Robert Fleck
Von allen Sinnen
Wahrnehmung in der Kunst
Edition Konturen
Wien · Hamburg
Bildnachweis
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Bild 4 © Evgen Bavčar Courtesy Galerie Esther Woerdehoff, Paris
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Bild 7 © Estate of James Lee Byars, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York
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Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber.
Umschlagbild: © Evgen Bavčar Courtesy Galerie Esther Woerdehoff, Paris
Layout: Mediendesign, 1020 Wien
Lektorat: Christa Hanten
ISBN 978-3-902968-18-0
„Die Malerei ist eine stumme Poesie,
Die Dichtung ist eine blinde Malerei.“
Leonardo da Vinci
Ein Ausstellungsprojekt mit zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern steht am Ursprung dieses Buches. Unter dem Arbeitstitel „Éclipse“ (Sonnenfinsternis) plante das Grand Palais in Paris eine umfassende Schau zur Blindheit, zum Sehen und Nichtsehen, als unerkanntem Thema der bildenden Kunst. Die Ausstellung sollte von Oktober 2015 bis Februar 2016 stattfinden. Sie scheiterte ein Jahr vor ihrer geplanten Eröffnung am Konflikt mit einem Behindertenverein.
Nahezu alle beteiligten Künstler, darunter Weltstars wie Olafur Eliasson und Rosemarie Trockel, hatten auf das Thema „Blindheit / Sehen / Nichtsehen“ enthusiastisch reagiert und dazu neue Werke und multisensorielle Raumgestaltungen geplant. „Endlich einmal geht es um eine wichtige Frage und nicht bloß um die Einladung zu einer Biennale“, meinte ein Teilnehmer. Mit Künstlern, deren Werk selbst aus einer Dysfunktion von Sinnesorganen hervorgeht wie beim Street Artist „The Blind“, ergaben sich in diesem Zusammenhang mitreißende Gespräche. Es ging nicht mehr bloß um Sehen und Nichtsehen, sondern um alle Sinne, um Hören, Riechen, Tasten usw. Die Künstler der Gegenwart haben unterschiedliche Formen entwickelt, um in ihren Werken die Sinne jenseits der visuellen Wahrnehmung allesamt oder einzeln anzusprechen. Die neuen Umweltreize und technisch-medizinischen Innovationen der Gegenwart stellen unabsehbare Herausforderungen an den Wahrnehmungsapparat und den Umgang mit der Außenwelt, auf den die Künstler unserer Zeit viel gezielter antworten, als man meint.
Als das Ausstellungsvorhaben im Grand Palais sich verflüchtigte, war der Prozess so weit fortgeschritten, das unerwartete Thema so spannend geworden, dass man es nur fortsetzen konnte, mit einer Vorlesung an der Kunstakademie Düsseldorf im Wintersemester 2014/15 und mit diesem Buch. Betrachtet man die Geschichte der bildenden Kunst erst einmal von diesem Gesichtspunkt, aus der Vielfalt und dem Zusammenwirken aller Sinnesorgane bei jedem Werk, ohne das traditionelle Privileg der Augen, entstehen neue Bezüge zwischen unterschiedlichen Ausdrucksformen und Epochen, von der griechischen Antike bis zur Gegenwart, und im Werk der einzelnen Künstler. Wenn man die bildende Kunst seit ihren Anfängen als eine Welt „mit allen Sinnen“ beschreibt, will die Kunstgeschichte gleichsam neu geschrieben werden. Der nachfolgende Essay ist dazu ein bescheidener Entwurf.
Mein besonderer Dank gilt Jean-Paul Cluzel, Präsident der Réunion des musées nationaux – Grand Palais von 2008 bis 2016, für den Auftrag, die Ausstellung „Éclipse“ zu kuratieren, unserem damaligen Team, Laurent Salomé und Sibylle Roquebert, den nachfolgend genannten zeitgenössischen Künstlern für die Gespräche während der Entstehung des Buches, sowie zahlreichen Kollegen für Hinweise und Relektüren.
Bei der Biennale von Venedig des Sommers 2001 fanden sich die Besucher des deutschen Pavillons gleich nach dem Eingang vor einer blinden Wand aus zusammengefügten Holzteilen eines älteren Einfamilienhauses. Man wurde nach links umgeleitet, in verschachtelte Räume aus engen Korridoren, die aus weiteren hölzernen Elementen, Türen, Möbelteilen und Fragmenten von Mauerwerk bestanden. Offensichtlich hatte der Künstler ein Wohnhaus zerlegt und in einen Irrgarten verwandelt, der das Innere des deutschen Pavillons einnahm.
Obwohl so gut wie nichts zu sehen war, empfing der Besucher ab den ersten Metern intensive Sinneseindrücke. Die räumliche Collage aus wiederverwendeten Türen, Schrankflächen und Gebäudeteilen war so gestaltet, dass ihre Visualität weniger ausgeprägt war als bei einer einfachen weißen Wand. Der Secondhand-Charakter und die vom kleinbürgerlichen Wohnen der Nachkriegszeit zeugende Farbigkeit senkten die optischen Reize unter ihren aus dem Alltag bekannten Normalzustand. „Il n’y a rien à voir“ (Es ist nichts zu sehen) sagen französische Polizisten, um Schaulustige von einem Unfallort zu vertreiben. In Gregor Schneiders Installation „Totes Haus u r“ blieb die augenscheinliche Wahrnehmung angesichts einer banalen Abfolge verwaschener Anstriche gleichsam neutral. Vom Besuch der begehbaren Skulptur, die den Goldenen Löwen für den besten Nationalpavillon dieser Biennale erhielt, blieben viele Sinneseindrücke im Gedächtnis, aber so gut wie kein optisches Bild.
Dies hatte der Künstler auch beabsichtigt. Umso stärker entfalteten sich die olfaktorischen Reize, mit dem vergammelten Geruch, der abgestandenen, feuchten, nicht benutzten Räumen eignet. Hinzu kam ein vielfältiges haptisches und akustisches Erlebnis. Da jedermann ein wenig verloren war, verständigten sich die Besucher durch Rufe. Das Gehen auf den unebenen Bodenflächen der Korridore wurde zum tastenden Erlebnis. Die Erkundung des Labyrinths in der Reihe aufeinander folgender Ausstellungsbesucher schuf eine Art Ritual. Durch die räumliche Enge entstand eine intensive körperliche Raumwahrnehmung an der Grenze zur Klaustrophobie.
Nach und nach überwog der Tastsinn, wenn man eine treppenartig angeordnete Materialanhäufung überwand oder sich mit den Händen am Material, das der Künstler verwendet hatte, hochzog, um am Ende eines vertikalen Schachts das Tageslicht zu erreichen. Hier ergab sich ein primär optisches Signal mit dem Ausblick von oben auf die komplexe Konstruktion, die der Künstler im Pavillon errichtet hatte. Erst hier war etwas „zu sehen“, nach zehn Minuten einer durch das Tasten, Riechen und Hören gesteuerten Orientierung. Allerdings war es bloß die Rückseite der Konstruktion, die dieses Raumgeflecht ergab. Dann ging es wieder zurück in das Labyrinth reduzierter Visualität, in dem die körperliche Raumwahrnehmung, der Geruchssinn und der Tastsinn intensiv gefordert waren, sodass ein tranceartiger Zustand jenseits der gewöhnlichen Zeitvorstellung entstand.
„Totes Haus u r“ von Gregor Schneider war die beeindruckendste Arbeit auf der Biennale von Venedig 2001. Die subtilen taktilen, olfaktorischen und auditiven Momente waren das Erlebnis an sich. Beim Versuch, sich im unüberschaubaren Geflecht der korridorartigen Räume zu orientieren, stellte sich das Sehen gleichsam auf Stand-by. Die Geräusche beim Gehen, die Stimmen der Besucher, ihr Atem usw. ergaben eine „Tonspur“, die in den Vordergrund trat. Das Raumgeflecht löste gleichwohl keine Angstgefühle aus. Es war so gestaltet, dass es ständig neugierig machte auf die verschobene Welt der Sinneseindrücke, die sich hier darbot. Erst am Ausgang des Pavillons stellte sich die Umwelt erneut als vornehmlich visuelle Erfahrung dar. Das „Tote Haus u r“ blieb als gleichsam blind ausgeführte Traumhandlung im Gedächtnis, in der der Sehsinn bloß eine Krücke der anderen Sinne war.
Gregor Schneiders Skulptur zeigt, welche Reichhaltigkeit der Sinne sich eröffnet, sobald ihre geläufige Hierarchie verunsichert wird. Dazu bedurfte es einer bewussten Formhandlung des Künstlers. Er schuf eine Raumflucht, die, ohne es groß anzukündigen, das Sehen gleichsam entwaffnete.
Schneider hatte die taktilen, olfaktorischen und auditiven Effekte seiner Raumskulptur jedoch nicht kalkuliert. Sie gingen gleichsam von selbst aus seinem beständigen Unterfangen hervor, sich Raum als solchen so intensiv wie möglich anzuverwandeln. Damit hatte der Künstler bereits 1985, im Alter von 16 Jahren, im elterlichen Haus in der Unterheydener Straße in Mönchengladbach-Rheydt begonnen. Er fing damals an, Wände, Türen und Möbel neu zu verwenden, Mauern zu verdoppeln und zu verdreifachen, Zimmer in Gänge zu verwandeln usw. Auch im deutschen Pavillon der venezianischen Biennale von 2001 hatte man den Eindruck, dass man in das Haus eines Menschen geraten sei, der einem beständigen Umbauen der eigenen Behausung verfallen ist und Stimmungen und ein Sich-Bewegen in der Architektur hervorbringt, in denen das Zusammenspiel der Sinneseindrücke entregelt ist. Ohne jedes medizinische oder technologische Hilfsmittel hatte Gregor Schneider für die mehr als 200.000 Besucher der Biennale eine erweiterte Wahrnehmung geschaffen.1
Das Beispiel zeigt, welches ungeahnte Reich sich eröffnet, wenn die bildende Kunst die anderen Sinne ebenso innovativ fordert wie die visuelle Wahrnehmung. Die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bildet in dieser Hinsicht ein außergewöhnliches Experimentierfeld. Der Tastsinn, die körperliche Raumwahrnehmung, der Geruchssinn und die Verbindung von Hören und Sehen spielen in der Klassischen Moderne und der Kunst der Gegenwart eine erstrangige Rolle. Zugleich entspringen diese Bezüge der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Medien und Ausdrucksmittel, sodass Malerei, Skulptur, Fotografie und Videokunst jeweils einen anderen Umgang mit den Sinnen erlauben. Angesichts der digitalen Revolution mit ihrer Umwälzung des Verhältnisses der Sinne untereinander und in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit ist dieser Erfahrungsschatz ganz besonders lehrreich.
Im analytischen Kubismus erfanden Georges Braque und Pablo Picasso bereits 1908 das haptische Zugreifen des Auges auf zweidimensionale Bilder, die skulpturale Sachverhalte wiedergeben.
Fast gleichzeitig betrieben die Futuristen in Italien und im zaristischen Russland die Verschmelzung von Raumkunst und Musik, während Wassily Kandinsky und Paul Klee, die aufgrund ihrer synästhetischen Veranlagung zu den Farben innerlich Töne hörten, in München eine auf Klangfarben beruhende Malerei schufen.2 Anschließend propagierten die Surrealisten das Ineinanderfließen aller Sinne im Traumbild als geistigen Ort des modernen Menschen.
Ging bereits die Klassische Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einem Dialog der Sinne hervor, so wurde dieser in der zweiten Hälfte von der Avantgardekunst, der postmodernen Kunst und der Kunst der Gegenwart beständig aufgegriffen, anverwandelt und ausgebaut. Die Kunstgeschichtsschreibung ist sich dieser Aspekte bis heute nicht in vollem Maße bewusst. Die Thematik der Sinne und ihrer experimentellen Behandlung ist aus der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken. Salvador Dalí ging es darum, das Sehen so zu steuern, dass es das Tasten, Riechen und Hören auslöst und reflexiv begreifbar macht. Dem stehen die bewusst „blinden“ Bilder von Piet Mondrian, Yves Klein und Pierre Soulages gegenüber, die zu anderen Formen der Wahrnehmung öffnen: zum rein optischen Sehen bei Mondrian, zur Erfahrung eines universellen Raumes bei Yves Klein, der seine aus einem einzigen Ton bestehende „Symphonie monoton“ (1947–48) während der öffentlichen Ausführung seiner „Anthropometrien“ von einem Kammerorchester aufführen ließ, und zur unmittelbaren Wahrnehmung von Licht und Zeit bei Soulages.
In der Kunst der Gegenwart ist die Multisensualität der Werke geradezu ein Formmodell. Bereits auf der Biennale von Venedig 2001 waren zahlreiche audiovisuelle Kunstwerke auf digitaler Grundlage zu sehen. Diese Werke aus bewegten Bildern mit einer frei dazu verlaufenden Tonspur, die per Videoprojektion und hochwertigen Lautsprechern im Ausstellungsraum vorgeführt werden, bringen seither in den Biennalen und Großausstellungen ebenso neue Verbindungen der Sinneswahrnehmung hervor wie in den ersten Ausstellungen der radikalen Moderne vor hundert Jahren. In der aktuelle Videokunst ist das Hören ebenso gefordert wie das Sehen, ihm nicht untergeordnet, sondern als unabhängiger und eigenständiger Sinnesträger „copräsent“.3
Hören und Sehen sind zueinander autonom. In den Videosälen der großen Ausstellungen spielen zudem der Atem und die Präsenz der anderen Besucher eine olfaktorische und taktile Rolle, die man gleichfalls im Kopf nach Hause trägt.
Gregor Schneiders „Totes Haus u r“ von 2001 ist ein gutes Beispiel für den Laborcharakter der bildenden Kunst gegenüber unserem Wahrnehmungsvermögen. Paul Klees berühmter Satz aus seinem Jenaer Vortrag von 1924 – „nicht nur Gesehenes mehr oder weniger temperamentvoll wiedergeben, sondern geheim Erschautes sichtbar machen“4 – zeigt, dass es in der Malerei auch darum geht, Kräfte, Räume, Farben und bisweilen die Zeit zu zeigen, also Phänomene, die für gewöhnlich außer Reichweite unserer Sinne liegen. In Klees Bildern nimmt man Dinge wahr, die bloß in diesem Werk sinnlich erfassbar sind. In der außerkünstlerischen Wirklichkeit müsste man komplizierte wissenschaftlich-technische Instrumente wie Elektronenmikroskope in Verbindung mit extremen Zeitrafferaufnahmen als Prothesen für den eigenen Sinnesapparat einsetzen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen.
Bei Schneider wie bei Klee erlaubt die Kunst einen Testlauf an Wahrnehmungsformen, die für den Betrachter unerhört neu sind und ihn an die Grenze des für ihn Vorstellbaren führen. Die Entwicklungsgeschichte der Malerei und der anderen künstlerischen Medien kann als eine beständige Abfolge sinnlicher Grenzerfahrungen gelesen werden, die in den unterschiedlichen Kulturen dem Wahrnehmungsvermögen ständig neue Register hinzufügen, und zwar gleichzeitig oder zeitverschoben zur Entwicklung der Wahrnehmungsformen in der jeweiligen Gesellschaft.
Diese ändern sich gegenwärtig mit der Entwicklung neuer digitaler Prothesen, die ein potenzieller Ersatz für Sinnesorgane sind. Aktuell wird erstmals der alte Menschheitstraum wahr, dass vollständig blinde Menschen ohne Restwahrnehmung in den Augen durch kleine elektronische Apparate, die Verbindungen mit dem Nervensystem eingehen, die gleichen Bilder im Kopf haben wie Menschen ohne visuelle Defizienz. Bereits in der westeuropäischen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete die Frage, wie man die Blindheit abschaffen könne, einen wesentlichen Diskussionspunkt.5
Mit der digitalen Revolution unserer Zeit ist diese Utopie der Aufklärung handgreifliche Wirklichkeit geworden. Der technisch-medizinische Fortschritt stellt die entsprechenden Lösungsmöglichkeiten auch für Gehörlose bereit, für Taubstumme usw. Selbstverständlich sind Prothesen so alt wie die Menschheit. Der Stab und andere Werkzeuge sind Verlängerungen des Tastsinns, gesteuert unter Mithilfe des Sehens. Das Holzbein war ein partieller Ersatz für einen Körperteil. Nun jedoch erhalten die Prothesen eine neue Qualität. Es wird möglich, zu hören, ohne ein funktionierendes Gehör zu besitzen, und zu sehen, ohne Augen zu haben. Die digital gesteuerten Prothesen erlauben den vollgültigen Organersatz, jenseits der Methode der Transplantation einzelner Organe von einem Körper zum anderen, allerdings auf Grundlage einer Bildschirmtechnik. Eine neue Welt der Sinne tut sich auf, die die Aufklärer des 18. Jahrhunderts und die modernen Künstler des 20. Jahrhunderts möglicherweise erahnten, während wir sie heute erleben.
Die Aktualität des Surrealismus in der gegenwärtigen Situation ergibt sich aus dem Umstand, dass die sich abzeichnende neue Wahrnehmungswelt des digitalen Zeitalters in verblüffender Weise einigen von den Surrealisten ausgebildeten Visionen gleicht: gleichzeitiger Umgang mit mehreren Bildebenen in das Unbewusste und den Traum, „automatisches Schreiben“ sowie die Verbindung von Wirklichkeit und „augmented reality“, die durch digitale Informationsmedien zur Alltagserfahrung wird.
Die Surrealisten verliehen als erste einer Welt eine anschauliche Gestalt, in der jedes Bild und jedes Objekt über lange Zeit virtuell und unbeschränkt verwandelbar bleibt. Auch die Verdrängung der augenscheinlichen Wirklichkeit durch ihre Simulation auf den Bildschirmen, die heute Kategorien der Wahrnehmung so nachdrücklich verschiebt wie nicht mehr seit der Erfindung des Buchdrucks und der Grafik um 1500, findet sich im Surrealismus erstmals antizipiert.
Der von der medizinisch-technischen Entwicklung bereitgestellte Organersatz in den perzeptiven Sinnen und die radikale Veränderung des Wirklichkeitsbegriffs mit der digitalen Revolution bilden nur die Spitze des Eisbergs einer ungeheuren Verwandlung der Wahrnehmung in unserer Gegenwart. Digitale Implantate in den Augen und Ohren, in der Medizin als technikgestützte Beseitigung von Behinderungen entwickelt, lassen sich auch als neuer Zugang zu künstlerischen Wahrnehmungen verwenden, was ein neues Kapitel der Kunst bedeutet. Die zunächst belächelten Versuche von bildenden Künstlern und Musikern aus den 1970er-Jahren, durch Gehirnströme und ihre Messung zu komponieren und Bilder zu gestalten, wie in der „Biomusik“ des Pianisten JB Floyd und des Ingenieurs David Rosenboom, werden plötzlich technisch möglich.6
Überblickt man die bildende Kunst der letzten Jahrzehnte anhand dieser Fragestellungen, zeichnen sich zahlreiche Künstler ab, die mit diesen neuen Formen der Wahrnehmung Schritt für Schritt experimentieren, meist ohne eine besondere Technologie einzusetzen.
Die Einzelausstellung von Rosemarie Trockel im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig 1999 aus großformatig projizierten, schwarz-weißen Videofilmen mit langsamen Abläufen, die man auf weichen Liegen im Raum wahrnahm, machte den fiktiven Charakter der Bildschirme und die neue Subjektivität, die mit ihm entsteht, erfahrbar. Gleichfalls in den 1990er-Jahren hat der auf Kuba geborene Künstler Félix González-Torres, aus den „strengen“ Traditionen der Konzeptkunst und der Minimal Art kommend, eine neue Sensibilität des Haptischen und der virtuellen Form in die Kunst eingebracht, die seither für mehrere Generationen Schule macht. Seine Werke laden die Besucher ein, ihre Einzelteile (Bonbons, Grafiken usw.) aufzuheben und als Geschenk des Künstlers mitzunehmen, worauf sie vom Museum nachgelegt werden und sich die Gestalt der Skulpturen ständig wandelt.
Zu den Initiatoren der auf die neuen Wahrnehmungsspektren des 21. Jahrhunderts fokussierten Kunst zählt auch Matthew Barney. Bereits auf der „documenta 9“ in Kassel 1992 sprengte die Akrobatik des Künstlers, in jenem Raum am Rande einer Tiefgarage gefilmt, in dem sich anschließend die Ausstellungsbesucher aufhielten, den Rahmen der Videomonitore, auf der sie sich vor Ort wiedergegeben fand. Seither entwickelte Matthew Barney mit der Digitaltechnik, die 1992 noch nicht zur Verfügung stand, wie kein anderer Künstler ein bildnerisches und filmisches Werk, das die genetische Manipulation und die Faktizität der Bildschirmwelt in der Gegenwart thematisiert. Carsten Höller war zunächst ein sehr talentierter Grundlagenforscher in der Genbiologie, bevor er mit Arbeiten, die ausschließlich die Geruchsempfindung des Publikums ansprachen, zur bildenden Kunst überwechselte. Seither erarbeitete er ein wie bei Barney bereits weitgehend von den Formen der Kunst des 20. Jahrhunderts emanzipiertes Werk, das jeweils mit Grenzerfahrungen des Tastsinns, des Geruchssinns und des Sehens umgeht. Das Experimentieren neuer Wahrnehmungsformen betreibt er ebenso frei wie Kandinsky und Klee, wobei man Lichtjahre vom Formenrepertoire der Kunst des 20. Jahrhunderts entfernt scheint. „Hypothèse de grue“, eine in visueller Hinsicht im Sinne eines „unsichtbaren Objekts“ neutrale Skulptur von 2013, in Zusammenarbeit mit dem Architekten François Roche entstanden, stößt regelmäßig weißen Rauch aus, der den Ausstellungsraum erfüllt und jedem Besucher das Gefühl vermittelt, jemand im gleichen Raum sei in ihn bzw. sie verliebt. Wie bei Gregor Schneider geht es dem Künstler nicht um einen Jahrmarktstrick mit überraschenden Wahrnehmungen, sondern um die Antizipation kommender Erfahrungswelten wie der psychischen Manipulation durch olfaktorische und haptische Welten, wobei er neueste Möglichkeiten der Gentechnik und digitaler Steuerung einsetzt. Diese Fragen spielen in der Kunst des frühen 21. Jahrhunderts eine eminente Rolle.
Die aktuellen Entwicklungen der Fotografie, der Videokunst, der Malerei und der Skulptur sind ohne die Antizipationen der Wahrnehmungsformen des digitalen Zeitalters kaum verständlich.
In diesem Zusammenhang erscheint der Aufstieg von Louise Bourgeois und Maria Lassnig, zweier auf unterschiedliche Weise unabhängigen Nachfolgerinnen des Surrealismus, zu Referenzgestalten der aktuellen Kunst seit 1990 in einem neuen Licht. In ihrem Alterswerk umspielten sie in besonders freier Weise diese neue Wahrnehmungswelt, wobei das selbstironisch gemilderte Rekurrieren auf die eigene Körpererfahrung, die trotz ihrer fiktionellen und gleichsam virtuellen Erscheinung für den Betrachter physisch erfahrbar wird, eine vertrauensvolle Beziehung zu einer sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit aufrechterhält.
Ein Vorteil der bildenden Kunst gegenüber vielen anderen Formen des Wissens besteht angesichts dieser Fragestellungen darin, stets auch eine Logik der Sinneswahrnehmung zu formulieren, die sich in einem beständigen historischen Wandel befindet.7 Zudem geht die bildende Kunst aktiv mit neuen Formen der Sinneswahrnehmung um, selbstreflektiv und antizipierend. Aus der praktischen Erprobung anderer Bereiche der sinnlichen Erfahrung entstehen neue Begriffe und Vorstellungen von Sinn und Schönheit, die der Kunst ihre Daseinsberechtigung geben.