Fernando Pessoa
Mein Lissabon
Was der Reisende sehen sollte
Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes
und Sabine Dörlemann
FISCHER E-Books
Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem ›Buch der Unruhe‹ bekannt geworden.
1905 kehrte er nach Studienjahren in Durban, Südafrika, nach Lissabon zurück, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos - und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person«, »Maske«, »Fiktion«, »Niemand« bedeutet.
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Wenn es einen Dichter dieser Stadt Lissabon gibt, dann ist es zweifellos Fernando Pessoa. In zahllosen Gedichten, Notaten und Reflexionen besingt und bewahrt dieser große europäische Dichter die Sehnsucht und die Geheimnisse der unvergleichlichen Stadt am Tejo, die wie kein anderer irdischer Ort seine Heimat war. In Pessoas Texten schwingt jener melancholische Hauch einer wehmütigen Erinnerung an die großen Zeiten mit, in denen von Lissabon aus die Weltmeere befahren wurden und Nachrichten von fernen und unbekannten Welten hinter den Meeren eintrafen. Mit seinen Texten entdecken wir die verborgensten Winkel der Stadt und erleben das Gefühl mit, das so manchen Besucher in seinen Bann geschlagen hat: die saudade.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die erste Ausgabe dieses Bandes erschien 1996 im Ammann Verlag & Co., Zürich
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-10-490298-2
Über sieben Hügeln, denen genauso viele Aussichtspunkte entsprechen und von denen man das wunderbarste Panorama genießen kann, liegt die riesige, unregelmäßig bunte Häusermasse zerstreut, die Lissabon bildet.
Für den Reisenden, der sich auf dem Seeweg nähert, erhebt sich Lissabon, selbst von weither, wie ein schönes Traumgesicht, gestochen scharf steht es vor einem strahlend blauen Himmel, den die Sonne mit ihrem Gold erheitert. Kuppeln, Denkmäler, das alte Kastell ragen über die Menge der Häuser hinaus wie weit vorgerückte Boten dieses entzückenden Fleckens, dieses gesegneten Landstrichs.
Die Verwunderung des Reisenden beginnt, wenn sich das Schiff der Barre nähert und der Bugio – der Leuchtturm, ein kleiner Wachtturm an der Mündung des Flusses, der nach Plänen von Frei João Turriano vor drei Jahrhunderten errichtet wurde – hinter ihm liegt und der befestigte Torre de Belém erscheint, ein wunderbares Beispiel für die Militärarchitektur des 16. Jahrhunderts in maurisch-romanisch-gotischem Stil (vgl. Seite 69). Wie das Schiff weitergleitet, verengt sich der Fluss, um bald wieder breiter zu werden und einen der ausgedehntesten Naturhäfen zu bilden, der den größten Flotten der Welt geräumigsten Ankergrund bietet. Dann scharen sich zur linken Seite über den Hügeln hell die Häuser. Das ist Lissabon.
Das Anlegen geht einfach und schnell: Es geht an einem Ort vonstatten, wo Transportmöglichkeiten in Hülle und Fülle vorhanden sind: Pferdedroschke, Automobil oder die elektrische Straßenbahn bringen den Fremden in wenigen Minuten direkt ins Zentrum der Stadt. Am Kai wird er jede Annehmlichkeit finden, und die Beamten dort sind stets freundlich und werden ihn mit jedem Hinweis versorgen, dessen er bedarf – ganz gleich, ob er sich an einen Zollbeamten, an die Hafenbeamten oder die Einwanderungspolizei wendet.
Draußen vor der Alfândega (den Zollgebäuden) steht ein kleiner Kontrollposten, was sehr nützlich ist, da er die Zustellung des Gepäcks überwacht und den Missbrauch verhindert, der sonst unter solchen Umständen unvermeidlich ist. Von dem Posten aus wird das Gepäck in jeden Teil der Stadt expediert, die Verantwortung für die Zustellung liegt bei dem Posten. Die Beamten sind äußerst kompetent und beherrschen mehrere Sprachen.
Wir bitten den Reisenden nun, uns zu folgen. Wir wollen ihm als Cicerone dienen und ihn durch die Hauptstadt führen, ihn auf die Denkmäler hinweisen, auf die Parks, die denkwürdigeren Gebäude, die Museen, auf all das, was in dem wunderbaren Lissabon zu sehen lohnt. Nachdem der Reisende, der für einige Zeit bleibt, sein Gepäck einem vertrauenswürdigen Dienstmann übergeben hat, welcher es im Hotel abliefert, bitten wir ihn, es sich in unserem Automobil bequem zu machen und uns ins Stadtzentrum zu begleiten. Auf der Fahrt werden wir ihn auf alles Sehenswerte hinweisen.
Direkt hinter dem Kai, den er gerade verlässt, erhebt sich die Rocha do Conde de Óbidos; sie krönt ein wohlgepflegter Garten, der über zwei steinerne Freitreppen zu erreichen ist; vom höchsten Punkt des Parks hat man eine schöne Aussicht auf den Fluss. Folgen wir der Rua 24 de Julho, kommen wir am Jardim de Santos (auch Jardim Vasco da Gama) vorüber und bald darauf am Jardim da Praça de Dom Luís, wo die Bronzestatue eines der heroischen Anführer der Befreiungskämpfe steht, des Marquês de Sá da Bandeira; das Denkmal wurde von Giovanni Ciniselli entworfen und in Rom gegossen und der Sockel in Lissabon von Germano José de Salles erstellt und 1881 errichtet.
Ein wenig später, gleich nachdem wir das schöne Gebäude passiert haben, in dem die von Königin Amélia gegründete Assistência Nacional aos Tuberculosos (Nationale Hilfsstelle für Schwindsüchtige) untergebracht ist, wollen wir den Platz betrachten, der sich nach rechts bis hin zum Fluss erstreckt; zur Linken steht das Denkmal für den Duque da Terceira, der Lissabon von der Herrschaft des Absolutismus befreite, zur Rechten findet sich eine Marmorstatue, die einen Seemann am Steuer zeigt. Das Denkmal stammt von Francisco dos Santos und das des Herzogs von dem Bildhauer Simões de Almeida. Nahebei steht der provisorische Bahnhof der Cascaes-Linie, und am Fluss ist ein Kai für die kleinen Dampfboote, die über den Tejo setzen. Hier befindet sich auch ein Autodroschkenstand.
Unser Automobil setzt seine Fahrt durch die Rua do Arsenal fort, am Rathaus (Câmara Municipal), einem der schönsten Gebäude der Stadt, vorbei. Sowohl das Innere wie auch das Äußere ist sehenswert und ist dem Architekten Domingos Parente zu verdanken; in den Steinmetzarbeiten und Gemälden etc. spüren wir das gemeinsame Wirken berühmter Künstler. Der monumentale Treppenaufgang, der zum ersten Stock hinaufführt, ist beachtlich, vor allem wegen der herrlichen Gemälde, die Wände und Decken schmücken; aber viele Räume des Gebäudes sind nicht weniger nobel mit Fresken und Tafelgemälden von Sequeria, Columbano, José Rodrigues, Neves Júnior, Malhoa, Salgado etc. ausgestattet und stellen historische und andere Gestalten dar, unter anderem zeigt ein großes Bild von Lupi den Marquês de Pombal und den Wiederaufbau Lissabons nach dem großen Erdbeben; daneben Büsten von hervorragenden Bildhauern, kunstvoll gestaltete Kamine, Möbel etc.
Im Mittelpunkt des Platzes erblicken wir den weithin bekannten Pranger (Pelourinho); es ist ein Meisterwerk des späten 18. Jahrhunderts, eine aus einem einzigen Stein geschnittene Säule; während wir den Platz überqueren, sollten wir unser Augenmerk auf das Marinearsenal (Arsenal da Marinha) richten, ein riesiges Gebäude, das neben dem Ausrüstungslager auch die Werkstätten, die sich wie Docks zum Fluss hin erstrecken und von hier nicht zu sehen sind, sowie die 1845 gegründete Marineschule (Escola Naval) und das Tribunal da Relação (Appellationsgericht) beherbergt, in dessen Hallen einige prächtige Exemplare alter Teppichkunst zu bewundern sind. In diesem Gebäude sind noch weitere, aber weniger wichtige Behörden untergebracht. Nicht getrennt davon befindet sich im gleichen Gebäude unter anderem, genau gegenüber dem Rathaus, ein Post- und Telegraphenamt, aber nur der Schalter für postlagernde Sendungen ist von dieser Seite aus direkt zugänglich.
Nun erreichen wir den größten Platz Lissabons, die Praça do Comércio, früher Terreiro do Paço, wie er auch heute meist noch genannt wird; den Engländern ist dieser Platz als »Black Horse Square« ein Begriff, und er gehört zu den größten der Welt. Es ist ein riesiger, vollkommen rechteckiger Platz, der auf drei Seiten von gleichen Fassaden mit hohen Steinarkaden umschlossen wird. Alle wichtigen Behörden finden sich hier – die Ministerien (bis auf das Außenministerium), ein Post- und Telegraphenamt, das Zollamt, die Generalstaatsanwaltschaft der Republik, das Einwanderungsbüro, das Verwaltungsgericht, das Hauptbüro des Roten Kreuzes etc. Die vierte, nach Süden gerichtete Seite nimmt der Tejo ein, auf dem stets reger Schiffsverkehr herrscht. In der Mitte steht das Reiterstandbild Königs José I., eine hervorragende Arbeit von Joaquim Machado de Castro, die 1774 in Portugal aus einer einzigen Form gegossen wurde. Sie ist 14 m hoch. Den Sockel schmücken wunderschöne Statuen, die den Wiederaufbau nach dem großen Erdbeben von 1755 zeigen. Unter ihnen befindet sich eine Figur, die ein Pferd führt, das einen Feind zermalmt; eine Statue mit dem Zweig einer Siegespalme, der Ruhm steht in einer anderen Gruppe; die Komposition ist in der Tat bemerkenswert. Darüber erblicken wir die königlichen Wappen und ein Bildnis des Marquês de Pombal, ebenso eine allegorische Darstellung der königlichen Großherzigkeit, dank der Lissabon aus den Ruinen neu erbaut wurde. Ein an Säulen aufgehängtes Geländer umläuft das Denkmal, und Marmorstufen führen zu ihm hinauf.
Auf der Nordseite des Platzes, dem Fluss direkt gegenüber, sind drei parallele Straßen; die mittlere geht von einem herrlichen Triumphbogen mit größten Abmessungen aus, zweifellos einem der höchsten Europas. Er ist auf 1873 datiert, aber er wurde von Veríssimo José da Costa entworfen und sein Bau bereits 1755 begonnen. Die allegorische Gruppe, die den Bogen abschließt, wurde von Calmels geschaffen und personifiziert Ehre, Genie und Tapferkeit; die liegenden Figuren, die die Flüsse Tejo und Douro darstellen, wie auch die Statuen von Nuno Álvares, Viriato, Pombal und Vasco da Gama sind dem Bildhauer Vítor Bastor zu verdanken.
Vom Terreiro do Paço aus kann man mit Boot über den Fluss setzen; rechts zum Fluss hin, und zum Teil über ihm, steht der provisorische Südbahnhof. Häufig gehen die Reisenden hier an Land, ebenso die Besatzungen fremder Kriegsschiffe, die den Hafen besuchen. Außerdem gibt es auf dem Platz einen Stand für Pferde- und Autodroschken.
Selbst den anspruchsvollen Reisenden wird der Anblick dieses Platzes überraschen.
Von der Praça do Comércio können wir durch drei nach Norden führende Straßen zur Stadtmitte gelangen – Rua do Ouro zur Linken, Rua Augusta (die mit dem Bogen) in der Mitte und Rua da Prata zur Rechten. Wählen wir die Rua do Ouro, die wegen ihrer kommerziellen Bedeutung die Hauptstraße der Stadt ist. An dieser Straße liegen mehrere Bankhäuser, Restaurants und Geschäfte jeder Art; viele dieser Läden, vor allem dem oberen Ende der Straße zu, wird man als genauso prächtig empfinden wie ihre Pendants in Paris.
Beinahe am oberen Ende der Straße, aus unserer Richtung gesehen links, befindet sich der Elevador de Santa Justa