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Wie Sie Ihr Leben auch ohne Yoga auf den Kopf stellen

 

In sieben Kapiteln befragt Gregor Eisenhauer Profis in Sachen Altern; er trifft Miss Marple ebenso wie Anna Karenina, flaniert mit Konfuzius durch Berlin und lässt Harold und Maude über Liebe im Alter philosophieren. Dabei beschäftigt sich der Autor nicht mit dem unweigerlichen Verfall unseres Körpers und auch nicht mit Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz. Ihm geht es um die allmähliche Verholzung unseres Denkens, die uns schnell so viel älter werden lässt, als wir es wirklich sind.

 

Gregor Eisenhauer, geboren 1960, hat Germanistik und Philosophie studiert. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin und schreibt u. a. Nachrufe für den TAGESSPIEGEL. 2014 erschien sein Buch ›Die 10 wichtigsten Fragen des Lebens – in aller Kürze beantwortet‹ bei DuMont.

Gregor Eisenhauer

Wie wir alt werden, ohne zu altern

7 Ideen gegen die Verholzung des Denkens

INHALT

Vorweg: Sie werden älter, als Sie denken!

I.Sie fühlen sich zu jung?
Sie fühlen sich zu alt?
Oder: Warum stellt sich König Lear so dumm an?

II.Sie reden zu viel?
Sie reden zu wenig?
Oder: Warum ist Miss Marple stets klüger als die anderen?

III.Sie hören nicht mehr auf Andere?
Sie hören viel zu viel Auf andere?
(Sie können gar nicht mehr Hören?)
Oder: Wie bringen Sie es zu salomonischer Gelassenheit?

IV.Sie grüßen verlegen ihr Spiegelbild?
Sie wollen es gar nicht mehr grüßen?
Oder: Haben Sie Konfuzius je in Jogginghosen gesehen?

V.Sie wollen einen jüngeren Partner?
Sie wollen einen älteren Partner?
Oder: Wer ist der Mann fürs Leben, Oscar Wilde oder Dorian Gray?

VI.Sie wollen noch einmal ganz von vorn anfangen?
Sie wollen gar nicht mehr aufstehen?
Oder: Bei wem liegen Sie lieber auf der Couch, bei Dr. Jekyll oder bei Mrs. Hyde?

VII.Sie vergessen zu viel?
Sie vergessen viel zu wenig?
Oder: Warum Sie sich niemals zu früh auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben sollten.

VORWEG: SIE WERDEN ÄLTER, ALS SIE DENKEN!

Das ist kein Versprechen, sondern eine statistische Tatsache. Wir täuschen uns, was unsere ganz persönliche Lebenserwartung angeht. Nicht nur um Wochen oder Monate, sondern um Jahre, zuweilen um Jahrzehnte. Die meisten von uns werden älter, als sie es in jungen Jahren je für möglich hielten. Und sie bleiben länger gesund. Was früher eine ferne Insel war, das hohe Alter, nur von wenigen erreicht, ist inzwischen ein Kontinent mit gewaltigen Ausmaßen, besiedelt von Millionen, bald schon von Milliarden Menschen. Wie leben diese – Alten?

Wozu die Frage? Die Antwort liegt nahe: Irgendwann werden auch Sie diesen Kontinent betreten. Die meisten von uns werden alt, mit ein wenig Glück und Umsicht sehr alt. Aber die wenigsten von uns sind darauf vorbereitet. Zumal die Informationslage verworren ist. Es gibt schreckliche Nachrichten von dieser Neuen Welt der Alten, Gerüchte über Retortensiedlungen, in denen wohlhabende Rentiers sich freiwillig dem hyperaktiven Nichtstun ergeben: Yoga für Yetis, Tantra für Untote, Bridge für Prüde. Krankheiten ohne Zahl, so die Reisewarnungen des medizinischen Dienstes, suchen die Eingeborenen heim. Demenz, Parkinson, Alzheimer sind die Geißeln derer, die den Tod scheuen, raunen die Missionare der Jugend. Viele, denen der Zutritt zu den reichen Seniorenparks verwehrt ist, schlafen unter Brücken, weil die Armut ihnen das Heim raubte, andere arbeiten in lebenslanger Sklaverei für niedrigste Löhne oder nisten sich mitleidlos bei ihren Kindern ein.

Die Fakten: Nur jeder Siebte hierzulande ist derzeit von Altersarmut betroffen, nur jeder zehnte der über Neunzigjährigen wird dement. Warum dann so viele Schreckensmeldungen? Die Söhne und Töchter schreiben lieber über die Leiden ihrer Eltern als über deren Freuden. Es ist die Rache der Jungen an der neuen Lebenslust der Alten, die solche Katastrophenbelletristik befördert. Dahinter steckt oft wirkliche Sorge, aber häufig genug auch Neid. Selbst die Unzahl der Reportagen über die neue Agilität der Alten ist selten frei von Häme. Aber auch die Alten selbst schlagen gern einen missgünstigen Tonfall an, allen voran alte Schriftsteller. »Alter ist ein Massaker«, jammerte der amerikanische Autor Philip Roth in einem Spiegel-Interview, aber er jammert auf sehr hohem Niveau, denn er verdient gut als Chorleiter der Selbstmitleidigen.

Altern ist der einzige Kampf, bei dem es sinnvoll ist, seine Niederlage von vornherein einzugestehen. Das Leben fordert unser Verschwinden. Dieses unerbittliche Gesetz der Evolution können Sie nicht früh genug verinnerlichen. Denn Leugnung kostet Kraft. Je angestrengter Sie versuchen, jung zu bleiben, desto schneller altern Sie. Das ist die einzige Erkenntnis der Altersforschung, die unumstritten ist.

Warum wird dennoch so unverhältnismäßig viel gejammert? Weil sich die Alten an den Jungen messen. Würden sie sich an den Alten der ärmeren Länder dieser Welt messen, sie wüssten nicht mehr ein noch aus vor Glück. Die große Mehrheit der alternden Menschen in den reichen Ländern könnte derzeit ein glückliches und unabhängiges Leben führen. Warum das nicht immer so ist, hat in erster Linie keine materiellen, sondern mentale Ursachen.

»Sind Sie aufs Alter vorbereitet? Können Sie es sich überhaupt leisten, alt zu werden?«

»Aber ja«, kommt dann prompt die Entgegnung, »wir haben gut vorgesorgt!«

Haben Sie tatsächlich? Ihre Rente ist sicher, Ihre Wohnung, Ihr Haus längst abbezahlt, ein wenig Erspartes liegt auf dem Konto, aber – was werden Sie tun, wenn Sie nichts mehr zu tun haben? Garten, Enkel, Hobby, Sport, Freunde, Freizeit – alles wird bleiben, wie es ist, nur dass nun endlich mehr Zeit für alles bleibt. Das könnte sich als verhängnisvoller Irrtum herausstellen.

Mit mehr Zeit wissen die wenigsten gut umzugehen. Das ist tragisch. Denn die magische Zeitspanne zwischen dem sechzigsten und dem neunzigsten Lebensjahr, die früher als Lebensabschnitt gar nicht wahrgenommen wurde, weil Opa und Oma die Zeit dösend im Lehnstuhl verschaukelten, könnte für viele die beste Zeit ihres Lebens werden. Als junger Mensch stehen Sie unter dem Diktat Ihrer Hormone, das ist schön, aber auch zwanghaft. Sie wollen sich verlieben, Sie wollen Erfolg, Sie wollen meist mehr, als Ihnen guttut. Als Mensch mittleren Alters haben Sie die Pflicht, Ihre Wünsche mit der Realität in Einklang zu bringen, das kann beglückend sein, ist aber vor allem anstrengend. Als alternder Mensch sind Sie plötzlich von allen Erwartungen befreit. Was viele veranlasst, sich sofort in neue Verpflichtungen zu stürzen. Das Leben so weiterführen wie bisher – nur ehrenamtlich eben. Aber das Leben im Alter ist nicht einfach nur altes Leben oder Leben mit halber Kraft, es ist ein anderes Leben und ein anderes Denken: ein neuer Kontinent. Ich will in diesem Buch nicht die Schrecken des Alters leugnen, ich will die Chancen dieses neuen Denkens hervorheben. Wir dürfen uns alte Menschen als glückliche Menschen vorstellen. Weil es ein Glück ist, alt zu werden. Altern ist keine Krankheit. Natürlich drohen Verluste, aber in diesem Buch geht es um die Gewinne. Der größte Gewinn: Uns wird ein viertes Lebensalter geschenkt. Die Frage ist: Wollen wir das Geschenk annehmen?

Was tun mit viel zu viel Zeit? Als Konsumgruppe sind die Best, Silver und Golden Ager schon fest im Blick der Werber und Produzenten. Es wird viel Geld mit den neuen Alten verdient, denn nicht wenige von ihnen haben viel Geld. Aber Sie können noch so häufig auf Reisen gehen, Sie können sich Woche für Woche Botox spritzen lassen oder im Hamsterrad der Fun-and-Fit-Industrie Ihre Runden drehen, Sie werden nicht jünger dadurch. Die Versprechen führen in die Irre, so viel Geld auch immer in die Kassen der Regenerationsindustrie fließen mag. Und es fließt sehr viel Geld. An der Angst vor dem Alter verdienen alle. Denn: Je älter wir werden, desto jünger wollen wir sein. Dieser Versuchung entkommen weder Sie noch ich, auch wenn wir damit gegen das einzige und erste Gebot würdevollen Alterns verstoßen: Machen Sie sich nicht lächerlich!

Wenn etwas im Alter in unerreichbar weiter Ferne liegt, dann Ihre Jugend. Wie wäre es also, wenn Sie kurz innehalten, den Blick von der Vergangenheit abwenden, so wie es schon Orpheus empfohlen wurde, und die Zeitstrecke überdenken, die vor Ihnen liegt. Mit ein wenig Glück: dreißig Jahre Unabhängigkeit. Diese Jahre wollen Sie nicht nur am Strand, im Riester-Fitnessclub oder in der Enkelbetreuung verbringen!

Was also tun mit viel zu viel Zeit? Fragen Sie die Experten! Was mich befähigt, über dieses Thema zu schreiben? Nichts. Ich bin kein Altersforscher, ich bin ein Leser. Ich lese gerne Lebensgeschichten, und ich schreibe gerne Lebensgeschichten. Vor allem versuche ich immer wieder aus Lebensgeschichten zu lernen, sei es in den Nachrufen, die ich über Alltagsmenschen schreibe, oder in den biografischen Miniaturen, die ich über vermeintliche Berühmtheiten verfasst habe. Aus dieser Perspektive stelle ich die Frage erneut: Was ist das Geheimnis glücklichen Alterns? Wir alle wissen, dass manche Bücher altern und manche nicht. Warum ist das so? Warum kann manchen Büchern, manchen Menschen die Zeit nichts anhaben, während andere schon vergreist auf die Welt kommen?

Das ist die Frage dieses Buches. Es gibt viele kluge Abhandlungen über das Altern, von Wissenschaftlern, von Philosophen, bei allen kann man sich Rat holen, fachmännischen Rat. Expertengespräche sorgen häufig für einen kühlen Kopf, aber leider auch für ein kaltes Herz, deshalb war meine Idee eine andere: Ich wollte kein Gelehrtensymposium belauschen, sondern noch einmal mit all den literarischen Figuren ins Gespräch kommen, die ich bewundere und liebe, weil sie mir viele glückliche Momente geschenkt haben. Ich wollte einige meiner Lieblingsbücher noch einmal zur Hand nehmen, weil jedes von ihnen mich an ein Leben erinnert, das ich selbst nie hätte führen können, aber dennoch durchleben durfte, weil die Autoren mich dazu einluden. Dichter sind gastfreundlicher als Philosophen oder Wissenschaftler. In Sachen Altersweisheit fragte ich also lieber Agatha Christie um Rat als Simone de Beauvoir, die ein sehr gewichtiges Buch über das Altern geschrieben hat. König Lear ist mir wichtiger als die vielen klugen Professoren, die sich, wissenschaftlich distanziert, dem Thema der nachlassenden Geisteskraft gewidmet haben. Peter Pan ist mein ewiger Jugendbeauftragter, und in Sachen Heimweh nach der Zukunft wende ich mich stets an E.T., auch wenn ich das nie offen eingestehen würde. Als Lebenselixierexperte steht mir Harry Potter zur Seite, und Pippi Langstrumpf berät mich noch immer in allen Lebensfragen, die über das Praktische hinausgehen. Diese Figuren sprechen mit mir, nicht, weil ihre Autoren sie wie Handpuppen bewegen, sondern weil sie etwas aussprechen, was in mir selbst zum Ausdruck drängt.

In diesem Buch unterscheide ich folglich nicht zwischen Lebenden und Toten, nicht zwischen den Schriftstellern und ihren Helden. Hamlet und Dorian Gray sind mir viel näher als Shakespeare oder Oscar Wilde. Zuweilen ertappe ich mich sogar dabei, wie ich Gespräche mit diesen Figuren führe, die laut Melderegister nie existiert haben. Oder mit ihren Autoren, die noch so lange tot sein mögen und dennoch ansprechbar bleiben für ihre Leser. Dabei spielt es im Übrigen keine Rolle, ob sie im chronologischen Sinne alt wurden. Alter ist eine sehr wandelbare Kategorie: Brecht war schon als junger Dichter sehr altklug, Proust kam vergreist auf die Welt. Bessere Zeitzeugen als sie kann es folglich nicht geben. Sie hören ein wenig Wahnsinn aus meinen Worten heraus? Gut so! Ein wenig Wahnsinn kann im Alter durchaus von Nutzen sein. Sie stimmen zu? Dann können wir ja gemeinsam die Reise zu dieser seltsamen Insel der Alten antreten, deren Schirmherrschaft, nach Lears Abdankung, in alle Ewigkeit Prospero und Miss Marple innehaben werden.

Stellen wir noch einmal die Ausgangsfrage: Was tun mit viel zu viel Zeit? Fragen wir die zuständigen Experten: Was haben Robinson Crusoe, der Graf von Monte Christo und Hannibal Lecter gemeinsam? Sie hatten mehr Zeit als Bewegungsfreiheit. Also mussten sie erfinderisch sein, um nicht wahnsinnig zu werden. Uns wird es irgendwann ähnlich ergehen. Alter ist nichts anderes als die allmähliche Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit. Eine Einschränkung, die Sie nicht weiter beeinträchtigen wird, wenn Sie Ihren geistigen Horizont entsprechend erweitern.

Wie entkommen lebenslänglich Inhaftierte der Langeweile? Mithilfe der Lecter-Methode. Sie erinnern sich, das »Schweigen der Lämmer«: Der hochintelligente Serienmörder Hannibal Lecter, seinerseits ein renommierter Psychologe, überlebte die langjährige Isolationshaft nur, indem er sich immer wieder in seinen Gedankenpalast zurückzog. Gedankenpalast oder auch Gedächtnispalast – bei diesem Bauwerk handelt es sich nicht um eine Erfindung des Romanschreibers Thomas Harris, die Technik des fiktiven Palastbaus ist vielmehr von alters her Brauch unter den Gedächtniskünstlern.

Ihr Kopf ist ein Museum. Eher eine Rumpelkammer, werden Sie einwenden, aber der Unterschied ist nicht so enorm groß, wenn Sie erst einmal mit dem Sortieren der besten Stücke beginnen bzw. entscheiden, welche Art des Gedächtnisses Sie trainieren wollen. Ist es Ihnen wichtiger, im Alter die Nebenflüsse des Rheins aufzählen zu können – oder sich den Geschmack des Kaugummis vergegenwärtigen zu können, der Ihrem ersten Kuss die besondere Note verlieh?

Ein gutes Gedächtnis um seiner selbst willen ist eine fürchterliche Sache, denn es verrät einen völligen geistigen Stillstand. Die Senilitätsfalle: Wir archivieren unser Wissen. Wir mobilisieren es nicht. Ihr Kopf sollte kein Archiv, sondern Ihr wirkliches Zuhause sein! Da muss es ein wenig unordentlich aussehen. Stellen Sie sich dieses Zimmer einmal kurz vor, denn es ist gleichgültig, ob Sie viele Räume einrichten oder nur diesen einen, in dem jedes Einrichtungsstück an einen ganz besonderen Tag in Ihrem Leben erinnert. Ihre Biografie, visualisiert als Wunderkammer. Dazu brauchen Sie kein Immobilienvermögen. Alles geschieht im Kopf. Nur im Kopf, denn Alter ist irgendwann nichts anderes als eine mehr oder minder komfortable Form der Isolationshaft.

Sie wollen dennoch keinen Rat von Kriminellen und Sonderlingen annehmen? Das alles klingt Ihnen zu sehr nach Strafvollzug? Und Ihre große Wohnung werden Sie sowieso niemals aufgeben? Nun, wechseln wir die Milieus. Künstlern ergeht es zuweilen nicht anders als Strafgefangenen. Auch sie verbringen viel Zeit auf engstem Raum, allerdings nennen sie es »Muße« und nicht »Langeweile«. Es ist die Wartezeit zwischen den Momenten der Inspiration. Wo verbringen sie diese Zeit des Wartens? In ihrem Gedankenpalast! Künstler sind großartig darin, in ihrer eigenen Welt zu leben. Das ist das Geheimnis ihres langen Lebens. Denn entscheidend ist nicht, wie viele Liegestütze Ihnen im Alter noch gelingen, sondern wie groß die Kraft des Staunens bleibt. Rubinstein, Picasso, Minetti, Woody Allen, sie alle haben keine andere Gemeinsamkeit als die, das Leben zu ihrem ganz persönlichen Spielplatz erklärt zu haben. Die Einstein-Formel: Werde alt, bleibe Kind. »We do not stop playing because we are old«, bringt es die Schauspielerin Helen Hayes auf den Punkt. »We grow old because we stop playing.« Also spielen Sie! Wechseln Sie die Perspektiven! Spielen Sie alle Rollen Ihres Lebens noch einmal durch, auch die ungelebten, in diesem Theater, das den Mittelpunkt Ihres Gedächtnispalastes einnehmen sollte. Gönnen Sie sich zum Abschluss die Hauptrolle. Sie sind allein auf der Bühne? Dann monologisieren Sie!

Gedankenspiele sind wie Selbstgespräche, scheuen Sie sich nicht, mit sich selbst zu sprechen. Irgendwann wird ohnehin keiner mehr mit Ihnen reden. Nicht so jedenfalls, wie Sie es gewohnt waren. Also reden Sie frühzeitig mit sich selbst. Alle Künstler tun das. Den Tod können wir nicht besiegen, das Altern schon, wenn wir frühzeitig in Dialog mit uns selbst treten. Denn wir werden einsamer sein im Alter, unweigerlich, das Zeitgenössische wird uns fremder werden, die Freunde werden sich immer mehr zurückziehen. Suchen Sie sich neue Freunde, unsterbliche Freunde. Lernen Sie von Miss Sophie, und Sie werden niemals einen einsamen Geburtstag feiern. »Same procedure as every year«? »No, my dear«, würde Miss Marple einwenden, »seien Sie bitte nicht so denkfaul! Erstellen Sie eine neue Gästeliste. Laden Sie sich selbst bei Miss Sophie ein!« Spielen Sie endlich mit im Spiel des Lebens!

Dieses Buch praktiziert das, was es als Methode empfiehlt: Gedankenspiele. Nehmen Sie sich die Freiheit, alles, was Sie je gedacht haben, alles, was je gedacht wurde, in Ihrer ganz eigenen Weise neu zu denken. Befragen Sie alles und jeden auf Ihren ganz privaten Nutzen hin. Warum? Weil Sie das beweglich hält. Je immobiler Ihr Bewegungsapparat, und das wird er eines Tages unweigerlich sein, desto mobiler sollte Ihr Kopf werden. Das wirkungsvollste Anti-Aging geschieht im Hirn. Wir trainieren den Körper fürs Alter, aber den Kopf, den sollten wir nicht trainieren, als wäre er ein Muskel, den Kopf sollten wir rückkoppeln an unsere Seele. Erinnern ist keine Konditionsleistung, sondern eine Sache des Herzens.

Wann Sie mit diesen Übungen beginnen sollten? Früh, sehr früh, denn wir altern vom Tag unserer Geburt an. Das biologische Alter eines Achtunddreißigjährigen, fanden Forscher unlängst heraus, kann zwischen achtundzwanzig und einundsechzg Jahren liegen. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler: Das Altern kann sich schon in der Jugend deutlich verlangsamen, sofern Sie sich mental darauf einstellen. Wenn Sie der Autor Ihrer eigenen Geschichte bleiben wollen, fangen Sie früh damit an, in immer neuen Rollen die Bühne des Lebens zu betreten, Kopftheater zu spielen, wandelbar zu bleiben. Was Sie davon haben? Sie gewinnen Zeit. Und Sie bleiben jünger, als Sie … nein, nicht: als Sie denken; Sie bleiben jünger, wenn Sie denken – wenn Sie befreit denken.

I.SIE FÜHLEN SICH ZU JUNG?
SIE FÜHLEN SICH ZU ALT?

Oder: Warum stellt sich König Lear so dumm an?

Sie fühlen sich jünger, als Sie sind? Dann werden Sie alt! Sie beginnen sich selbst auszutricksen. Das ist immer ein erstes Indiz für … nein, nicht für Senilität, sondern für einen kreativen Umgang mit Ihrer eigenen Biografie. Sich selbst zu belügen wird erst dann zum Problem, wenn auch andere die Lüge durchschauen. Oder Sie selbst nicht mehr die Ausdauer haben, die Lüge aufrechtzuerhalten.

Sie fühlen sich älter, als Sie sind? Dann werden Sie tatsächlich alt! Aber nur, weil Sie zu schnell aufgegeben haben. Sie trauen sich selbst nicht mehr, folglich trauen Sie anderen nicht mehr. Sie fordern Verehrung, obwohl Sie eigentlich Liebe wollen. König Lear oder Dorian Gray? An wessen Seite sehen Sie sich? Hier Dorian, der ewige Sohn, ewig jung, ewig Verantwortung scheuend, ewig verlangend. Dort Lear, der ewige Vater, ewig Tyrann, ewig fordernd (bei den Frauen: wahlweise Cinderella oder Medea).

Sie erinnern sich: Mit vierzehn, fünfzehn konnte es gar nicht schnell genug gehen mit dem Älterwerden, da addierte man gern ein paar Jahre hinzu, durch die Frisur, die Klamotten, den Ausweis der älteren Schwester, die Lederjacke des Bruders; mit vierzig, fünfzig altern wir immer langsamer, zumindest bilden wir uns das ein, denn wir weigern uns beharrlich, die Jahreszahlen als das anzunehmen, was sie sind: Wegmarken unseres Verfalls. Aber was auch immer wir uns einbilden, wir werden älter, in einem unerbittlichen Taktmaß, Stunde für Stunde, Tag für Tag, und wieder ist ein Jahr wie im Flug vergangen, und wir blicken staunend in den Spiegel und fühlen uns doch gar nicht so alt, wie wir es dem Ausweis nach sind. Der Spiegel lügt, so oder so. Auch daran ist nichts bedenklich, sofern sich andere der Lüge anschließen.

Es gibt eine Formel in der Altersforschung für diese Diskrepanz zwischen Lebenszeit und chronologischer Zeit: gA < tA, das gefühlte Alter ist immer kleiner als das tatsächliche Alter. Es gibt auch eine Formel, die dieser Formel widerspricht: tA = tA. Das tatsächliche Alter ist das tatsächliche Alter. Woraus folgt: gA = S². Das gefühlte Alter ist Selbstbetrug im Quadrat. Mein Therapievorschlag: Vergessen Sie die Formeln ganz schnell wieder, sie existieren ohnehin nicht. Aus einem ganz einfachen Grund: Noch ist es keinem Wissenschaftler gelungen, das Verhältnis zwischen Lebenszeit und chronologischer Zeit auf eine griffige Formel zu bringen, Einstein ausgenommen: EJ = Aw + Kb. Ewige Jugend erlangen Sie, indem Sie alt werden und Kind bleiben. Kind bleiben – nicht kindisch werden wie König Lear oder dauerpubertierend wie Dorian Gray.

Fakt ist: Wir neigen zu fatalen Fehleinschätzungen in Lebenszeitfragen, und zwar ganz unabhängig davon, wie klug oder wie dumm, wie arm oder wie reich wir sind. Wir trauen uns zu viel zu; wir benehmen uns, als wären wir tatsächlich so jung, wie wir es uns wünschen. Aber dem widerspricht der Körper. Je älter wir werden, desto offener treten sie in einen Disput, Körper und Geist werden zu Widersachern. Der Sieger steht fest: Eines unschönen Tages sehen wir tatsächlich so alt aus, wie wir sind. Der Fluch des Dorian Gray, jenes unwirklich schönen Dandys, der sich im Auftrag Oscar Wildes von einem befreundeten Maler porträtieren ließ, in Lebensgröße und unheimlicher Lebendigkeit des Ausdrucks. Denn dank eines unfrommen Gebetes alterte das Bild und nicht er selbst, bis zu jenem schrecklichen Tag, an dem sie sich von Angesicht zu Angesicht begegnen mussten, die Fratze im Bild und das Engelsgesicht davor. Dorian tötete den Maler, zerstörte sein Bild und damit sich selbst – was keine wirklich sinnvolle Lösung des Dilemmas darstellt. Dennoch wird Dorian Gray einer der Wegbegleiter in diesem Buch sein. Natürlich hätte ich gern ausführlich seriösere Zeitzeugen über das Altern befragt, Wissenschaftler in erster Linie, aber erstaunlicherweise haben sie nicht allzu viel Verbindliches zu dem Thema beizutragen. Das Altern ist noch immer ein biologisches Rätsel. Wir wissen inzwischen zwar recht gut, wie der Körper altert, aber wir haben keine präzise Vorstellung davon, wie weit sich das Verfallsdatum noch hinauszögern lässt. Es gibt kein Naturgesetz, das die ewige Jugend verbieten würde.

Entsprechend euphorisch ist die Stimmung in der Altersforschung. Auch wenn der große Durchbruch bisher auf sich warten ließ. Die Etappensiege nähren allerdings die Hoffnung, dass in nicht allzu ferner Zukunft jedes Neugeborene in den Club der Hundertjährigen aufgenommen wird, sofern es denn das Glück hat, in den Wohlstandsgesellschaften aufzuwachsen. »Jede Woche«, so die griffige Formulierung des renommierten holländischen Altersmediziners Rudi Westendorp, »verlängert sich unser Leben um ein Wochenende, und das Ende dieser Entwicklung ist noch nicht in Sicht.« – »Alt werden, ohne alt zu sein«, verspricht folglich der Titel seines Buches, und dieses Versprechen scheint angesichts des rasanten medizinischen Fortschritts keineswegs vermessen.

Schon jetzt können viele Leiden gelindert, viele Gebrechen therapiert werden, und die kosmetische Chirurgie tut ihr Übriges. Jünger aussehen, als man ist – kein Problem, gang und gäbe das Plätschern im Jungbrunnen. Der Dreißigjährige trägt die Turnschuhe seines Sohnes auf. Die Vierzigjährige spannt der Tochter den Freund aus. Der Fünfzigjährige gründet die Familie, in der die Sechzigjährige morgens die Nanny gibt, bevor sie nachmittags an der Universität ihren Bachelor nachholt, während ihr siebzigjähriger Lover zu Hause in froher Erwartung ihrer abendlichen Rückkehr das Tantrabuch unterm Bett versteckt und seine Tagesration Viagra einwirft.

Und es wird noch besser kommen. Wenn erst die Milliardenvermögen der Internetmogule und New-Age-Oligarchen in die medizinische Forschung fließen, weil sie ihre persönliche Unsterblichkeit erkaufen wollen, dann werden in rasender Eile Medikamente erprobt und Impfstoffe entwickelt werden, die das biologische Verfallsdatum nicht nur um Jahre, sondern um Jahrzehnte hinausschieben. Nur werden wir, die Menschen mit schmalem Budget, davon in den nächsten Jahrzehnten wohl kaum profitieren können. Das bedauere ich zuweilen. Andererseits: Unsterblichkeit bringt nicht zwangsläufig die Antwort auf die Frage mit sich, wie ich meine Zeit verbringen will, wenn jeder Tag ein Sonntag ist, und das dreißig Jahre lang. Was nützt eine unendliche Reihe von Tagen, wenn Sie sich mit sich selbst langweilen? Die Konservierung oder gar Verjüngung des Körpers geht nicht notwendig mit einer Auffrischung des Geistes einher.

Die Unsterblichkeit ist deshalb kein Thema in diesem Buch und auch all die Techniken der körperlichen Optimierung, die derzeit kursieren, sind es nicht. Meine Ausgangsfrage ist eine andere: Wie werden wir alt, ohne zu altern? Ohne im Geiste zu altern. Wie verhindern wir die Verholzung unseres Denkens? Es sind nur natürliche Gegenmittel zugelassen. Darunter verstehe ich weder Ginseng noch Ginkgo; was immer Sie schlucken wollen, schlucken Sie es, aber wundern Sie sich nicht, dass Ihnen dieser Konsum bereits als seniler Appetit ausgelegt wird. Unter natürlichen Mitteln verstehe ich all das, was wir aus eigenen Kräften tun können, um unseren Geist wach zu halten.

Was den Körper anbelangt, so ist die Rezeptur der Konservierung unserer Kräfte einfach, zu einfach für manche. Die WM-Formel: Weniger ist mehr. Weniger Fett, mehr Bewegung; weniger Alkohol, mehr Karottensaft; weniger Stress, mehr Spaß. Das sichert Ihnen derzeit achtzig bis neunzig Jahre gesunder Lebenszeit, sofern Sie von Schicksalsschlägen verschont bleiben. Lassen Sie sich nicht von Ihrem Pessimismus irreführen: Sie werden ein alter Mensch, wenn Sie es vernünftig anstellen. Aber ab wann fühlen Sie sich alt? Manchem Zwanzigjährigen graut es vor dem dreißigsten Geburtstag, die reifen Jahre zwischen vierzig und fünfzig sehen manche erst mit sechzig als wirklich beendet an, aber spätestens an Ihrem siebzigsten Geburtstag müssen Sie sich eingestehen, dass Sie nicht mehr der Jüngste sind. Und nun stellen Sie sich überrascht die Frage: Wann genau setzte der Alterungsprozess eigentlich ein? Und viel bedrückender noch die Frage: Ab wann wurden Sie von Ihren Mitmenschen als alt taxiert, obwohl Sie sich selbst noch immer als jugendfrisch empfanden?

Sie kennen die seltsame Geschichte des Benjamin Button, der als Greis geboren wurde und als Kind starb? Brad Pitt hat diesen Benjamin im Film verkörpert, aber wenn Sie ein wenig in Ihrem Gedächtnis kramen, die Tage im Kindergarten, die ersten Schuljahre wiederaufleben lassen, dann werden Sie sich an den ein oder anderen Mitschüler erinnern, bei dem Sie damals schon dachten: Wie altklug! Netter gesagt: Wie reif für sein Alter. Jeder von uns kennt einen Benjamin Button. Die Welt ist voll von ihnen. Zwanzigjährige gründen Firmenimperien, Dreißigjährige Dynastien, manchen wird erst mit vierzig bewusst, dass sie nie eine Kindheit hatten, die sie dann vielleicht mit sechzig nachholen, wenn sie beginnen, all die Spielzeuge nachzukaufen, die sie sich in jungen Jahren immer erträumt hatten, was sie in den Augen ihrer Mitmenschen sehr schnell sehr kindisch erscheinen lässt.

Geist und Körper gehen nicht im Gleichschritt. Junge Menschen, denen zu viele Sorgen das Leben veröden, oder zu viel Ehrgeiz, altern vor der Zeit. Alte Menschen, denen die Last des Sorgens für andere abgenommen wurde, verjüngen sich auf wundersame Weise. Wir altern, wir verjüngen uns, zuweilen ist das ein Geschehen von Jahren, zuweilen eins von Stunden. »Und ich war alt, und ich war jung zu Zeiten / War alt am Morgen und am Abend jung / Und war ein Kind, erinnernd Traurigkeiten / und war ein Greis ohne Erinnerung.« So besingt Bertolt Brecht den »Wechsel der Dinge«, der eigentlich ein Wechsel der Zeitempfindungen ist. Wir wachen alt auf und gehen jung zu Bett, oder wir erwachen jung und altern, kaum, dass wir die Pflichten des Tages aufgezählt haben. Niemals bleiben wir den ganzen Tag über so alt, wie wir sind. Das macht es so schwer, Kalender und Temperament in Einklang zu bringen. Wer sich nie zu kindisch für sein Alter benommen hat, war nie Kind. Wer sich nie an den Gedanken gewöhnen kann, alt zu werden, wird kindisch. Ein schwieriger Balanceakt.

So gesehen ist Alter ein Kippphänomen. Wir geraten aus dem Gleichgewicht, der Körper übertölpelt uns plötzlich, wir können nicht mehr so, wie wir wollen, wir wollen nicht mehr so, wie wir sollen, alles ist irgendwie in Schieflage, und der Kopf, dem können wir am allerwenigsten trauen, denn der redet uns ein, dass Altern nur ein sehr äußerlicher Vorgang sei. Womit er im Prinzip recht hat, was die Sache noch sehr viel schwieriger macht. Denn wie können wir zwischen Selbstbetrug und Altersweisheit unterscheiden? Vor allem: Wer hilft uns dabei?

Die größte Bedrohung unseres Egos ist ja nicht die Zeit, die ist als Gegner schlimm genug, aber taxierbar – gänzlich unberechenbar hingegen ist unsere Eitelkeit. Wir werden uns selbst am gefährlichsten im Alter. Weil wir uns überschätzen, weil wir uns unterschätzen, weil wir kein verlässliches Selbstbild mehr haben.

Wenn König Lear in den Spiegel sieht, erblickt er einen ewig mächtigen Mann, dem alles zusteht, was die Welt an Wundern aufzubieten hat, insbesondere natürlich die Liebe seiner Untertanen, zu denen er zuallererst seine Kinder rechnet. Was er nicht sieht, ist, dass er längst keine Krone mehr trägt. Er ist nur noch ein Mensch, der sich die Liebe seiner Mitmenschen verdienen muss.

Wenn Dorian Gray in den Spiegel sieht, dann erblickt er einen ewig jungen, vollendet schönen Mann, dem kein Laster, kein Übel der Zeit etwas anhaben kann. Der Spiegel, Sklave seiner Eitelkeit, gibt ihm das, was er sehen will.

Ich bin alt. Wann haben Sie sich das zum ersten Mal gedacht? Ich werde alt. Wie oft kam dieser Seufzer – lautlos, versteht sich – schon über Ihre Lippen? Als Sie hörten, wie sich Jugendliche in einer Sprache unterhielten, die nicht mehr die Ihre war? Das kann Ihnen schon mit dreißig passieren. Deswegen sind Sie noch lange nicht alt. Als Ihnen die schlechten Tischmanieren Ihres jüngeren Kollegen auffielen, der Messer und Gabel mehr als Waffen denn als Essbesteck benutzte? Als Ihnen die Libido abhandenkam, als sie plötzlich wieder aufloderte, obwohl Ihnen in Ihrem Alter nur noch Freundschaften und keine Liebschaften mehr zugetraut werden? Als Sie es sich selbst nicht mehr zutrauten, das Verlieben? Ich bin zu alt für dergleichen! Als Sie stattdessen lieber shoppen gingen? Ein absolut verlässliches Indiz fürs frühzeitige Altern: Sie kaufen mehr, als Sie brauchen. Aber – haben Sie das nicht schon immer getan? Sie vergessen immer mehr? Nun ja, im Schlaf, in der Trunkenheit, im Liebesrausch und eben im Alter vergisst man so einiges! Sie werden immer gelassener? Jetzt ist tatsächlich Vorsicht geboten: Zu große Gelassenheit ist immer ein eindeutiges Indiz für Senilität.

Wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen, es ist nicht einfach, sich selbst als alternd in den Blick zu nehmen. Wann ist dieser seltsame Zeitpunkt, an dem das jugendliche Ich verloren geht und das vermeintlich neue, das gealterte Ich an seine Stelle tritt? Ist es wie im Wetterhäuschen, die Sonnenfrau tritt ab, der Regenmann erscheint und will einfach nicht mehr verschwinden? Wir können es schwer voraussagen, bei anderen nicht und auch nicht bei uns selbst. Manche altern von einem Tag auf den anderen. Manche vergreisen nie. Wir wissen wenig darüber, wie sich dieser Abschied von der Jugend genau vollzieht, vermutlich, weil wir so wenig darüber wissen wollen.

Das Merkwürdige am Alter sei, bemerkte die Schriftstellerin Natalia Ginzburg, dass wir gar kein Interesse daran verspürten, uns beim Altern zuzusehen oder uns gar in die Rolle des Alternden hineinzuversetzen. Sie gibt einen wunderbaren Beweis dafür, besser gesagt Rotkäppchen und der Wolf liefern ihn. Denn um die beiden geht es doch in dem Märchen, oder erinnern Sie sich noch an die Großmutter? Sicher, sie wird gefressen, und dass sie unversehrt aus dem Bauch des Wolfs wieder hervorkommt, ist eine große Freude … nur für wen? Wir leiden mit Rotkäppchen, wir fürchten den Wolf, die Großmutter hingegen ist uns herzlich egal. Oder erinnern Sie sich noch an ihren Namen?

Die größte Gefahr des Alterns ist, dass man sich gleichgültig wird, sich selbst und anderen, und dass einem diese Egoverdunklung dank altersgerechter Scheuklappen noch nicht einmal auffällt. Vielleicht ist das eine der Selbstschutzfunktionen unseres Intellekts, dass er uns vor der Erkenntnis unserer allmählichen Wahrnehmungseinschränkung so lange wie möglich bewahren will. Vielleicht kann er es auch gar nicht, vielleicht ist er mit der Wartungsfunktion seiner selbst einfach völlig überfordert.

Wie der Geist altert, wissen wir nicht. Die Verfallssymptome zeigen sich zuweilen erst sehr spät, aber das Geschehen selbst beginnt schon in den Jahren der Kindheit. An dem Tag, da Harry Potter auf seinen Lehrer Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore trifft, altert er um Jahrzehnte, wenn nicht gar um Jahrhunderte, denn dessen Wissen wird sein Wissen. Ein Fünfzehnjähriger muss in diesen Tagen mehr Weltgeschichte in seinem Kopf unterbringen als je ein Mensch zuvor, darunter ungeheuerliche Dinge, die selbst Erwachsene überfordern. Das kann leicht zur Verhärtung von Herz und Seele führen. Lots Weib erging es nicht anders, als sie hinter sich sah und zur Salzsäule erstarrte, weil sie mit einem Blick all die Schrecken Sodoms und Gomorras erfassen musste. Je mehr wir wissen, desto ballastreicher ist unser Denken, desto rascher ereilt uns das Urteil: Wie schrecklich altklug!

Umso dringlicher die Frage: Wie bleiben wir jung im Kopf? Nicht mit Sudokus, das hat die Forschung inzwischen herausgefunden, Kreuzworträtsel und dergleichen machen nicht schlauer, sie halten einen nur beschäftigt. Überhaupt scheint die ganze Intelligenzforschung sich ein wenig zu sehr an Äußerlichkeiten zu orientieren. Der IQ ist eine Phantomgröße, ausgedacht von Bio-Technikern, nichtssagend wie die PS- oder die Kilowattzahl eines Autos, denn was nützen Ihnen dreihundert Pferdestärken unter der Haube, wenn Sie nicht rückwärts einparken können? Und wozu sind Sie intelligent, wenn Sie nicht wissen, wofür? Sportwagen fahren macht nicht sportlicher, Bücher kaufen nicht klüger, Diamantcolliers um den Hals machen nicht schöner. Das Hirn mag ein trainierbares Organ sein, aber wohin soll Sie der Fleiß führen? Sie können das Alter nicht durch Aktionismus aufhalten.

Wodurch dann? Vor allem: Wen wollen Sie um Rat fragen? Ihren Freund, Ihre Freundin, Ihren Mann, Ihre Ärztin, Ihre Therapeutin oder Ihren Yogalehrer? Bin ich alt? Glauben Sie etwa, dass Ihnen einer aus diesem Kreis eine ehrliche Antwort geben wird? Sie werden angelogen. In bester Absicht, aber Sie werden angelogen. Die Ärzte nehmen sich nicht die Zeit, die Freunde haben nicht den Mut, der Partner oder die Partnerin liebt sich selbst viel zu sehr, als dass er oder sie mit einem alten Menschen zusammen sein will, und der Blick in den Spiegel hilft erst recht nicht weiter. Dazu belügen wir uns selbst viel zu gern. Die Folgen sind unschön.

Fragen Sie König Lear! Fragen Sie Dorian Gray! Es gibt einen unabwendbaren Fluch, der jene trifft, die sich weigern zu altern, man wird eines Tages schrecklich überrascht von der Gestalt, die einem aus dem Spiegel entgegentritt. Wie alle Verbrechen werden auch die des Selbstbetrugs meist eines unschönen Tages entlarvt, es kommt zur Gegenüberstellung, Selbstbild und Spiegelbild, und dann stehen wir da, stumm, ein wenig verlegen und bedürftig nach Trost. Dieser alte Mensch soll wirklich ich sein?!

In diesem Moment des Jammers, der kein Ende nehmen will, kommt Dorian Gray hinzu, tritt neben Sie vor den Spiegel, legt Ihnen beruhigend die Hand auf die Schulter und säuselt mit toxischer Süffisanz: »Die Tragödie des Alters besteht nicht darin, dass man alt ist, sondern dass man jung ist. Keine Angst, mein Lieber, Sie sind nicht der Erste, dem es so ergeht!« Wie tröstend, denken Sie sich. Wie ungemein tröstend. Und wenn noch ein Funken Selbstironie in Ihnen glimmt, dann müssen Sie zugeben, dass Dorian Gray recht hat. Sie sind nicht der Erste, der altert, und Sie werden nicht der Letzte sein. Insofern kommt Dorian Gray als Ratgeber sehr gelegen, denn er selbst ist gealtert auf denkbar schlimmste Weise, was die Hoffnung weckt, dass Sie es besser machen können. Nehmen Sie sich an ihm ein Beispiel, wie Altern durch Jugendwahn zur Tragödie werden kann. Nehmen Sie sich an Miss Marple ein Beispiel, wie Sie dank eines gesunden Verstandes älter werden können, ohne zu altern.

Jedes der Kapitel in diesem Buch hat einen Paten, Männer oder Frauen, die erst durch und dank ihres Alters berühmt wurden, was die Hoffnung nährt, dass es nie zu spät ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Miss Marple wird wie gesagt zu Wort kommen, Goethe, Konfuzius, der König Salomo und die Königin von Saba, wiewohl deren Alter so genau nicht zu bestimmen ist, und natürlich Harolds greise Freundin Maude.

Zuallererst und noch in diesem Kapitel betritt die Bühne: König Lear, der Albtraum aller Töchter – und Söhne, die sich plötzlich den Schrullen eines Mannes ausgesetzt sehen, den sie einst als ihren Vater kannten. King Lear, Schutzpatron aller alten Männer, die in Selbstmitleid versinken, weil sie noch einmal den ganz großen Auftritt suchen, bevor sie sich selbst in Vergessenheit bringen. Jeder von uns kennt einen alten Mann, der diesem König zum Verwechseln ähnlich ist, auch wenn Lear selbst vermutlich nie gelebt hat. Wie gesagt: Es sind mehrheitlich literarische Figuren, die in diesem Buch eine große Rolle spielen, es werden nur wenige Menschen aus Fleisch und Blut zu Wort kommen, aus dem einfachen Grund, weil Menschen im wirklichen Leben selten die Gelegenheit gegeben wird, so klug zu sein, wie sie tatsächlich sind, so tapfer, so liebevoll, so rachsüchtig und so nervtötend. Die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, ist in Büchern größer, im Guten wie im Schlechten. Eine Miss Marple kann die Naive mimen, in grauen Wollstrümpfen kurzatmig durch Pfützen voll Blut waten, sie wird dennoch heil aus der Nebelwand des Verbrechens treten und mit herzigem Lächeln den Mörder präsentieren, dem ihre Schöpferin Agatha Christie im wirklichen Leben gottlob nie begegnete. Was wiederum den ruhigen Lebensabend ihrer Figuren sicherte, denn Hercule Poirot würde sich strengstens dagegen verwehrt haben, dass sich seine Autorin im wirklichen Leben auf Mördersuche begibt: C’est impossible! Viel zu gefährlich, Madame, das Leben da draußen! Sie würden nur unsere gemeinsame Existenz gefährden, n’est-ce pas?!

Der Dichter Gottfried Benn empfand das Altern als Problem für Künstler und zugleich als Gewinn, ein Wechselspiel, denn ihm fiel auf, was uns hoffentlich zur Lösung des Problems des alterslosen Lebens führen wird, dass nämlich Künstler, sofern sie denn nicht zu früh an ihrem Tun verzweifeln, häufig länger leben als die meisten ihrer Zeitgenossen. Tizian, Michelangelo, Goethe, Tolstoi, Picasso, Chaplin, sie alle wurden sehr alt, ohne dabei an Klugheit einzubüßen. Woran das liegt? An ihrer Faulheit! So nenne sich das doch in diesen Kreisen, sich der Muße hingeben – oder den Musen, lästert Heribert Hurtig alias Homo Faber im Namen aller allzeit Geschäftigen. Weil sie fast ausschließlich Umgang mit Menschen hatten, die gar nicht existierten, das zumindest ist meine Vermutung. Pippi Langstrumpf hielt Astrid Lindgren jung, jünger vielleicht, als es ihre Tochter Karin getan hat, für die sie das Buch schrieb. Denn Pippi Langstrumpf wollte kein Einzelkind bleiben, und so kam Kalle Blomquist dazu, und dann kamen die Kinder aus Bullerbü, und ehe sichs Astrid Lindgren versah, hatte sie für eine ganze Schar von Kindern zu sorgen und zu schreiben, Kinder, die in ihren Büchern lebten und die den Kindern draußen zu Spielgefährten wurden.

Wir glauben immer, dass die Künstler ihre schützende Hand über ihre Geschöpfe halten, das ist wahr; wahr ist aber auch, dass die Geschöpfe zuweilen sehr liebevoll für ihre Autoren sorgen. Harry Potter hat mit seinem Zauberstab das Aschenputtel Joanne Rowling, Sozialhilfeempfängerin und alleinerziehende Mutter, zu einer unermesslich reichen und mächtigen Königin gemacht, der Kinder und Erwachsene auf der ganzen Welt zu Füßen liegen, um ihren Geschichten zu lauschen.

Ob Harry Potter oder Winnetou, Tom Sawyer oder Pippi Langstrumpf, fast jeder von uns war schon mit Menschen befreundet, die nie wirklich lebten, dennoch haben wir sie bewundert, geliebt, mit ihnen gelitten und sind an ihnen gewachsen, weil sie mehr Einfluss auf uns hatten als die meisten anderen Spielgefährten. Auch wenn wir es im Alter gern vergessen, wir verdanken den Helden unserer Kinderbücher eine ganze Menge Lebensmut. Etwas von ihrer Kraft ging auf uns über. Und sei es auch nur das Geheimwissen um das einzige universelle und unerschöpfliche Zaubermittel gegen die Tyrannei der Zeit: Einfach ein Buch aufschlagen, und schon leben Sie in einem anderen Jahrhundert, an einem anderen Ort, in einem anderen Körper. Das ist Magie, Fantasterei, was auch immer Sie wollen, aber es funktioniert. Und es hilft gegen das vorzeitige Altern!

Wagen wir die Probe aufs Exempel. Der erste Fall: König Lear. Auch wer das Drama noch nie auf der Bühne erlebte, hat zumindest den Namen schon gehört: »King Lear«. Der Autor, auch er nicht gänzlich unbekannt, obwohl er ein biografisches Rätsel geblieben ist: William Shakespeare. In welchem Verhältnis die beiden zueinander standen? Schwer zu sagen, über den alten Mann Shakespeare wissen wir sehr wenig. König Lear wiederum scherte sich einen Dreck um die Meinung von Autoren, was ihm zum Verhängnis wurde, aber dazu später mehr. Sie kennen König Lear nicht? Sie hassen Theater? Nicht weiter schlimm, selbst wer den Namen noch nie hörte, hat zumindest das Drama schon erlebt: Ein Mensch wird alt und lästig. Lears Drama, die Tragödie des alten Mannes, der nicht mehr weiß, wem er vertrauen soll, wiederholt sich Tag für Tag, es widerfährt Männern wie Frauen, Armen wie Reichen.

Es ist eine Tragödie, im Theater wie im wirklichen Leben, eine Tragödie, die eine sehr einfache und dennoch sehr schwierige Frage aufwirft: Warum tun wir im Alter so oft das Falsche?

King Lear, Besitzer eines Autohauses, eines mittelständischen Unternehmens, einer gut gehenden Bio-Bäckerei mit sieben Filialen, kurzum: ein wohlhabender Mann, mit drei Töchtern. Ein stolzer Mann, König in seinem Reich, stolz auf seine Kinder, aber mehr noch darauf, dass er ihnen so viel zu geben hat. König Lear will seinen Besitz verteilen an seine drei Töchter, die er gleichermaßen liebt – oder zu lieben vorgibt: Goneril, Regan und Cordelia. Zu Recht geht er davon aus, dass die Töchter nun, da er sich daranmacht, sein Erbe zu verteilen, ihn noch ein wenig mehr lieben werden, als es ohnehin ihre Pflicht ist. Also tut er das, was ihm zum Verhängnis wird: Er fragt, welche ihn am meisten liebe. Er will sich für seine Generosität mit Gefühl bezahlen lassen.

Goneril und Regan, bösartige Geschöpfe und daher kundig in der Kunst der Schmeichelei, übertreffen sich in Liebesbeteuerungen, sehr zur Freude des Alten, der gewillt ist, alles für bare Münze zu nehmen, was da gesäuselt wird. »Mehr lieb ich Euch, als Worte je umfassen«, prahlt die eine und wird übertrumpft von der anderen, die sich nicht scheut, in der Liebe zum Vater ihr »einzig Glück« auf Erden zu sehen. Cordelia hingegen, deren »Liebe schwerer wiegt als jedes Wort«, hat nichts zu sagen, nichts zumindest, was sich mit dem Geschwätz der Schwestern messen könnte: »[…] ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen heben; ich lieb Eur Hoheit, wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder.« Trockene Worte, so empfindet es Lear, unangemessen der Größe des Erbes. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf.

Wer liebt mich am meisten? Wozu will er das wissen, der alte Mann? Das ist die Frage, die im Drama nicht gestellt wird, die sich aber jeder Zuschauer stellt. Warum zwingt Lear seine Töchter in einen so abstrusen Wettbewerb? Die einfachste Antwort – und die unbefriedigendste: Weil es sonst kein Drama gäbe. Diese Feststellung ist nicht ganz so banal, wie sie klingt. Es ist beruhigend zu wissen, dass in Thrillern nicht deshalb so viel gemordet wird, weil die Zahl der Serienmörder sprunghaft angestiegen ist, sondern weil unser Blutdurst einfach umso größer wird, je friedlicher sich unser Leben gestaltet. Dramatiker und Regisseure zwingen ihre Figuren zuweilen, sehr unvernünftig zu handeln, denn nur so hat der Zuschauer die Gelegenheit, sich darüber zu empören oder zu entsetzen. Dichter morden nur für ihr Publikum, sie sind, modern gesprochen, Auftragskiller.

Warum zwingt Shakespeare König Lear, sich so dumm anzustellen? Weil er den Zuschauern einen Spaß bereiten will! Und man muss sich die Zuschauer im Elisabethanischen Theater als sehr grobes Volk vorstellen, das einen großen Spaß an allen Formen der Schadenfreude hatte. Ein mächtiger König wird zum Kind, das ist – auch ein Komödienstoff. Torheit und Demenz liegen nah beieinander. In medizinischen Fachkreisen wird des Königs Fall geradezu als Musterbeispiel einer beginnenden Altersverwirrung gehandelt. Lear ist orientierungslos, verstört, verloren: »Um offen zu sein, ich fürchte, ich bin nicht bei vollem Verstand. Mir scheint, ich sollte Euch kennen und diesen Mann auch, doch ich bin im Zweifel; denn ich bin völlig im Unklaren, was für ein Ort dies ist, und alle Kenntnis, die ich habe, erinnert sich nicht an diese Kleider; auch weiß ich nicht, wo ich letzte Nacht gewohnt habe.«

Diese königliche Demenz hat ihre komischen Seiten. Enorm die Fallhöhe, der Herrscher über die Welt brabbelt mit einem Mal kindischer als jedes Kind. Kein Zufall, dass dem König ein Narr beigegeben ist, der sich weitaus weniger närrisch benimmt als der König selbst.

Demenz ist ein verwirrendes Geschehen, auch für die Forscher: Welche Symptome deuten bereits auf geistigen Verfall, welche sind nur Schrullen oder Charaktereigentümlichkeiten, die sich im Alter ein wenig deutlicher zeigen, weil man sich mehr gehen lässt? Ein unbehaglicher Verdacht stellt sich ein: Ist das bereits ein Indiz? Wer sich gehen lässt, wird senil? Keine Schminke mehr am Morgen, keine Lackschuhe mehr für den Gang ins Theater? Wie erkenne ich, wann ich mich gehen lasse oder einfach nur entspannt bin? Wann ist diese neue Lässigkeit verdächtig? Wenn sie in Gesundheitsschuhen daherkommt? Wann steigen wir vom Thron unseres Egos und vor allem: warum? Weil wir einfach nur müde sind?

Wie hätte Lear erkennen können, dass er starrsinnig wird? Gibt es eine Checkliste der Senilitätskriterien? Die sieben Fallen des Alters, frei nach Shakespeare:

1.Sie werden angehimmelt, umschmeichelt – wie schön für Sie, aber: Wer oder was ist gemeint, wenn Sie angehimmelt werden? Sie selbst als Person, oder Sie selbst als Prominenter, als Geldgeber, als Netzwerker? Sie glauben, Sie selbst als Person?

2.Wieso sind Sie plötzlich anfällig für Schmeichelei? Oder waren Sie es schon immer, und es fiel Ihnen in jungen Jahren nur nie auf, weil Ihre Meinung von sich selbst eine viel höhere war als jetzt, da Sie älter und misstrauischer werden?

3.Sie verstehen keinen Spaß mehr, schon gar nicht auf Ihre Kosten?

4.Sie glauben, Sie hätten verdient, was Ihnen an Liebe entgegengebracht wird?

5.Sie sind sicher, dass mit Ihnen eine Welt zugrunde geht, weil nichts Besseres mehr nachkommen kann?

6.Sie sind beleidigt, dass Ihr Körper Sie im Stich lässt? Wie schnell sind Sie beleidigt?

7.Sie halten sich für einen König?

Jeder von uns ertappt sich ab und an bei eigenartigem Tun. Gelegentlich rede ich mit mir selbst, weil mich ein Problem sehr beschäftigt, oder ich fasse mich an die Nase, weil ich denke, es bringt Glück. Würde ich mehr mit anderen reden, wäre das Problem vielleicht schneller gelöst; würde ich andere häufiger an die Nase fassen, stünde ich hingegen sehr schnell unter Senilitätsverdacht.

Wir glauben, so zu bleiben, wie wir sind. Aber wir ändern uns. Unmerklich, Tag für Tag. Wir werden klüger, wir werden erwachsener, wir werden eigentümlicher im Lauf der Jahre. Vielleicht, damit wir uns weniger mit uns selbst langweilen. Also überraschen wir uns ab und an mit ungewohnten Verhaltensweisen. Die Frage ist: Wo sind die Grenzen zur Auffälligkeit überschritten? Wann beginnt man, sich selbst peinlich zu werden? Und was wäre daran eigentlich so schlimm?

Schlimm wird es, wenn wir beginnen, uns selbst oder andere zu belästigen oder gar zu schädigen. Dann sollten wir intervenieren – oder intervenieren lassen. Leicht gesagt. Leider kennt sich kein Mensch so gut, dass er die unmerklichen Veränderungen an sich selbst wahrnimmt, die in der Summe dazu führen, dass ein netter Schulfreund nach dreißig Jahren des Wiedersehens trompetet: Du hast dich ja gar nicht verändert! Während Sie an seinem mitleidigen Blick ablesen können, dass er eigentlich sagen wollte: Bist du aber alt geworden!

King of Queens