Cover

Gerd und Marlene
Haerkötter

Das Geheimnis
der Bäume

Sagen, Geschichte,
Beschreibungen

Anaconda

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Biologie und Ökologie des Baumes

Wie lebt der Baum?

Wie stirbt der Baum?

Erst stirbt der Baum, dann stirbt der Mensch

Bäume in der Stadt

Leben ohne den Trost der Bäume?

Der Baum und der Mensch

Der mythische Baum

Der Baum als Symbol

Baumportraits

Der Apfelbaum

Andere Obstbäume

Die Eiche

Die Buche

Die Linde

Die Birke

Die Esche

Die Pappel

Die Weide

Walnußbaum und Hasel

Nadelbäume

Mistel

Anhang

Literatur

Quellenhinweise

Vorwort

Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!

(G. Eich)

Das vorliegende Buch erschien erstmals im Jahre 1989 unter dem Titel »Macht und Magie der Bäume«, in einer Zeit, als heftig über Umweltprobleme diskutiert wurde und der Begriff des »Waldsterbens« aufkam. In den rund 20 Jahren hat sich seither trotz zaghafter Ansätze politischen Umdenkens, Klimagipfeln und Umweltkonferenzen wenig zum Besseren geändert. Laut Waldzustandsbericht 2009 sind ungefähr zwei Drittel aller Bäume in Deutschland krank. Ein Drittel der Bäume ist mittelmäßig oder stark geschädigt, Buchen und Eichen sogar zu 80 Prozent.

So ist es sehr erfreulich, daß der Anaconda Verlag sich entschlossen hat, dieses Buch als mahnende Erinnerung an die große Bedeutung der Bäume für Mensch und Umwelt neu herauszugeben. Nach wie vor sind die Worte aus dem Vorwort zur Originalausgabe aktuell:

Der Tod der Bäume ist angesagt. In den Tropen werden riesige Waldareale dem schnellen Profit geopfert und in unseren Breiten verabschiedet sich der Wald, weil er dem Industrie- und Zivilisationsdreck nicht mehr standhalten kann. Der Forstmann W. Hockenjos beklagt in seinem Buch »Tännlefriedhof«, daß mit dem Wald Schreckliches geschehe, sein Bild »hat sich unversehens in sein Gegenteil verkehrt, aus dem Urbild des Lebens ist ein Gegenstand des Mitleids und der Trauer geworden«.

Werden wir also leben müssen ohne den Trost der Bäume? Der Bäume, die dem Menschen wesensverwandt sind? Der Abschied der Bäume von den Menschen bringt einen Verlust an Lebensqualität, der weit über den Verlust an romantischen Erinnerungen hinausgeht. Der Mensch verliert mit dem Baum ein Symbol des ordnenden Kosmos. Er muß auf seinen Lebensbaum verzichten, der seine Kräfte auf magische Weise auf ihn überträgt. Langsam geht das Verständnis dafür verloren, daß die Bäume in den Mythen und Sagen unserer Ahnen eine so hilfreiche, tröstliche Rolle übernehmen konnten.

Eine winzige Hoffnung bleibt: Das Baumsterben könnte ein Menetekel sein, das die Richtungsänderung erzwingt. Der Tod der Bäume gibt den Hinweis darauf, daß die Grenzen des Wachstums erreicht sind; er erscheint als Preis zu hoch für das, was wir an materiellen Gütern dafür eintauschen können. Der kranke Wald steht als Symbol für ein aus den Fugen geratenes Wirtschaftssystem. Er kann den Anstoß zur Umkehr geben und damit seine eigene Heilung einleiten.

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Der deutsche Wald. Anteil der verschiedenen Baumarten an Gesamtfläche

Biologie und Ökologie des Baumes

Wie lebt der Baum?

Ich höre schon alle sagen, ein Baum,
was ist das schon,
ein Stamm, Blätter, Wurzeln,
Käferchen in der Rinde und eine
manierlich ausgebildete Krone, wenn’s
hochkommt – na und?

(Jurek Becker)

Wie alle Pflanzen sind auch Bäume autotroph, d. h. sie sind »Selbstversorger« und nicht auf die Hilfe anderer Lebewesen bei der Nahrungsversorgung angewiesen. Sie benötigen lediglich Kohlendioxid, Wasser, einige Mineralien und das Sonnenlicht, um »satt« zu werden, besser gesagt, um ihren Energie- und Baustoffbedarf zu decken. Dies geschieht durch die Photosynthese, bei der aus einfachen chemischen Bausteinen komplizierte, energiereiche Moleküle wie Zucker, Stärke, Zellulose, Eiweiß und Fett aufgebaut werden. Dieser für das gesamte Leben auf der Erde grundlegende Vorgang spielt sich in den Blättern aller grünen Pflanzen ab, weil das Blattgrün (Chlorophyll) die Energie des Sonnenlichtes einzufangen und in chemische Energie umzuwandeln vermag.

Bäume nehmen in der Pflanzenwelt im Laufe der Evolution eine Sonderstellung ein, da sie eine um vieles größere Blattoberfläche ausbilden als andere Pflanzen – ein Baum kann bis zu 1000 Quadratmeter Blattoberfläche erreichen – und dieses Blätterdach zur Energiegewinnung weit nach oben heben, wo ihm kein Konkurrent das lebensnotwendige Sonnenlicht streitig macht. Daher beherrscht überall dort, wo genügend Wasser, mineralische Nährstoffe und Wärme vorhanden sind, der Baum die Szene.

Auch andere Pflanzen wollen hoch hinaus. Sie schaffen an Höhenwachstum in einem Jahr viel mehr als Bäume (Sonnenblume, Mais u. a.); sie sterben aber im Herbst ab und nutzen diesen Vorteil nicht auf Dauer. Bäume wachsen zwar langsamer, dennoch sind sie effizienter, weil sie in jedem Jahr auf bereits Erbrachtem aufbauen können.

Damit Bäume alljährlich weiterwachsen können, müssen die Fragen der Stabilität und des Stofftransports gelöst sein. Die Bäume können ihre blattreiche Krone nur dann in großer Höhe ausbreiten und tragen, wenn sie über einen außergewöhnlichen Unterbau verfügen. Dieser Unterbau, der Stamm, ist im Kern tot. Das eigentliche Leben des Baumes spielt sich unmittelbar unter der äußeren Oberfläche des Stammes ab. Sowohl Stamm, Astwerk als auch Wurzeln werden von einem Zellgürtel umgeben, der so dünn ist, daß man ihn mit bloßem Auge gar nicht sehen kann: das Kambium. Die Kambiumzellen behalten zeitlebens die Fähigkeit, sich zu teilen; aus diesem Teilungsprozeß gehen die Bauelemente des Baumes hervor. Sie lagern jedes Jahr neue Holzzellen an ihrer Innenseite ab und vergrößern damit den Umfang des Stammes (»Jahresringe«). Das so nach innen abgelagerte »Holz« besteht in der Hauptsache aus Zellulose und Lignin; erstere gewährleistet eine genügende Zugfestigkeit, letzteres ist für ausreichende Druckfestigkeit im Gesamtverband des Stammes und der Äste verantwortlich. Beide Eigenschaften wirken zusammen und geben dem Holz wie kaum einem anderen Material seine hohe Stabilität und eben auch die Möglichkeit, das mächtige Blätterdach zu tragen und den Biegekräften von Wind und Sturm zu widerstehen.

Das Kambium muß zudem ständig neue Innenrinde (Phloem) produzieren. Wächst das Phloem zu stark an, so wird die nach außen gerichtete Spannung auf die Baumrinde so stark, daß sie schließlich platzt, in der Rinde entstehen Risse. Diese Wunden werden aber sofort wieder geschlossen. Schon vorbereitete dickwandige Zellen flicken die Risse und liegen nun als Pflaster auf der Wunde, es entsteht die Borke.

In der schmalen Zone zwischen Rinde, Kambium und neugebildetem Holzteil (Xylem) ist das gesamte Leitungssystem eines Baumes untergebracht. Der »Saft« (Wasser mit den darin gelösten Nährstoffen) steigt im jungen Holz, also auf der Innenseite des Kambiums, hoch. In den Leitungsbahnen des Phloems fließt ein anderer »Saft« zurück, der enthält die in den Blättern gebildeten Kohlenhydrate und andere Produkte der Photosynthese.

Wie kommt es zum Saftstrom nach oben? Früher war man der Meinung, die Wurzeln drückten die Wassersäule hoch, eine Erklärung dafür blieb man schuldig. Die Wurzeln kurbeln zwar im Frühjahr den Kreislauf an, aber die eigentliche Regulierung des Wasserstroms übernehmen die Blätter. Ihre große Oberfläche und ihr besonderer Bauplan setzen sie in die Lage, viel Wasserdampf abzugeben, so daß der Innendruck (Turgor) in den Blattzellen sinkt. Sie müssen sich per Osmose neues Wasser besorgen, die Nachbarzellen werden angezapft. Die wiederum versorgen sich aus ihren Nachbarzellen, und so pflanzt sich die Wassersuche fort, bis die feinsten Ausläufer des Xylems erreicht sind. Dort besteht unmittelbarer Anschluß an die Hauptwasserleitung, die das Wasser aus den Wurzeln hochzieht. Das geschieht nach einem anderen physikalischen Prinzip. In der Hauptleitung steht eine zusammenhängende Wassersäule, der »Wasserfaden«: Er wird im Normalfall nicht abreißen, da Kohäsionskräfte die Wassermoleküle aneinanderbinden. Geschieht das trotzdem, indem z. B. Luft in das Röhrensystem gelangt, so ist der Wasserstrom unterbrochen. Das ist der Grund dafür, daß manche Schnittblumen schnell welken, auch wenn man sie in Wasser stellt. Auch bestimmte Pilze, die auf Bäumen siedeln, können den Wasserstrom blockieren – so geschehen bei der Amerikanischen Kastanie, die deshalb vom Untergang bedroht ist. Ähnliches könnte auch unseren heimischen Ulmen zustoßen.

Die großen Wassermengen, die die Baumwurzel dem Boden entnimmt, sind im wesentlichen dazu bestimmt, verdunstet zu werden. »Nebenbei« werden mit dem Wasser die gelösten Mineralsalze (Stickstoff-, Phosphor-, Calcium- und Kalium-Ionen) zu den Blättern noch in den äußersten Winkel der Krone transportiert, und das mit einer Steiggeschwindigkeit von 45 Metern in der Stunde, wie man an einer Eiche gemessen hat. Das ist eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, daß das Wasser in den Gefäßleitungen, die auch noch mit Querwänden ausgestattet sind, hohe Reibungswiderstände überwinden muß.

Das meist sehr umfangreiche Wurzelwerk der Bäume hat mehrere Aufgaben zu erfüllen. Zunächst muß es dem Baum Halt geben. Die Wurzeln graben sich tief in den Boden ein und sorgen so für eine feste Verankerung der mächtigen oberirdischen Baumgestalt. Die starken Belastungen durch die Biege- und Zugkräfte des Windes machen es erforderlich, daß die dem Wind zugekehrten Wurzelstränge auf Zug reagieren können und die dem Wind abgekehrten Wurzeln auf Biegefestigkeit angelegt sind. Dennoch ist der Wurzelstock nicht so stabil wie der Stamm; nach heftigen Sturmböen sieht man mehr Bäume, die mit dem ganzen Wurzelwerk abgerissen wurden, als solche, die der Wind abknickte.

Der Wurzel kommt eine weitere wichtige Aufgabe zu, sie muß das Wasser und die darin gelösten Nährsalze aus dem Boden aufnehmen und dem Baum zuführen. Das geschieht über feinste Wurzelhärchen, dünne, langgestreckte Zellpartien, die sich zwischen die kleinsten Bodenteilchen schieben und in die Kapillarröhrchen eindringen. Dort saugen sie das Wasser auf und leiten es in die Wurzelstränge. Die Arbeit der Wurzelhärchen wird vielfach noch unterstützt durch die Tätigkeit bestimmter Pilze, die sich an den Wurzelenden ansiedeln; für ihre Arbeit bekommen die Pilze die Photosyntheseprodukte der Blätter zur Verfügung gestellt. Man nennt diese Symbiose zwischen Pilz und Baumwurzel Mykorrhiza. Wurzelhärchen und Pilze schaffen es immerhin, pro Hektar Buchenwald täglich dem Boden 40 000 Liter Wasser zu entnehmen und über die Wurzeln dem Xylem zuzuführen. Mit dem Wasser werden die in Ionenform vorliegenden Mineralsalze transportiert. Für den Baum lebensnotwendig sind die Elemente Stickstoff, Phosphor, Kalium, Calzium, Magnesium und Eisen; dazu kommen noch einige Spurenelemente. Fehlt einer dieser Stoffe, kann sich der Baum nicht normal entwickeln. Auch für den Waldboden haben diese Elemente in ihrer Gesamtheit große Bedeutung: sie verhindern eine Versauerung des Bodens. Tritt eine solche Versauerung nämlich auf – z. B. durch zu hohe Immissionen von Schwefel- und Stickstoffsalzen aus Industrie, Kraftwerken, Haushalten und Autos –, werden große Mengen an anderen Nährstoffen ausgewaschen und gehen den Bäumen verloren. Gleichzeitig werden Stoffe aus dem Bodensubstrat herausgelöst, die für den Baum giftig sind (Aluminium- und Schwermetallionen). Diese chemischen Vorgänge im Waldboden sind ein Grund dafür, daß unsere Bäume krank werden und sterben müssen.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß der Bauplan der Bäume für eine lange Lebensdauer ausgelegt ist. Unter günstigen Bedingungen können Bäume sehr alt werden. Birken, Erlen und Pappeln bringen es auf 100 Jahre; Buchen, Walnußbäume und einige Nadelbäume erreichen ein Alter von mehr als 300 Jahren und Eichen und Linden werden sogar 1000 und mehr Jahre alt.

Die ältesten Baumpatriarchen in unserem Gebiet sind die 2000jährigen Eiben, die vereinzelt in den Alpen anzutreffen sind. In Amerika hielt man lange Zeit die Redwoods (Sequoia sempervirens) für die ältesten Bäume der Welt, sie erreichen immerhin ein Alter von über 3000 Jahren. Im Jahre 1950 entdeckte man jedoch im amerikanischen Westen eine Kiefernart, die noch viel älter, dafür aber unscheinbarer als die Sequia waren. Diese Grannenkiefern wachsen unter denkbar ungünstigen Bedingungen in 3000 Metern Höhe in den kalifornischen White Mountains, wo kaum Regen fällt – aber sie erreichen ein Alter von 4900 Jahren!

»Wüßt ich genau, wie dies Blatt
Aus seinem Zweig hervorkam,
Schwieg ich auf ewige Zeit
Still, denn ich wüßte genug.«

(H. v. Hoffmannsthal)

Wie stirbt der Baum?

»Ein alter Baum, das wird immer seltener, und man wird alte
Bäume bald besichtigen gehen wie heute irgendeine alte
Kapelle.«

(Claude Goretta)

Es gab Zeiten, da starben die Bäume langsam, es dauerte Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, ehe ein Baum endgültig stürzte oder vom Blitz niedergestreckt wurde. Das ist heute anders, Bäume sterben eher und nicht an Altersschwäche. Lange bevor sie ihre Leistungsgrenze erreicht haben, beginnen sie zu kränkeln; die dicke Luft aus Schloten und Auspüffen setzt ihnen so zu, daß über die Hälfte unserer heimischen Bäume krank und vom schleichenden Baumtod bedroht sind. Am stärksten hat es die Tannen getroffen, sie sind fast alle sterbenskrank; auch die übrigen Nadelhölzer tun sich schwer mit den Luftschadstoffen.

Bisher galt die Fichte als besonders anpassungsfähig an den jeweiligen Standort; magerster Boden, Dürre und Kälte konnten ihr nichts anhaben. Aber der »saure Regen« hat ihr so zugesetzt, daß auch sie mehr und mehr dahinsiecht. Die Laubbäume litten zunächst weniger unter der Luftverschmutzung. Sie werfen jedes Jahr ihre Blätter ab und sind deshalb weniger angreifbar als die Nadelbäume. Mit dem Vordringen der Schadstoffe in tiefere Bodenregionen hat aber auch die Schädigung der Laubbäume seit etwa 1984 stark zugenommen: zwei von drei Buchen und mindestens jede zweite Eiche sind krank. Die in den Boden eingewaschenen Immissionen können sie nicht mehr verkraften.

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Waldschadenserherhebung BMELF, 1987

Erst stirbt der Baum, dann stirbt der Mensch

Eine gesunde Buche, die ein Alter von 100 Jahren und dabei eine Höhe von 25 m erreicht hat, bringt dem Waldbesitzer zwei bis drei Festmeter Holz, das er für etwa 300 Mark verkaufen kann. Das sind nüchterne Zahlen, die den wirtschaftlichen Wert eines Baumes dokumentieren. Man weiß aber inzwischen, daß der Wald mehr als die Summe seiner Bäume ist, und daß Bäume mehr können als nur Holz produzieren. F. Vester rechnet vor, daß die Buche mit ihren Milliarden biologischen Solarzellen und photosynthetischen Antennen pro Jahr 4,6 Tonnen Sauerstoff produziert und dabei 6,3 Tonnen Kohlendioxid verarbeitet. Daraus macht die Buche nicht nur Holz, sondern auch eine Million Blätter, 20 000 Bucheckern, Rindenabfall, Blütenpollen, Fallholz und Harz, Baumprodukte, die das Bodenleben bereichern und für seine fortdauernde Fruchtbarkeit sorgen.1 Noch einiges zu den beiden Gasen, die die Buche produziert oder verbraucht. Das Leben auf unserer Erde hat sich im Laufe der Jahrmillionen an einen Sauerstoffgehalt der Luft um 20 Prozent angepaßt, und dieser Sauerstoffpegel ist Voraussetzung für alles tierische und pflanzliche Leben. Daß dieser Pegel konstant gehalten werden kann, ist zum wesentlichen dem Wald zuzuschreiben; ist der einmal zerstört, wird eine ausreichende Sauerstoffversorgung von Mensch und Tier problematisch.

In der Luft befinden sich neben dem Sauerstoff noch Stickstoff (ca. 78 Prozent) und etwa 0,03 Prozent Kohlendioxid –, das aus der Verbrennung kohlenstoffhaltiger Substanzen stammt. Der Anteil dieses Gases an der Luft ist zwar gering, reicht aber völlig für die Ernährung der Pflanzen. Im Gegenteil, wenn es mehr davon in der Luft gäbe, steuerten wir einer Katastrophe entgegen; tatsächlich sind wir bereits auf dem besten Wege dorthin. Immer mehr fossile (kohlenstoffreiche) Brennstoffe – Erdöl, Erdgas, Kohle, Holz – werden verfeuert und heben dadurch den CO2-Gehalt der Luft an. Seit 100 Jahren hat sich der Kohlendioxid-Gehalt der Luft von 0,028 auf 0,037 Prozent, also um 30 Prozent erhöht. Die zum Abbau der CO2-Massen notwendigen Bäume und Pflanzen stehen aber nicht mehr zur Verfügung, denn wir erleben eine großflächige Waldzerstörung durch »sauren Regen« oder durch Abholzung der Regenwälder. Ein Großteil der Biomasse wird dabei verbrannt, der Bodenhumus wird abgebaut. Resultat: der Kohlendioxid-Gehalt der Luft steigt ständig an.

Für die verbleibenden Pflanzen wäre ein Überangebot an CO2 durchaus von Vorteil. Der Haken an der Sache ist, daß sie allein die Überproduktion nicht verarbeiten können, so daß sich die schädliche Wirkung des Kohlendioxids voll entfaltet. Diese CO2-Moleküle wirken wie ein Wärmefilter. Sie können die von der Sonne stammenden Energiemengen – als sichtbare Lichtstrahlen – zwar passieren lassen, die von der Erde reflektierte Energie wird jedoch von ihnen zurückgehalten.

Steigt die CO2-Konzentration über den normalen Pegel an, erhöhen sich auch die Temperaturen auf der Erde. Klimaforscher rechnen für die nächsten 100 Jahre mit einer Erhöhung der Temperaturen um 4 °C. Dieser »Treibhauseffekt« könnte bewirken, daß das Weltklima sich grundlegend ändert. Zudem kann der Meeresspiegel durch Abschmelzen der Polkappen soweit ansteigen, daß New York und San Francisco, aber auch die Norddeutsche Tiefebene unter Wasser gesetzt würden.

Bäume in der Stadt

Versetzen wir unsere Buche vom Wald in die Stadt, wird bald deutlich, daß Bäume noch andere Aufgaben zu erfüllen haben. Daß die Luft in unseren Städten immer dicker wird, weiß man längst. Daß Grünflächen und mit Bäumen bestandene Parks hier Abhilfe schaffen könnten, ist auch bekannt; dennoch opfert man diese Flächen dem Verkehr und dem Bau von Fabriken und Wohnsiedlungen. Der Stadtmensch atmet deshalb täglich etwa 12 Kubikmeter Luft ein, die durch etwa 500 Milliarden feste Bestandteile (Staub) »angereichert« ist. Das sind 20 Milligramm Staub, die über die Lunge in die Blutbahn gelangen – mitsamt ihren giftigen Anhängseln; SO2-Ionen, Kohlenmonoxid, Kohlenwasserstoffe, Bleiverbindungen und vieles andere mehr.2 Diese Bestandteile können zu Bronchitis, Lungenkrebs, Staublunge und Allergien führen; sie bilden aber auch die über den Städten sichtbare Dunstglocke, die etwa 20 Prozent der UV-Strahlen des Sonnenlichts abfängt, die Wärmeabstrahlung verhindert und damit die Temperaturen im Sommer erheblich erhöht.

Die folgende Tabelle zeigt deutlich, daß Grünflächen und Bäume hier wirksame Abhilfe bringen könnten. Die Messungen wurden in Frankfurt/Main durchgeführt; sie geben die Staubteilchen pro Liter Luft an.3

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Hier wird offenkundig, daß gerade Bäume in der Lage sind, die Luft zu filtern. Allein eine gesunde Buche schafft pro Jahr eine Tonne Staub mit daranhängenden Giften! Das reicht aber trotzdem nicht, all den Dreck zu beseitigen, den Autos, Kraftwerke, Industrieanlagen und Haushalte in die Luft blasen. Und wenn die Bäume schon nicht mit dem Dreck in der Luft fertig werden, sollte man zumindest die Zeichen richtig deuten, die sie bei zu hoher Belastung setzen. Ihre Schädigung und Zerstörung sollte daran erinnern, daß die Bäume vor den Menschen sterben. Der nordrhein-westfälische Politiker Farthmann hat sich schon beklagt: »In Duisburg wachsen keine Koniferen mehr« – da leben aber mehr als 500 000 Menschen! Tatsächlich ist es höchste Zeit, die Verursacher wie die Politiker rigoros zur Verantwortung zu ziehen.

Leben ohne den Trost der Bäume?

»Alpenstraßen verschüttet – die bayrische Schotterebene zweimal im Jahr von meterhohen Fluten bedeckt – jeden Sommer Dürre – Landwirtschaft von Katastrophen geplagt – Fremdenverkehr hört auf – Industrie steht still wegen Mangel an Brauch- und Kühlwasser – das Klima wird steppenähnlich: im Sommer sehr heiß, im Winter sehr kalt. – Der bayrische Forstverein erörterte bei seiner Jahrestagung in Würzburg die Frage, wie unser Land ohne Wald aussehe.« Schlagzeilen als Panikmache? Die Frage nach der Rettung des Waldes ist noch immer eine Frage nach den Kosten. Ein oder zwei Pfennig pro Kilowattstunde? 600 Mark für den Katalysator? Unberechnet bleiben die Fragen nach den Folgekosten:

Drohen uns, wenn der Bergwald stirbt und den Regen nicht mehr aufsaugt, katastrophale Überschwemmungen wie in Indien nach dem Abholzen des Himalaya?

Und was geschieht mit unserer Industrie, die Wasser als Rohstoff, Kühl- und Spülmittel nicht mehr in Fülle und nicht mehr – vom Wald gespeichert – gleichmäßig über das ganze Jahr zur Verfügung hat? Ohne Wald könnten die Großfeuerungsanlagen zum Stillstand kommen – und dies, weil sie, um eigene Filter zu sparen, den Wald als Filter zur Entgiftung der Atemluft mißbrauchten.

Für das schnelle Kleingeld hier und heute riskieren wir unabsehbare Kosten in der Zukunft.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland stellt fest: »Bei großflächigem Sterben der Wälder in Mitteleuropa müßte man mit Konsequenzen rechnen, deren Auswirkungen nicht mehr in Maß und Zahl zu fassen sind.

Betroffen wäre:

– der gesamte Wasserhaushalt, in dem unsere Wälder die wichtige Rolle eines Speichers und Regulators spielen; Trockenzeiten und Hochwasser wären die Folge.

– der Luft- und Klimahaushalt. Die kostenlose Luftreinigung durch unsere Wälder haben wir bisher gedankenlos als selbstverständliches Geschenk der Natur hingenommen. Aus verpesteten Ballungsräumen werden Menschen zur Erholung in »Luftkurorte« geschickt, eine Qualifikation, die vielleicht nicht mehr lange vergeben werden kann, wenn man die bisher damit verbundenen Kriterien weiterhin aufrechterhalten will.

– das Leben von Hunderten von Tier- und Pflanzenarten, die mit ihrem Lebensraum Wald verbunden sind. Für dieses Sterben ist der Ausdruck ökologischer Holocaust wohl nicht übertrieben.

Fest steht, daß die Veränderungen unserer Umwelt in Mitteleuropa, die sich mit dem Sterben der Wälder einstellen würden, eine Besiedlungsdichte wie die gegenwärtige nicht mehr zulassen würden. Man vergleiche die Veränderungen im Mittelmeerraum nach den radikalen Entwaldungen in früheren Jahrhunderten.«4

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Der Baum und der Mensch

»Dem Baume gleich, dem Fürsten des Waldes,
Gewiß, ihm gleich ist der Mensch.
Seine Haare entsprechen den Blättern,
Der Außenrinde gleicht die Haut.
Es strömt das Blut aus seiner Haut
Wie aus der Rinde des Baumes der Saft.
Aus den Verwundeten fließt Blut
Wie Saft aus einem Baum,
Den man verletzte.
Dem Holze vergleichbar ist das Fleisch,
So wie dem Bast die starke Sehne.
Die Knochen sind das Innenholz,
Das Mark vergleicht dem Marke sich …«

(Upanishaden)

»Bäume gehören zu den Archetypen der gesamten Menschheit. Kaum beginnt das Kind, seine Umwelt darzustellen, so zeichnet es neben das Haus einen ragenden, schützenden Baum. Bei der Betrachtung der Bäume fühlen wir uns in den großen Zusammenhang der Natur eingefügt. In einer griechischen Sage, die von Ovid überliefert ist, wird eine bewegende Szene geschildert: Orpheus setzt sich nieder, um zu spielen, da kam der Schatten dem Ort – die Bäume kamen, einer nach dem anderen, um dem Sänger Schatten zu spenden und zu lauschen … Daß Baum und Mensch einander beschenken mit den Gaben, die jedem eigen sind, dieses Aufeinanderbezogensein kommt in dem Bild von den lauschenden Bäumen auf wunderbare Weise zum Ausdruck.«5 Das Verhältnis zu Bäumen muß seit jeher ein anderes sein als zu den übrigen Pflanzen, von denen ja auch schon viele auf der »Roten Liste« der gefährdeten Pflanzen stehen oder bereits ausgerottet sind. Bisher hat das kaum jemanden betroffen gemacht; auf diese Pflanzen kann man bei einem Spaziergang von oben herabsehen. Bei den Bäumen ist das anders, man muß zu ihnen aufschauen, man kann in Baumgruppen und Wälder hineingehen und sich geborgen fühlen. Sie sind ein hochgewachsener Orientierungspunkt, eine Hilfe, die Welt zu erkennen und sich darin zurechtzufinden. In den Mythen eroberten sie sich deshalb einen bevorzugten Platz. Jahrhundertelang galten sie als Orakel bei der Lösung schwieriger Lebensfragen; zugleich waren sie die wirkliche Mitte der Welt.

Von den Germanen und den meisten indogermanischen Völkern sind Anschauungen und Bräuche bekannt, die belegen, daß man die Bäume für beseelt hielt, sie sogar mit dem Menschen auf eine Stufe stellte, »daß die einen sozusagen als vollendete Doppelgänger des anderen auftreten«. Sie wurden als persönliche Wesen behandelt. Die Identifizierung ging so weit, daß Mensch und Baum verschmelzen, und das führte zu der Anschauung, »daß der Baum der Körper einer durch den Tod dem Menschenleibe entrückten Seele, der Wohnsitz mehrerer Elfen oder eines Schutzgeistes sei, der wiederum kaum von einem alter ego des Menschen zu unterscheiden sein mochte.«6 Die magische Wechselwirkung zwischen Mensch und Baum findet sich auch in der anthropomorphen Vorstellung, daß Bäume bei Verletzungen wie die Menschen bluten. Aus Schweden berichtet eine alte Sage, ein Bauer habe im Wald einen Baum fällen wollen; da habe aus der Erde eine Stimme gerufen: »Lieber, haue nicht!« und aus den Baumwurzeln sei Blut geflossen.

In Baden erzählt man eine ähnliche Geschichte: Aus einem Kirschbaum wollte ein Bauer eine Flegelrute schneiden. Beim ersten Schnitt rief es: »Au weh!« und beim zweiten ebenso. Da packte den Bauern das Grauen und er suchte das Weite. Auch Jakob Grimm berichtet, daß die Erle anfängt zu bluten, zu weinen und zu reden, wenn man sie mit der Axt schlage.

J. v. Zingerle berichtet vom heiligen Lärchenbaum bei Nanders in Tirol: »Allgemein herrscht der Glaube, der Baum blute, wenn man hineinhacke, und der Hieb gehe in den Baum und in den Leib des Frevlers zugleich. Der Hieb ginge in beide gleich stark, ja die Wunde am Leib heile nicht früher, als der Hieb am Baum vernarbe.« Ein frecher Holzfäller wagte dennoch, die Axt gegen den Baum zu erheben, um den Aberglauben um die heilige Lärche ad absurdum zu führen. Aber schon beim zweiten Axthieb blutete der Stamm, und von den Ästen tropfte Blut. Dem Frevler wurde angst und bange, und er floh den Ort des Schreckens.7

Die Verehrung der Pflanzen, vor allem der Bäume, ist eine Urform der Religion. Sie waren heilige Wesen, die dem Menschen Nahrung, Feuerung, Heilmittel, Gewürze und Genußmittel schenkten, in ihnen schlummerten geheimnisvolle, ja göttliche Kräfte. Die Bäume erhoben sich steil in den Himmel; ihr Absterben im Herbst, ihr Verharren in der Winterstarre und ihr Wiedererwachen im Frühjahr – ihr gesamter Wachstumsrhythmus schien wie von höheren Wesen gesteuert. Der Mensch unterwarf sich den Bäumen, um ihre Kräfte auf sich zu übertragen.

In früheren Zeiten war sicherlich noch nichts über die Leistungen der Bäume für den Naturhaushalt bekannt. Heute wissen wir genau, daß nur die Pflanze in der Lage ist, das Sonnenlicht als Energiequelle zu nutzen und damit die Lebensgrundlage für alles übrige Leben auf der Erde schafft. Pflanzen können ohne Tiere oder Menschen existieren, diese sind jedoch ohne die Pflanze nichts. Sie liefern uns Nahrung und Wärme: Holz, Kohle, Erdöl und Erdgas; sie sind der Urquell des Lebens. Diese Zusammenhänge wurden bereits im Tao Te King des Lao-tse (4.–3. Jahrhundert v. Chr.?) erkannt und ausgesprochen (hier in einer Nachdichtung von George Wald):

»Alles, wovon wir leben,
selbst lebend war es einst
alles Fleisch ist gleich dem Grase,
alles Gras durch Licht gespeist.
Im Lichte allein gedeiht grünes Leben
und mildes Leben lebt von dem Grün.
Kein Tiger kann sich durch Tiger ernähren:
ihm dient die sanftere Kreatur.
So auch der Mensch –
genährt durch sanftes Leben
und grüne Schöpfung, die ihm untersteht –
wird einzig in dem Rad des Lebens,
gespeist, erhalten durch das Licht:
Licht kommt zu uns
im Kreislauf dieses Lebens –
der Lebensweg dem Lichte gleicht,
denn: Licht wird stets das Rad des Lebens treiben,
solang das Leben dieser Schöpfung reicht.«

So verkörpern Bäume die uralte Sehnsucht des Menschen, nach dem sich immer erneuernden ewigen Leben. Denn ihre Fähigkeit, ihre Lebenskraft von Jahr zu Jahr zu regenerieren, macht sie zum Sieger über den Tod. Daher ist die »Vermenschlichung« der Bäume auch Thema der modernen Dichtung geblieben.

»Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele aus«, schreibt Erich Kästner. Günter Eich stellt die Frage: »Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume?« Ricarda Huch »erinnert« sich:

»Einmal vor manchem Jahr

war ich ein Baum am Bergesrand,

und meine Birkenhaare

kämmte der Mond mit weißer Hand.

Hoch überm Abgrund hing ich
windbewegt auf schroffem Stein,
tanzende Wolken fing ich mir als vergänglich Spielzeug ein.

Fühlte nichts im Gemüte,
weder Wonne noch Leid, rauschte, verwelkte, blühte;
in meinem Schatten schlief die Zeit.«

Hermann Hesse stellt fest: »Bäume sind wie Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das einzige unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.« Rund 800 Jahre vorher schildert die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) dieses Urgesetz, das Gesetz des Lebendigen Denkens, so:

»Und die Seele durchströmt den Körper wie der Saft den Baum. Was sagt das? Durch den Saft grünt der Baum und bringt Blüten hervor, und darauf bildet er Frucht, so auch der Körper durch die Seele. Und wie wird dann die Frucht des Baumes zur Reife gebracht? Durch die Milde der Luft. Auf welche Weise? Die Sonne wärmt sie, der Regen feuchtet sie, und so wird sie in der Milde der Luft vollendet. Was sagt das? Die Barmherzigkeit der Gnade Gottes erleuchtet den Menschen wie die Sonne, der Anhauch des Heiligen Geistes bewässert ihn wie der Regen, und so führt ihn die Trennung wie die gute Mischung der Luft zur Vollkommenheit der guten Früchte.

Aber die Seele ist auch in dem Körper wie der Saft im Baum, und ihre Kräfte gleichsam die Gestalt des Baumes. Auf welche Weise? Die Erkenntnis in der Seele ist wie die Grünkraft der Zweige und Blätter am Baum, der Wille aber wie die Blüten an ihm, der Geist aber wie seine erste hervorbrechende Frucht, die Sinne aber wie die Ausdehnung seiner Größe. Und entsprechend dieser Art wird der Leib des Menschen von der Seele gefestigt und gestützt. Deshalb, o Mensch, erkenne, was du in deiner Seele seist, der du deinen guten Verstand ablegst und willst, daß man dich den Tieren vergleicht.«

Zu Beginn des Industriezeitalters wird dann für Nietzsche das Bild Mensch/Baum zum Bild des Abgründigen. In »Also sprach Zarathustra« heißt es: »Aber es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, umso stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, ins Dunkle, Tiefe – ins Böse.«

In der Umgangssprache kommt die enge Beziehung zwischen Baum und Mensch zum Ausdruck. Sprachbilder wie »verwurzelt« oder »entwurzelt« werden auf Personen bezogen, desgleichen »abstammen« und »aufbäumen«. Wenn Verzweiflung den Menschen erfaßt, ist es, »um auf die Bäume zu klettern«. Der Baum ist das Symbol für Größe und Stärke: »Er ist ein Kerl wie ein Baum«, oder: »Er ist baumstark.«

Sollen die Lebensgewohnheiten älterer Menschen verändert werden, so wird gewarnt: »Alte Bäume verpflanzt man nicht.« »Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht«, sagt man von einem, der den Überblick verloren hat. – Die Redensart vom »Kerbholz« ist jedem geläufig, und wer zu weitschweifig redet, »kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen«. Man sollte auch nicht den Ast absägen, auf dem man sitzt.

Der mythische Baum

Der irische Dichter Joyce Kilmer schrieb:

»Poems are made by fools like me,

But only God can make a tree.«

Zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen war der Baum zwischen Diesseits und Jenseits angesiedelt. Die innige Beziehung Mensch-Baum fand in den frühesten Mythen ihren Niederschlag. Es überrascht nicht, daß die Offenbarung der Bäume überall dem gleichen Grundmuster entspricht. Sie wurzelten tief im Bewußtsein der Urvölker, und sie haben ihren mythischen Glanz bis in die heutige Zeit bewahrt.

Besonders prächtige Bäume galten als heilig, man vermutete in ihnen die Seelen der Ahnen, ja sogar den Sitz der Götter. Wer sie beschädigte, wurde hart bestraft oder mußte sich durch Sühneopfer freikaufen. Die altnordische Edda kennt den Weltenbaum, der seine Wurzeln in der Unterwelt hat, dessen Äste sich in der Weltensphäre ausbreiten und dessen Krone den Himmel trägt. Die Edda schilderte auch die Entstehung der ersten Menschen aus Bäumen. Im Alten Testament ist die Rede vom Baum der Erkenntnis und vom Baum des Lebens; beide haben mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies zu tun. Der Prophet Elias sitzt unter einem Baum und hört aus dem Rauschen der Blätter die Stimme Gottes. In der Volksdichtung der Jakuten, eines nordostasiatischen Steppenvolkes, wird jener Baum besungen, der Himmel und Erde, Menschen und Götter miteinander verbindet: »Am gelben Nabel der achteckigen Erde steht ein üppiger Baum mit neun Ästen. Seine Rinde und Knospen sind silbern, die Blätter sind so groß wie eine Pferdehaut. Auf dem Wipfel des Baumes fließt schäumend der göttliche, gelbe Saft. Wenn die Vorübergehenden davon genießen, werden die Müden erfrischt und die Hungernden satt.« Buddha setzte sich unter den Bodhi-Baum (Verwandter des Feigenbaumes), drückt seinen Rücken eng an den Stamm, meditiert, versenkt sich in den Baum und lehrt dann seine Jünger. In China wird der Chien-mu-Baum zum Zentrum des Himmels und der Erde: In Japan sah man seit je die Bäume des Waldes als den Sitz der Götter an, Tempelbauten kannte man zunächst nicht; und so hat auch der heilige Shinto-Schrein seinen Ursprung im Walde selbst.

Der römische Philosoph Seneca schreibt zur Zeit Christi an seinen Freund Lucilius: »Wenn du einem Hain nahst, der mit alten, ungewöhnlich hohen Bäumen bestanden ist und in welchem der Schatten der einander deckenden Zweige das Himmelslicht verbirgt: diese schlanke Höhe des Waldes, das Geheimnis des Ortes, die Bewunderung des in dem weiten Hain so dichten und ununterbrochenen Schattens ruft in dir den Glauben an eine Gottheit wach.« Lange vor Seneca glaubten die alten Ägypter, daß die Sykomoren (eine Feigenart) ihren Gott beherbergten. Die Kanaaniter opferten ihren Göttern unter grünen Bäumen, und auch die Griechen beteten in Hainen zu ihren Göttern, lange bevor sie ihnen Tempel errichteten. Die Slawen hatten ihren Eichengott Perkunas und auch die Kelten und Germanen hielten ihre Opferfeste unter Eichen ab. Die Christen wollten mit diesem heidnischen Aberglauben endgültig aufräumen. Nach Paulus sollte man den »bösen Zauber, die törichte Magie um die heiligen Bäume« nicht verharmlosen. »In alledem treibt der Teufel sein Spiel. Er, der schon im Paradies am grünen Baum gesiegt hat, wird unter den Bäumen viele Menschenherzen betört haben, den Unsichtbaren mit falschem Namen zu nennen.« Schon durch Moses hatte der monotheistische Gott dem Volk Israel befohlen, die heiligen Bäume der Kanaaniter zu fällen, und die Heiligen Martin und Winifred (Bonifatius) zerstörten später als Sendboten Gottes die heiligen Eichen der Gallier und Germanen. Ihre Rechtfertigung: »Es war sicherlich viel Abgötterei in dem Baumdienst der Franken und Hessen gewesen und die Zeit war gekommen, daß die fromme Ahnung vor der Gewißheit der Frohbotschaft verblassen mußte … Der mächtige Wuchs des grünen Baumes versperrte die Aussicht auf das Kreuz, ja er war zum Zeichen des Trotzes wider das Kreuz geworden.8

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Tanz um Kultbaum nach ägyptischer Skulptur.

Die Heiligen haben die Götterbäume aber nicht verbrannt, sondern aus ihrem Holz das Haus des Herrn erbaut. Die Friesen, die Bonifatius später bekehren sollte, hatten kein Verständnis dafür, daß er ihre Götterbäume fällen wollte; sie erschlugen ihn wegen seiner Freveltaten an den heiligen Bäumen in Dokkum am 5. Juni 754.

Der Baum als Symbol

Die uralten Baum-Mythen kreisen um die Vorstellung von Fruchtbarkeit und Wohlergehen. Für die religiösen Menschen war und ist die Fruchtbarkeit, das Entstehen neuen Lebens, ein großes Geheimnis. Dieses Leben kommt nicht aus dem Nichts und geht auch nicht ins Nichts, es gibt eine Existenz vor dem Leben, ein Weiterleben nach dem Tode. »Das alles ist in den kosmischen Rhythmen ›chiffriert‹, und man braucht nur zu entschlüsseln, was der Kosmos in seinen vielfachen Seinsweisen ›sagt‹, um das Mysterium des Lebens zu begreifen. Nun ist aber evident, daß der Kosmos ein lebendiger Organismus ist, der sich periodisch erneuert. Das Mysterium des unerschöpflichen Erscheinens des Lebens ist mit der rhythmischen Erneuerung des Kosmos verbunden. Deshalb stellt man sich den Kosmos in Gestalt eines riesigen Baumes vor: die Seinsweise des Kosmos, vor allem seine Fähigkeit, sich endlos zu regenerieren, findet in dem Leben des Baumes ihren symbolischen Ausdruck.«9 So ist der Lebensbaum zugleich Baum der Erkenntnis, Baum der Unsterblichkeit, der Schönheit und der Jugend.

Der Weltenbaum

Im germanischen Mythos vom Weltenbaum reichen die Wurzeln der Esche Yggdrasil weit in die Tiefe, in die Welt der Unterirdischen. Ihr Astwerk umspannt die ganze Erde, ihre Krone ragt hinauf bis ins Reich der Götter und trägt den Himmel. Sie ist umhüllt von hellem Nebel; von dort kommt der Tau, der in die Täler fällt. Immergrün steht sie am Urdbrunnen, dem Wasser des Schicksals.« Die jüngere Edda (um 1200 v. Chr.) bezeichnet die Weltesche als das Heiligtum der Götter.

Die Weissagung der Seherin beschreibt Weltenbaum und Welterschaffung, dann prophezeit sie in dunkler Rede den Weltuntergang, der die Weltesche in Gestalt eines Riesen verschlingt:

»Yggdrasil bebt, der Eschen höchste,
es rauscht der alte Baum, der Riese wird frei
Die Sonne wird schwarz, es sinkt die Erde ins Meer,
vom Himmel fallen die hellen Sterne;
es sprüht der Dampf und der Spender des Lebens (Feuer),
den Himmel bedeckt die heiße Lohe.«

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Weltesche Yggdrasil, aus: J. H. Philpot, The Sacret Tree, London 1897

Auch in noch älteren Kulturen hatten die Menschen den Baum als Abbild des Kosmos gesehen. Er erhebt sich aus dem Meer, durchdringt mit seinem Gezweig die Erde und hält den Himmel; am Ende der Zeiten wird der Weltbaum vom Sturm gepeitscht und aus seiner Krone fallen die Sterne zur Erde nieder. Diese Vorstellung vom Weltenbaum ist besser zu verstehen, »wenn man sich in jene frühe Zeit zurückversetzt, da die Milchstraße im Frühjahrsäquinoktium wie ein ungeheurer, leuchtender, sternenbehangener Baum vertikal über dem irdischen Beschauer stand. Bis um 4000 v. Chr. und noch darüber hinaus, sahen die altorientalischen Völker am Himmel dieses großartige Bild. Die nach einem sagenhaften Fluß benannte Sternengruppe der Eridanos erschien dann wie ein himmlischer Strom, aus dem der Sternenbaum der Milchstraße emporwuchs. Wie naheliegend, daß die alte Weisheit der Sumerer sich die Welt als einen aus dem Strom oder Ozean aufsteigenden Weltenbaum vorstellte, der mit seinem Wipfel voll schimmernder Sternenblüten Himmel und Erde überspannte! … Weithin verlorengegangen ist unserer Zeit das einst von den Sternenkundigen mit strengem Schweigen gehütete und nur Eingeweihten tradierte Wissen, daß der Weltenbaum verborgen im himmlischen Tierkreis steht. In der für die beginnende Stierzeit (um 3275 v. Chr.) geltenden Grundstellung des Zodiakus sahen die Sternforscher den Weltenbaum aufrecht in dessen Mitte stehen, ihm zu Häupten das Sonnenbild des Löwen, zu Füßen der Wassermann, Hüter des Todes- und Lebenswassers; des Baumes Stamm die Sonnwendachse, an seinen Zweigen hängend die goldenen Früchte der Sterne, vor allem die leuchtenden Scheiben von Sonne und Mond. Seine Ästepaare sind die Geschosse der Tierkreisbilder. Noch im Lebensbaum der Geheimen Offenbarung, der in jedem der zwölf Monde des Jahres seine Frucht bringt, lebt dieses uralte Bild des Weltenbaumes fort, der ›wie Maßwerk in die Sonnenbahn eingespannt‹ ist.«10

Nach alter indischer Vorstellung wird der Kosmos in der Gestalt des umgekehrten Riesenbaumes Ashvatta gesehen. Die theologisch-philosophischen Texte der Katha-Upanishad sagen vom umgekehrten Baum:

»Dieser ewige Feigenbaum, dessen
Wurzeln nach oben und dessen Äste nach unten
gehen, ist das Reine, ist das Brahman, ist das,
was sich der Nicht-Tod nennt. Alle Welten
ruhen in ihm, keine geht über ihn hinaus.«

Der umgekehrte Baum hat seine Wurzeln im Himmel, und von dort strömen die lebensschaffenden Kräfte auf die Erde nieder. Dieser Baum mit seinem auf die Erde zuwachsenden Geäst ist ein originäres Symbol, das sich in den Mythen Indiens, Indonesiens, des Nahen Ostens und Afrikas findet – in »primitiven« Naturreligionen wie in den Hochkulturen.

In den Naturreligionen vor allem im Schamanismus spielt der Lebensbaum eine herausragende Rolle. Der Schamanismus ist eine ekstatische Religionsform, die seit Jahrtausenden existiert und in vielen Kulturkreisen zu finden ist. Seinen Ursprung vermutet man in vorgeschichtlichen sibirischen Jägerkulturen, noch heute wird er in Afrika, Australien, Nord- und Südamerika und auch in Nord- und Osteuropa praktiziert. Die Schamanen sind Heiler und Seher, die mit der Welt der Götter in Verbindung stehen.

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Der Weltenbaum, Schlange, Sonne und Mond, Signum der Mondgöttin (nach einer Darstellung aus Mesopotamien)

In der schamanischen Kosmologie ist die Welt in drei Stockwerke gegliedert: Oberwelt (Himmel), Erde (Welt der Lebenden) und Unterwelt (Welt der Toten). Diese drei Ebenen sind durch den Weltenbaum, der die Weltachse darstellt, miteinander verbunden.

Am Weltenbaum können die Geister, die Seelen und auch die Schamanen auf- und absteigen. Aus seinem Holz werden auch die Schamanentrommeln gebaut; auf seinem Wipfel wohnt die höchste Gottheit. In ihm finden sich Nester, in denen die Seelen zukünftiger Schamanen ausgebrütet werden.

Zur Auffahrt ins himmlische Reich dient dem Schamanen die Trommel als Gefährt; »Die Trommel ist unser Pferd«, sagen die Jakuten. »Der Rhythmus der Trommel trägt den Schamanen aus der Unterwelt, durch die Wurzeln des Weltenbaums, den Baumstamm hinaus, der die mittlere Welt oder die irdische Ebene durchstößt, und schließlich bis hin zur herrlichen Spitze des Heiligen Baums, dessen Krone den leuchtenden Himmel umspannt.«11

Für die Jakuten stand der kosmische Baum am »goldenen Nabel der Welt«. Hier befand sich eine Art Urparadies, in dem der erste Mensch geboren wurde; der wird von der Milch einer Frau ernährt, die zur Hälfte aus dem Baum herausragt. Diese Vorstellung vom Paradies, vom Land, wo Milch und Honig fließen, kann schwerlich von den Jakuten im kalten Sibirien entwickelt worden sein. »Die Prototypen finden sich im Orient, in Indien (wo Yama, der erste Mensch, neben einem Wunderbaum mit den Göttern trinkt) und Iran (Yima teilt auf dem kosmischen Berg Menschen und Tieren die Unsterblichkeit mit).«12

In der jüdischen Tradition sehen die Kabbalisten in der Schöpfung ein Spiegelbild des ordnenden Gottes, auch sie verwendeten als Sinnbild den umgekehrten Baum, um diese Ordnung deutlich zu machen. »Denn wie der Same den Baum enthält und der Baum den Samen, so enthält die verborgene Welt Gottes die gesamte Schöpfung, und die Schöpfung ist umgekehrt eine Offenbarung der verborgenen Welt Gottes.«13

Das Kreuz als Weltenbaum

Nach dem Vordringen des Christentums in den germanischen Raum beginnen heidnische und christliche Vorstellungen vom Kosmos sich zu überschneiden. J. Börgy14 beschreibt Steinkreuze auf der Insel Man aus dem 10. Jahrhundert, auf denen das Kreuz mit Ranken gefüllt und mit Tieren gerahmt dargestellt ist. Solche Darstellungen erinnern an die Weltesche Yggdrasil; sie machen deutlich, wie heidnisches Gedankengut vom Christentum adaptiert wurde.

Ursprünglich hatten die Kirchenoberen versucht, die heidnischen Vorstellungen von dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, aus den Köpfen der Zwangskonvertierten mit Gewalt auszutreiben. Da dieses Vorgehen wenig Erfolg hatte, mußte die Kirche den Weg der Assimilation beschreiten. Das Ergebnis stellt sich dann in den Augen der Sieger so dar: »Yggdrasil ist schon lange verdorrt. Die Weltenesche starb nicht am Hasse des Drachens und an der Bosheit des Eichhorns, sondern wurde überwachsen vom Kreuz, das nicht nur die Einheit der Welt bedeutet, sondern die Wahrheit und Wirklichkeit Himmel und Erde verbindet, weil an ihm der Mensch gewordene Sohn den Vater im Heiligen Geist mit dem Menschen und aller gefallenen Kreatur versöhnt hat.«15

Jahrhunderte lang dauerte der Kampf der Christen gegen Bäume und Wälder an, um den Mythos der Wildnis, die im Wald verkörpert war, zu zerstören. Die Seelen der Heiden hingen aber hartnäckig an der Verehrung der Bäume und heiligen Haine. Tacitus schildert in seiner »Germania« die Bräuche der Semnonen:

»Zu bestimmten Zeiten treffen sich sämtliche Stämme desselben Geblüts, durch Abgesandte vertreten, in einem Haine, der durch die von den Vätern geschauten Vorzeichen und durch uralte Scheu geheiligt ist. Dort leiten sie mit öffentlichen Menschenopfern die schauderhafte Feier ihres rohen Brauches ein. Dem Hain wird auch sonst Verehrung bezeugt: niemand betritt ihn, es sei denn gefesselt, um seine Unterwürfigkeit und die Macht der Gottheit zu bekunden. Fällt jemand hin, so darf er sich nicht aufheben lassen oder selbst aufstehen; auf dem Erdboden wälzt er sich hinaus. Insgesamt gründet sich der Kultbrauch auf den Glauben, daß von dort der Stamm sich herleitet, dort die allerbeherrschende Gottheit wohne, der alles andere unterworfen sei.«

Zahlreiche Konzilien der katholischen Kirche beschäftigten sich mit der Baumverehrung der Germanen. Auf dem Konzil von Nantes (658/59) wurde kategorisch gefordert: »Mit größtem Eifer sollen die Bischöfe und ihre Diener bis zum Letzten darum kämpfen, daß die Bäume, die Dämonen geweiht sind und die das Volk verehrt, ja in solcher Verehrung hält, daß es nicht einmal wagt, einen Zweig oder Reis abzuschneiden, mit der Wurzel auszuhauen und verbrannt werden.« Die Bischöfe befolgten diesen Befehl so getreu, daß sich ein schreiender Widerspruch auftun mußte zwischen dem, was die Kirche als Erhalterin der Schöpfung Gottes postulierte und dem, was sie gegen die germanischen Wälder unternahmen.

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