum erforscht. Damals bezogen wir von unserem Vater eine ordentliche Tracht Prügel, die uns davon abbrachte, jemals wieder einen Fuß hier hineinzusetzen.
»Was genau wird hier gespielt, Dad?«
Statt zu antworten, zog er ein weißes Kreidestück aus seiner Brusttasche und malte ein großes Kreuz auf die Wand. Dann deutete er mit dem Finger auf das Symbol.
»An dieser Stelle befindet sich hinter den Ziegelsteinen eine Metalltür.«
»Eine Tür?«
»Ein Durchgang, den ich vor dreißig Jahren zugemauert habe.«
Ich runzelte die Stirn.
»Ein Durchgang wohin?«
Mein Vater wich der Frage mit einem erneuten Hustenanfall aus.
»Das ist die zweite Bedingung, Arthur«, sagte er, als er wieder zu Atem gekommen war. »Du darfst niemals versuchen, diese Tür zu öffnen.«
Einen Moment lang glaubte ich wirklich, er sei senil geworden. Ich wollte ihm weitere Fragen stellen, doch er schaltete eilig das Licht aus und verließ den Keller.
Die Vergangenheit ist unvorhersehbar.
Die Seeluft stieg vom Meer auf, belebend und lähmend zugleich.
Wir saßen uns erneut am Holztisch im Garten gegenüber.
Mein Vater reichte mir einen alten Füllfederhalter aus satiniertem Edelstahl.
»Nun kennst du die beiden Bedingungen, die du zu respektieren hast, Arthur. Alles ist in diesem Dokument festgehalten. Es steht dir frei, das Erbe anzunehmen oder abzulehnen. Ich lasse dir fünf Minuten Bedenkzeit, um diese Papiere zu unterschreiben.«
Er hatte sich eine neue Bierflasche geöffnet und schien sich wieder gefangen zu haben.
Ich musterte ihn lange. Es war mir nie gelungen, ihn richtig einzuschätzen, ihn zu verstehen, zu wissen, was er wirklich von mir dachte. Und doch habe ich über Jahre hinweg versucht, ihn um jeden Preis zu lieben.
Frank Costello ist nicht mein leiblicher Vater. Auch wenn wir nie darüber gesprochen hatten, wussten wir es beide. Er sicher bereits vor meiner Geburt; ich seit Beginn meiner Jugend.
Am Tag nach meinem vierzehnten Geburtstag hatte mir meine Mutter gestanden, dass sie im Winter 1965 über mehrere Monate eine Affäre mit unserem damaligen Hausarzt gehabt hatte. Dieser Mann – ein gewisser Adrien Langlois – war kurz nach meiner Geburt nach Québec zurückgekehrt. Ich hatte diese Nachricht mit stoischer Ruhe aufgenommen. Wie viele Familiengeheimnisse hatte auch dieses alle Zeit der Welt gehabt, sich schleichend in mir auszubreiten. Andererseits hatte mich diese Enthüllung fast erleichtert: Durch sie erklärten sich gewisse kränkende Verhaltensweisen meines Vaters mir gegenüber.
Es mag befremdlich erscheinen, doch ich habe nie den Versuch unternommen, meinen Erzeuger kennenzulernen. Ich hatte diese Information in einem Winkel meines Gehirns abgelegt und sie dann langsam forttreiben lassen, bis ich sie fast vergessen hatte. Es sind nicht die Blutsbande, die eine Familie entstehen lassen, und im Grunde meines Herzens war ich ein Costello, kein Langlois.
»Nun, hast du dich entschieden, Arthur?«, schrie er fast. »Willst du diese Bruchbude, wie du sie nennst, oder nicht?«
Ich nickte. Dabei wünschte ich nur eines: dieser Farce ein Ende zu bereiten und so schnell wie möglich nach Boston zurückzukehren. Ich griff zu dem Füllfederhalter, doch ehe ich meine Unterschrift unter das Dokument setzte, versuchte ich ein letztes Mal, den Dialog wieder aufzunehmen.
»Du musst mir wirklich mehr dazu sagen, Dad.«
»Ich habe dir alles gesagt, was es zu sagen gibt!«, erwiderte er gereizt.
Ich bot ihm Paroli.
»Nein! Wenn du nicht den Verstand verloren hast, weißt du genau, dass das alles von vorn bis hinten nicht zusammenpasst.«
»Ich versuche, dich zu schützen!«
Die Worte waren herausgesprudelt. Rätselhaft, unerwartet und doch irgendwie ehrlich.
Und während ich verwundert die Augen aufriss, bemerkte ich, dass seine Hände zitterten.
»Mich beschützen? Wovor?«
Er zündete sich erneut eine Zigarette an, um sich zu beruhigen, und etwas schien sich in ihm zu lösen.
»Okay ... ich muss dir etwas gestehen«, begann er in vertraulichem Ton. »Etwas, über das ich noch mit niemandem gesprochen habe.«
Schweigen breitete sich aus, das fast eine Minute andauerte. Ich nahm jetzt meinerseits eine Zigarette aus seinem Päckchen, um ihm Zeit zu lassen, seine Erinnerungen zu sammeln.
»Im Dezember 1958, viereinhalb Jahre nach seinem Verschwinden, erhielt ich einen Anruf von meinem Vater.«
»Soll das ein Scherz sein?«
Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte die Kippe auf den Kies.
»Er sagte mir, er wäre in New York und wolle mich so schnell wie möglich sehen. Er bat mich, mit niemandem über seinen Anruf zu sprechen, und bestellte mich für den nächsten Tag in eine Bar des JFK-Airports.«
Nervös verschränkte er seine knotigen Finger. Während er weitersprach, sah ich, wie sich seine Nägel ins Fleisch bohrten.
»Ich nahm den Zug, um ihn am Flughafen zu treffen. Ich werde dieses Wiedersehen niemals vergessen. Es war der Samstag vor Weihnachten. Es schneite heftig. Viele Flüge waren verspätet oder annulliert. Mein Vater erwartete mich an einem der Tische, ein Glas Martini vor sich. Er schien erschöpft und war leichenblass. Wir umarmten einander fest, und ich sah ihn zum ersten Mal weinen.«
»Was ist dann passiert?«
»Zunächst sagte er mir, er müsste ein Flugzeug nehmen und hätte nur wenig Zeit. Dann erklärte er mir, er habe uns verlassen, weil er keine andere Möglichkeit gesehen hätte. Er vertraute mir an, in großen Schwierigkeiten zu stecken, ohne zu präzisieren, in welchen. Ich habe gefragt, wie ich ihm helfen könnte, doch er hat mir geantwortet, er hätte sich das eingebrockt und müsse nun auch selbst einen Weg aus der Klemme finden.«
Ich war völlig verdattert.
»Und dann?«
»Er hat mich mehrere Dinge schwören lassen: Niemandem zu verraten, dass er noch am Leben war, niemals das 24 Winds Lighthouse zu verkaufen, niemals die Metalltür im Keller des Leuchtturms zu öffnen und sie unverzüglich zumauern zu lassen. Natürlich ist er all meinen Fragen ausgewichen. Ich wollte wissen, wann wir uns wiedersehen. Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: ›Vielleicht morgen, vielleicht nie.‹ Er hat mir verboten zu weinen und mir befohlen, stark zu sein und an seiner Stelle die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen. Dann, nach etwa fünf Minuten, erhob er sich, nahm einen letzten Schluck Martini und sagte mir, ich solle gehen und seine Anweisungen befolgen. ›Es geht um Leben und Tod, Frank.‹ Das waren seine letzten Worte.«
Verwirrt durch sein spätes Geständnis, wollte ich wissen: »Und du, was hast du gemacht?«
»Ich habe mich strikt an seine Anweisungen gehalten. Ich bin nach Boston zurückgekehrt und noch am selben Abend zum Leuchtturm gefahren, wo ich dann die Türöffnung zugemauert habe.«
»Und du hast die Tür nie geöffnet?«
»Nie.«
Ich ließ ein paar Minuten verstreichen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nicht versucht hast, mehr in Erfahrung zu bringen.«
Er hob die Hände, eine Geste der Machtlosigkeit.
»Ich hatte es versprochen, Arthur ... Und wenn du meine Meinung hören willst – es wartet nur Ärger hinter dieser Tür.«
»An was denkst du?«
»Ich würde alles geben, um es zu erfahren, aber ich halte mein Versprechen bis zu meinem Tod.«
Ich dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Moment, eines verstehe ich nicht. Im Herbst 1954, als Sullivan plötzlich verschwunden war, hat man den Leuchtturm doch sicher gründlich durchsucht, oder?«
»Von oben bis unten. Zunächst deine Großmutter, dann ich, dann der Sheriff des County sowie sein Stellvertreter.«
»Also habt ihr damals die Tür geöffnet?«
»Ja. Ich erinnere mich sehr gut an einen leeren Raum von knapp zehn Quadratmetern mit einem Boden aus gestampfter Erde.«
»Gab es keine Falltür oder einen Geheimgang?«
»Nein, daran würde ich mich erinnern.«
Ich kratzte mich am Kopf. All das ergab keinen Sinn.
»Seien wir realistisch«, sagte ich. »Was könnte sich schlimmstenfalls hinter der Tür befinden? Eine Leiche? Mehrere Leichen?«
»Daran habe ich natürlich gedacht ...«
»Wenn du die Türöffnung 1958 zugemauert hast, wäre ein Mordfall dann nicht längst verjährt?«
Frank ließ mehrere Sekunden verstreichen, bevor er erklärte: »Ich denke, das, was sich hinter dieser Tür befindet, ist sehr viel schrecklicher als eine Leiche.«
Der Himmel war pechschwarz geworden. Donner grollte. Ein paar Tropfen fielen auf die Dokumente. Ich nahm den Füllfederhalter, zeichnete alle Blätter ab und setzte meine Unterschrift auf die letzte Seite.
»Ich glaube, aus der Angelpartie wird wohl nichts mehr«, meinte mein Vater und ging in Deckung vor dem Regen. »Soll ich dich nach Hause fahren?«
»Ich bin zu Hause«, erwiderte ich und reichte ihm die Kopie des unterzeichneten Vertrags.
Er stieß ein nervöses Lachen aus und schob die Papiere in seine Aktentasche. Ich begleitete ihn schweigend zu seinem Pick-up. Er setzte sich ans Steuer, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, doch bevor er den Motor anließ, klopfte ich ans Seitenfenster.
»Warum hast du ausgerechnet mich dafür auserkoren? Ich bin nicht der Älteste der Familie. Ich bin auch nicht derjenige, mit dem du dich am besten verstehst. Warum also mich?«
Er zuckte die Achseln, außerstande zu antworten.
»Du willst die anderen schützen, stimmt’s? Deine echten Kinder.«
»Sei nicht töricht!«, erwiderte er gereizt und seufzte geräuschvoll.
»Zuerst habe ich deine Mutter dafür gehasst, dass sie mich betrogen hatte«, gestand er ein. »Dann habe ich dich gehasst, ich gebe es zu, weil mir deine Existenz diesen Betrug jeden Tag vor Augen führte. Aber mit den Jahren begann ich, mich selbst zu hassen ...«
Er deutete mit dem Kopf zum Leuchtturm und hob die Stimme, um das Donnergrollen zu übertönen.
»Die Wahrheit ist, dass mich dieses Geheimnis seit über dreißig Jahren nicht loslässt. Und ich glaube, dass du der Einzige bist, der es lüften kann.«
»Wie soll mir das gelingen, ohne diese Tür zu öffnen?«
»Das ist jetzt dein Problem!«, erklärte er und ließ den Motor an.
Er trat aufs Gaspedal, fuhr so unvermittelt an, dass der Kies unter seinen Reifen aufspritzte, und verschwand wie vom Gewitter verschlungen.
Ich lief zum Haus zurück, um ins Trockene zu kommen.
In Wohnzimmer und Küche suchte ich vergebens nach einem Rest Whisky oder Wodka, doch es gab nicht den geringsten Tropfen Alkohol in diesem verfluchten Leuchtturm. In einem Schrank fand ich eine alte italienische Espressokanne und ein wenig gemahlenen Kaffee. Ich setzte Wasser auf und bereitete mir eine große Tasse von einem Gebräu, von dem ich hoffte, dass es mich beleben würde. Innerhalb weniger Minuten erfüllte ein angenehmer Duft den Raum. Der Espresso war bitter und ohne Schaum, doch er verhalf mir dazu, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich blieb in der Küche hinter der Theke aus weiß gekalktem Holz sitzen. Während es draußen immer heftiger regnete, verbrachte ich gut eine Stunde damit, aufmerksam alle Dokumente durchzulesen, die mein Vater mir zurückgelassen hatte. Die Fotokopien der verschiedenen Kaufverträge ermöglichten es mir, die Geschichte des Gebäudes zu rekonstruieren.
Der Leuchtturm war 1852 erbaut worden. Er bestand zunächst aus einem kleinen Steinhaus, über dem man eine Kuppel mit einer Laterne angebracht hatte. Zu Anfang waren das ein Dutzend Öllampen, die bald durch eine Fresnel-Linse ersetzt wurden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zerstörten ein Erdrutsch und ein Feuer das Gebäude. Der heutige Bau – der Holzturm und das angrenzende Haus – waren 1899 errichtet worden, und zehn Jahre später wurde der Leuchtturm mit einer moderneren Kerosinlampe ausgestattet. Die Elektrifizierung erfolgte 1925.
1947 kam die amerikanische Regierung zu dem Schluss, dass der Leuchtturm nicht mehr von strategischer Bedeutung sei, und entledigte sich seiner anlässlich einer Versteigerung, bei der auch mehrere andere alte militärische Bauwerke unter den Hammer kamen.
Den Unterlagen zufolge hieß der erste Eigentümer Marko Horowitz, 1906 in Brooklyn geboren, 1949 gestorben. Seine Witwe Martha, geboren 1920, hatte dann den Leuchtturm im Jahr 1954 an meinen Großvater Sullivan Costello verkauft.
Ich rechnete nach: Diese Martha wäre heute einundsiebzig Jahre alt. Es war durchaus möglich, dass sie noch lebte. Ich griff zu einem Stift, der auf der Küchentheke lag, und unterstrich die Adresse, die sie damals angegeben hatte. 26 Preston Drive in Tallahassee, Florida. Ich griff zum Hörer des Wandtelefons und rief die Auskunft an. Es gab keine Martha Horowitz in Tallahassee, aber die Telefonistin fand eine Abigael Horowitz in derselben Stadt. Ich bat sie, mich mit dieser Nummer zu verbinden.
Abigael hob ab. Ich stellte mich vor und erklärte ihr den Grund meines Anrufs. Sie sagte mir, dass sie die Tochter von Marko und Martha Horowitz sei. Ihre Mutter lebe noch, habe aber nach 1954 noch zweimal geheiratet. Sie trüge jetzt den Familiennamen ihres derzeitigen Ehemanns und lebe in Kalifornien. Als ich Abigael fragte, ob sie sich ans 24 Winds Lighthouse erinnere, sprudelte ihre Antwort nur so heraus.
»Natürlich, ich war zwölf Jahre alt, als mein Vater verschwand!«
Verschwand ... Ich runzelte die Stirn, während ich meine Dokumente erneut durchlas.
»Nach dem mir vorliegenden Kaufvertrag ist Ihr Vater 1949 gestorben, oder etwa nicht?«
»Mein Vater wurde zu diesem Zeitpunkt für tot erklärt, aber er ist schon zwei Jahre früher verschwunden.«
»Wie das – verschwunden?«
»Das war Ende 1947, drei Monate nachdem er den Leuchtturm und das kleine Haus gekauft hatte. Mein Vater und meine Mutter liebten die Gegend und hatten die Absicht, sich dort ihr Ferienhaus einzurichten. Damals lebten wir in Albany. An einem Samstagmorgen rief der Sheriff des County Barnstable meinen Vater an, um ihm mitzuteilen, dass auf seinem Grundstück in der vergangenen Nacht durch einen Blitzeinschlag ein Baum auf eine elektrische Leitung gestürzt und durch das Gewitter auch das Schieferdach des Hauses beschädigt worden sei. Mein Vater nahm seinen Wagen und fuhr zum 24 Winds Lighthouse, um das Ausmaß des Schadens in Augenschein zu nehmen. Er ist nie zurückgekehrt.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Zwei Tage später hat man sein Oldsmobile vor dem Haus abgestellt gefunden, von Dad aber keine Spur. Die Polizisten durchsuchten den Leuchtturm und die nähere Umgebung, ohne den geringsten Anhaltspunkt für sein Verschwinden zu finden. Meine Mutter gab die Hoffnung nicht auf und wartete. Tage, Wochen, Monate ... Bis Anfang 1949 ein Richter meinen Vater offiziell für tot erklärte, damit wir seine Hinterlassenschaften regeln konnten.«
Eine Überraschung folgte auf die nächste. Noch nie hatte ich von dieser Geschichte gehört!
»Ihre Mutter hat fünf Jahre gewartet, bis sie den Leuchtturm zum Verkauf angeboten hat?«
»Meine Mutter wollte nichts mehr von diesem Haus wissen. Sie interessierte sich nicht im Geringsten dafür, bis sie in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Sie vertraute den Verkauf einem New Yorker Immobilienmakler an und bat ihn, sich nicht an Leute aus der Gegend zu wenden, weil sie alle vom Verschwinden meines Vaters gehört hatten und der Meinung waren, der Leuchtturm bringe Unglück ...«
»Und seither haben Sie nie mehr von Ihrem Vater gehört?«
»Nie mehr«, bestätigte sie.
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Bis auf ein Mal.«
Ich schwieg, um sie fortfahren zu lassen.
»Im September 1954 kam es zu einem dramatischen Unfall in New York, das heißt zwischen den Bahnhöfen Richmond Hill und Jamaica. Es war ein grauenhaftes Gemetzel. Zur Rushhour stieß ein überfüllter Zug in voller Fahrt mit einem anderen zusammen, der gerade in den Bahnhof einfuhr. Mehr als neunzig Tote und an die vierhundert Verletzte waren zu beklagen. Es war eines der schlimmsten Zugunglücke ...«
»Ich habe davon gehört, aber was hat das mit Ihrem Vater zu tun?«
»In einem der Wagen befand sich einer seiner Kollegen. Er war verletzt, hat aber überlebt. Nach dem Drama hat dieser Mann mehrmals meine Mutter aufgesucht und behauptet, mein Vater hätte im selben Wagen wie er gesessen und sei bei dem Unglück gestorben.«
Während sie sprach, machte ich mir schnell Notizen. Die Parallelen mit dem, was meinem Großvater widerfahren war, waren offensichtlich.
»Natürlich wurde die Leiche meines Vaters in diesem Zug nie gefunden, aber ich war damals noch jung, und die Worte dieses Mannes verwirrten mich zutiefst. Er war felsenfest von dem überzeugt, was er behauptete.«
Nachdem Abigael ihren Bericht beendet hatte, dankte ich ihr für diese Informationen.
Ich legte auf und dachte an ihren Vater und meinen Großvater: zwei Männer, verschlungen von diesem Leuchtturm, im Abstand von wenigen Jahren getroffen von einem Fluch, der auf diesem Ort lastete.
Ein Ort, dessen alleiniger Eigentümer von nun an ich war.
Die Sonne war da,
sie erstarb im Abgrund.
Das Blut schien in meinen Adern zu gefrieren.
24 Winds Lighthouse
Aber welches Leben?
Meinen Beruf ausgenommen, war meine Existenz ohne jeden Sinn. Ohne Bindungen. Ohne einen Menschen, den ich liebte.
Ich blinzelte. Ein Bild aus der Vergangenheit tauchte vor meinem geistigen Auge auf: Ich bin fünf Jahre alt. Ich hebe den Kopf zu meinem Vater, der mich eben auf das Parkett des Kinderzimmers hat fallen lassen. Ich bin wie versteinert.
»Im Leben darfst du niemandem vertrauen, verstehst du, Arthur? Niemandem! Nicht einmal deinem eigenen Vater.«
Dieses Erbe war ein vergiftetes Geschenk, ein Hinterhalt, in den mich Frank gelockt hatte. Mein Vater hatte nicht den Mut gehabt, die Tür selbst zu öffnen. Nicht den Mut, ein altes Versprechen zu brechen. Aber vor seinem Tod wollte er, dass jemand es an seiner Stelle tat.
Und dieser Jemand war ich.
Ich tupfte mir die Schweißperlen von der Stirn. In diesem Teil des Gebäudes herrschte drückende Hitze. Die Luft war so dünn und stickig wie im Maschinenraum eines Schiffes.
Ich schob meine Ärmel hoch, hob den Vorschlaghammer mit beiden Händen über den Kopf, um möglichst viel Schwung zu haben. Dann zielte ich auf die Mitte des Kreuzes.
Die Augen zusammengekniffen, um sie vor Splitter und Staub zu schützen, setzte ich zum zweiten und dritten Hieb an.
Beim vierten Mal flog der Hammer noch höher. Ein großer Fehler, denn ich zerschlug zwei Rohre, die an der Decke entlangführten. Ein Schwall eiskalten Wassers ergoss sich über mich, bis mir der rettende Gedanke kam, den Haupthahn abzudrehen und somit die Sintflut zu stoppen.
Mist!
Ich war von Kopf bis Fuß durchnässt. Das Wasser war nicht nur eisig, sondern auch gelblich und verströmte einen moderigen Geruch. Ich zog sofort Hemd und Hose aus. Der gesunde Menschenverstand befahl mir, nach oben zu gehen und mich umzuziehen, doch die Hitze in dem Raum und die Neugier, zu erfahren, was sich hinter der Tür verbarg, veranlassten mich, einfach weiterzumachen.
Mit nacktem Oberkörper und in rosa gepunkteter Unterhose setzte ich mein Werk mit frischer Energie fort und schlug mit aller Kraft auf die Backsteine ein. Ein Satz meines Vaters kam mir in den Sinn. Ich denke, was sich hinter dieser Tür befindet, ist sehr viel schrecklicher als eine Leiche.
Nach etwa einem guten Dutzend Schlägen traf mein Hammer auf das Metall hinter den Steinen. Eine Viertelstunde später hatte ich das gesamte Türblatt freigelegt: eine niedrige, schmale Tür aus Schmiedeeisen, von Rost zerfressen. Mit meinem Unterarm wischte ich den Schweiß von meinem Oberkörper und trat näher. Auf einer Kupferplatte, die auf die Tür geschraubt war, erkannte ich eine Windrose, die in das Metall geritzt war.
Ich hatte dieses Diagramm schon einmal gesehen: Es gab ein identisches, das in die Steinmauer, die rund um den Leuchtturm führte, eingelassen war. Es zeigte die Aufzählung aller Winde, die seit der Antike bekannt waren.
Darunter stand eine lateinische Inschrift, die warnte:
Nach dem Hauch der 24 Winde bleibt nichts übrig.
Ganz offensichtlich – aber ich wusste nicht, warum – verdankte der Leuchtturm dieser Windrose seinen Namen. Aufs Höchste erregt, versuchte ich, die Tür zu öffnen, doch der Griff war eingerostet. Wie sehr ich mich auch bemühte, er wollte nicht nachgeben. Ich dachte an das Werkzeug, das ich mitgenommen hatte, und griff zu dem Brecheisen. Ich drückte das abgeflachte Ende mit aller Kraft in den Falz, um die Hebelkraft zu nutzen, bis ich ein trockenes Knacken vernahm. Das Schloss brach auf.
Ich schaltete meine Taschenlampe ein. Mit klopfendem Herzen stieß ich die Metalltür auf, die geräuschvoll über den Boden schabte. Ich richtete den Strahl der Lampe ins Innere und fand einen Raum vor, so wie mein Vater ihn mir beschrieben hatte: knapp zehn Quadratmeter groß, Lehmboden, umrahmt von groben Mauersteinen. Das Blut pulsierte in meinen Schläfen. Vorsichtig trat ich ein und leuchtete in alle Ecken. Auf den ersten Blick war der Raum leer. Der Lehmboden war weich. Ich hatte den Eindruck, im Schlamm zu waten. Ich inspizierte aufmerksam die Wände. Sie waren ohne jede Inschrift.
Viel Wind um nichts?
Hatte Frank mir vielleicht dummes Zeug erzählt? Hatte diese Begegnung mit Sullivan, seinem Vater, am Kennedy Airport wirklich stattgefunden, oder hatte er sie nur geträumt? Warum hatte er rund um diesen Leuchtturm einen Mythos aufgebaut, der womöglich nur in seinen Wahnvorstellungen existierte?
Während mir all diese Fragen durch den Kopf gingen, fegte ein unglaublich heftiger und eisiger Luftzug durch den Raum. Erstaunt ließ ich meine Taschenlampe fallen. Als ich mich nach ihr bückte, sah ich plötzlich, wie die Tür zufiel.
In totaler Dunkelheit richtete ich mich auf und streckte die Hand aus, um die Tür wieder zu öffnen, doch mein Körper erstarrte, wie in eine Eissäule verwandelt. Das Blut hämmerte in meinem Kopf.
Ich stieß einen Schrei aus. Dann schien ein zischendes Geräusch mein Trommelfell zu zerreißen, und mir wurde schwindlig, während ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen nachgab.