Daniel Speck
Bella Germania
Roman
FISCHER E-Books
Daniel Speck ist erfolgreicher Drehbuchautor und Dozent an Filmhochschulen und Deutschland und Italien. Er studierte Filmgeschichte in München und in Rom, wo er mehrere Jahre lebte. Er verfasste die Drehbücher zu »Maria, ihm schmeckt’s nicht« und »Antonio im Wunderland« von Jan Weiler, sowie »Zimtstern und Halbmond«. Für »Meine verrückte türkische Hochzeit« erhielt er den Grimme-Preis und den Bayerischen Fernsehpreis.
»Bella Germania« ist sein erster Roman.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Zu diesem Buch:
Die Modedesignerin Julia ist kurz vor dem ganz großen Durchbruch. Als plötzlich ein Mann vor ihr steht, der behauptet, er sei ihr Großvater, gerät ihre Welt aus den Fugen.
1954: der junge Vincent fährt von München über den Brenner nach Mailand, um dort für seine Firma zu arbeiten. Er verfällt dem Charme Italiens, und er begegnet Giulietta. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch sie ist einem anderen versprochen.
Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf, die auch Jahrzehnte später noch das Leben von Julia völlig verändern wird.
Eine große deutsch-italienische Familiengeschichte in drei Generationen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: buerosued.de, München
Coverabbildungen: Getty Images, John Dominis; Zoltan Glass und www.buerosued.de
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490124-4
Natürlich erstaunt es nicht, dass Fragen über Einwanderung und Einwanderer unweigerlich zu Fragen danach führen, wer wir sind und wer wir sein wollen – die tiefsten Dinge.
Hanif Kureishi, »Mein Ohr an deinem Herzen«
Für alle, die ihre Heimat verließen
und ihre Geschichten mitnahmen.
Unser Leben gehört uns nicht allein. Dieses Haus, das wir unser Ich nennen, ist bewohnt von denen, die vor uns kamen. Ihre Spuren sind in unsere Seelen eingraviert. Erst ihre Geschichten machen uns zu dem, was wir sind.
Er sagte, er sei mein Großvater. Wenn er mir seine Geschichte erzählen dürfe, würde ich ihm glauben. Er bat mich so eindringlich, ihm zuzuhören, als hinge sein Leben davon ab. Und als er mir die Geschichte dann erzählte, begriff ich, dass in Wahrheit mein Leben davon abhing.
Aber das wusste ich noch nicht, als er plötzlich vor mir stand, ein schöner alter Mann, ein Fremder, der mich ansah, als hätte er mich schon immer gekannt. Es war Frühling, ich war in Mailand, und er weckte mich aus einem Traum auf – nur dass dieser Traum die Wirklichkeit war, die ich bisher für mein Leben gehalten hatte.
Kleider machen Leute. Ich mache Kleider. Ich gebe Menschen eine zweite Haut, verwandle, verhülle oder entpuppe das, was sie ihr Ich nennen, sehe dabei zu, wie sie ins Licht treten und sich den Blicken der anderen aussetzen, während ich selbst im Verborgenen bleibe. Mein Reich ist das Atelier, der Zauber des Möglichen, Stoff in meinen Händen, der sich aus Fläche zu Raum entfaltet, aus der Skizze zur lebendigen Skulptur. Stoffe haben Persönlichkeit, sie erzählen mir etwas über den Menschen, der sie trägt. Seide spricht eine andere Sprache als Wolle, Leinen sucht eine andere Form als Samt. Kleider leben, sind keine tote Form; sie bewegen sich, verändern sich, verändern ihre Träger. Wenn ich ein Kleidungsstück entwerfe, sehe ich die Menschen nicht nur als das, was sie sind, sondern als das, was sie werden könnten.
Seit ich ein Kind war, wollte ich nie etwas anderes machen. Und es gibt kein größeres Glück, als das zu tun, was man liebt. Aber Talent genügt nicht. Mode ist zur Hälfte Kunst und zur Hälfte harte Arbeit. Was nach außen aussieht wie Selbstverwirklichung, verlangt in Wahrheit viel Selbstverleugnung. Es ist ein Leben für die Schönheit der anderen. Man zahlt immer einen Preis. Mein Traum von einem eigenen Modelabel war purer Größenwahn oder, schlimmer noch, blutige Naivität. Die meisten meiner Kommilitonen auf der Londoner Modeakademie hatten sich mit ihrem Dasein als Angestellte arrangiert, wenn sie überhaupt noch in der Branche arbeiteten. Sie beneideten und bewunderten mein kleines eigenes Label, aber niemand kannte meine Albträume, aus denen ich nachts aufwachte, die Existenzängste, die Panik, es nicht zu schaffen und auf hohem Niveau zu scheitern.
Ich war jetzt sechsunddreißig, aber ich fühlte mich genauso wenig angekommen wie mit sechsundzwanzig. Die großen Ziele, für die man seine »besten Jahre« opferte, lagen immer noch vor mir. Was nach außen glamourös klang, war in Wahrheit ein Nomadenleben aus dem Koffer, ein Tingeln durch den Messezirkus, getrieben von chronischen Schulden und dem sturen Glauben, dass Talent sich durchsetzen würde in einer Welt, die nicht auf mich gewartet hatte.
Mein Geschäftspartner Robin war der einzige Mensch, der vorbehaltlos an mich glaubte. Er war acht Jahre älter als ich, ein Fels in der Brandung, schon einmal spektakulär pleitegegangen und ebenso spektakulär wiederauferstanden. Robin hatte alles, was ich nicht hatte: Eltern mit Geld, unerschütterliches Selbstvertrauen, immer einen witzigen Spruch auf den Lippen. Und er brachte etwas mit, ohne das es heute keiner mehr schafft: einen zinslosen Kredit seiner Eltern.
Er kümmerte sich ums Geschäft, ich ums Kreative. Unsere Firma war unsere Familie, die Kleider unsere Kinder. Wir waren zwei Besessene, die Versicherung füreinander, dass wir mit unseren verrückten Träumen nicht alleine waren. Wir teilten die durchwachten Nächte, die Hoffnungen und Enttäuschungen, den Traum vom großen Durchbruch. Alles – außer das Bett. Wir waren beide klug genug, unser Start-up dadurch nicht aufs Spiel zu setzen. Denn wenn es eine Konstante in meinem Leben gab, dann die: Auf mein Handwerk konnte ich mich immer verlassen, auf die Männer weniger.
Die Tage und Nächte in unserem Münchner Hinterhofatelier waren kein inniges Miteinander, sondern ein Ineinandergreifen von genau getakteten Arbeitsabläufen. Es gab keine Konkurrenz zwischen uns, sondern eine produktive Symbiose. Wir fieberten dem Durchbruch entgegen, ohne je zu hinterfragen, was das eigentlich war: der Durchbruch. In Wahrheit gab es nur eine Aneinanderreihung von Erfolgen und Rückschlägen. Der Durchbruch stand irgendwie immer kurz bevor und kam doch nie wirklich. Wie Tunnelarbeiter wühlten wir uns tagtäglich durch die Erde und nahmen alles in Kauf, im Glauben daran, dass wir eines Tages Licht sehen würden.
Und jetzt war es so weit. Wir hatten zum ersten Mal einen Auftritt auf der Mailänder Fashion Week, vor internationalem Publikum, zusammen mit fünfzehn anderen jungen Designern. Es gab einen Preis zu gewinnen, ohne Preisgeld zwar, aber der Gewinner würde ein Jahr lang einen Sponsor bekommen, der die Marke aufbauen und vermarkten würde – eine italienische Holding, der große Labels gehörten, mit Weltvertrieb und unbezahlbaren Kontakten. Alles, wofür wir in den letzten Jahren gekämpft hatten, könnte sich jetzt endlich auszahlen.
Wochenlang hatten wir wie besessen an der neuen Kollektion gearbeitet, die anders sein sollte als alles, was wir bisher gemacht hatten. Ein Potpourri aus verschiedensten Materialien, Farben und Epochen. Wochenlang lebten wir in einem kreativen Rausch mit kaum Schlaf und viel Kaffee, nur das Ziel vor Augen. Mailand war kein Heimspiel wie München oder Berlin. Alles war eine Nummer größer – die Hallen, die Labels, die Einkäufer. Hier war das Licht greller, der Aufstieg steiler und der Fall tiefer. Die anderen fünfzehn waren verdammt gut, und in unserer Halle kochte die Luft wie auf einem mittelalterlichen Marktplatz. Aber alle lächelten.
Es ging schief, was schiefgehen konnte. Noch Sekunden vor der Show steckte ich hinter der Bühne die Hosen ab, korrigierte Nähte, änderte das Make-up und stach mir mit der Nadel in den Finger. Im selben Augenblick öffnete sich der Vorhang. Die Models schalteten ihr Gesicht an und gingen auf den Catwalk. Das ist der Moment, in dem du mit rasendem Puls hinten im Dunkeln stehst, den Atem anhältst, nicht sehen kannst, was vorn passiert, und nichts hörst außer der Musik, dem Klicken der Kameras und deinem eigenen Herzschlag. Die Reaktion in den Gesichtern des Publikums siehst du nicht. Und du kannst nichts mehr tun. Was du monatelang im Verborgenen hast wachsen lassen, ist nun dem unbarmherzigen öffentlichen Auge preisgegeben. Jetzt fiel das Urteil, es gab keine Möglichkeiten mehr, etwas zu ändern, nur noch Triumph oder Niederlage.
Robin und ich sahen uns an. Im schwachen Licht schien sein fiebriges Gesicht auf, während sein Körper im schwarzen Rollkragenpulli vor dem schwarzen Hintergrund verschwand. Wir waren zu Gespenstern geworden. Wir versuchten, die Reaktionen des Publikums zu hören, aber nichts drang zu uns durch, weder Staunen noch Ablehnung. Dann kamen die ersten Models zurück, und wir stürzten uns auf sie, um in Sekundenschnelle die Outfits zu wechseln. Andere Designer arbeiteten mit mehr Models, uns fehlte das Geld dazu.
Im zweiten Set gingen die schrägeren Kreationen raus, die ironischen Zitate, optischen Täuschungen und provokanten Stilbrüche. Am Ende: Stille. Atem anhalten. Dann Applaus, die erste Erleichterung, und schließlich der Moment, als Robin mich an der Hand nahm und wir aus dem Dunkel ins grelle Licht der Scheinwerfer traten. Wie Maulwürfe, die auf einmal in die Sonne blickten. Ich konnte zuerst keine Gesichter erkennen, nur eine weiße Brandung aus Licht, mit der uns ein unerwartet heftiger Applaus entgegenschlug. Auf einmal wurde alles ganz leicht. Wir verneigten uns, lachend, verunsichert, berauscht. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Meine Knie gaben nach, als wären sie aus Gummi. Ich stürzte, spürte noch den harten Aufprall auf der Bühne, dann fiel mein Bewusstsein in eine bodenlose, schmerzfreie Dunkelheit.
Als ich meine Augen wieder öffnete, spürte ich Schweiß und kalte Nachtluft auf der Stirn. Jemand hatte das Fenster aufgerissen. Ich lag in der Maske, auf dem kalten Boden unter dem Schminkspiegel, zwischen Stühlen, Kleiderständern und Kleiderbergen. Die Models redeten aufgeregt durcheinander. Eine von ihnen hielt meine Beine hoch. Robin fehlte. Ein junger Sanitäter redete auf Italienisch auf die Mädels ein, spritzte mir irgendwas in den Arm, und langsam drangen wieder Geräusche an mein Ohr. Die besorgten Stimmen, wummernde Musik von nebenan und ein Motorroller vor dem offenen Fenster. Der Sanitäter half mir auf einen der Stühle.
Mein bleiches Gesicht im Schminkspiegel. Eine Fremde. Da sah ich ihn zum ersten Mal, hinter mir. Er kam durch die Tür, ein alter Mann zwischen den jungen Models. Groß, schlank und energisch; er passte nicht hierher mit seinem eleganten Anzug, dem Halstuch und dem Hut. Niemand kannte ihn, aber er schob sich zu mir durch, als kenne er mich. Ich sah seine Augen. Klar, blau und wach. Er musste Deutscher sein. Jeder im Raum glaubte wohl, er würde zu jemand anderem gehören. Das war der Modezirkus. Immer läuft irgendein Fremder herum, nie kennt man alle Namen, und jeder hütet sich davor nachzufragen, denn es könnte ja jemand Wichtiges sein.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er mich. Für einen Fremden klang seine Stimme zu besorgt.
»Okay.«
Er reichte mir ein Glas Wasser. Ich trank einen hastigen Schluck und strich mir durch die zerzausten Haare, dankbar für den Sauerstoff, der zum Fenster hereinströmte. Er setzte sich auf den Stuhl neben mich. Zuerst dachte ich, er gehöre zur Jury. Aber dafür wirkte er zu seriös. Man spürt, ob einer aus der Branche kommt. Es lag etwas Anrührendes in der Art, wie er mich ansah. Er war bewegt, aufgewühlt, als kenne er mich schon lange. Aber ich hatte keinen Schimmer, wer er war. Im Neonlicht des Schminkspiegels konnte ich jetzt sein Alter schätzen. Er musste um die achtzig sein.
»Julia«, sagte er leise.
»Kennen wir uns?«, fragte ich zurück, irritiert davon, wie er mich unverwandt ansah. Er zog die Augenbrauen hoch.
»Gratuliere zu der Kollektion.« Seine Stimme klang erstaunlich jung, aber nicht ohne Autorität und zugleich auf eigenartige Weise zerbrechlich.
»Danke.«
Er räusperte sich. »Ich komme auch aus München. Ich bin Ihnen gefolgt, um Ihre Präsentation zu sehen.« Er sagte »Präsentation«, als ginge es nicht um Mode, sondern um einen PowerPoint-Vortrag. »Ich heiße Vincent … Vincent Schlewitz.«
Er wartete darauf, welches Echo sein Name bei mir auslöste. Aber bei mir klingelte nichts. Der Sanitäter unterbrach uns auf Italienisch. Da ich kein Wort verstand, übersetzte Vincent: Ich solle bitte den Ärmel hochziehen, er müsse meinen Blutdruck messen. Ob ich wirklich keinen Arzt sehen wolle. Ich schüttelte den Kopf. »Kleiner Schwächeanfall, sonst nichts«, gab ich zurück und verschwieg den Mix aus Kaffee, Adrenalin und anderen Substanzen in meinem Blut. Es war mir unangenehm, von allen beobachtet zu werden, während der Sanitäter die Manschette um meinen dünnen Oberarm aufpumpte. Eher um von mir abzulenken als aus Neugier fragte ich den Unbekannten: »Und von welchem Label sind Sie?«
Er wog seine Worte ab, bevor er antwortete. »Das mag Sie jetzt überraschen, aber ich bin privat hier. Wenn Sie sich wieder besser fühlen und ein paar Minuten unter vier Augen hätten …«
Er wurde mir unheimlich. Als könnte er meine Gedanken lesen, setzte er hinzu: »Nicht dass Sie denken … Ich bin kein verrückter Fan, ich wollte Sie nur … kennenlernen.« Er sah mich auf eine seltsame Weise an, als würde er durch mich hindurch jemand anderen sehen.
»Ist gerade nicht so der passende Zeitpunkt, sorry.«
Er ließ sich nicht abwimmeln. »Das wird Ihnen jetzt vielleicht seltsam erscheinen, aber … Wir sind verwandt. Ihr Vater …« Er zögerte, als er meine Reaktion bemerkte. »… ist mein Sohn. Ich bin … dein Großvater.«
Schlechter Scherz. Unmöglich. Ein Spinner. Solche Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich muss ihn so entgeistert angestarrt haben, dass er wieder zum Sie wechselte.
»Ihr Vater, das ist doch Vincenzo?«
Vincenzo. Seit Jahren hatte ich den Namen nicht mehr gehört. Seit Jahrzehnten. Woher zum Teufel kannte er ihn? Kein Mensch außer meiner Mutter wusste, wie mein Vater hieß. Der Sanitäter nahm mir irritiert die Manschette ab und sagte etwas zu dem Mann. Wenn mein Blutdruck gerade noch im Keller gewesen war, musste er jetzt durch die Decke schießen. Ich wollte aufspringen, fühlte mich aber wie gelähmt.
Vincenzo, das war ein Mann, den ich einmal im Leben gesehen hatte. Vincenzo Marconi, Italiener, Sohn eines Gastarbeiters aus Sizilien. Viel mehr hatte meine Mutter mir nicht erzählt. Und das wenige, was sie sonst noch über ihn wusste, war nicht sehr schmeichelhaft. Dieser Fremde, der behauptete, sein Vater zu sein, war eindeutig Deutscher. Es konnte nicht stimmen.
»Ich glaube, Sie verwechseln mich«, murmelte ich und versuchte aufzustehen. Ich wollte raus. Aber im Stehen wurde mir schwindlig. Der Sanitäter hielt mich am Arm fest.
»Piano, signora, piano.« Er gab dem Mann zu verstehen, dass er mich jetzt in Ruhe lassen sollte. Aber der ließ sich nicht abwimmeln.
»Bitte. Es ist wirklich wichtig.«
Er zog seine Visitenkarte aus dem Sakko und reichte sie mir.
»Ich wohne auch in München. Ich muss Ihnen das erklären. Das hier ist für Sie, das ist …« Er zog ein altes Foto aus seinem Sakko. Zögerte kurz, als wollte er sicher sein, dass ich auf diesen Moment vorbereitet war. Dann reichte er es mir.
Es kam aus einer anderen Zeit. Schwarz-weiß und abgegriffen, der Mode nach zu urteilen aus den Fünfzigern. Ein junges Paar vor einem Motorrad, im Hintergrund der Mailänder Dom, er hält ihre Hand, beide ein bisschen schüchtern, aber unbefangen, strahlend vor Glück. Der Mann ist etwas älter als die Frau, trägt einen einfachen Sommeranzug im geraden, etwas biederen Schnitt der Fünfziger, ist stattlich und groß, mit hellen Augen, aus denen Witz und Intelligenz sprühen. Sein Lachen strahlt Mut und Zuversicht aus. Etwas Jungenhaftes, Unschuldiges umgibt ihn. Ich erkannte ihn wieder, selbst nach sechzig Jahren.
»Das bin ich, 1954, in Mailand. Und das ist Giulietta. Deine Großmutter.«
Er deutete auf die Frau auf dem Foto. Eine hübsche Italienerin Anfang zwanzig, kurze schwarze Haare, Sommerkostüm mit kleinem Hut. Sie sah aus wie ich. Nicht dass sie mir irgendwie ähnlich sah, nein. Es war vielmehr, als blickte ich direkt in mein Spiegelbild. Ich war schockiert. Sie war jünger als ich heute, aber sie hatte meine zierliche Figur, meine geschwungenen Augenbrauen, diesen abenteuerlustigen und etwas verträumten Blick, den ich von meinen Fotos her kannte, die dunklen Augen und den ironischen Zug um den Mund. Sie schien voller Energie zu stecken, und dennoch lag etwas Trauriges und Melancholisches in ihren großen Augen. Was ich da sah, war keine Fremde, sondern ein Echo meiner Seele aus einer vergangenen Welt. Auf diesem Bild sah ich mich selbst als eine Frau in einer anderen Zeit, in anderen Kleidern, neben einem fremden Mann. So unfassbar lebendig, so vertraut und rätselhaft, dass es mir die Sprache verschlug.
»Moment, das kann nicht sein. Mein Vater war Italiener. Aber Sie sind doch Deutscher?«
Er sah mich etwas verunsichert an.
»Was hat er Ihnen denn von mir erzählt?«
Ich drehte mich weg, so dass die anderen mich nicht hören konnten.
»Nichts. Ich habe nichts mit ihm zu tun.«
Er war irritiert von der plötzlichen Schärfe meiner Stimme.
»Aber – …?«
»Er ist tot. Sorry, Sie müssen mich verwechseln.«
»Tot?«, fragte er schockiert. »Wann ist er gestorben?«
»Als ich klein war.«
»Wer sagt das?«
»Meine Mutter.«
»Aber das ist nicht wahr. Er lebt.«
Ich starrte ihn verstört an. Er schien sich sicher zu sein.
»Nein.«
»Doch. Das weiß ich. Er lebt in Italien.«
In diesem Moment kam Robin in die Maske gelaufen.
»Bist du okay?«
Instinktiv versteckte ich das Foto hinter meinem Rücken. Robin umarmte mich. Er musste bemerkt haben, wie verstört ich war, schob es aber wohl auf meinen Schwächeanfall. Er warf dem ungebetenen Besucher einen irritierten Blick zu.
»Alles in Ordnung«, sagte ich, und bevor er den Fremden fragen konnte, wer er war, legte ich nach: »Ich schick Ihnen das Autogramm zu, ja? Sie müssen mich jetzt entschuldigen.«
Der Mann nickte unsicher.
»Rufen Sie mich an. Es ist wichtig. Bitte.«
Ich hatte noch nie einen gestandenen Mann erlebt, der mich so flehend ansah. Auf seiner Seele schien eine alte Last zu liegen, deren Gewicht ich nicht fassen konnte. Als er sich mit einem höflichen Kopfnicken verabschiedete, fühlte ich mich schuldig. Ich hätte ihn nicht abweisen dürfen.
»Wer war das?«, fragte Robin.
»Keine Ahnung.«
Ich hasste es, ihn anzulügen. Ich hatte Robin nie belogen, ich hatte nichts zu verstecken. Außer vor mir selbst.
»Was ist«, fragte ich, »warum grinst du so?«
Wir hatten Glück. Endlich mal Glück. Vielleicht waren wir auch tatsächlich die Besten gewesen, egal, jedenfalls hatte sich die Jury für uns entschieden. Die Wette, die ich vor vielen Jahren gegen alle Zweifler geschlossen hatte, war gewonnen. Das war’s. Der Durchbruch. Das Licht am Ende des Tunnels. Und ich zu schwach auf den Beinen, um den Preis entgegenzunehmen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es dann doch geschafft habe, kann mich an kaum etwas erinnern, nur laute Musik und Applaus, während ein Kreuzfeuer von Gedanken durch meinen Kopf raste. Presse, Jury, Investoren, alle stürzten sich auf uns. Auf einmal waren wir groß.
Spät nach Mitternacht standen wir angetrunken vor der Messehalle, und ich zahlte den Models das Honorar aus. Robin war völlig aufgekratzt und wollte in einem Club weiterfeiern. Aber ich hatte keine Kraft mehr. Ich fiel in ein schwarzes Loch aus Rausch, Verwirrung und tiefer Erschöpfung.
»Sollen wir dich nicht doch ins Krankenhaus bringen?«
»Nein, ich muss nur schlafen. Geht feiern!«
Den Durchbruch hatte ich mir anders vorgestellt. Ich war der Star des Abends, aber die Party fand ohne mich statt. Und das war okay so. Ich ging auf den Parkplatz zu meinem rostigen Volvo Kombi, zog meine alte, hundertmal geflickte Jeans an und rollte im Heck den Schlafsack aus. Neben mir lag die Kollektion. Wir hatten uns kein Hotel mehr leisten können. Ohne den Preis hätten wir morgen nicht mehr existiert.
Ich war dankbar für die Stille. Die Beats wummerten noch in meinem Schädel. Ich rollte mich ein und legte meinen Kopf auf das kühle Leder meiner Handtasche. Darin steckte das Foto. Warum ich es Robin verschwiegen hatte, war mir selbst nicht ganz klar. Diese Geschichte gehörte zu einem Ort in mir, zu dem er keinen Zugang besaß, einem Zimmer im Haus meiner Seele, dessen Tür ich schon lange verschlossen und dessen Schlüssel ich an einem geheimen Ort versteckt hatte, an den ich mich nicht mehr erinnerte.
Mein Großvater – das war ein blinder Fleck auf der Landkarte meiner Familie, ein unbekanntes Eiland, das nie jemand zu finden versucht hatte. Sein Erscheinen war die Antwort auf eine Frage, die nie gestellt worden war. Ein Großvater, dessen Existenz für mich keine Bedeutung hatte, weil bereits der Vater oder vielmehr dessen Abwesenheit alles war, was mein Bewusstsein fassen konnte. Nie war mir der Gedanke gekommen, dass dieser Unbekannte selbst eine Mutter und einen Vater haben könnte – so unnahbar, ja, unmenschlich war er mir erschienen.
Mein Vater existierte einfach nicht. Da war meine Mutter, und das reichte. Musste reichen. Ihn habe ich einmal im Leben gesehen, ein einziges Mal. Kurz darauf sagte mir meine Mutter, dass er gestorben sei. Autounfall. Ich war ein Kind, ich verstand nur so viel: Er war weg, und das für immer. Ich habe ihn nie bewusst vermisst, denn man vermisst nur, was man einmal hatte. Es ist jedoch so: Etwas fehlt. Und nicht zu wissen, was oder wer das ist, dem Fehlenden kein Bild zu geben, macht die Sehnsucht danach umso größer. Ohne ein Objekt zu haben, auf das diese unbestimmte Sehnsucht sich richten könnte, wird das Unerfüllte, die Abwesenheit zu einer Art Grundzustand des Lebens. Man hinterfragt nicht mehr, dass es so ist. Egal wie reich und erfüllt das Leben eigentlich sein könnte, man ist nie zufrieden, weder mit dem, was man hat, noch mit dem, was man ist. Etwas fehlt.
Ohne Vater aufzuwachsen war in meiner Generation nichts Ungewöhnliches. Dass Paare zusammenblieben, schien eher die Ausnahme zu sein. Familien waren unbeständige Konstrukte auf Zeit, gebaut auf Gefühle, die vergehen, Hoffnungen, die verblassen, und Konventionen, die zerbrechen. Was mich von meinen Freundinnen unterschied, war, dass ich im Unterschied zu den Scheidungskindern meinen Vater nicht am Wochenende besuchen konnte, und selbst diejenigen, die sich eines Tages auf die Suche nach ihrem Erzeuger machten, hatten etwas, das sie finden konnten. Ich brauchte mich erst gar nicht auf die Reise zu begeben.
Vielleicht stand dieses Gefühl der Unvollständigkeit am Anfang meines Impulses, Mode machen zu wollen. Die Welt, wie ich sie vorfand, genügte mir nicht. Ich wollte das, was fehlte, mit meinen Vorstellungen ausfüllen, meine Farben und Formen auf die Leinwand des Möglichen werfen. Warum es ausgerechnet Mode war, wusste ich nicht. Vielleicht weil es das war, was ich schon als Kind mit Händen greifen konnte, als ich meine Puppen einkleidete. Puppen waren toll, weil sie verboten waren. Ich musste mir meine Barbies heimlich vom Taschengeld absparen und unterm Bett verstecken. Barbies waren reaktionäre, unemanzipierte Kommerzscheiße. Wäre ich ein Junge geworden, hätte meine radikal linke Mutter mir Kriegsspielzeug verboten. Und ich wäre in Afghanistan einmarschiert.
Ich fiel in einen tiefen, unruhigen Schlaf. Ich träumte von der Rückfahrt nach München. Die Alpen. Eine Serpentinenstraße. Kühle, feuchte Bergluft, nasser Asphalt, Moos an den Felswänden, eine erhabene Landschaft von ewiger Stille, aber ich fuhr viel zu schnell. Neben mir, wo Robin sitzen sollte, sah ich auf einmal den fremden Mann. Meinen Großvater. Er rief mir etwas zu, das ich nicht verstand, eine Warnung, aber es war zu spät: Ich raste auf eine Rechtskurve zu. Vor mir die rostige Leitplanke. Ich lenkte, aber das Auto reagierte nicht. Schoss geradeaus weiter, krachte in die Leitplanke, ein harter Aufprall, ringsherum zersplitterte Glas, das Auto überschlug sich, und wir stürzten in die Tiefe. Das flaue Gefühl im Magen, als der Wagen nach vorne kippte, unter uns der Abgrund, und ich konnte nichts mehr ausrichten. Der freie Fall in die Tiefe, schwerelos für einen endlos gedehnten Augenblick, und die unabänderliche Gewissheit, dass mein Leben in wenigen Sekunden vorbei sein würde.
Und dann sah ich ein Gesicht vor mir. Wie mein Spiegelbild. Die Italienerin auf dem Foto.
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich begriff, dass ich nicht tot war. Ich blickte mich um. Das Auto war heil. Es stand still. Hinter den beschlagenen Scheiben wurde es hell. Robin war noch nicht zurück. Erste Vögel zwitscherten, irgendwo in der Ferne fuhr ein Bus.
Ich öffnete die Wagentür, kletterte unbeholfen ins Freie und sog die neblige Morgenluft in meine Lungen ein. Man stirbt verdammt schnell, dachte ich. Eine kleines Zucken der Hand am Lenkrad, ein paar Sekunden zu spät gebremst, schon fliegst du von der Straße. Je schneller du fährst, desto weniger hast du es unter Kontrolle. Also hältst du das Lenkrad fest und die Augen offen, denn du hängst am Leben, du hast dir etwas aufgebaut, du hast Pläne. Du bist nicht zufällig hier, du hast etwas zu tun, eine Aufgabe, eine Bestimmung.
Es gibt nur eine Sünde, sagst du dir: vergeudetes Talent. Nicht zu werden, was man sein könnte. Begabung ist eine Gabe und zugleich eine Aufgabe: dieses unverdiente Geschenk des Lebens in ein Geschenk an die Welt zu verwandeln.
Bisher dachte ich, an einem gewissen Punkt entschieden zu haben, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Aber wer sitzt wirklich am Steuer? Die Dinge, die in diesem April geschahen, waren nicht von mir bestimmt. Es war, als hätte sich schon lange zuvor etwas zusammengebraut, eine andere Bestimmung, die mich ausgesucht hatte, um sich zu erfüllen.
Ich war nur Teil eines größeren Ganzen.
Unser Hinterhofatelier verwandelte sich in einen hektischen Taubenschlag. Journalisten, Einkäufer und Agenten rannten uns die Bude ein. Keine vierundzwanzig Stunden nach der Präsentation unserer Kollektion fragten alle schon nach der nächsten. Durchbruch, das hatte ich mir als einen Moment vorgestellt, in dem wir endlich mal durchatmen konnten. Aussteigen aus dem Hamsterrad, auf den Lorbeeren ausruhen. Aber jetzt wurde mir schlagartig klar, dass es in Wahrheit das Gegenteil bedeutete. Der Druck wurde größer. Ins Licht der Öffentlichkeit gerissen, würde ich beweisen müssen, dass ich die Lorbeeren auch verdient hatte, dass ich keine Eintagsfliege war. Dabei fühlte ich mich immer noch so, als hätte mich eine Abrissbirne am Kopf erwischt.
Robin gab Gas. Wildentschlossen, die Chance zu nutzen, telefonierte er täglich mit den Italienern. Unsere designierten Sponsoren, von denen ich mir nicht sicher war, ob sie sich als Teil unseres Preises oder uns als ihre Trophäe sahen. Eine große Holding, denen schon Dutzende Labels gehörten, darunter die ganz großen Namen, die längst nicht mehr ihren Gründerfamilien gehörten. Robin erzählte ihnen, dass ich die nächste Kollektion schon entworfen hätte. Tatsächlich hatte ich – nichts. Ich war völlig ausgebrannt. Zwang mich an den Zeichentisch, pumpte mich mit Kaffee voll, brachte aber keinen einzigen brauchbaren Entwurf zustande.
Sicher, ich war glücklich darüber, dass die jahrelange Arbeit endlich die verdiente Anerkennung bekam. Doch irgendetwas in mir glaubte nicht, dieses Glück verdient zu haben. Stundenlang starrte ich auf den Skizzenblock. Meine Gedanken wanderten immer wieder zurück nach Mailand – nicht auf die Bühne, sondern in die dunkle Maske. Der Mann im Spiegel. Ein Meteorit, der in mein Leben eingeschlagen war.
Nachts, als ich allein im Atelier war, zog ich das alte Foto heraus. Ich stellte mich damit vor den Spiegel und starrte auf die Italienerin, bis ihr Gesicht mit meinem zu verschmelzen schien. Zwei Frauen in zwei verschiedenen Zeiten, die sich glichen wie Zwillinge. Giulietta. Wo war sie jetzt? Lebte sie noch?
Ich versuchte, mir vorzustellen, was dieser Mann für sie bedeutet haben mochte. Und warum ihm am Ende seines Lebens nichts wichtiger zu sein schien, als mich zu sehen. Waren wir wirklich verwandt? Ein Großvater – ich wusste nicht, wie sich das anfühlt. Den Vater meiner Mutter hatte ich als Kind ein paarmal gesehen, danach hatten sie sich zerstritten. »Alter Nazi« nannte sie ihn.
Wenn es stimmte, dass die Frau auf dem Foto meine Großmutter war und er mein Großvater, dann wäre ich keine Halb-, sondern Viertelitalienerin. Dann wäre mein Großvater kein Gastarbeiter gewesen. Nicht, dass mir das je irgendetwas bedeutet hätte. Mein »Migrationshintergrund«. Ich war in der völligen Abwesenheit solcher Kategorien aufgewachsen. Meine Identität war eine, die ich mir selbst geschaffen hatte, keine übertragene, hinter mir stand niemand außer meiner Mutter. Bis ich diese Frau auf dem Foto sah. Auf einmal wurde mir bewusst, dass das, was mir fehlte, ohne dass ich es benennen konnte, ein menschliches Gesicht hatte. Dass es nicht verloren war.
Ich suchte ihn im Netz. Er war kein Unbekannter. Dr. Vincent Schlewitz war bis zu seiner Pensionierung vor zwölf Jahren ein sehr erfolgreicher Manager bei BMW gewesen. Wikipedia wies ihn als Entwickler verschiedener Autotypen aus, deren Nummern und Namen mir nichts sagten. Er war in Kattowitz, Oberschlesien, geboren, im Jahr 1930. Nichts in seiner Vita wies auf einen Bezug zu Italien hin, geschweige denn zu einer Italienerin oder zu meinem Vater.
Irgendwo in den Tiefen des Netzes fand ich auch ein Foto von Vincent Schlewitz mit seiner Frau auf einer Benefizgala. Blond, blauäugig, groß – keine Ähnlichkeit mit der dunkelhaarigen, zierlichen Italienerin aus Mailand. Sie wohnten in München. Kein vernünftiger Mensch würde nach Mailand fahren, um mich dort zu treffen, wenn er doch einfach die Tram nehmen konnte. Entweder er verwechselte mich, oder er war nicht ganz normal.
So hätte ich den Vorfall abhaken können – wenn nicht das Foto gewesen wäre. Die Frau, die aussah wie mein Spiegelbild.
Robin bemerkte, dass ich aus dem Gleichgewicht geraten war. »Wo bist du?«, fragte er. »Du bist nicht da!«
Er verstand nicht, warum ich gerade jetzt, wo wir dort angekommen waren, wo wir immer sein wollten, nichts mehr zustande brachte. Ich schob es auf den Schwächeanfall. Warum konnte ich Robin nicht einfach die Wahrheit sagen? Wir redeten über alles, aber nicht über das Eigentliche. Keiner legte den Finger auf die Wunden des anderen. Unsere Beziehung beruhte auf der unausgesprochenen Übereinkunft, die dissonanten Farben aus dem Mosaik des Lebens auszuschließen. Aber das Ungelebte ist nicht weg, nur weil man die Augen davor verschließt. Es rumort im Verborgenen, es wächst, wird mächtiger und zerstörerischer, je mehr es ausgeschlossen wird. Erst wenn ich nachts allein war, tauchten die Schatten aus dem Dunkeln auf und hielten ihre unselige Zwiesprache mit mir.
Dabei hatte Robin recht. Ich war nicht da. Vielleicht war ich noch nie ganz da gewesen. Ein Teil von mir war immer woanders. Ich lebte mit einem Bein auf der Erde und dem anderen irgendwo in den Wolken. Als fehlte mir das Vertrauen in diese Welt.
Arbeit war immer auch ein Weg gewesen, um nicht ganz da zu sein. Ich konnte nächtelang zeichnen und schneidern, ohne einen Menschen zu sehen. Ein Rausch, der über alles erhaben war. Für einen Stundenlohn, der kaum zum Leben reichte. Wofür dann? Was trieb mich an, mich bis über die Grenze der völligen Erschöpfung auszubeuten?
Ich ging zu meiner Mutter, um den Kater abzuholen. Als Modedesignerin sollte man keine Haustiere und Zimmerpflanzen haben, außer man hat eine Mutter, die ein bisschen einsam ist. Tanja – ich nenne sie beim Vornamen, seit ich klein bin – war gerade aus ihrer Zweizimmerwohnung in eine WG gezogen, mit anderen Altachtundsechzigern. Eine pensionierte Journalistenkollegin, ein ergrauter Französischlehrer mit Faible für die Westsahara und ein junger afghanischer Asylbewerber, der phantastisches Thai-Food kochte. Eine Art Unruhestands-WG: Sie waren alt genug, um ihre Festanstellungen aufzugeben, aber noch lange nicht fertig mit der Welt. Nachdem meine Mutter ihren Job als Redakteurin gekündigt hatte, arbeitete sie weiter als freie Journalistin für linke Zeitschriften.
Überall standen noch Umzugskisten rum, ein Paradies für meinen Kater, der mich beleidigt ignorierte. Tanja machte einen Prosecco auf, und alle stießen auf meinen Preis an. Jetzt war sie stolz auf ihre Modetochter – weniger wegen der Mode, mehr wegen der weiblichen Erfolgsgeschichte. Dass sie weitgehend den bürgerlichen Eltern meines männlichen Partners zu verdanken war, wurde leidenschaftlich ausgeblendet.
Meine Mutter fragte selten nach meiner Arbeit – nicht aus Desinteresse, sondern eher aus Geringschätzung der Modebranche. Autos hielten bei ihr bis zum Schrottplatz; das Gleiche galt für ihre Haltung zur Mode. Der grüne Ringelpulli, den sie trug, stammte aus dem letzten Jahrtausend. Zwar betonte sie immer, wie stolz sie darauf sei, dass ich meinen Weg gehe, aber sie hielt meine Welt für hedonistisch, oberflächlich und konsumgeil. Womit sie nicht ganz unrecht hatte, aber trotzdem wäre ich froh gewesen, wenn sie ihre Meinung öfter mal für sich behalten hätte.
Solange ich denken kann, musste sie immer für irgendwas kämpfen, oder besser gesagt: gegen etwas. Damals war es der Staat oder die Atomkraft, heute der Klimawandel, und zu allen Zeiten: die Männer. Sie hat ein sehr klares Konzept von richtig und falsch – etwas zu klar für meinen Geschmack, und zu unveränderlich. Gut, man könnte auch sagen: Sie blieb ihren Überzeugungen treu.
Das Einzige, was sie je aufgegeben hat, war das Rauchen. Wenn ich heute neben Rauchern stehe, werde ich unwillkürlich an den Geruch meiner Kindheit erinnert, langhaarige Typen in Jeansjacken und volle Aschenbecher auf dem Holztisch. Sie sieht gut aus, ist extrem belesen, und wenn man ihr etwas nicht vorwerfen kann, dann, dass sie keine Meinung hätte. Sie hat sogar eine Meinung zu Dingen, die sie eigentlich nicht interessieren, geschweige denn, dass sie davon etwas verstünde. Aber besser eine Meinung als keine Ahnung.
Was ich ihr jedoch hoch anrechnete, war, dass sie mir ihre Ansichten nie aufgedrängt, sondern immer die Freiheit gegeben hatte, meine eigenen Erfahrungen zu machen. Sie ist eine der ehrlichsten, aufrichtigsten und unbestechlichsten Personen, die ich kenne, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich ohne sie nicht dort wäre, wo ich heute bin. Sie hat mir immer Mut gemacht, meinen eigenen Weg zu gehen. Du hast keine Chance, also nutze sie – das war ihr Lieblingsspruch. Und so verschiedene Wege wir auch gehen, mit keinem Menschen verbindet mich eine engere Beziehung als mit ihr.
Nachdem der Prosecco geleert war, zog ich sie in ihr Zimmer – Bücherkisten, Schreibtisch und Laptop, viel mehr brauchte sie nicht – und fragte sie beiläufig:
»Sag mal …«, begann ich. »Mein Vater … Hast du mal seine Eltern kennengelernt?«
Sie war völlig verblüfft. Wir sprachen nie über ihn.
»Wie kommst du jetzt darauf?«
»Einfach so.«
Sie sah mich misstrauisch an.
»Mama, ich will’s einfach wissen. Seine Eltern, wo kamen die her?«
»Das weißt du doch. Wozu willst du die alten Geschichten rauskramen?«
»Ist doch egal, ich will’s nur wissen.«
»Aus Sizilien, das hab ich dir doch erzählt. Von einer kleinen Insel dort.«
»Beide?«
»Wie beide?«
»Mutter und Vater?«
»Klar. Die heiraten alle untereinander. Das war ja der Skandal damals: Ich war von ’nem anderen Stern.«
»Weißt du noch, wie sie hießen?«
»Seine Mutter hieß Giulietta.«
»Kamt ihr deswegen auf Julia?«
»Das war meine Idee.«
»Hast du sie mal kennengelernt?«
»Nein. Wozu willst du das alles wissen?«
»Und sein Vater, wie hieß der?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Kann es sein, dass er vielleicht Deutscher war?«
»Nein. Das waren Gastarbeiter. Kamen in den Sechzigern nach Deutschland. Wie kommst du nur darauf?«
Ich dachte nach. Sollte ich es ihr sagen?
»Aber du hast ihn nie persönlich gesehen?«
»Nein!« Jetzt wurde sie richtig sauer.
Ich zögerte kurz, dann ließ ich die Bombe platzen.
»Kennst du einen Vincent Schlewitz?«
»Nein. Wer ist das?«
»Tauchte auf meiner Show auf. Sagte, er sei mein Großvater. Der Vater von …« Den Namen meines Vaters sprachen wir nie aus, aber es war klar, wer gemeint war.
Ich zog das Foto aus meiner Jacke. Das verliebte Pärchen in Mailand.
»Kennst du die beiden?«
Sie setzte irritiert ihre Lesebrille auf und staunte.
»Das ist seine Mutter.« Dann tippte ich auf den jungen Mann. »Und das ist er.«
Tanja sah mich über den Brillenrand an, halb misstrauisch, halb verunsichert.
»Was will der von dir?«
»Er sagt … mein Vater … also er behauptet, der lebt noch.«
Jetzt war’s raus. Sie erschrak.
»Aber das ist doch ein Deutscher! Sieht man ganz eindeutig. Der lügt.«
»Er wirkte nicht wie ein Aufschneider. Er wirkte … seriös.«
»Dann verwechselt er dich.« Tanja gab mir resolut das Bild zurück und wollte die Sache abhaken.
»Wie alt war ich, als er gestorben ist?«
»Ich weiß nicht, acht oder so.«
»Und wenn es doch stimmt? Wenn er doch noch lebt?«
»Es stimmt nicht. Und selbst wenn, was würde es für einen Unterschied machen? Für dich? Er ist abgehauen, und das war’s.«
Die Formulierung irritierte mich.
»Was heißt, selbst wenn?«
»Ich meine einfach, es würde keinen Unterschied machen. Was du bist und was du aus dir gemacht hast, das hast du ohne ihn erreicht. Fliegst um die Welt und gewinnst Preise.«
Irgendwie wollte sie ablenken.
»Hast du damals eigentlich eine Todesanzeige gesehen? Irgendeinen Beweis?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab nur dich.« Sie nahm meinen Kopf zwischen die Hände. »Schätzchen, das ist doch alles längst Geschichte. Wir haben das gut hinbekommen, wir zwei, trotz allem, was?«
Sie lächelte mich an. Ich musste zurücklächeln. Ja, das hatten wir. Sie und ich, wir waren immer ein gutes Team gewesen. Wenn ich von irgendwem gelernt habe, trotz aller Widerstände nicht aufzugeben, dann von ihr. Ich nahm das Foto wieder an mich, suchte den Kater, manövrierte seinen Hintern in den Katzenkorb und verabschiedete mich. »Ich muss los, ciao. Vielleicht treffe ich den Typ ja einfach mal, irgendwann, nicht jetzt …«
Ich gab ihr einen Kuss und ging zur Tür. Sie blieb stehen. Ohne tschüss zu sagen. Ich drehte mich um. Was hatte sie? Tanja sah mich an und deutete langsam auf einen leeren Stuhl.
»Setz dich.«
»Warum?«
Sie schob mir den Stuhl hin und setzte sich gegenüber.
»Als du acht warst, Julia, da sind wir gerade umgezogen, weißt du noch?«
Ich setzte mich. Die Erinnerung war sehr vage. Wir waren oft umgezogen.
»In die Schlörstraße, zu Bernd. Erinnerst du dich?«
Ja, der Name gab mir kein gutes Gefühl. Einer von den Falschen. Ich konnte ihn von Anfang an nicht ausstehen, den Zottelbart. Er war einer von denen, die auf Papa machten. Und komplett daneben waren.
»Du wolltest lieber in der Kommune bleiben, bei den anderen, und ich wollte endlich mal mit dir allein sein.«
»Mit Bernd.«
»Ja. Du hattest ja recht, er war ein Idiot, aber ist doch jetzt egal. Jedenfalls, zwei Tage nach dem Umzug, da bist du abgehauen, weißt du noch?«
Jetzt wusste ich es wieder. Die Puppe in meinem kleinen Koffer. Die roten Sandalen. Das braune Männergesicht auf dem Fünfzigmarkschein, den ich aus ihrer Handtasche geklaut hatte.
»Ich hab dich überall gesucht. Dann haben dich die Bullen aufgegabelt, am Hauptbahnhof.«
Die verrückteste Aktion meiner Kindheit.
»Wo willst du hin?«, hatte der Polizist gefragt.
»Nach Italien. Zu meinem Papa.«
Auf die Frage, welche Stadt in Italien, hatte ich keine Antwort. Italien war Italien.
Die Erinnerung tat weh. Ich musste lachen.
Ich sehe meine Mutter noch vor mir, wie sie in die Bahnhofshalle rennt. Ich neben dem Polizisten. Ihr Geschimpfe, ihre Angst.
»Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, sagte sie. »Und dann … dann hab ich dir erzählt, dass er tot ist.«
Erst begriff ich nicht, was das mit meinem Ausreißen zu tun hatte.
»Ich hatte Angst um dich, mein Schatz. Dass du wieder abhaust.«
Langsam begriff ich das Unglaubliche.
»Das war … gelogen?«
Tanja nahm mich am Arm. »Du warst so arglos. Er hätte dich … Vincenzo war unberechenbar. Du kennst ihn nicht.«
Ich brachte kein Wort mehr heraus. In mir brach eine Welt zusammen. Wenn es einen Menschen gab, dem ich immer vertraut hatte, dann war es meine Mutter. Durch alle Aufs und Abs war sie meine treueste Gefährtin. Gewesen.
»Ich hab dir geglaubt …«
»Ich wollte dich nur beschützen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Weiß ich nicht. Ehrlich.«
Ich verlor den Boden unter den Füßen. Sie saß reglos da und hoffte auf Verständnis. Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen. Wollte nur noch weg. Ich stand auf und ging.
»Julia! Warte!«
Sie lief mir durch das Treppenhaus nach.
»Du warst acht! Was hätte ich denn tun sollen? Jetzt komm zurück! Julia!«
Ich setzte mich ins Auto und raste los. Den Kater hatte ich vergessen. Ich wusste nicht, wohin. Nahm wie automatisch den Weg ins Atelier. Nur nicht allein sein. Ich parkte im Innenhof. Robin war noch da. Er sah mir an, dass ich durch den Wind war. Aber ich tat so, als wäre nichts geschehen, und setzte mich an meine Mails. Ich musste funktionieren. Tatsächlich war ja auch nichts geschehen, oder? Ob ein Unbekannter, mit dem man nie etwas zu tun hatte, lebte oder nicht, machte doch keinen Unterschied. Er hatte mich eh nie sehen wollen. Was wollte ich also dann mit ihm?
Und dann brach durch den Riss in meinem Weltbild ein Lichtstreif des Zweifels herein: Wenn er mich doch hatte sehen wollen? Wenn die ganze verfluchte Geschichte in Wahrheit eine andere war? Aber wenn er lebte, hätte er doch nach mir suchen können! Wog die Tatsache, dass er sich nie gemeldet hat, womöglich noch schwerer, gerade weil er lebte? War meine Mutter noch, wie immer, meine Verbündete, oder war sie eine Lügnerin, die mich um meinen Vater betrogen hatte? Wer war dieser Mann überhaupt, und warum zum Teufel hatte ein Abwesender so eine Macht über mich? Mein ganzes Leben geriet ins Wanken, gerade jetzt, wo ich wirklich Wichtigeres zu tun hatte.
Ich zog Vincents Visitenkarte aus dem Schreibtisch, ging aus dem Atelier in den Hof und rief ihn an.
»Hallo, hier ist Julia.«
Er erkannte meine Stimme sofort.
»Können wir uns morgen treffen?«
Wir vereinbarten einen neutralen Ort, ein italienisches Eiscafé im Schlachthofviertel. Robin erzählte ich, dass ich zum Arzt müsse.
Es war einer der ersten Frühlingstage, an denen die Sonne mit unerwarteter Wärme durchbricht und der Winter wirklich vorbei ist. Alle waren draußen. An den Tischen vor dem Café saßen Mütter mit ihren Kindern, gealterte Lebenskünstler und Pseudo-Hipster mit Laptop und Latte Macchiato. Die Ecke um den Schlachthof und Großmarkt herum nennen sie »Italienerviertel«, genauso wie sie München die »nördlichste Stadt Italiens« nennen. Die Kellner begrüßten ihre Gäste hier kategorisch mit »Buongiorno«. Nicht, weil sie kein Deutsch könnten, sondern weil die deutschen Gäste so gern auf Italienisch antworteten.
Ich konnte nie etwas anfangen mit Leuten, die meinten, ihre Weltgewandtheit beweisen zu müssen, indem sie ihren Kaffee auf Italienisch bestellten. Die Toskanafraktion und ihre Kinder, die Latte-Macchiato-Fraktion. Ich hatte mich nie als Halbitalienerin gesehen. Meine drei Jahre in London hatten mich mehr geprägt als irgendwelche Gene. In den fünf Jahren, die ich in dem Viertel hier gewohnt hatte, war ich kein einziges Mal in diese Eisdiele gegangen.
Ich kam bewusst zu früh. Als ich mich an den letzten freien Tisch setzte und wartete, fühlte ich mich auf einmal wie ein kleines Mädchen, unsicher und wütend. Wozu tat ich mir das an? Du bist eine erwachsene Frau, sagte ich zu mir, du hast es aus eigener Kraft bis hierher geschafft, du hast nie mehr zurückgeblickt – wozu alte Wunden aufreißen?
Ich spürte kalten Schweiß auf meinen Händen. Etwas in mir rebellierte. Wollte aufstehen und gehen, sofort. Da sah ich ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus seinem Wagen steigen. Er trug einen leichten, hellen Anzug und beigefarbene, gelochte Lederhandschuhe, die er routiniert auszog und hinter das Lenkrad legte. Seine Haltung strahlte die Souveränität eines erfolgreichen Lebens aus. Er schien aus einer anderen Zeit zu kommen. Die Art, wie er seinen Wagen zusperrte, so wie niemand heute mehr sein Auto zusperrt – per Hand, mit einem Schlüssel, der noch aussah wie ein Schlüssel. Der Wagen war ein Schmuckstück, ein schlichtes, elegantes Blechkleid aus den Sechzigern, silbergrau, unprätentiös, aber edel, mit feinem Chrom und glitzernden Speichenfelgen. Man konnte sich gut Grace Kelly auf dem Beifahrersitz vorstellen. Sein Schritt war entschlossen, etwas Jungenhaftes lag in seinem Wesen, aber sein Rücken war leicht gebeugt.
Er erkannte mich sofort. Ich stand auf, und wir reichten uns die Hand, viel zu förmlich. Als ich ihn anlächelte, verwandelte er sich innerhalb von Sekunden in einen jungen Mann und wieder zurück. Seine Augen strahlten eine Wärme aus, die mich verwirrte.
Er rückte meinen Stuhl zurecht. Alte Schule. Der Mann auf dem Foto und er: zwei Klammern um ein gelebtes Leben, und dazwischen eine Frage, die ihn von innen aufzufressen schien. Erst als wir uns gegenübersaßen, sah ich, wie ergriffen und aufgeregt er tatsächlich war. Er räusperte sich, bat um Verzeihung. Für ihn schien es weniger ein Kennenlernen zu sein als ein unheimliches Wiedersehen. Ich fühlte mich gleichsam gesehen und nicht gesehen, als meinte er nicht mich, sondern jemand anderen. Doch die Zärtlichkeit und Zuwendung, die aus seinen Augen sprach, war so echt und überwältigend, dass sich auch bei mir ein irritierendes Gefühl von Vertrautheit einstellte.
Ich suchte nach Ähnlichkeiten in seinen Gesichtszügen, in seiner Art. Alles an ihm wirkte geordnet, geerdet und gesetzt, während mein Leben ein chaotisches Puzzle war, aus Teilen, die nicht zusammenpassten.
»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie überrumpelt habe. Ich wollte Sie eigentlich nur auf der Bühne sehen. Aber als Sie dann … Geht es Ihnen wieder gut?«
Ich war froh, dass er mich siezte. Irgendwie verschaffte mir das die Distanz, die ich jetzt brauchte. Ich nickte.
»Wie lange spionieren Sie mir schon nach?«, fragte ich kühl. Meine Distanz überraschte mich selbst. Ich spürte, dass es ihn verletzte, und vielleicht wollte ich das auch. Auf seinem Gesicht breitete sich Bedauern aus.
»Entschuldigen Sie, das war keine Absicht. Ich hatte eigentlich Vincenzo gesucht. Ich wusste nichts von Ihnen.« Er rang mit seinen Gefühlen.
»Warum sind Sie mir nach Mailand gefolgt? Wir leben in der gleichen Stadt.« Meine Direktheit schien ihn nicht zu stören.
»Es war eine Verrücktheit, ein nostalgisches Gefühl. Als Sie dort auf der Bühne standen, mein Gott …« Er hatte Tränen in den Augen. Ich versuchte, ungerührt zu bleiben.
»Giulietta wäre stolz gewesen auf Ihren Erfolg«, sagte er. »Sie leben ihren Traum.«
Ich verstand nicht, was er meinte.
»Sie hat auch geschneidert. Sie hatte großes Talent. Aber nicht Ihre Möglichkeiten. Ich denke, Ihr Vater hat Ihnen den Namen in Andenken an seine Mutter gegeben. Er hat sie über alles geliebt.«
Ich schaute auf seine Hände und sah zwei goldene Ringe am linken Ringfinger: ein Witwer. Als er meinen Blick bemerkte, verbarg er seine Hand. »Wo ist sie jetzt?«, fragte ich.
Er schüttelte unmerklich den Kopf. Konnte nicht aussprechen, was ich schon spürte: Sie lebte nicht mehr. Sein Schweigen offenbarte zugleich, dass sie für ihn nicht tot war. Es gibt zwei Arten zu sterben. Die einen verlassen diese Welt im Frieden mit sich selbst. Die anderen gehen gegen ihren Willen. Und ein Teil von ihnen, der unsichtbare, ist immer noch hier.
Der Kellner unterbrach die Stille. Vincent bestellte seinen Espresso auf Italienisch. Ungewöhnlich für einen Mann aus seiner Generation. Aber sein Akzent war deutsch, so viel verstand ich, und nichts an ihm wirkte italienisch.
»Wann hatten Sie denn zuletzt Kontakt zu Ihrem Vater?«, fragte er vorsichtig.
»Ich hab ihn ein einziges Mal gesehen. Als Kind. Ein paar Stunden. Das war’s.«
»Tut mir leid. Das wusste ich nicht.« Er sah mich an, als wollte er mich am liebsten gleich adoptieren.
»Schon gut.«
»Ich hatte auch lange keinen Kontakt mehr zu ihm … Er wollte nichts mit mir zu tun haben.«
»Damit hätten wir schon mal was gemeinsam«, erwiderte ich, sarkastischer als beabsichtigt.