J.B. Cool und der König von Bremen
An diesem Morgen zeigte die Hansestadt, was sie aus einem normalen Frühlingstag machen konnte: es regnete. Mein Assistent Theo Zenker schlief seinen irischen Rausch aus und auch ich döste dämmrig vor mich hin. Die letzte Wasserpfeife mit kolumbianischem Gold war wohl too much gewesen. O sweet Mary Jane, wann lerne ich endlich, mit Drogen umzugehen.
Ich traute meinen Augen kaum, als die schwächliche Bürotür aufgestoßen wurde und die Bürgerschaft im Raum stand. Nicht ein Bürgerschaftler, nicht drei, nicht zehn, sondern alle. Nebeneinander, untereinander, durcheinander, übereinander. Sie quasselten und quasselten und ich dachte schon, sie wollten ihre Sitzungen demnächst in meinem Büro abhalten, wo sich frühes Hertie mit spätem Ikea zu einem einzigartigen innenarchitektonischen Ensemble vermischt.
»Ruhe«, brüllte ich.
Aber wer hört schon auf einen einzelnen Bürger?
Das Telefon klingelte.
»J.B. Cool, wen darf ich für Sie beschatten?«
Ja, Herr Bundeskanzler, nein, Herr Bundeskanzler, doch, doch, Herr Bundeskanzler … (Seien Sie ehrlich, Sie denken immer noch an Kohl, aber der war zu diesem Zeitpunkt schon lange weggepustet!) – am anderen Ende der Leitung war Theo und bat sich Ruhe aus – wir spielen manchmal dieses Spiel, um unsere Kunden zu beeindrucken.
Langsam wurde die Quasselbude still.
»Und was wollen Sie von mir?« fragte ich eindringlich wie Aspirin.
Sofort hob wieder dieses Tohuwabohu an, ganz unbiblisch.
Ich verstand soviel: der beste Detektiv der Hansestadt, die Weser wieder zurückgeholt, herausgefunden, warum Werder so mies spielt, das verlorene Schwein der Spezialdemokraten wiedergefunden, Graf Draculas letztes Eßbesteck aufgestöbert – alle meine Großtaten hatten sie parat – als sollte ich durch Schmeichelei um meine Gage gebracht werden.
Leider reagiere ich auf Schmeichelei mit Versagen. Blöd, nich?
Ganz kleinlaut wurde ich, um nicht zu sagen, verzagt, oder noch ganz anders, unterwürfig, die Fußsohlen schleckend.
Sie spürten ihre kleine Macht.
»Finden Sie heraus, wo sich die Wählerstimmen versteckt halten?«
»Wie?«
»Wo sind sie?«
»Wer?«
»Die Stimmen.«
»Welche?«
»Der Wähler?«
Toll, was für ein Genetiv, hätte von Handke sein können. Nun hatten wir den schnellsten Teil des Dialogs hinter uns und ich stand dümmer als Oslebshausen da.
Nach rund drei Stunden hatte ich herausgefunden, mühselig, mühheilig, was die ratlosen Bürgerschaftler von mir wollten. Sie waren alle scharf auf die fünfzig Prozent, nein, nicht Erhöhung der Diäten, auch nicht Erhöhung der Sitzungspauschalen, nein, die fünfzig Prozent der Nichtwählerstimmen.
Die Mehrheit schweigt, dachte ich, ganz historisch – nur eben aktueller als damals angenommen. Die größte Partei wählte nicht mehr mit.
Nun war guter Rat teuer.
Aber die Kassen der Hansestadt leer.
»Schaffen Sie es, daß die auch wieder zur Wahl gehen, Mister Cool!« Der Bürgerschaftspräsident sprach meinen Namen auf deutsch aus, was ich für eine unerträgliche Verunglimpfung halte.
Als sie endlich mein Büro verlassen hatten, wußte ich nur eins: Die Aufgabe war so schwierig wie gedacht.
Ich hätte ihnen natürlich einen Vortrag halten können, Oberseminar in Politik bei Prof. Theodor Eschenburg: über die drei Grundpfeiler der Demokratie. Erstens Partizipation der Bürger, zweitens Partizipation der Bürger, drittens Partizipation der Bürger. Aber wollten sie das hören? Und kann ich überhaupt Vorträge halten? Und wenn, in welcher Dialektik?
Theo kam rein und roch den Braten. Das heißt, erst roch er den Mief der letzten Kundschaft.
»Kannst du nicht mal das Fenster öffnen, J.B. – Hier muß kräftig durchgelüftet werden.«
Dann erzählte ich ihm von meinen Besuchern und dem Auftrag der Parlamentarier.
»Schöne Scheiße, J.B. – und du hast wirklich akzeptiert?«
»Sie waren in der Überzahl.«
»Für so wenig Geld?«
»Mehr ist nicht da!«
»Nachher sollst du noch herausfinden, warum die ihren Wählerauftrag nicht erfüllen.«
Peng, da war es nun gesagt. Grüner als der Bismarck vor dem Dom.
Theo Zenker hatte eine Idee, aber wie immer verriet er sie nicht.
Ich ging in mich und kam die nächsten vierzehn Tage nicht wieder heraus.
Die Fragen blieben an mir haften wie altes Kaugummi: Wo sind sie hin die Stimmen? An welchem Ort kann man sie noch hören? Will ihnen überhaupt jemand lauschen?
Mal wieder sollte ich die ganze Hansestadt schultern. Wie damals der Atlas.
Ob das nicht zuviel für mich war?
Kurz vor dem Ende eines fast demokratischen Jahrhunderts diese Blamage, na gut, die tausend Jahre dazwischen nicht eingerechnet, mal abgesehen von der Ära meines leider, leider Namensvetters, der unter Demokratie Telefonieren verstand. Sein eigenes Telefonbuch war dicker als der Hunsrück.
Kaum hatte ich einen Faden meines Denkprozesses aufgerippelt, stand ein Mann in meinem Büro, ein Kerl von so riesenschnauzerhaften Ausmaßen, daß ich sogleich wußte, der beißt erst und fragt dann.
»Mr. Cool, Sie müssen mir helfen!«
Das sah ich.
»Mr. Cool, ich sitze in der Scheiße.«
Das roch ich.
»Mr. Cool, übernehmen Sie meinen Fall?«
Das verneinte ich.
Nachdem ich erfahren hatte, was der Riese von mir wollte. Am letzten Tag des Jahrtausends hatte er seine Machtübernahme in der Hansestadt geplant. Sollte ganz unblutig vonstatten gehen. Mit Hilfe einer Hundertschaft von mutwilligen Anhängern wollte er das große Fest auf dem Marktplatz zu einer Wahlversammlung umfunktionieren und sich zum neuen König von Bremen krönen lassen. Endlich wieder eine Monarchie.
Nach dem demokratischen Jahrhundert (naja, seien Sie doch nicht so kleinlich) sollte nun wieder ein monarchisches kommen.
Warum auch nicht? Hatte nicht Wittgenstein gesagt: wer mitreden will, muß auch mitfühlen. Oder war das Jünger?
Leider waren dem kommenden King die Pläne aus dem Safe geklaut worden, so daß die Sache vorzeitig aufzufliegen drohte. Es wird ja keiner König, der es vorher sagt. Gerade im Reich des Gegenteils …
Ich sollte nun herausfinden, wer ihm diesen bösen Streich gespielt hatte. Die Bestrafung wollte er dann schon eigenhändig vornehmen. Ohr abbeißen, Nase abreißen, Finger zerspleißen, oder was die vorgesehenen alttestamentarischen Genüsse sonst waren.
»Und was wäre Ihnen die Auffindung des Täters wert?«
»Eine feste Stelle bei Hofe.«
»Auch für Theo, meinen Assistenzkoch?«
»Wenn er nicht dauernd was anbrennen läßt, warum nicht?«
»Und ein Dienstzimmer?«
»Selbstverständlich.«
»Luxusfahrrad?«
»Ist im Etat schon eingeplant.«
Ich wußte, daß der Kerl log. Denn der Bürgermeister hatte schon früh seinen Wahlspruch ausgegeben: Der Etat bin ich. Aber reizvoll war die Aufgabe doch. Ich ließ mir noch zusagen, daß ich einen kleinen Harem unterhalten durfte, jeden Tag sieben Brösel schwarzen Afghan ad usum proprium, sowie eine Scheibe Lachs und achtzig Gramm Beluga erhielt, dann war ich überzeugt.
Manche tun es schon für sehr viel weniger.
»Theo«, rief ich in die Kochkombüse, »wir haben einen Auftrag, der auch dir im nächsten Jahrtausend einen festen Arbeitsplatz sichert, und das in diesen lausigen Zeiten.« Ich erklärte ihm, daß er sofort mit der Suche nach den Plänen und dem Übeltäter beginnen sollte.
»Immer ich«, kam seine Standardmotze.
Aber er trollte sich.
Endlich allein.
Ich träumte von einem royalen Joint in einem royalen Rolls mit einer royalen Rheinländerin … wäre das nicht die Lösung für alle Probleme. Oder wenigstens für meine.
Eine nicht ganz rauschgiftfreie Überlegung durchfuhr meine Gehirnzellen. Denkgestürm.
Die Entwicklung geht wieder rückwärts. Ab dem Jahr 2000: erst die Monarchie und die Feudalgesellschaft, dann die Sklavenhaltergesellschaft, die Stammesherrschaftereien bis zum Homo Sapiens. Affe, Amöbe, Aus. Ein implodierender Urknall. Finito.
Nix 2001. Oder 2022. Oder 3001, Mister Arthur C. Clarke. Nein, schön brav wieder ins neunzehnte Jahrhundert zurückgeeilt.
Millenium als Kehrtwende. Rolle rückwärts. Um irgendwann wieder bei Null anzukommen. Null Null. Was für Möglichkeiten? Geschichte andersrum. Wir Nachgeborenen wüßten immer schon, was kommt. Luxemburg und Liebknecht, herrlich. Übermorgen steigt Heine aus dem Grab und singt seine depressiven Nachtgesänge. Irgendwann taucht olle Napoleon auf, verläßt die Insel St. Helena. Unter dem Fallbeil wachsen ein paar Köpfe an. Wie schön wäre es zuzuschauen, wie die Pyramiden Stein für Stein abgetragen werden, natürlich von Hand. Alles rückwärts. Die Menschheit räumt den ganzen Scheiß weg, den sie angestellt hat, macht sauber, hinterläßt nicht einen dunklen Fleck auf dem Planeten, verschwindet aus der eigenen Geschichte. Ohne Sang und ohne Klang. Mitten in meinem retro-philosophischen Tractatus kam Theo herein. Ein herber Raptus interruptus.
Er war völlig außer Beherrschung.
»J.B., alle wollen es.«
»Was?«
»Das!«
»Was denn nur?«
»Das Königreich.«
Ich dachte, ich träum’ von einem Pferd. Theo hatte sich mal kurz umgehört. So ganz unverbindlich, nachgerade vordergründig.
Unser Klient war nur wenige Schritte hinter unserem Büro von einem Rollkommando verhaftet worden und saß jetzt im Knast, Einzelgummisonderzelle. Seine Pläne waren in die falschen Hände geraten. Die Spezialdemokraten an der Spitze der Bewegung. Vive la monarchie! Der Bürgermeister gab den Plan unseres Auftraggebers als seinen eigenen aus. Bevor die Hansestadt aufgrund der eigenen Pleiterei den niedersächsischen Pferdehändlern zugeschlagen werden würde, sollte die Regierungsform wechseln. Eine Monarchie wie Liechtenstein, Luxusburg, St. Monaco. Freihandelszone, Steuerhimmel, auch keine Hundesteuer mehr, freie und königliche Handelsstadt Bremen – das neue Programm, mit dem die alten Schläuche an der Macht bleiben wollten.
»Da müssen wir aktiv werden«, sagte ich ganz heftig und demokratisch. So schön die frei fallenden Vorstellungen vom Rückwärtsgang auch sein mochten, ich war ein Feind der Leibeigenschaft, gleich ob es mein Leib oder ein anderer war.
Theos Augen leuchteten.
»Eine Bombe bauen?« Immer wenn mal eine Aktion anstand, bekam er dieses anarchistische Leuchten in die Augen. Zwei kleine brennende Lunten in den Pupillen.
»Wir müssen denen die Tour vermasseln, Theo.«
»Soll ich schonmal den Sprengstoff kaufen gehen?«
Ich wurde von einer Kurzzeit-Erinnerung überfahren.
»Hast du vorhin gesagt, alle wollen die Monarchie?«
Das war die Gegenfrage, die Theos Übereifer wie Butter auf dem heißen Blechdach zerlaufen ließ.
»Ja, sicher.«
»Wie sicher?«
»Sehr sicher!«
»Bist du da ganz sicher?«
»Ich glaube, ich bin ganz sicher!«
So hatte Brecht 1947 geantwortet, als er gefragt wurde, ob er jemals gewesen oder gar noch sei.
Die letzte aller Fragen:
»Und wen, bitteschön, willst du dann in die Luft sprengen?«
Ich knallte diesen Gedanken Theo vor die Füße, daß alle brennenden Lunten augenblicklich erloschen.
»Am besten alle!« Überraschte er.
»Dafür kriegen wir keine Genehmigung und schon gar nicht um diese Uhrzeit. Die Ordnungsämter haben Gleitzeit oder zu.«
Theo schaute wie ein Schulmädchen auf das vergammelte Käsebrötchen.
Aus der Traum.
Kein Fall gelöst, kein Luxusfahrrad. Sogar den Shit mußten wir uns selbst kaufen.
Kein Gelee Royal zum Frühstück. Die machten ihre Krönungszeremonie ganz ohne uns. Ohne das Volk. Ohne die Bürgerschaft, so sehr die motzten und den verlorenen Stimmen nachjagten.
Und die Mehrheit der Demoskopisten kriegten sie auch noch.
Wo waren unsere wilden Kohorten? Die schwarzen Geier, die roten Hähne, die gelben Militanten? Versprengt, zerschlagen, verbittert. Unter den Rabatten.
Wenn wenigstens die Beatles wieder zusammen auftreten würden oder ein bißchen Flower Power.
Nichts da.
Ich sah dem Tag der Krönung mit gemischten Gefühlen entgegen. 1.1.2001 – stand auf allen Plakaten. Vielleicht sollte ich in Urlaub fahren: Kreuzfahrt vom Süd- zum Nordpol, unter Indianern sein, auf der Kontiki hausen oder bei den Pinguinen speisen. Auf jeden Fall mich verpieseln, wenn die Mächtigen wieder auf königliche Familie machten.
Dann werden die gelben Blätter aber kräftig ins Rauschen kommen.