TILMAN ALLERT
Der deutsche Gruß
Geschichte
einer unheilvollen Geste
FISCHER E-Books
Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Zuletzt ist von ihm im S. Fischer Verlag ›Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge‹ (2015) erschienen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Zu den Eigenheiten der Nationalsozialisten gehörte auch der »deutsche Gruß«. Es gibt keine Geste in der Geschichte, die so sehr für ein Regime steht wie dieser Gruß. In seiner mittlerweile klassischen Studie untersucht Tilman Allert, wie diese Geste erfunden und dann verbreitet wurde, wie sie zur Unterscheidung von Anhängern und Gegnern diente, aber auch Gegenstand der Belustigung war und wie es nach dem verlorenen Krieg um sie stand.
Die Neuausgabe ist aktualisiert und um ein Kapitel über die Geschichte des Grußes in der DDR erweitert.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Erstausgabe erschien 2005 beim Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München nach einer Idee von Eva Knoll, Stuttgart
Coverabbildung: akg-images, Berlin
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490140-4
Ortega y Gasset (1957) S. 246.
Schoop (1985) S. 34.
Dazu gibt es eine Reihe von Arbeiten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, auf die ich für das Folgende Bezug nehme. Die systematisch das »Grüßen« als eine kommunikative Praxis aufschließenden Zugänge stammen aus der Ethnologie, der Linguistik bzw. Sprechakttheorie (Schegloff, Searle) sowie der Mikrosoziologie (Goffman, 1974). Die grundlagentheoretische Bedeutung des Grußes als »leere Sozialität«, als eine Herstellung der Möglichkeit von sozialer Praxis und menschlicher Individuation hat der Strukturalismus (insbesondere Marcel Mauss, 1975) herausgestellt, im deutschsprachigen Raum knüpfen die Arbeiten von Ulrich Oevermann (1983, 1998, 2000) daran an.
Blumenberg (1997) S. 181.
Schon in einer der ersten kulturwissenschaftlichen Studien über den Gruß, der Theorie der Sitte, die der Göttinger Rechtshistoriker Rudolph von Ihering im Jahre 1886 publiziert hat, wird der Doppelcharakter des Grußes, Sozialität zu begründen und deren Ausdrucksgestalt jeweils zeitgebunden zu normieren, in einer »Ethik des Umgangs« modern beantwortet: »Welches Interesse hat die Gesellschaft am Umgang? Damit berühren wir den springenden Punkt der ganzen Lehre, in ihm liegt das Verständnis dieses Stücks unseres Lebens beschlossen. Der Umgang ist eine sociale Institution, Umgang ist sociale Pflicht« (v. Ihering, 1886, S. 339).
Vor diesem Hintergrund lässt sich die gestische Begleitung des Grüßens, der Einsatz von Kopf und Hand, verstehen. Sie unterstreicht, differenziert und kommentiert das im Sprechakt artikulierte Kommunikationsangebot. Von Ihering schreibt dazu: »Die Tatsache, daß zwei Personen sich eins oder verbunden fühlen, läßt sich nicht besser veranschaulichen, als indem sie diese Einigung auch körperlich darstellen. Die Stufenleiter dieser Symbolik der seelischen Einheit ist gegeben durch die Hand (Handschlag, Händedruck) – die Arme (Umarmung) – die Lippen (Kuß)« (v. Ihering, 1886, S. 652f.). Zur Beziehungsfunktion der Hand ›im unmittelbaren sozialen Kontakt‹ siehe auch Popitz (1995) S. 61.
Vgl. dazu Althoff (1997), auch Schürmann (1992) S. 155ff.
Folgt man den Ausführungen van Genneps, so sind es die räumlichen Übergänge und Grenzüberschreitungen, die die Ritualisierung menschlicher Kommunikation, insbesondere das Grüßen, erzwingen: »Die verschiedenen Grußformen gehören auch in die Kategorie der Angliederungsriten. Sie variieren je nachdem, wie fremd der Ankömmling den Bewohnern eines Hauses oder den Personen ist, die er trifft. Die diversen Grußformen der Christen, die sich in den slawischen Ländern noch in archaischer Form erhalten haben, erneuern jedes Mal – wie das Salam der Muslime – das mystische Band, das die Zugehörigkeit zur selben Religion stiftet« (van Gennep, 1999, S. 40).
Oevermann (2000) S. 136.
Firth (1972) S. 32 (Übers.: T. A.).
Völkischer Beobachter vom 20. März 1935.
So erzählte Johannes Rau in einem Gespräch mit dem Verfasser.
Der praktische Schulmann (1936) S. 98.
Aus Wegner (2003) S. 38.
Aus Schäfer/Klockmann (1999) S. 57.
Beckett (2003) S. 15.
So die Formulierung von E. Grohne aus dem Handbuch der deutschen Volkskunde (1934–1935); ähnliche Eintragungen findet man im damaligen Großen Brockhaus.
Dodd (2005) S. 270.
Ungerer (2000) S. 92.
Valentin (1982) S. 150f.
»Vor dem deutschen Gruß gibt es keine andere Art der Begrüßung«, so lautet ein Ausschnitt aus der Schulordnung der Kolmarer Oberschule, in der Tomi Ungerer Schüler war.
»Schon damals fingen viele an zu schweigen …«. Quellensammlung zur Geschichte Charlottenburgs von 1933–1945.
Wie Brigitte Hamann in ihrer Studie zu Hitlers Wien eindrucksvoll nachweist (1998, S. 337f.).
Siehe dazu die vorzügliche Studie von Simonetta Falasca-Zamponi, The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, (1997).
Benito Mussolini, Scritti e discorsi, 12 Bde., Mailand 1934–39, Bd. 2, S. 163.
»Schleswig-Holstein-Land ist durch und durch nationalsozialistisch. Fr. fiel es auf der Fahrt nach Neumünster wieder auf. Beim Ein- und Aussteigen nur ›Heil Hitler‹« (Jochmann, 1963, S. 418f.). Vgl. auch die Untersuchungen von M. Broszat und E. Fröhlich, Alltag und Widerstand. Bayern im Nationalsozialismus (1987).
»Schon damals fingen viele an zu schweigen …«. Quellensammlung zur Geschichte Charlottenburgs von 1933–1945.
Entscheidend war, dass niemand kalkulieren konnte, ob eine lässige Handhabung des Grußes oder gar ein Verzicht auf den Gruß Folgen haben würde oder nicht. Diese Ungewissheit hat ausgereicht, Konformität auszulösen. Natürlich kam es vor, dass man unbehelligt blieb, so wie der Schausteller Traubert Petter, Jahrgang 1907, der vorgewarnt wurde und dessen Affen die angeordnete Abschlachtung überlebten. Traubert Petter, der mit seinen Schimpansen durch die Provinz zog und auf den Jahrmärkten mit kräftiger Stimme für die Sensation seiner Schaubude warb, wird im Jahre 1940 zum Wehrdienst eingezogen und nach Russland geschickt, was seinen Betrieb an den Rand des Ruins bringt, nachdem die Affen aus Kummer die Mitarbeit verweigerten. Die Kälte Russlands setzt jedoch Petters berufsbedingt strapazierten Stimmbändern derart zu, dass er nach kurzer Zeit versetzt wird – die Ärzte seiner Kompanie diagnostizieren ein sogenanntes »Führerleiden«, eine in der ärztlichen Profession übliche Anspielung auf die notorische Heiserkeit Hitlers. Die Geschichte mit den salutierenden Schimpansen, in der das fahrende Volk, das wegen seiner Ortsungebundenheit als »Zigeuner« besonders argwöhnisch bewacht wurde, die gestische Dressur einer Bevölkerung persifliert, endet in einer grotesken Spiegelung: Während das Schreien die millionenfache Auslöschung von Menschenleben einleitet, rettet es im Fall des Schaustellers Petter dessen Existenz.
Es handelt sich um das »Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen« vom 20.12.1934, Reichsgesetzblatt I, 1934, S. 1269.
Vgl. dazu die Studie von Foster (1995).
Klemperer (1995) S. 114.
Eppler (1994) S. 62.
Wolfe (1981) S. 562. Ich verdanke den Hinweis Fritz Schütze.
König in Löwith (1986) S. 129.
Die rechtlichen Grundlagen bildete eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen: »Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung« vom 21. März 1933, RGB 1.I 1933, S. 135 und »Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen« vom 20. Dezember 1934 RGB I 1934, S. 1269, »Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und im besonderen Einsatz (Kriegssonderstrafrechtsverordnung)« vom 17. August 1938, RGB I 1939, S. 1455–1457.
Kempowski (1993) S. 198.
Weber (1972) S. 142.
Vier Wochen nach der Ernennung zum Reichskanzler am 28. Februar 1933 werden durch die Notverordnung zum »Schutz von Volk und Staat« die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt. Drei Wochen später verabschiedet der Reichstag in seiner ersten Sitzung das Ermächtigungsgesetz, damit geht die gesetzgebende Gewalt auf die Regierung über und das Prinzip der Gewaltenteilung wird aufgegeben, die NSDAP wird Staatspartei. Nach dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 erfolgt die verfassungsmäßige Fusion der beiden Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers und damit die institutionelle Durchsetzung des Führerprinzips.
Siehe hierzu die grundlegende Studie von Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich.
Barth kommentiert in einem Brief an seinen Freund Emil Brunner das theologische Gutachten, dessen der Staatsanwalt sich bedient, sarkastisch mit den Worten: »Was der Staatsanwalt mir in Köln entgegengehalten hat, wirst du als Beitrag der neuesten Religionsgeschichte mit Interesse zur Kenntnis nehmen: ›Ob aber das, was auf Grund der Treu- und Gehorsamspflicht von dem Beamten verlangt wird, im Einklang mit dem Gebot Gottes steht – die Entscheidung darüber liegt nicht bei dem einzelnen Beamten, sondern allein und ausschließlich beim Führer selbst, den Gott auf seinen Platz gestellt hat und dem man daher auch das blinde Vertrauen schenken kann und muß, daß er auf Grund seines besondern Verhältnisses zu Gott nichts von seinen Untergebenen verlangen wird, was Gott verbietet. Daß der Beamte dieses bedingungs- und rückhaltlose Vertrauen zum Führer haben und ihm allein deshalb ein für allemal die Entscheidung darüber überlassen soll, ob zwischen seinen Befehlen und Anordnungen und dem Willen Gottes kein Widerspruch besteht, darin liegt gerade der Sinn des auf die Person des Führers geleisteten Treueeides.‹« (Barth, 2000, S. 275f.)
Dazu ausführlich die Arbeiten von Eric Voegelin, insbesondere Die politischen Religionen (1996), aber auch Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen (1922).
Im katholischen Glaubensentwurf erscheint der andere zwar einerseits als Gottesgeschöpf und genießt deshalb einen unbefragten Vertrauensvorschuss – andererseits legt die selbstverständliche Unterstellung der Geltung einer durch die göttliche Instanz gestifteten Gemeinsamkeit es immer nahe, auf die kommunikative Bekräftigung zu verzichten und Irritationen, Kontingenzen des Handelns zu ignorieren im Sich-Verlassen darauf, dass die Synthese einer situativ empfundenen Widersprüchlichkeit kraft Geltungsanspruchs der göttlichen Versöhnungsgabe ohne eigenes Zutun erfolgen wird. Im protestantischen Entwurf fällt demgegenüber der Bewährungsort gleichsam aus. Die Gegenwart erscheint als zu belanglos, als dass ihr die Dignität einer moralisch relevanten Begegnung zugeschrieben werden könnte.
Löwith (1984) S. 67.
Ein Erlass des Reichswehrministers vom 19. September 1933 fasst die bestehenden Bestimmungen wie folgt zusammen: »Im Dienst ändert sich an den alten militärischen Grußformen nichts, gleichgültig, ob die Soldaten in Uniform, im Sportanzug, mit oder ohne Kopfbedeckung sind. Der Deutsche Gruß ist von Soldaten und Beamten in Uniform, wenn sie keine Kopfbedeckung tragen, in folgenden Fällen anzuwenden: a) beim Singen des Deutschland- und Horst-Wessel-Liedes, b) im außerdienstlichen Grußverkehr innerhalb und außerhalb der Wehrmacht. Im Schriftverkehr mit Behörden und Einzelpersonen ist nichts dagegen einzuwenden, daß an Stelle langer Höflichkeitsformeln die sich immer mehr einbürgernde Form ›Heil Hitler‹ Anwendung findet« (zit. nach: Absolon, 1989, Bd. 3, S. 204).
Haffner (2000) S. 173f.
Die Diskussion um die Frage nach der Durchsetzung zweier Diktaturen in der deutschen Nationalgeschichte bzw. um die Frage nach den Gründen für die Konformitätsbereitschaft wäre um den mikrosoziologischen Blick auf die Formen der privaten Daseinsgestaltung zu erweitern, so lautet mein Plädoyer – Helmuth Plessners historische Analysen, die Arbeiten von Talcott Parsons zur Sozialstruktur des Nationalsozialismus sowie die grundlegenden Arbeiten von M. Rainer Lepsius (1993, 1996, 1999) sowie Hans Günter Hockerts (2003, 2008).
Ich danke Rolf Haubl für diesen Hinweis.
Weber (1972) S. 655.
Der Chef der Reichskanzlei, H.H. Lammers, erläutert in einem Schreiben an Reichsaußenminister Ribbentrop Hitlers Anredewünsche. Aufgrund der Nichtübersetzbarkeit des Wortes »Führer« in andere Sprachen habe »der Führer dahin entschieden, dass die Bezeichnung ›Der Führer des Großdeutschen Reiches‹ diejenige sei, die seiner Würde wie der Würde des von ihm vertretenen Deutschen Reichs am besten Ausdruck verleihe und die daher im formellen Verkehr mit dem Ausland gebraucht werden solle. […] Als mündliche Anrede sollen Deutsche in Zukunft die Anrede ›Mein Führer …‹, Ausländer die Anrede ›Führer‹ gebrauchen. Ich darf Ihnen anheimgeben, Ausländer, die vom Führer empfangen werden, in diesem Sinne zu verständigen«. (Brief von Lammers an Ribbentrop am 3.9.1942; zit. nach: Heiber, 1993, S. 95f.)
Haffner (1978) S. 203.
Tilmann Moser zitiert die Reflexion einer Tochter über die Hitlerverehrung ihrer Mutter: »Wie mußt du dich gehaßt haben, um Hitler so zu lieben? Gibt es da einen Zusammenhang? Hat er dir die Zuneigung für dich selbst, oder wenigstens das Ende der Selbstverachtung und des Neides geschenkt?« (Moser, 1999, S. 115).
Herbert (1998) S. 65.
Ebd. S. 35.
Abgedruckt in: Wilhelm Haas, Beitrag zur Geschichte der Entstehung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland, Bremen 1969, S. 400. Ich danke Benigna von Krusenstjern für den Hinweis.
H. Tröndle/T. Fischer, Strafgesetzbuch-Kommentar, 49. Aufl. 1999.
Weber (1972) S. 661.
Siehe hierzu das grundlegende Werk von Ulrich Herbert (Herbert, 2014, besonders S. 699–747).
In kaum einem zeitgeschichtlichen Dokument ist die Ambiguität des Bruderkusses so anschaulich festgehalten wie in der Fotografie von Barbara Klemm, die im Bruderkuss Honecker und Breschnew den historischen Moment einer brüchig gewordenen Solidaritätsbeschwörung unter sozialistischen Bruderstaaten festgehalten hat. Zum Bruderkuss siehe auch die instruktive Studie von Claudia Schimmel (1998).
Diesen Hinweis verdanke ich Lorenz Jäger. Zum komparativen Verständnis der epochalen Konfrontation zwischen Kommunismus und Faschismus siehe auch die Studie von Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche (1963).
Wie ist der Zivilisationsbruch der deutschen Gesellschaft in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen, wie lässt sich künftigen Generationen die Regression in die Barbarei erzählen? Millionen ermordeter Menschen, in Tötungsfabriken umgebracht – wie findet die Monstrosität der nationalsozialistischen Herrschaft im Kollektivgedächtnis einen Platz, und wie nimmt ein verantwortliches staatsbürgerliches Handeln darauf Bezug?
Im Vernichtungslager ist das Grüßen erloschen. Es ist der Ort der totalen Macht über den anderen, die vollkommene Asymmetrie und der organisierte Vollzug eines Selbstverzichts, in den das mechanisierte Töten eindringen kann. Das Lager kennt nur den Appell, die Warnung und den Fluch. Das Sprechen mit den Opfern ist untersagt, und das Nichtwahrnehmen des Gegenübers findet in der Auslöschung ihre letzte Konsequenz. Der Zusammenhang zwischen Gruß und Lager liegt nicht auf der Hand – zu weit voneinander entfernt scheinen die Trivialität einer Eröffnungsgeste und die Realität der organisierten Vernichtung zu liegen. Was rechtfertigt es demnach, aus der Totalität des historischen Phänomens Nationalsozialismus den Hitlergruß analytisch zu isolieren und zum Gegenstand einer Studie zu machen? Irgendetwas an ihm stimmt nicht – so jedenfalls eine intuitive Wahrnehmung, die meine Suche nach den sozialen Voraussetzungen und Folgen des Grüßens allgemein veranlasst hat und dabei auf eine Sinnverkehrung gestoßen ist, die im Bannkreis charismatischer Suggestion und Selbstsuggestion entstehen kann. Der Gruß ist semantisch wohlgeformt und dennoch Ausdruck einer beschädigten Sittlichkeit. Aber er kommt nicht als ein äußerer Zwang über die Menschen, sondern sein Entstehen ist selbstverantwortet.
Sich ausschließlich auf den Gruß zu konzentrieren folgt dem Bemühen, einen Schlüssel zu liefern für das Verständnis einer Zeit, in deren moralischem Horizont auch diejenigen Generationen stehen, die ohne Erfahrungsbezug zum Nationalsozialismus aufwachsen. Ein Schlüssel, der handhabbar ist, weil dem Grüßen schließlich in allen Austauschbeziehungen in der einen oder anderen Form, in der bewussten, gelangweilten, engagierten oder trotzigen Form, eine Evidenz abgewonnen werden kann. Seine alltägliche und triviale Inanspruchnahme erinnert an eine Elementarform menschlichen Lebens, und im vergleichenden Nachdenken erscheint das Ungeheuerliche in dessen sprachlicher Subversion als ein Ausdruck der Sorglosigkeit, die banal und weitreichend zugleich ist: in ihrer Verkehrung von weltlicher und religiöser Ordnung, der Auflösung des Religiösen und der Wiederaneignung des Religiösen in einer innerweltlichen Gemeinschaft sowie der beständigen Selbstsakralisierung des Handelns. Viele Geschichten liegen im Kollektivgedächtnis der Nation, in den allmählich verblassenden Erinnerungen der Eltern und Großeltern aufbewahrt. In meinen Recherchen habe ich Bruchteile davon gesammelt.
Tilman Allert, im Sommer 2016
Samuel Beckett nimmt auf seiner Reise durch Deutschland am 3. März 1937 an der Dominikanerkirche von Regensburg ein über dem Nordportal angebrachtes Schild wahr und sieht, dass dessen Aufschrift ›Grüß Gott‹ durchgestrichen und durch ›Heil Hitler‹ ersetzt worden war.
Gegen jede Form zusammenfügender Deutung argwöhnisch eingestellt – Versuche, irgendeine historische Notwendigkeit zu behaupten, bereiten ihm regelrechten Ekel –, versieht Beckett das montageartige Protokoll seiner Beobachtungen mit einer Gewichtung, die beinah unmerklich in der Zeichensetzung durch drei Ausrufungszeichen zum Ausdruck kommt. Dass die Grußformel ausgetauscht wurde, fällt seinem Blick auf. Das Entdeckte fügt sich seinem Eindruck aus Begegnungen mit Deutschen in Hamburg, Berlin und anderswo und dem schon vielfach registrierten omnipräsenten Gebrauch des Hitlergrußes. Aber diese Notiz endet mit drei Ausrufungszeichen, Chiffren, die das Beobachtete der lapidaren Reportage entziehen. Das Befremdende, das dem Reisenden ins Auge springt, erscheint als eine irritierende Besonderheit. Es wird mit einem Aufruf zur Reflexion versehen.
Im April 1937, einen Monat später, verlässt Beckett Deutschland, um in Frankreich eine ständige Bleibe zu finden. Das Staunen über die wahrgenommene, aber unbegriffene sprachliche Subversion versickert in den schemenhaften Erinnerungsspuren eines jungen Mannes auf der ästhetisch-literarischen Selbstsuche. Nur wenige Jahre später wird er als Schriftsteller seinen Weltruhm darauf gründen, den Zerfall eines sittlichen menschlichen Umgangs in der Auflösung dialogischer Möglichkeiten des Sprechens zu seinem zentralen literarischen Thema gemacht zu haben. Den Ausrufungszeichen Becketts, die das intuitiv empfundene Ungeheuerliche eines Bedeutungsbruchs in das Tagebuch schreien, wollen wir nachspüren. Vom deutschen Grüßen und dessen folgenreicher Perversion soll die Rede sein.
21[1]