Mareice Kaiser
Alles inklusive
Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter
FISCHER E-Books
Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, lebt in Berlin und im Internet. Über ihr inklusives Familienleben als Mutter von zwei Kindern – mit und ohne Behinderung – berichtet sie seit Anfang 2014 auf ihrem Blog Kaiserinnenreich, mit dem sie innerhalb kürzester Zeit digitale Newcomer-Preise gewann.
Als Journalistin veröffentlicht sie Artikel zu den Themen Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf u.a. bei der tageszeitung (taz), ZEIT Online und im MISSY Magazine.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de.
»96 Prozent aller Kinder kommen gesund zur Welt. Meine Tochter gehört zu den anderen vier Prozent.«
Elternwerden hatte sich Mareice Kaiser anders vorgestellt: Ihre erste Tochter kommt durch einen seltenen Chromosomenfehler mehrfach behindert zur Welt. Das Wochenbett verbringen sie im Krankenhaus, statt zur Krabbelgruppe gehen sie zum Kinderarzt.
Mareice Kaiser erzählt von der Unplanbarkeit des Lebens, vom Alltag zwischen Krankenhaus und Kita, von ungewollten Rechtfertigungen, dummen Sprüchen, stereotypen Rollenverteilungen, bürokratischem Irrsinn und schwierigen Gewissensfragen.
Es ist die Geschichte einer jungen Mutter, die mehr sein will als die Pflegekraft für ihre behinderte Tochter. »Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der mein Kind die Kita verlassen muss, weil es zu behindert ist. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der ich dankbar dafür sein muss, wenn jemand mein Kind betreut, weil ich arbeiten möchte. Ich möchte nicht immer auf Glück angewiesen sein. Wie soll sich was verändern, wenn niemand kämpft?«
Fragen, die uns alle angehen.
>Alles inklusive< ist das erste Buch der Berliner Autorin. Ein wichtiger, moderner und kämpferischer Beitrag zu den aktuellen Debatten um Inklusion, Pränataldiagnostik und Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter besonderen Bedingungen – und die Liebeserklärung einer Mutter an ihre Tochter.
Ein Buch, das mitnimmt – in einen außergewöhnlichen Familienalltag.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403634-2
Interdisziplinäres Forum Pränataldiagnostik, Stand August 2013.
In der journalistischen Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion habe ich u.a. gelernt, dass Sprache diskriminieren kann, und bin deshalb bemüht, diskriminierende Sprache in meinen Texten zu vermeiden. Daher nutze ich einen Unterstrich, den sogenannten Gender Gap, der die weibliche und die männliche Form von z.B. Berufsbezeichnungen miteinander verbindet und in der Mitte Platz lässt für alle geschlechtlichen Identitäten zwischen und jenseits von weiblich und männlich.
Moldy Peaches, »Anyone else but you«
Studie »Wiedereinstieg mit besonderen Herausforderungen«, 2014
Als Cisgender werden Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
»Die Veränderung der Welt« von Liz Birk-Stefanovic, Blogeintrag auf kaiserinnenreich.de
Blogeintrag auf Kaiserinnenreich.de
Kirsten Achtelik in »Selbstbestimmte Norm – Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung«, Verbrecher Verlag, Berlin, 2015.
Blogeintrag auf Kaiserinnenreich.de
»Es piept« von Thorben Kaiser, Blogeintrag auf Kaiserinnenreich.de
Kirsten Achtelik in »Selbstbestimmte Norm – Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung«, Verbrecher Verlag, Berlin, 2015.
Blogeintrag auf Kaiserinnenreich.de
Kirsten Achtelik in »Selbstbestimmte Norm – Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung«, Verbrecher Verlag, Berlin, 2015.
Für meinen kleinen Punk
»Die eigene Geschichte zu erzählen und die Geschichten von
anderen zu hören und anzuerkennen, gehört zusammen.
Es sind beides radikale Akte, die die Welt verändern.
Und sei es nur die Welt eines einzelnen Menschen.«
Nicole von Horst, »The Stories We Tell«
Das kleine Mädchen lacht mich an. Die glänzenden, hellbraunen Haare umrunden ihr hübsches Gesicht, ihre weißen Zähne blitzen. Sie strahlt über das ganze Gesicht mit großen, leuchtenden Augen. »Downsyndrom, na und!?«, steht über ihrem Kopf, und es fehlt eigentlich nur noch die Sprechblase. Das Mädchen ist das »Covergirl« einer Zeitschrift für werdende Eltern. Es hängt in einem Zeitschriftenständer neben Publikationen wie Ihr Baby im ersten Jahr oder Paar, Eltern, Familie. Ich sitze im Wartezimmer der Abteilung Pränatalmedizin des Altonaer Krankenhauses in Hamburg. An den gelbgetünchten Wänden hängen Bilder mit Blumen und Babys. Aus dem siebten Stock kann man hier über die Stadt schauen. Mir wird schwindelig bei der Aussicht, in meinem Kopf ist das Lächeln vom Titelbild des Magazins.
Ich frage mich, ob es ein Zeichen ist, dass ich mir ausgerechnet diese Zeitschrift aus dem Ständer gegriffen habe. Eigentlich bin ich nicht abergläubisch, aber seitdem ich schwanger bin, sehe ich überall Zeichen. Ich bin in der 36. Schwangerschaftswoche und warte auf eine Ultraschalluntersuchung, die mir mein Gynäkologe empfahl. »Die haben dort einfach die besseren Geräte«, meinte er. Und fügte hinzu: »Sicher ist sicher.« Sicher ist für mich nichts. Seit dem positiven Schwangerschaftstest habe ich immer mal wieder den Gedanken, dass mein Kind nicht gesund zur Welt kommen könnte. Der Termin in der pränataldiagnostischen Abteilung macht mich nicht sicherer, im Gegenteil.
Thorben, der neben mir auf einem orangefarbenen Stuhl sitzt und tapfer meine Hand hält, flüstere ich zu:
»Irgendwer muss doch die behinderten Kinder bekommen«.
»Pscht!«, zischt er zurück.
Er will den Gedanken weder in meinem noch in seinem Kopf wissen. Ich weiß aber, auch er hat ihn. Er hat ihn nicht nur, weil der Kopf unserer Tochter beim letzten Routine-Ultraschall etwas zu klein aussah und etwas zu viel Fruchtwasser festgestellt wurde. Wir hatten diese Gedanken schon vorher, weil wir mit einer gehörigen Portion Realismus ausgestattet sind. Und – seitdem ich schwanger bin, lesen wir viel: Im Internet, in Zeitschriften und in Büchern. Wir wissen: 96 Prozent aller Schwangerschaften enden mit der Geburt eines gesunden Kindes[1]
. Aber wir wissen auch, dass es diese anderen vier Prozent gibt. Was wäre, wenn ich ein Kind in mir trage, das zu diesen vier Prozent gehört?
Wir sind beide schlecht in Mathe und noch schlechter im Kopfrechnen, aber es reicht für diese einfache Überlegung: All unsere Freund_innen, die bisher Kinder bekommen haben, gehören zu den 96-Prozent-Familien. Ihre Kinder kamen gesund und munter auf die Welt. Wir bekamen SMS wie »Luis ist da! Wir können das Wunder noch gar nicht fassen. 3800 Gramm schwer, 52 Zentimeter lang und die schönsten Wimpern, die wir jemals gesehen haben«. Langsam ist mal jemand an der Reihe für die andere Seite der Statistik. Irgendjemand muss einer der vier von hundert sein. Warum also nicht wir? Das Mädchen strahlt uns herausfordernd an.
»Sie ist süß«, sage ich, schon mit einem großen Kloß im Hals.
»Ja, das ist sie«, antwortet Thorben und drückt meine schweißnasse Hand noch ein bisschen fester. Dann höre ich Schritte.
»Frau Kaiser, bitte?«
Wir sind dran. Das Untersuchungszimmer ähnelt einem Kinosaal in Weiß. So einen großen Bildschirm habe ich bisher in keiner Arztpraxis gesehen. Wir stehen noch in der Türschwelle, als die Ärztin, eine drahtige Frau mit Brille und festem Händedruck, seufzt:
»Warum kommen Sie denn erst jetzt? In dieser Schwangerschaftswoche kann ich ja gar nichts mehr sehen.«
Wie aufmunternd! Ich will sofort wieder gehen, bleibe aber und gebe dem Drang, mich rechtfertigen zu müssen, nach.
»Wir haben uns gegen die Nackenfaltenmessung und die Feindiagnostik entschieden, weil für uns in der Konsequenz kein Schwangerschaftsabbruch in Frage gekommen wäre. Außerdem war während der Schwangerschaft alles in Ordnung. Erst jetzt meinte mein Gynäkologe, dass vielleicht etwas nicht stimmen könnte.«
Sie seufzt wieder und bestreicht widerwillig den Ultraschallkopf mit kalter Gelpaste. »Dann machen Sie mal Ihren Bauch frei.«
Mit forschen Bewegungen fährt sie mit dem Ultraschallgerät auf meinem Bauch herum, als würde sie darauf mit einem Spielzeugauto eine Rallye fahren. Manche Kurven sind unangenehm. Auf dem großen Flatscreen sehe ich Körperteile meiner Tochter.
»Also in dieser Woche kann ich Ihnen keine genaue Diagnose geben. Wären Sie mal um die 20. Schwangerschaftswoche gekommen! Aber so …!« Die Ärztin rollt mit den Augen. Sie fährt weiter mit dem kalten Gel über meinen Bauch. Ja, der Kopf wäre recht klein – und ja, die Fruchtwassermenge grenzwertig. Sie sieht wohl meine glasigen Augen, denn plötzlich bekommt ihre Stimme einen weichen Klang:
»Frau Kaiser, wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen, sage ich Ihnen: Sie dürfen ein gesundes Kind erwarten.«
Nun seufzt Thorben, vor Erleichterung. Aus Beunruhigung wird innerhalb einer Sekunde Vorfreude. Als wir durch das Wartezimmer das Krankenhaus verlassen, lächle ich dem Mädchen auf der Zeitschrift zu.
Es riecht nach Kräutertee und Massageöl. Die Wände sind gelb, den Fußboden dürfen wir nur mit Socken betreten. Vor der Eingangstür im ersten Stock stehen zwei Regale, so voll mit Schuhen, dass Spitzen und Hacken aus den Klappen herausschauen. »Bitte Schuhe ausziehen«, steht über den vollen Regalen. Anscheinend halten sich alle dran, die das Altonaer Geburtshaus besuchen. Mir sind normalerweise Wohnungen suspekt, die man nicht mit Schuhen betreten soll. Aber wahrscheinlich gehört das zum Konzept eines Geburtshauses, denke ich. Mein Kind will ich jedenfalls nicht mit Schuhen bekommen, von daher macht es schon Sinn.
Ich betrete das Geburtshaus also ohne Schuhe, nur mit Socken und freue mich, dass ich ein einigermaßen ansehnliches Paar trage. Um mich auf die Geburt unserer Tochter vorzubereiten, habe ich mich zum gleichnamigen Kurs angemeldet. Außer mir sind noch andere Frauen ohne Schuhe und mit dicken Bäuchen da. Ich betrete den Kursraum, in dem die anderen Frauen schon warten. Es ist ganz still, alle sitzen auf Isomatten oder Kissen. Als ich fragend durch den Raum blicke, sagt die Frau ohne Isomatte, aber mit großem Kissen unter dem Po: »Matten und Kissen findest du dort in der Ecke. Wir haben gerade angefangen.« »Oh«, sage ich, nehme mir Matte und Decke und füge hinzu: »Sorry für die Verspätung.« Ich war so froh, heute Morgen eine Stunde länger schlafen zu können.
Als freiberufliche Redakteurin arbeite ich zurzeit 25 Stunden pro Woche in einer Werbeagentur. Mittwochs kann ich immer erst mittags anfangen, daher passt mir dieser Kurs perfekt in den Wochenplan.
Die Frau auf dem Kissen ohne Matte stellt sich als Jonna vor – sie ist Hebamme und die Kursleiterin. Ich frage mich, wie viele Kinder wohl schon ihren Namen tragen, weil die Eltern, die sie während der Schwangerschaft betreut hat, so begeistert davon waren. Braune Kurzhaarfrisur, braune Augen, herzliches Lachen.
Dann folgt die Vorstellungsrunde. Ich bin die jüngste werdende Mutter hier, was mich nicht wundert. Wir wohnen in Hamburg-Ottensen, einer Wohngegend für gutsituierte Familien. Alle Babys in diesen Bäuchen sind geplant. Geplant ist auch, wie ihre Geburten aussehen sollen. Die anderen Frauen erzählen selbstbewusst, wie sie sich die Geburt ihres Kindes vorstellen. Für alle ist es das erste Kind. Die meisten wollen ihr Kind im Krankenhaus zur Welt bringen, wegen der Sicherheit. Der Rest hat sich für das Geburtshaus entschieden.
Thorben und ich sind uns noch nicht sicher. Wenn ich mich in den Kopf meines Babys versetze, stelle ich mir ein Willkommen mit Massageöl und gelben Wänden netter vor als mit Desinfektionsmittel und weißen Kitteln. »Ich will Level-II-Versorgung«, sagt Thorben dann sofort. »Wenn es Probleme gibt, soll alles getan werden können. Vom Geburtshaus ins nächste Krankenhaus sind es mindestens zwanzig Minuten Autofahrt. Ich habe das ausgerechnet«, sagt er, und ich weiß, dass er es wirklich gemacht hat. Er ist jetzt schon aufgeregter als ich.
»Jetzt stellt ihr euch mal chronologisch nach dem Geburtstermin eures Babys auf«, kündigt Jonna ein Kennenlernspiel an. Ein Schwanzvergleich – nur mit Worten, denke ich. Allerdings bin ich froh, dass es kein Kennenlernen mit Anfassen ist. In solchen Runden brauche ich eine Weile, bis ich mich so wohl fühle, dass ich die Nähe von fremden Menschen zulassen kann. Mir gefällt die Idee des Bauchvergleichs nicht. Ich traue mich aber auch nicht, nicht mitzumachen. Ich will nicht schon zu Anfang die Querulantin sein.
Wir fragen uns also gegenseitig nach den Terminen unserer Kinder und stellen uns brav in einem Halbkreis auf. Unser Kind soll im Oktober zur Welt kommen, ich stehe damit eher am Ende des Halbkreises. Und dann kann ich mich dem Vergleich natürlich nicht entziehen: Ich schaue zu den Frauen rechts und links neben mir. Mein Bauch ist im Vergleich zu den anderen klein. Ich bin allerdings auch dicker als die anderen Frauen und habe gehört, dass der Bauch von dickeren schwangeren Frauen erst später wirklich zu sehen ist. Allerdings höre ich, seitdem ich schwanger bin, auch wirklich viel, von allen möglichen Menschen. Ich gehe mit einem komischen Gefühl nach Hause und erzähle Thorben nichts davon. Ich bin traurig und will ihm von der Traurigkeit nichts abgeben.
Von anderen Dingen aus dem Geburtsvorbereitungskurs muss ich ihm allerdings erzählen. Manchmal so dringend, dass ich ihm direkt aus dem gelben Kursraum eine SMS schreibe. Nach ein paar Mittwochsterminen habe ich nämlich das Gefühl, einen anderen Humor als die restlichen Frauen zu haben. An einem Mittwoch steht der Beckenboden auf dem Kursplan. Wir sitzen alle auf Gymnastikbällen und sollen etwas fühlen. Ich habe meine Probleme damit, auf Kommando etwas zu fühlen. Vor allem, wenn es um bestimmte Bereiche meines Beckenbodens geht. Irgendwo in der Nähe von Vagina und Po muss er sein, aber ich fühle ihn nicht. Jedenfalls nicht so sehr wie die anderen Frauen. Sie sehen sehr konzentriert aus, wenn Jonna Sätze sagt wie: »Jetzt stellt euch vor, ihr würdet einen Tischtennisball zwischen euren Schamlippen transportieren.« Ich muss lachen, aber außer mir leider niemand. Auch nicht, als Jonna die Übung schließt mit dem Satz »Und jetzt tut ihr so, als würdet ihr mit euren Schamlippen winken.« Meinem Humorzentrum geht das eindeutig zu weit, ich falle lachend vom Gymnastikball.
Die Ärztin bestreicht den Ultraschallkopf mit kalter Glibberpaste. Ich werde nie verstehen, warum das Zeug so kalt sein muss. Könnte nicht einfach mal jemand eine Glibberpaste für Schwangerenbäuche entwickeln, die sich nicht nach Eiswürfel anfühlt? Jedes Mal erschrecke ich mich, wenn die Paste meinen Bauch berührt. Auch jetzt hat die Ärztin kein Erbarmen. Patsch! Klatscht sie den Ultraschallkopf mit dem Gel auf meinen Bauch. Meine Hände krallen sich an die Liege. Ich versuche mich mit den Blumenbildern an der Wand abzulenken; klappt aber nicht.
Die Ärztin fährt mit dem Gerät auf meinem Bauch herum, wie sie es schon die letzten Tage getan hat. Der errechnete Geburtstermin liegt nun schon acht Tage zurück, die Ärztin schaut kritisch und tut mir weh. »Es gibt nur noch wenige Fruchtwasserdepots«, meint sie stirnrunzelnd. »Wenn wir jetzt noch länger warten, kann es gefährlich werden.« Mit »wir« meint sie mich. Thorben schaut mich flehend an. Er hat Angst, ich nicht. Ich will der stirnrunzelnden Ärztin nicht glauben. Ich will, dass mein Kind zur Welt kommt, wenn mein Kind es will – und nicht, wenn die stirnrunzelnde Ärztin es will. Und ganz sicher fange ich jetzt nicht an zu weinen.
»Bitte denken Sie nicht mehr zu lange darüber nach«, sagt sie dann doch noch einigermaßen freundlich und erklärt uns, dass eine Einleitung nicht von jetzt auf gleich funktioniert und ja auch bald Wochenende ist. »Wochenende!«, denke ich. »Ja, klar, mein Kind soll natürlich nicht am Wochenende geboren werden, wenn der Kreißsaal nicht so gut besetzt ist«, erkläre ich mir selbst ihr Drängen. »Riskieren Sie bitte nichts«, gibt sie mir mit einem festen Handschlag mit auf den Weg.
Vor dem Fahrstuhl sprechen wir nicht, Thorben drückt auf das Dreieck, das mit der Spitze nach unten zeigt. Mein Kopf ist voll und gleichzeitig leer. Ich fühle mich in eine Ecke gedrängt. Ausweg? Fehlanzeige. Anscheinend bleibt mir nur ein Weg – und der fühlt sich nicht gut an, nicht selbstbestimmt – und sollte eine Geburt das nicht im besten Fall sein?
Im Fahrstuhl muss ich Thorben nicht anschauen, um zu wissen, was er denkt. Nun kommen die Tränen doch. »Ich will aber nicht!«, flüstere ich, bevor der Kloß im Hals zu groß wird. Er nimmt mich in den Arm, und die Fahrstuhltür öffnet sich. Im Bus nach Hause sitzen wir schweigend nebeneinander und halten uns an unseren Händen fest. Die herbstlichen Bäume fliegen am Busfenster vorbei, und ich muss mich anstrengen, nicht zu weinen. Genau diesen Weg wollte ich selbst gehen, allerdings in die andere Richtung. Ich hatte gehofft, unser Baby würde sich mit Wehen melden und Thorben und ich könnten den Weg zum Krankenhaus vielleicht zu Fuß gehen. Hand in Hand. Oder wenigstens mit dem Bus fahren. Jetzt fahren wir zwar mit dem Bus, aber in die falsche Richtung.
Zu Hause angekommen, rufe ich Anna, meine Hebamme, an. Ich erzähle ihr von den Fruchtwasserdepots und den Warnungen der Ärztin und hoffe auf Beruhigung. »Ich verstehe ja, dass du möchtest, dass dein Kind selbst entscheiden kann, wann es zur Welt kommt«, sagt sie. »Aber wenn nur noch zu wenig Fruchtwasser da ist, kann es irgendwann wirklich gefährlich werden für dein Kind.« Die Worte sitzen. Selbst Anna, die anthroposophische Hebamme, rät mir zu einer Einleitung? Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer.
Anna hört mein Schluchzen. »Du musst keine Angst haben«, versucht sie mich zu beruhigen. Dann erklärt sie mir, wie so eine Einleitung funktioniert. Ich muss eine Tablette nehmen, und es kann sein, dass diese die Wehen auslöst. Meistens ist es aber wohl so, dass es mehrere Tabletten braucht, bis die Geburt angeschoben wird. »Atme mal durch, pack ganz in Ruhe deine Tasche und dann macht euch auf den Weg ins Krankenhaus, Mareice«, sagt sie. Ich schlucke meine Tränen runter. Vielleicht hat sie recht, denke ich. Wir verabschieden uns, ich lege das Telefon auf den Tisch und gehe zur gepackten Kliniktasche. Auf dem Sofa sitzt Thorben, der die ganze Zeit mitgehört hat. Er sieht erleichtert aus.
»Hauptsache, das Kind kommt jetzt endlich raus!«, sagt meine Mutter am Telefon. Sie versteht nicht, dass ich traurig bin, dass unser Kind sich den Geburtstermin nicht alleine aussuchen darf. Ich erkläre ihr, dass ich jetzt schon die dritte Tablette für die Einleitung genommen habe und noch nichts passiert. Alle vier Stunden muss ich in den Kreißsaal zum CTG. Mit dem immer gleichen Ergebnis: nichts. Es geht nicht los. Thorben und ich versuchen, nicht verrückt zu werden. Das von uns gebuchte Familienzimmer ist nicht frei. Wir haben aber Glück: Ein Apartment im Storchennest ist frei. Das Storchennest ist ein kleines Häuschen, fünf Gehminuten vom Kreißsaal des Altonaer Krankenhauses entfernt. Eigentlich ist es für die Eltern der Neugeborenen gedacht – für uns wird nun eine Ausnahme gemacht. Wir warten also dort, wo die anderen Eltern in den Nebenzimmern schon glücklich mit ihren neugeborenen Babys kuscheln.
Als ich meiner Mutter am Telefon von den immer gleichen CTGs berichte und der Ärztin, die mit ihren »extralangen Chirurginnenfingern«, wie sie mir sagte, meinen Muttermund geöffnet hat, wird mir plötzlich ganz komisch. Für eine Sekunde ist mir schwindelig, ich muss mich hinsetzen. Noch bevor ich etwas sagen kann, fragt meine Mutter: »Geht’s los?« Ich bin mir nicht sicher, aber meine Mutter, viele hundert Kilometer entfernt, hat sie durchs Telefon gehört: Die erste Wehe. Ich habe Hunger, Thorben und ich gehen zum Krankenhaus-Imbiss. Seitdem ich 16 Jahre alt bin, esse ich kein Fleisch. Auf der Tafel des Imbisses steht das heutige Angebot: Currywurst mit Pommes. Ich esse beides, eine doppelte Portion.
Als wir nach dem Essen wieder zurück zum CTG-Raum gehen, muss Thorben mich stützen. Die Wehen kommen jetzt immer öfter. Wenig später sehe ich sie auch auf dem Blatt, das das CTG-Gerät ausspuckt. »Die Tablette nehmen Sie bitte noch«, sagt die Krankenschwester, und ich schlucke brav die kleine weiße Pille. Es ist mittlerweile dunkel, 21 Uhr, die Wehen kommen alle zwanzig Minuten. Ich bin müde von den vergangenen Stunden Warten und jetzt auch von den Wehen. »Lass uns ins Bett gehen«, sage ich zu Thorben. Er stützt mich, wir gehen ins Storchennest. Auf dem Weg dorthin muss ich mehrmals anhalten. Die Wehen kommen jetzt öfter. »Meinst du wirklich, dass du jetzt ins Bett willst?«, fragt mich Thorben unsicher. »Es geht doch jetzt los, oder?«
»Nein!«, sage ich bestimmt. Ich bin so müde, ich will nur ins Bett. Während ich mir im Badezimmer die Zähne putze, muss ich mich immer wieder am Waschbecken abstützen. Um die Wehen durchzustehen, stöhne ich. Thorben läuft aufgeregt in unserem Mini-Apartment hin und her. Ich lege mich ins Bett, zittere vor Müdigkeit und vor Schmerzen. Irgendwann kapituliere ich. Wir gehen zum Kreißsaal. Es geht los.
»Setzen Sie sich bitte hin!«, sagt der glatzköpfige Arzt, mittlerweile nicht mehr in einem allzu freundlichen Ton. Mir laufen die Tränen über die Wangen. Hinsetzen!, denke ich. Der hat gut reden. Ich könnte in diesem Zustand nicht einmal mehr meinen Namen buchstabieren, und er will, dass ich mich hinsetze. »Und zwar ganz ruhig!«, sagt er und legt mir fest, ein bisschen zu fest, seine Hand auf meine nackte Schulter. Ich hasse Spritzen, ich habe schlechte Venen. Von meiner Mutter geerbt. Wenn Ärzt_innen[2]
meine Venen sehen, schlagen sie immer die Hände über dem Kopf zusammen. Nicht nur metaphorisch, sie tun das wirklich. Meine Venen werden nicht getroffen, und wenn doch, rutschen sie wieder weg. Irgendwie ist mir das Verhalten meiner Venen sympathisch – wenn auch wenig hilfreich für mich und mein Befinden. Diese Spritze hier, die der Glatzkopf-Arzt in der Hand hält, hat es so richtig in sich. Er will sie in mein Rückenmark spritzen, damit ich die Wehen und damit auch die Geburt aushalten kann. Mir sind gerade alle Drogen der Welt recht. Allerdings nicht alle Nebenwirkungen der Welt. Thorben und ich haben schon in den ersten Schwangerschaftsmonaten alle Nebenwirkungen und Risiken der PDA recherchiert. Wie immer, habe ich mir auch die schlimmsten nicht erspart: Nervenschädigungen und Hirnhautentzündung.
Meine Freundin Katharina, leidenschaftliche Anästhesie-Ärztin, wurde von mir bereits dazu telefonisch befragt. »Jetzt mal Tacheles«, sagte ich zu ihr, nachdem sie mich über den Ablauf einer PDA informiert hatte. »Würdest du dir eine geben lassen?« Katharina hat keine Kinder. »Sofort!«, rief sie durchs Telefon. »Mach das auf jeden Fall!«, riet sie mir. »Heutzutage muss keine Frau mehr diese Schmerzen haben«, sagte sie und erklärte mir, dass der Prozentsatz, bei dem etwas passiert, wirklich verschwinden gering sei. »Da muss der Arzt schon betrunken sein«, meinte sie. Ich bin mir da nicht sicher, was den Glatzkopf-Arzt betrifft. Aber was habe ich jetzt schon für eine Wahl?
Mein ganzer Körper zittert, und der Glatzkopf-Arzt will, dass ich stillhalte. Glatzkopf-Arzt-Witzbold. Wie soll ich ruhig sitzen, wenn in mir drin ein Presslufthammer arbeitet? Ich will stillhalten, ich bemühe mich, so sehr ich kann. Aber ich zittere. Ich kann nicht mehr, ich bin schon so erschöpft, dass ich meinen Körper nicht mehr kontrollieren kann. Alles in und an mir vibriert, zwischendurch immer wieder dieses Ziehen durch den ganzen Körper. Ich schreie. Dann atme ich. Dann schreie ich wieder. Die Musik, die Thorben vor einigen Wochen liebevoll zusammengestellt und auf CD gebrannt hatte, läuft schon längst nicht mehr. »Mach die scheiß Musik aus!«, habe ich schon beim ersten Song geschrien.
Jetzt steht Thorben vor mir und versucht, mich zu halten. Aber nichts hilft, die ganze Liege wackelt. Glatzkopf-Arzt sitzt hinter mir und desinfiziert einen gefühlt ziemlich großen Bereich kurz über meinem Po. Dann liegt er auf dem Boden. Nicht mein Po, sondern der Glatzkopf-Arzt. Er ist von seinem Glatzkopf-Arzt-Drehstuhl gefallen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, und entscheide mich einfach für beides, gleichzeitig. Dann kommt die nächste Wehe.
Anything can happen to anyone, but it usually doesn’t.
Except when it does.
Philip Roth
Die PDA macht ihren Job, ich mache meinen. Schreien, pressen, nicht pressen, Luft holen, ausatmen. Meine Finger umklammern die Liege; wenn eine Wehe kommt, haue ich drauf. Thorben schreie ich an: »Drück auf den scheiß Knopf!« Er schreit zurück: »Ich drücke die ganze Zeit!« Je öfter wir den Knopf drücken, desto mehr Narkosemittel gelangt in meine Venen. Leider gibt es eine Sperre. Thorbens Job ist es, sobald die Sperre gelöst ist, wieder draufzudrücken. Er macht seinen Job gewissenhaft, aber mir reicht die Dosis nicht. Die Herztöne, die das CTG abnimmt, gefallen der Hebamme und der Ärztin nicht. »Wir müssen nach dem Sauerstoffgehalt deines Babys schauen«, sagt die Hebamme. Mir ist alles egal, Hauptsache, Greta kommt jetzt endlich bald raus.
Ich.
Kann.
Nicht.
Mehr.
Ich spüre meinen Körper nicht mehr, alles ist betäubt, fast alles, auf jeden Fall mein linkes Bein, nur die scheiß Wehen nicht. Die PDA liegt nicht so, wie sie soll. Glatzkopf-Arzt sagt, ist meine Schuld, ich habe ja schließlich gezittert. Leider habe ich keine Kraft für einen Streit.
Thorben hält mein linkes Bein fest, das ohne seine Hilfe schlaff zur Seite fallen würde. Eigentlich könnte ich es ganz bequem auf eine Beinstütze legen, darüber verfügt dieses Bettdings nämlich, auf dem ich liege. Es ist aber leider kaputt und fällt genauso zur Seite wie mein taubes Bein, wenn Thorben es nicht hält. »Sorry«, entschuldigt sich die Hebamme für die mangelhafte Ausstattung. Ich rolle nur die Augen.
Alle sind bereit, die Hebamme steht an Thorbens Seite, der mein Bein und das kaputte Beinhaltedings hält, ihm gegenüber steht die Ärztin, die gerade hereingeeilt kam. Sie ist noch aus der Puste. Für mich ist die Ärztin ein gutes Zeichen. Ich weiß, dass die Ärzt_innen zur Geburt gerufen werden. Jetzt also: Geburt! Endlich.
»Jetzt pressen!«, feuert mich die Hebamme an. Ich presse um mein Leben. Wenn das Pressen ist, ich weiß es nicht. Ich drücke einfach, so wie man drücken kann, wenn der halbe Körper ohne Gefühl ist. Und ich presse noch mal und noch mal, immer, wenn die Hebamme es mir sagt. Sie gibt Anweisungen, ich atme und presse. So kann ich arbeiten. Ich schreie. Thorben hält mein Bein und das kaputte Bettbeindings. Pfschtschl. Es flutscht. Ich spüre etwas zwischen meinen Beinen. Sie ist da! Mein Kind ist endlich da. Aber etwas ist nicht in Ordnung. »Alles okay?«, frage ich unsicher. Ich sehe einen kleinen Kopf zwischen meinen Beinen, einen kleinen Kopf mit Haaren. Ich höre Stimmen, alle gleichzeitig, übereinander, durcheinander. Die Hebamme, fragt: »Thorben, möchtest du die Nabelschnur durchtrennen?« Die Ärztin, schreit: »Sie muss weg!« Thorben, fragt: »Was ist los?« Ich, schreie: »Was ist los?« Alles dauert nur Sekunden. Dann ist sie weg. Mein Kind ist da und weg. Ich spüre nichts und habe nur eine Frage: »Ist sie tot?«
Niemand hat eine Antwort für mich.
Eine Stunde später kommt die Ärztin wieder rein. Sie hat mein Kind nicht auf dem Arm und erklärt in kurzen Sätzen das Wichtigste: »Ihre Tochter lebt. Sie muss beatmet werden und hat fehlgebildete Ohren. Wir gehen von weiteren Fehlbildungen aus. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.«
»Wann können wir sie sehen?«, frage ich. »Das kann ich Ihnen noch nicht sagen«, antwortet sie, während sie das Zimmer verlässt. Die Hebamme legt ihren Arm um mich und Thorben und weint, wir weinen mit. »Es tut mir so leid«, flüstert sie. Ich bin heiser vom Schreien. Thorben holt mir Tee. Während mein Dammriss genäht wird, spüre ich nichts. Nur Leere.
Zwei Stunden später dürfen wir zu ihr. Es fühlt sich falsch an, dass andere Menschen bestimmen, wann wir unser eigenes Kind sehen dürfen. Die PDA macht immer noch ihren Job und lähmt mich halbseitig. Ich kann nicht alleine gehen, deshalb steht mittlerweile ein Rollstuhl neben meiner Liege. Zur Tür herein kommt ein braunhaariger Mann mit Bart und freundlichem Lächeln. »Ich bin Pfleger Jörn und bringe Sie jetzt zu Ihrer Tochter«, sagt er zu Thorben und mir. Pfleger Jörn schiebt mich, Thorben hält meine Hand. Auf dem Weg sagt Pfleger Jörn: »Herzlichen Glückwunsch!« Ich habe einen Kloß im Hals. »Ähm, danke«, sage ich und weine. »Sie sind der Erste, der uns gratuliert«, erkläre ich ihm. »Aber natürlich gratuliere ich Ihnen!«, sagt Pfleger Jörn bestimmt und fröhlich. »Sie sind doch gerade Eltern geworden! Und ich kann Ihnen sagen, Ihre Tochter ist eine sehr Süße.« Stimmt ja, wir sind gerade Eltern geworden, denke ich und fühle es doch nicht. Eltern werden hatte ich mir anders vorgestellt – und es war uns anders versprochen worden, in Geburtsvorbereitungskursen, Büchern und Magazinen.
Ich bin schon wieder zittrig, mittlerweile habe ich seit 48 Stunden nicht geschlafen. Ich bin zittrig und aufgeregt. Gleich sehe ich zum ersten Mal meine Tochter. »Sie musste beatmet werden und hat deshalb jetzt ein CPAP. Das ist ein Gerät, mit dem ihre Spontanatmung unterstützt wird. Gleichzeitig verdeckt es mehr als die Hälfte ihres Gesichts. Sieht nicht so toll aus, ist aber auch nicht so schlimm. Ansonsten werden Sie noch weitere Kabel an Ihrer Tochter sehen, ich erkläre dann gern alles in Ruhe«, sagt Pfleger Jörn in einem Tonfall, der mir das Gefühl gibt: Alles wird gut. Was bedeutet das eigentlich? »Gut.« Ich hoffe einfach, dass es besser wird. Und ich hoffe, dass ich mich nicht erschrecke, wenn ich gleich meine Tochter zum ersten Mal sehe. Ich habe Angst.