Die Stadt Aachen wurde über die Zeiten mehr als einmal gegründet und mehr als einmal ging sie unter. Sie versank im Vergessen, blühte erneut auf und stets war ihr Wiederaufleben prachtvoller und glänzender als jemals zuvor.
Bereits in der Steinzeit siedelten Menschen, die in den umliegenden Hügeln nach Feuerstein gruben, an den heißen Quellen. Später erbauten die Kelten hier ihre Wohnsitze. Nach diesen errichteten die Römer an dieser Stelle ihre Thermen und Paläste. All diesen Völkern war gemeinsam, dass sie das heilkräftige Wasser der heißen, schwefelhaltigen Quellen, die in Aachen aus dem Boden hervortreten, verehrten. Es verwundert also niemanden, dass die Römer die Stadt gar nach einem Gott benannten. Grannus hielt seine schützende Hand über Wasser und Bäder, weshalb der römische Name für die Stadt „Aquae Granni“ lautet: die „Wasser des Grannus“. Doch die Pracht der antiken Bäder und Paläste sollte schon bald dem Untergang geweiht sein. Mit dem Ende des Römischen Imperiums fiel die Siedlung der Vergessenheit anheim, bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem Karl der Große die Ruinen aus ihrem Schlaf erweckte.
Karl entstammte dem Geschlecht der Karolinger. Er war Herrscher über das Frankenreich und zu dieser Zeit noch nicht zum Kaiser gekrönt sondern „König der Franken“. Wie damals üblich kannte er keine Hauptstadt für sein riesiges Reich, sondern zog mit seinen Getreuen zu Pferde durch das Land. Dabei residierte er in den Pfalzen, sprach Recht, hörte, was seine Untertanen auf dem Herzen hatten und erinnerte sture Fürsten an die Steuern und andere Lehnspflichten. Wenn der Herrscher nicht in der Nähe weilte, vergaßen diese nur allzu gern ihre Verpflichtungen.
Von Köln nach Maastricht war die Reise für damalige Verhältnisse sehr angenehm. Der Tross konnte eine alte Heerstraße der Römer nutzen und kam gut voran. Schließlich erreichten sie eine Gegend mit dichten Wäldern, die sich über ein sanft gewelltes Land zogen. Hier gönnte Karl seinen Männern eine Rast und ließ zur allgemeinen Unterhaltung eine Jagd ausrichten. Nicht ganz uneigennützig. Wie alle Franken war der König ein begeisterter Jäger, der seine Kraft und sein Geschick nur zu gern mit anderen Männern und mit dem Wild maß. Oft preschte er seinem Gefolge voraus, um das Wild von eigener Hand zu erlegen. So verhielt es sich auch an diesem Tag.
Karl hatte bereits von weitem einen ungewöhnlich prächtigen Hirsch erspäht und gab seinem Pferd die Sporen um das Tier als erster zu erreichen. Schon bald fiel die Jagdgesellschaft hinter ihm zurück. In rasendem Galopp ging es immer tiefer in den Wald hinein, bis die Bäume so dicht standen, dass es für Pferd und König kein Durchkommen gab, während der Hirsch geschickt durch das Unterholz setzte.
Atemlos von der Hatz suchte Karl nach einem Weg durch das Gestrüpp. Es war ihm nicht entgangen, dass die schmalen Wildpfade leicht bergab führten und er bald den Grund eines Tals erreichen würde. Bald sah er durch die Baumwipfel das Schimmern von Wasser und schöpfte Hoffnung, dass der Hirsch sich dorthin begeben hatte. Er tat einen kurzen Stoß in sein Horn, um seine Männer zur finalen Hatz zu rufen. Aber die Antwort klang fern und Karl fürchtete, dass die Beute ihm entkommen würde, wenn er jetzt auf sein Gefolge wartete. Deshalb entschloss er sich, den Weg durch den unwegsamen Wald fortzusetzen. Tatsächlich erspähte er kurz darauf auf einer Lichtung erneut das begehrte Wild. Der Hirsch aber hörte den König kommen. Noch ehe Karl den Speer zum tödlichen Wurf heben konnte, setzte der Hirsch in weiten Sprüngen davon.
So kurz vor dem Ziel wollte Karl das Wild nicht mehr entkommen lassen. Er trieb sein Pferd zu scharfem Trab, die Äste peitschten auf ihn ein, aber er minderte die Geschwindigkeit nicht und ritt unbeirrt weiter. Da passierte es, dass der Huf seines Pferdes sich in einer Spalte im Boden verfing. Es strauchelte und um ein Haar wären Ross und Reiter zu Boden gestürzt. Im letzten Augenblick gelang es Karl, abzuspringen.
Mit knapper Not dieser Gefahr entronnen, dankte Karl der Jungfrau Maria. Dann kniete er nieder, um seinem Tier zu helfen. Tief saß der Huf in einer Erdspalte und Karl hatte Mühe, sein Pferd aus dieser misslichen Lage zu befreien. Endlich war es gelungen. Zum Erstaunen des Königs sprudelte nun aus der Erde eine dampfende Quelle empor, die dazu nach Schwefel roch. Darüber erschrak er, fürchtete er doch im ersten Augenblick, dass hier der Teufel zugange war. Als er sich aber umsah, fiel sein Blick auf den See, dessen Glitzern er bereits durch die Bäume bemerkt hatte. Er trat näher und sah am jenseitigen Ufer verfallene Ruinen mächtiger Gebäude.
Einst mussten dort prächtige Paläste gestanden haben und die Häuser einer großen Stadt. Da wusste Karl, wo er sich befand, denn wohl erkannte er die Bauwerke der Römer. Auch wusste er um die heilende Kraft von heißen Quellen. Noch an Ort und Stelle dankte er Gott für diese glückliche Entdeckung und versprach der Jungfrau Maria, hier die größte und schönste Kapelle zu erbauen, die man je gesehen hatte. Als sein Gefolge kurz darauf zu ihm aufschloss, berichtete der König ihnen von diesem wundersamen Geschehen und von seinen Plänen. Wohlwollend nickten sie und stimmten ihm zu, dass es kaum einen schöneren Platz für eine Stadt und eine Kapelle gäbe. So war es also beschlossen.
Am See errichtete Karl zunächst ein Jagdschloss und gleich in der Nähe begannen die Arbeiten für eine Pfalz. An diese plante er später die Marienkapelle als Pfalzkapelle anzuschließen.
Bald schon wuchs um diese erste Siedlung herum eine Stadt heran, die er Ahha nannte, was im Altgermanischen nichts anderes als „Wasser“ bedeutet. Bereits zu dieser Zeit war ihm die Stadt sehr ans Herz gewachsen. Karl hielt sich dort so oft und so lang auf, wie seine Ämter es zuließen. Später begründete er in Aachen eine Hofschule, die er dem in ganz Europa hoch angesehenen Gelehrten Alkuin unterstellte. Auch manches andere Werk bewirkte Karl, der noch zu Lebzeiten den Beinamen: „Der Große“ erhielt.
Es war ihm ein Anliegen, sein wachsendes Reich besser zu verwalten und die Hofschule dafür zu nutzen, Schreiber und Verwaltungsbeamte auszubilden. Durch diese Maßnahmen gelang es ihm, das Reich stabil zu halten und bald schon selbst weniger Reisen unternehmen zu müssen. Für viele gilt Karl der Große aufgrund seiner modernisierenden Reformen als erster Europäer und Begründer des europäischen Gedankens. Fest steht, dass Aachen für ihn zu einer Art Hauptstadt wurde und er sich hier gerne aufhielt. In späteren Jahren suchte er immer häufiger die heißen Quellen auf, da er an Rheuma litt und das heilkräftige Wasser seine Schmerzen linderte.