Katie Fforde wurde in Wimbledon geboren, wo sie ihre Kindheit verbrachte. Heute lebt sie mit ihrem Mann, drei Kindern und verschiedenen Katzen und Hunden in einem idyllisch gelegenen Landhaus in Gloucestershire, England. Erst vor wenigen Jahren begann sie mit dem Schreiben romantischer, heiterer Gesellschaftskomödien, die stets sofort die englischen Bestsellerlisten eroberten.
Rendezvous zum
Weihnachtsfest
Übersetzung aus dem Englischen
von Ulrike Werner
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe:
»A Christmas Feast and other Stories«
Für die Originalausgabe:
Copyright © Katie Fforde Ltd 2014
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Kirill Kurashov und Leene
Illustrationen im Innenteil: © shutterstock: Natalya Levish|
Natykach Nataliia|Epine
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-2994-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Liebe Leserin,
Weihnachten ist zwar ein schönes, manchmal aber auch stressiges Fest. Man hat unendlich viel zu erledigen und viel zu wenig Zeit dafür. Karten sind zu schreiben (seit vielen Jahren basteln wir unsere eigenen Weihnachtskarten, doch manchmal sehne ich mich danach, sie einfach irgendwo zu kaufen!), Geschenke müssen ausgesucht und hübsch verpackt werden, Einkaufen und Kochen stehen auf der Tagesordnung, und dann gibt es noch die anderen hunderttausend Dinge, die man keinesfalls vergessen darf.
Also bleibt auch keine Zeit zum Lesen, höre ich Sie sagen. Nun, die Besonderheit dieses literarischen Festmahls zur Weihnachtszeit ist die Vielzahl kleiner Leckereien – Geschichten, die man in der Zeit lesen kann, in der man darauf warten muss, dass die Plätzchen genau den richtigen Bräunungsgrad annehmen, oder während man sich ein Bad einlässt.
Eigentlich sollte für jeden etwas dabei sein, und mit etwas Glück können Sie die Zeit erübrigen, es herauszufinden. Dies ist mein Weihnachtsgeschenk für Sie.
Alles Liebe und fröhliche Weihnachten!
Katie Fforde
Langsam, aber unaufhaltsam schlingerte Evies überladener Einkaufswagen auf den anderen Wagen zu. Schon die ganze Zeit hatte sie sich gewünscht, sie hätte den Einkaufswagen gleich zu Beginn auf Stabilität geprüft und ihn sofort gegen einen anderen getauscht, als sie bemerkt hatte, dass er sich nicht richtig steuern ließ. Jetzt zahlte das Ding ihr diese Nachlässigkeit heim und krachte in einen Einkaufswagen, dessen Inhalt ein wahrer Traum war. Er enthielt alles, was man für ein zauberhaftes Festmahl zu zweit benötigte. Abgepackte Fasanenbrust, eine Flasche Champagner und Butterkrabben. Evie liebte Butterkrabben. Sie blickte zu dem glücklichen Besitzer des Wagens auf, der im Gegensatz zu ihr offenkundig nicht eine solche Menge an Nahrungsmitteln benötigte, dass man ein kleineres Land damit hätte versorgen können – und alles nur, weil Weihnachten war. Und natürlich sah er im Gegensatz zu Evie, in deren Falten und Poren sich der Vorweihnachtsstress deutlich abzeichnete, auch noch extrem gut aus. Sein schwarzes Haar zeigte erste silberne Fäden, seine Augenbrauen waren dicht, und in den Winkeln seiner dunklen Augen saßen attraktive Lachfältchen. Evie wusste, dass ihr Haar dringend einen Schnitt benötigte. Außerdem hatte sie sich an diesem Morgen gar nicht erst mit Schminken aufgehalten und trug die Klamotten, in denen sie ihre Hausarbeit erledigte.
»Bitte entschuldigen Sie. Ich kann dieses erbärmliche Ding nicht steuern. Eigentlich hätte ich es sofort gegen ein anderes tauschen müssen, aber irgendwie tut man so etwas ja dann doch nicht.« Erneut warf sie einen Blick auf den Inhalt des gegnerischen Einkaufswagens und wünschte, sie hätte sich einfach nur entschuldigt. Die ausgesuchte Ware im Wagen ließ nicht auf einen Menschen schließen, der Wert auf lapidares Geplänkel über Einkaufswagen legte.
Aber er lächelte. »Die Dinger sind eben Fehlkonstruktionen.« Er sagte es bestimmt nur, damit sie sich ein wenig besser fühlte, aber dafür war sie ihm dankbar. Und er hatte eine hübsche Stimme.
Sie seufzte. »Stimmt.« Dann runzelte sie die Stirn. »Ich bin auf der Suche nach Agar-Agar. Meine ganze Familie ist über Weihnachten zu Besuch, und ich koche eigentlich nicht sehr oft.«
Er warf einen Blick auf ihren vollgeladenen Wagen, den sie inzwischen wieder unter Kontrolle hatte. »Kaum zu glauben angesichts der Menge, die Sie dort hineingepackt haben.«
Sie lachte. »Alles Panikkäufe. Meine Schwägerin ist Vegetarierin, und ich weiß noch nicht, was ich für sie kochen soll. Ich dachte, dass Agar-Agar irgendwie nützlich sein könnte.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie die Zutaten für mehrere Rezepte da drin haben, wahrscheinlich sogar für ein ganzes Kochbuch.« Sein Blick glitt über die vielen unterschiedlichen Dinge – Quinoa, Bulgur, mehrere Arten von Tofu und ein paar Pilze, von denen Evie geschworen hätte, dass sie giftig waren, wären sie nicht im Sonderangebot dieses gehobenen Supermarktes gewesen.
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber weil ich mich nicht entschließen kann, wollte ich lieber …«
»Hier haben wir es ja!« Er legte das Päckchen zu den anderen Sachen.
»Oh, vielen Dank. Ich wünschte, das Kochen würde mir mehr Spaß machen. Ich bin dieses Jahr an der Reihe, sie alle einzuladen, und fürchte mich geradezu davor. Einige von ihnen sind echte Feinschmecker.« Die Fasanenbrust und der Champagner fielen ihr ins Auge. »Sie sind ja wahrscheinlich auch einer.«
»Na ja, ich kann zwar kochen, doch dieses Jahr habe ich niemanden, für den ich es tun könnte. Meine Eltern sind auf einer Kreuzfahrt, und ich hüte ihr Haus und die Katze.«
»Ich nehme an, Sie freuen sich auf ein ruhiges Weihnachtsfest. Also mir jedenfalls ginge es so!«
»Tja, irgendwie schon. Aber es ist trotzdem seltsam.«
Evie blickte zu ihm auf und sprudelte, ohne nachzudenken, hervor: »Würden Sie es für völlig verrückt halten, wenn ich Sie zu unserem Weihnachtsmenü einlüde?« Angesichts seiner Verblüffung fuhr sie fort: »Natürlich dürfen Sie ruhig Nein sagen. Ich erwarte gar nicht, dass Sie die Einladung annehmen, aber ich hätte ein mieses Gefühl, wenn ich Sie nicht gefragt hätte.«
Er lachte. »Wieso?«
Sie zögerte. »Dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste ist für mich, dass Weihnachten ein Fest ist, zu dem man Fremde zu sich nach Hause einladen sollte.« Zu spät fiel ihr ein, dass sie vielleicht besser etwas anderes gesagt hätte – irgendetwas, bloß nicht die Wahrheit. Kopflos redete sie einfach weiter. Wahrscheinlich würde sie damit alles noch schlimmer machen, doch das war jetzt auch egal. »Ich bin eine miserable Köchin und habe kein Händchen für Hausarbeit und dafür, die Wohnung hübsch zu dekorieren. Ich schaffe es nie, meine Weihnachtskarten rechtzeitig abzuschicken, und meine Geschenke kaufe ich meistens bei Marks & Spencer, damit die Leute sie hinterher leicht umtauschen können. Aber Gastfreundschaft ist mir ausgesprochen wichtig.« Sie wurde so rot, dass sie es mit den Pappweihnachtsmännern aufnehmen konnte, die sich über ihren Köpfen drehten. »Nachdem Ihnen jetzt klar sein dürfte, dass ich völlig plemplem bin, dürfen Sie Ihren Einkauf in aller Ruhe beenden.«
Wieder lachte er. Aber es klang freundlich. »Ehrlich gesagt wollte ich Ihnen gerade vorschlagen, zu Ihnen zu kommen und ein vegetarisches Gericht für Sie zuzubereiten. Ich habe nicht viel vorzubereiten, koche aber sehr gern. Sie hingegen haben offenbar eine ganze Menge zu tun.«
»Würden Sie das wirklich machen?« Ab liebsten wäre Evie dem Fremden um den Hals gefallen. Glücklicherweise hielt ihre gute Erziehung sie davon ab.
»Natürlich. Es würde mir große Freude machen. Wo wohnen Sie?«
Sie schluckte, weil ihr plötzlich klar wurde, dass sie einen völlig Fremden zu sich nach Hause eingeladen hatte, über den sie nicht das Geringste wusste. Vielleicht hatte er es auf sie abgesehen. Vielleicht hatte er ihre Hilflosigkeit erkannt und es darauf angelegt, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Schnell jedoch gewann der gesunde Menschenverstand wieder die Oberhand über ihre Panik. Es war Weihnachten, und ihre gesamte Familie war bei ihr. Sicherer konnte sie gar nicht sein.
»Ich wohne ganz oben auf dem Stoke’s Hill. In einem der großen Häuser dort.«
»Oh ja, die kenne ich. Bewohnen Sie das ganze Haus, oder ist es in Wohnungen aufgeteilt?«
Sie lächelte, um einen plötzlichen Seufzer zu verbergen. »Nein, das ganze Haus.« Aber nicht mehr lange. Sobald nach dem Tod ihrer Eltern alles geklärt war, würde das Haus verkauft werden. Aus diesem Grund hatten sie sich entschlossen, ein letztes Mal alle zusammen Weihnachten in diesem Haus zu feiern. Danach würde es mit Sicherheit in Einzelwohnungen aufgeteilt werden.
Sie gab ihm ihre genaue Adresse, und sie tauschten Namen und Telefonnummern aus. Evie beendete ihre Einkäufe damit, dass sie noch zwei Pakete Kräcker auf den hoch beladenen Wagen türmte – einfach nur, weil sie auf die Hälfte reduziert waren. Immerhin schmeckten Kräcker in jeder Lebenslage, auch wenn sie das einzige Familienmitglied war, das so dachte.
Evie sagte ihrer Familie nicht, dass sie Edward zum Festmenü eingeladen hatte. Nicht, dass sie sie anlügen wollte, sie hatte nur einfach nicht darüber nachgedacht, wie sie ihn ankündigen könnte. Alle waren viel zu beschäftigt damit, zu entscheiden, wer was aus dem Haus bekommen sollte.
Evie hatte zwei Brüder, Bill und Derek. Beide waren verheiratet. Donna, die Vegetarierin, die Evie so großes Kopfzerbrechen bereitete, war Bills Frau. Dereks Frau Sarah war zwar einfacher zufriedenzustellen, vermittelte Evie aber ständig das Gefühl, schrecklich unvollkommen zu sein. Vermutlich lag es daran, dass Sarah Evie noch nie in ihrem Beruf erlebt hatte, wo sie für ein ganzes Vertriebsteam verantwortlich zeichnete, sondern immer nur zu Hause, wo sie sich weniger geschickt anstellte.
Evies Schwester Diane war die Familienälteste. Ihr Ehemann war sehr lieb, hieß William und erinnerte Evie insgeheim an einen Labrador, weil er freundlich und jederzeit bereit war, anderen zu helfen, was durchaus nicht immer erfolgreich verlief. Diane nörgelte ständig an ihm herum, aber sie meckerte ohnehin immer. Ganz besonders über Evie.
Alle Paare hatten zwei Kinder, die Evie oft mit den falschen Namen ansprach. Damit sorgte sie häufig für Ärger, wenngleich sie nicht wirklich wusste, warum. Sie hatte sich noch nie gut Namen merken können, genau wie früher ihre Mutter.
Der Heilige Abend war ganz gut verlaufen. Evie hatte die Strümpfe der Kinder mit Geschenken gefüllt und sogar gestreifte Socken mit Inhalt für die Erwachsenen besorgt. Alle hatten am nächsten Morgen ein wenig länger geschlafen, was Evie Zeit verschaffte, Croissants aufzutauen und Champagner mit Orangensaft vorzubereiten. Natürlich würde ihre Schwester den Alkohol zum Frühstück missbilligen, auch wenn der Champagner mit Saft gemischt war. Donna würde wohl freundlich, aber bestimmt all die organisch angebauten, glutenfreien, steingemahlenen, luftgetrockneten, frei laufenden Getreidesorten ablehnen, die Evie auf Verdacht gekauft hatte, und stattdessen eine halbe Banane mit ein paar Weizenkeimen essen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Den Männern stand der Sinn wahrscheinlich nach Eiern mit Speck, und ob die Kinder etwas essen würden, war nicht vorherzusagen; vermutlich hatten sie sich längst mit Schokolade vollgestopft.
Das Öffnen der Geschenke war für nach dem Mittagessen vorgesehen. Mit großer Mühe konnte Evie die gesamte Familie dazu bewegen, nach dem Frühstück einen Spaziergang zu unternehmen. Sie selbst ging nicht mit, denn sie wollte bereits mit dem Putzen des Gemüses beginnen und sich überlegen, was für Donna gekocht werden sollte. Ihre Schwägerin hatte bereits nachgefragt, was man ihr als Weihnachtsessen servieren würde, und Evie hatte geantwortet, das sei eine Überraschung.
Leider begann es zu nieseln, und die Spaziergänger kehrten viel zu schnell zurück. Evie hatte darauf gebaut, dass sie mindestens bis zur Mittagszeit unterwegs wären, was ihr ausreichend Zeit zum Kochen verschafft hätte. Inzwischen war sie zu dem Schluss gekommen, dass Edward vermutlich nur ein Produkt ihrer Fantasie war. So sehr hatte sie sich einen netten Mann gewünscht, der obendrein auch noch ein vegetarisches Gericht für sie zubereiten konnte, dass sie sich im Geiste kurzerhand einen erschaffen hatte.
Weil sie keine schwesterliche Hilfe wollte, schickte sie die weiblichen Familienmitglieder ins Esszimmer, wo sie den Tisch decken und den Raum festlich herrichten sollten, und die Kinder ins Kinderzimmer zum Fernsehen, ein Vergnügen, das ihnen unter normalen Umständen tagsüber nicht gestattet war. Die Männer sollten unterdessen im Keller den Wein aussuchen. Sie würden es genießen, lange Diskussionen darüber zu führen, welche Sorten ihre Eltern eingelagert hatten und ob man sie noch trinken konnte.
Als es schließlich klingelte, war Evie zwar überrascht, aber sehr erfreut, dass es tatsächlich Edward war. Er hatte mehrere Einkaufstüten bei sich. Nicht, dass sie etwa den ganzen Morgen an ihn gedacht hätte. Es gab richtig lange Intervalle – bis hin zu zehn Minuten –, in denen sie ihn tatsächlich vergessen hatte.
Es fiel ihr schwer zu entscheiden, ob er wirklich attraktiver war, als sie ihn in Erinnerung hatte, oder ob er ihr lediglich attraktiver erschien, weil sie davon ausgegangen war, ihn sich nur eingebildet zu haben. In ihren Gedanken hatte sie ihn einfach zu einem guten Koch gemacht, hatte ihm jedoch weder die langen Beine noch das pfiffige Lächeln oder andere Vorzüge zugestanden, die er in der Wirklichkeit durchaus besaß.
»Hallo! Ich hätte nicht gedacht, dass Sie kommen würden«, sagte sie und war sich umgehend bewusst, wie unglaublich sehnsüchtig das klang.
»Und ich bin überrascht, dass Sie tatsächlich hier wohnen. Ich fürchtete schon, das Haus leer und verschlossen oder längst verkauft vorzufinden.«
Sie lachten, ein wenig peinlich berührt. »Kommen Sie rein!«, sagte Evie. »Und frohe Weihnachten!«
Er stellte die vielen Tüten ab, die er mitgebracht hatte. »Frohe Weihnachten!« Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange.
Evie errötete und hoffte, dass er ihre Gesichtsfarbe für die Folge der Arbeit am heißen Herd hielt. Außerdem war sie sehr froh, dass sie sich zur Feier des Tages ordentlich angezogen hatte und ganz gut aussah.
»Kommen Sie doch gleich mit in die Küche! Ich besorge Ihnen etwas zu trinken.« Sie sagte nicht: Kommen Sie schnell, damit meine Familie Sie nicht sieht!, obwohl sie es gern getan hätte.
Die Küche war immerhin so aufgeräumt, dass höchstens die Hälfte der Arbeitsfläche mit Kartoffeln, Möhren, Pastinaken und Rosenkohl übersät war und nur wenige Behälter mit halb fertiger Füllung sowie mehrere vegetarische Zutaten herumstanden.
»Oh, Sie haben schon selbst Hand angelegt«, sagte Edward, als er den eingeweichten Bulgur und den noch eingepackten Tofu sah. Das Päckchen Alfalfa erinnerte fatal an Teichlinsen.
»Ich musste, falls …«
Er fragte nicht: Falls was?, sondern sagte: »Da ich eine Menge Zeit hatte, habe ich bereits ein Gericht für Sie vorbereitet. Sie müssen es nur noch rechtzeitig in den Ofen stellen.«
Evie, die ihren Champagner ohne Orangensaft getrunken hatte, fiel ihm um den Hals. »Sie sind ein Engel!«
Just in diesem Augenblick betrat das älteste Kind die Küche. Luke war zehn. »Oh, Tante Evie. Hey, Leute, Tante Evie hat einen Mann in der Küche!«
Hätte er Feuer! gerufen, wären sie wahrscheinlich längst nicht schnell gekommen. So aber war die Küche binnen Sekunden voller Menschen. Und alle starrten sie an. Die Familie hatte sich so sehr daran gewöhnt, Evie als Single wahrzunehmen, dass ihr Anblick zusammen mit einem äußerst attraktiven Mann in der Familienküche sie völlig aus dem Konzept brachte.
Evie wurde klar, dass sie etwas unternehmen musste. »Leute, das ist Edward. Ich habe ihn zum Weihnachtsmenü eingeladen.«
»Warum hast du uns nicht erzählt, dass er kommt?«, erkundigte sich Evies Schwester. »Wo habt ihr euch überhaupt kennengelernt?«
»Im Supermarkt«, antwortete Edward. »Evie war auf der Suche nach Agar-Agar.«
»Was um aller Welt ist das denn?«, fragte Bill.
»Ein vegetarisches Geliermittel«, murmelte Donna, »aber ich bin sehr überrascht, Evie, dass du so etwas überhaupt kennst.«
»Jedenfalls stellte sich heraus, dass Edward über Weihnachten allein sein würde, und da habe ich ihn einfach eingeladen.«
»Vielleicht solltest du uns wenigstens vorstellen«, meinte Diane, und Evie gehorchte. Tatsächlich ordnete sie dieses Mal sogar allen Kindern die richtigen Namen zu, worauf sie insgeheim sehr stolz war.
»Und wer von den männlichen Anwesenden ist dein Mann?«, fragte Edward, als die anderen wieder zu ihren Aufgaben zurückgekehrt waren.
Verwirrt blickte Evie ihn an. »Ich bin nicht verheiratet. Die Männer sind meine Brüder und mein Schwager.«
»Brüder und Schwager? Das ist mal eine gute Nachricht! Ich dachte, du wärst verheiratet.«
»Dachtest du? Wieso?«
»Singlefrauen haben normalerweise keine Einkaufswagen, die so voll sind, dass sie sie kaum schieben können«, erklärte er.
Evie biss sich auf die Lippen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich Single bin. Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn du glauben würdest, dass ich dich zu kapern versuche oder so.«
»Mir etwas ausmachen? Für mich ist es das schönste Weihnachtsgeschenk seit Jahren.« Edward nahm Evie in die Arme und drückte sie fest an sich.
»Ich glaube, ich sollte Ihnen etwas sagen«, meinte Luke, der neugierig in die Küche zurückgekehrt war. »Meine Tante Evie ist eine ganz schlechte Köchin.«
»Dafür koche ich ganz ordentlich. Es passt also.« Edward blickte Evie an. »Hattest du nicht eben von einem Drink gesprochen?«
Wassertropfen fielen auf die Ladentheke. Clare blickte überrascht auf. Vor ihr stand ein sehr nasser, sehr wütender und nur spärlich bekleideter Mann.
Er trug Shorts und ein Rugbyhemd, auf dem die Nummer 124 samt der Aufschrift Ambleton Halbmarathon befestigt war. Seine Laufschuhe quietschten vor Nässe, und er war von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Der Mann war Clares erster Kunde seit vielen Stunden. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie und schob die Rückmeldungen von der Partnervermittlung Bettadates beiseite.
Der strömende Regen hatte die Leute an diesem Samstag vom Besuch des örtlichen Sozialkaufhauses abgehalten, und Clare konnte sich endlich ihren Antwortbriefen widmen.
Obwohl es ihr nicht wirklich unangenehm war, einen Kunden zu haben, hatte sie gehofft, noch vor Ladenschluss eine Antwort an Ben aus Ripley formulieren zu können, der Hunde mochte, nicht rauchte und als Hobbys Drachenfliegen, Oper und Lesen angab.
»Äh, ja«, sagte der Mann. »Die Kleider dort im Schaufenster, könnte ich die anprobieren?«
Clare schüttelte den Kopf. Die Geschäftsführerin des Ladens war in diesen Dingen sehr streng. Kleidung durfte unter keinen Umständen aus dem Schaufenster genommen werden, es sei denn, sie war seit mindestens einer Woche dort ausgestellt.
Und dieses Mal ärgerte Clare sich noch nicht einmal über diese Regel, denn sie hatte den ganzen Morgen damit zugebracht, die beiden Fenster zu dekorieren. Sie waren ihr ausgesprochen gut gelungen, vor allem, weil sie ein paar gelbe Quietscheentchen aufgetrieben hatte, mit denen sie die Gummistiefel von Hunter und den Regenschirm im ersten Fenster hatte aufpeppen können. Sie hatte sich sogar über jeden Aberglauben hinweggesetzt und den Schirm geöffnet. Im anderen Fenster waren eine Barbour-Jacke und eine qualitativ hochwertige Cordhose ausgestellt.
Clare hatte der Geschäftsführerin beweisen wollen, dass sie so gut wie jeder andere Kleidungsstücke auszeichnen und Schaufenster dekorieren konnte.
»Es tut mir leid«, sagte sie forsch, als wäre die abschlägige Antwort durchaus angemessen. »Ich kann Ihnen die Kleidungsstücke bis nächste Woche reservieren, doch wir haben sie gerade erst hereinbekommen und dürfen die Auslage nicht verändern.«
»Aber ich möchte sie kaufen. Sie werden sich doch nicht um ein so gutes Geschäft bringen?«
»Tut mir leid, doch so lauten nun einmal unsere Vorschriften.« Clare hatte den Eindruck, als wäre der Mann es gewohnt, seinen Willen zu bekommen. »Wenn Sie wollen, mache ich eine Notiz, dass Sie an den Kleidern interessiert sind.«
»Aber all die anderen Kleidungsstücke, die Sie hierhaben, sind verkäuflich, oder? Die könnte ich mitnehmen und bräuchte sie nicht ein halbes Jahr vorher zu reservieren, richtig?«
Das fand Clare ziemlich unfair.
»Sie brauchen doch nur eine Woche zu warten. Und bei diesem Preis ist es das sicher wert, finden Sie nicht?« Sein Gesichtsausdruck bewies, dass er nicht ihrer Meinung war. Vielleicht kannte der Mann sich nicht mit Sozialkaufhäusern aus.
»Die Kleider sind von wirklich ausgezeichneter Qualität.«
Er strengte sich sichtlich an, ruhig zu bleiben. »Schon gut«, knurrte er. »Ich werde sicher etwas anderes zum Anziehen finden.«
Sorgfältig prüfte er das Angebot, verwarf recht nette Hemden zugunsten von deutlich abgetrageneren und suchte sich die Jeans nicht nach Zustand oder Marke aus, sondern nach geheimnisvollen Kriterien, die offenbar mit Flecken an den Knien und der Beschaffenheit der Taschen zusammenhingen.
Zum Glück für ihn hatten sie erst an diesem Morgen einen ganzen Koffer voller wirklich ansehnlicher Klamotten hereinbekommen. Manchmal waren hübsche Kleider nämlich Mangelware.
Clare widmete sich wieder ihren Briefen. Ben aus Ripley schien ihr ein einigermaßen aussichtsreicher Kandidat für ein Treffen zu sein, denn sie hatten mehr als nur eine Sache gemeinsam. In Bens Fall handelte es sich darum, dass er nicht rauchte und Opern mochte.
Clare liebte zwar nicht sehr viele Opern, aber immerhin einige, und sie hoffte, dass ihre Abneigung gegen das Drachenfliegen nicht eine völlige Unvereinbarkeit darstellen würde. Alle anderen Vorschläge der Partnervermittlung hatten sich als ziemlich hoffnungslos erwiesen, doch ihre Freundin hatte Clare bereits vorgewarnt, dass man durchaus Geduld haben musste.
Clare hatte sich erst kürzlich an die Partneragentur gewandt. Sicher gab es irgendwo den richtigen Mann für sie, er würde vermutlich nur noch ein bisschen Zeit brauchen, um aus der Masse aufzutauchen. Inzwischen hatte ihr schmutziger und wütender Kunde einen ganzen Armvoll Kleider ausgesucht.
»Die anderen Sachen können Sie gern hierlassen.«
»Nein, das geht schon. Aber ich möchte das alles hier anprobieren.«
Clare entschied sich dagegen, ihn auf das Schild über der Ladentheke hinzuweisen, das Kunden darum bat, nicht mehr als drei Teile mit in die Umkleidekabine zu nehmen. Als er wieder auftauchte, trug er jedoch nicht den Smoking, den er eigentlich hatte anprobieren wollen, sondern ganz andere Sachen.
Er sah wirklich ausgesprochen attraktiv darin aus, zumal die Kleidungsstücke außergewöhnlich gut passten, aber trotzdem ging es so nicht. Wo kämen sie denn da hin?
»Wenn Sie diese Kleidungsstücke kaufen wollen, müssen Sie sie leider alle wieder ausziehen.«
»Warum das denn?«, fragte er verschmitzt.
»Weil ich so nicht weiß, wie viel sie kosten.«
»Keine Sorge, ich habe alle Preisschilder entfernt.«
Clare zuckte zusammen. Tatsächlich brauchte sie die Kleider und die Preisschilder zusammen, weil es sonst Ewigkeiten dauern würde, sie in die Kasse einzutippen.
»Sagen Sie nichts«, seufzte er, »es ist gegen die Vorschriften, die Kleider zu tragen, die man kaufen will, und es ist lediglich gestattet, sie in entsprechenden Plastiktüten nach Hause mitzunehmen.«
Sie ignorierte den Vorwurf, denn sie wollte keinen Streit mit der Kundschaft. »Geben Sie mir die Preisschilder und alles, was Sie sonst noch kaufen möchten. Ich tippe es von Hand ein.«
Fast widerwillig ging er zurück in die Umkleidekabine und kehrte mit einem Stapel Preisschilder zurück. Clare griff zu einem Block und begann, die Kleider aufzulisten.
»Das macht zusammen fünfundfünfzig Pfund«, sagte sie schließlich und hätte den Mann am liebsten gefragt, warum er so viel auf einmal kaufen wollte. Normalerweise waren die Kunden eher gesprächig, er jedoch offenbar nicht.
»Fünfundfünfzig Pfund? Du lieber Himmel! Dann nehme ich den Smoking lieber doch nicht mit.«
»Dann wären es fünfundvierzig Pfund. Der Smoking ist einigermaßen preiswert, weil der Schnitt schon ein wenig in die Jahre gekommen ist.«
Der Mann runzelte die Stirn und musterte den Smoking, als nähme er die abschätzige Bewertung persönlich. »Dann schulde ich Ihnen also fünfundvierzig Pfund?«
»In der Tat.« Sie nickte und musterte ihn ernst. Er machte keine Anstalten zu bezahlen. In diesem Augenblick fiel ihr ein, dass er lediglich Shorts und ein Rugbyhemd getragen hatte, als er den Laden betreten hatte.
»Sie haben kein Geld, nicht wahr?«
»Nein. Ich meine, natürlich habe ich Geld. Fünfundvierzig Pfund bringe ich schon zusammen. Aber ich habe es nicht bei mir. Ich nehme nicht an, dass Sie mir bis Montag Zahlungsaufschub gewähren können?«
Clare atmete tief ein, sagte jedoch nichts. Sie schüttelte lediglich den Kopf.
»Dann muss ich also alles wieder ausziehen?«, fragte er nach einem vielsagenden Schweigen.
Er blickte aus dem Fenster. Der Regen war noch stärker geworden. Clare bekam Mitleid mit dem Mann. Es wäre schrecklich, ihn nur in Shorts und Rugbyhemd in dieses Wetter hinauszuschicken.
»Nein, für die Kleider, die Sie tragen, leihe ich Ihnen das Geld. Die anderen müssen Sie aber leider bis Montag hierlassen.«
»Das kann ich doch nicht annehmen. Warum sollten Sie für den Verlust geradestehen, wenn ich nicht zahle?«, sagte er hastig und irgendwie entrüstet.
»Wir sind ein Sozialkaufhaus. Zwar kann ich mich nicht mit dem Geld meiner Chefin sozial zeigen, aber mein eigenes Geld kann ich sehr wohl riskieren.«
»Ich finde nicht, dass Sie das tun sollten.«
»Die Alternative wäre, dass Sie alles wieder ausziehen und so gehen, wie Sie gekommen sind.«
Bei dem Gedanken erschauerte er. »Eigentlich sollte ich abgeholt werden. Leider wurde ich versetzt.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»Nicht weit von hier. In Littlethorpe.«
»Oh!« Littlethorpe war ein reizendes kleines Dorf in den Cotswolds, knapp fünf Kilometer von der Stadt entfernt.
»Ich gehe gern zu Fuß«, erklärte der Mann.
»Aber Sie sind gerade einen Marathon gelaufen …«
»Einen Halbmarathon.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ich fahre Sie heim, ich habe sowieso jetzt Dienstschluss. Dann können Sie mir auch gleich das Geld für die Kleider geben.«
»Nein, das dürfen Sie keinesfalls tun. Sie sind eine alleinstehende Frau und kennen mich überhaupt nicht.«
»Woher wollen Sie wissen, dass ich Single bin?«
Er zeigte auf die Briefe und das angefangene Antwortschreiben.
»Sie wären sicher kein Kunde von Bettadates, wenn Sie nicht alleinstehend wären. Allerdings halte ich es nicht für eine so gute Idee, sich an eine Partnervermittlung zu wenden.«
»Viele Leute machen es heute so. Alles ist bestens geregelt und obendrein sicher. Außerdem bin ich vielleicht Single, aber nicht dämlich. Ich denke, einen Axtmörder könnte ich durchaus erkennen.«
»Können Sie nicht! Niemand kann das. Heutzutage kann jeder ein Psychopath sein.«
»Aha. Sind Sie auch einer?«, erkundigte sie sich zuckersüß.
»Zufällig nicht«, gab er zurück. »Aber man weiß ja nie.«
Sie zuckte die Schultern und lächelte. »Ganz, wie Sie wollen. Sie können das Risiko eingehen, sich von einer Singlefrau fahren zu lassen, oder zu Fuß gehen.« Sie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster.
»Ich glaube, der Regen wird langsam zu Graupel. Hören Sie«, fuhr sie fort, »ich halte Sie für einen von den Guten. Immerhin sind Sie gerade einen Halbmarathon für einen guten Zweck gelaufen, und ich denke, bei Ihnen bin ich auf der sicheren Seite.«
»Danke, das ist sehr freundlich«, sagte er kleinlaut und wartete, bis Clare die Ladentür abgeschlossen hatte.
Schweigend gingen sie nebeneinander zum Parkplatz. Immer noch regnete es in Strömen, und Clare dachte bedauernd an den Regenschirm im Schaufenster.
Wäre sie allein gewesen, hätte sie ihn sich ausgeliehen, aber nachdem sie so viel Aufhebens darum gemacht hatte, dass nichts aus dem Schaufenster genommen werden durfte, hatte sie sich nicht getraut.
»Littlethorpe liegt vermutlich weit von Ihrem Ziel entfernt«, meinte er.
»Ich wusste, wo Sie wohnen, als ich Ihnen anbot, Sie zu fahren«, entgegnete sie.
»Dann haben Sie also noch kein heißes Date über Bettadates ergattert?« Nun war er an der Reihe, sie zu necken.
Sie öffnete die Fahrertür und warf ihm einen kühlen Blick zu. »Vielleicht habe ich eines, aber mir bleibt immer noch genügend Zeit, Sie zu Hause abzusetzen. Allerdings nur, wenn Sie irgendwann auch einsteigen.«
Ohne eine weitere Bemerkung faltete er sich auf den Beifahrersitz. In Littlethorpe lotste er sie zur Auffahrt eines ziemlich großen Hauses. Entweder bewohnte er es nur zum Teil oder es war bis unter das Dach mit Hypotheken belastet, denn sonst müsste er sich wahrscheinlich nicht im Sozialkaufhaus einkleiden.
»Kommen Sie doch einen Augenblick rein, während ich meine Geldbörse hole«, bot er an. »Es sei denn, Sie warten lieber im Auto …«
Dazu jedoch war Clare viel zu neugierig. Sie folgte ihm durch eine eichengetäfelte Eingangshalle in eine mit Naturstein geflieste Traumküche mit einem riesigen Herd. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Anrichte mit einem Spiegel. Jemand hatte mit Lippenstift etwas daraufgeschrieben.
Nachricht auf dem Tisch.
Clare und der Mann entdeckten die Botschaft im selben Moment. Mit ärgerlichem Gesicht griff er nach dem Zettel, las ihn und reichte ihn sofort an Clare weiter.
»Schauen Sie sich das an!«
Wenn du so wild darauf bist, etwas für soziale Zwecke zu tun, dann kannst du im Sozialkaufhaus nach deinen Klamotten suchen. Du investierst sowieso mehr Zeit für behinderte Kinder als für mich! Ich hoffe, der Fußmarsch nach Hause hat dir Spaß gemacht.
Clare biss sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass es Ihre Kleider waren?«
»Weil ich zunächst nicht sicher war, ob es sich wirklich um meine handelte. Doch dann fiel mir ein, dass meine Exfreundin schon einmal mit dieser Maßnahme gedroht hatte. Außerdem war es mir zu peinlich.«
Clare wandte sich ab, damit er ihr Lächeln nicht sah. »Aber das muss einem doch nicht peinlich sein!«
»Sie lachen über mich!«
»Nein, keineswegs!«
»Oh, doch. Dabei ist das alles andere als lustig.«
Weil er sie ohnehin ertappt hatte, hielt sie es nicht mehr für nötig, ihre Belustigung zu verbergen.
»Doch, das ist es. Sie müssen zugeben, dass da jemand ziemlich hysterisch war.« Sie blickte ihn fragend an. »Oder fehlt es Ihnen etwa an Humor?«
Widerwillig begann er zu grinsen. »Eigentlich habe ich einen ganz guten Sinn für Humor, aber der war mir gerade für einen Augenblick abhandengekommen. So, bitte, hier ist Ihr Geld.« Er holte seine Geldbörse und zählte den Betrag ab. »Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen.«
»Clare.«
»Ich heiße Grant. Und noch etwas, Clare.«
»Ja?«
»Dürfte ich Ihnen beweisen, dass Sie es nicht nötig haben, auf Partnervermittlungen zurückzugreifen, um Männer kennenzulernen? Würden Sie heute Abend mit mir in der Stadt etwas trinken?«
Clare dachte nach. Immerhin wohnte er in der Nähe. Ben aus Ripley lebte viele Kilometer entfernt. »Leiden Sie denn jetzt nicht an einem gebrochenen Herzen?«
Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, mein Herz fühlte sich in dieser Beziehung nie richtig beteiligt.« Er lächelte sie an, und plötzlich war die Tatsache, dass er in der Nähe wohnte, nicht mehr das einzige Argument zu seinen Gunsten.
»Gut, einverstanden. Im King’s Head?«
»Um acht.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen fuhr Clare nach Hause. Jeder Gedanke an Ben aus Ripley war längst Schnee von gestern.
Olivia sah dem gut aussehenden italienischen Küchenchef zu, der ihnen beibrachte, wie man Ravioli herstellt, und überlegte, warum sie sich das angetan hatte. Wäre es nicht das Geschenk für ihre beste Freundin zum Junggesellinnenabschied gewesen, hätte sie sicher nie im Leben an einem Kochkurs teilgenommen. Schon gar nicht an einem, der vierzehn Tage dauerte. Alles, was mit der Nahrungsherstellung zusammenhing, war irgendwie unordentlich und unvorhersehbar, und Olivia hasste Unordnung. Am meisten dann, wenn sie dazu auch noch klebrig war. Aus dem gleichen Grund verspürte sie übrigens auch wenig Neigung zum Sex.
Aber sie konnte es ebenfalls nicht leiden, wenn man sie übersah oder wenn sie keinen Erfolg hatte. In aller Regel vermied sie beides. Sie traf die richtige Wahl, und sie arbeitete hart. Wieso also bekam sie diesen jungen Mann nicht dazu, sie zumindest zu bemerken? Sie legte keinen Wert darauf, als Frau bewundert zu werden, sondern ihr war wichtig, als jemand anerkannt zu werden, der die Vorgaben befolgte und alles richtig machte.
Und so gab sie sich noch mehr Mühe. Sie trieb die Liste der Speisefolgen und Gerichte auf, die man ihnen beibringen würde. Nachmittags, wenn ihre beste Freundin Hannah und die anderen Frauen Siesta machten oder zu Besichtigungstouren und zum Einkaufsbummel aufbrachen, ging sie zurück in die leere Küche und übte. Vor allem den Umgang mit dem Messer. Inzwischen konnte sie Tomaten, Gurken, Peperoni und Zucchini in so winzige Partikel zerteilen, dass sie an Zuckerkristalle erinnerten. Olivia zerschnitt Sellerie zu transparenten Halbmonden, Karotten zu Streichhölzern und Petersilie zu Bergen smaragdfarbenen Staubs. Sie übte das Schneiden von Zwiebeln, bis sie in der Lage war, sie innerhalb von Sekunden zur Konsistenz von Steinsalz zu verarbeiten. Tapfer ignorierte sie die Tränen, die ihr dabei über das Gesicht strömten.
Am fünften Tag des Kochkurses hielt sie es nicht länger aus. »Warum sagen Sie eigentlich nie etwas zu mir?«, fragte sie ihren Kochlehrer, als dieser gerade die Küche verlassen wollte. »Nie loben Sie mich. Sie kritisieren mich nicht einmal.«
Er war ein strenger Lehrer, der manchmal zu vergessen schien, dass seine Schüler hier ihre Ferien verbrachten und nicht zu Meisterköchen ausgebildet werden sollten. Aber selbst als Olivias Pasta zu Kleister verkochte, sagte er nichts.
Er musterte sie von ihrem glatten, streng zusammengebundenen Haar über das ungeschminkte Gesicht bis hin zu ihren in Turnschuhen steckenden Füßen. »Weil Sie nicht kochen lernen müssen«, antwortete er. »Sie müssen erst einmal lernen, wie man isst. Vielleicht sogar, wie man lebt.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ die Küche.
Olivia schäumte vor Wut. Wie konnte er es wagen! Sie wusste sehr genau, wie man lebte, wie man das Leben meisterte und wie man seinen Körper in Form hielt. Für wen hielt sich dieser dahergelaufene Koch, ihr erklären zu wollen, sie wüsste nicht, wie man lebt? Nur für eine Sekunde kamen ihr leise Zweifel. Lag sie richtig? Hatte sie wirklich ihr Leben im Griff? War nicht alles ein wenig öde? Aber schnell verscheuchte sie diesen beunruhigenden Gedanken wieder und tat das, was sie immer tat, wenn sie sich ärgerte: Sie ging joggen.
Wenn sie lief, hatte sie niemals Augen für ihre Umgebung, noch nicht einmal jetzt und hier in der herrlichen Natur der Toskana. Laufen bedeutete für Olivia nicht, frische Luft zu schnappen oder die Umgebung zu genießen, sondern fit zu werden und zu bleiben. Ihre Arme und Beine bewegten sich in perfekter Harmonie. Sie hatte Stunden genommen, und ihre Technik war vollendet. Obwohl die Landschaft um die Kochschule nicht nur wunderschön, sondern auch recht hügelig war, veränderte sie bei den Anstiegen ihren Laufschritt nicht.
Bei der Rückkehr in ihr Zimmer fühlte sie sich besser. Sie duschte und zog ein Kleid an, das ihre gebräunten Arme und ihren flachen Bauch gut zur Geltung brachte. Ihre Figur bewies, dass für sie Nahrung den richtigen Stellenwert hatte, nämlich ziemlich weit unten auf der Prioritätenliste.
»Hi«, sagte Hannah. »Gut siehst du aus! Was hast du unternommen? Abgesehen vom Joggen, meine ich? Warum begleitest du uns eigentlich nie? Wir hatten richtig viel Spaß!« Olivia hörte den leisen Vorwurf. Der Grund, weshalb Hannah auf diesem Urlaub bestanden hatte, war der, einmal richtig Zeit füreinander zu haben. Hannah behauptete, dass sie einander in London nie zu Gesicht bekamen, weil Olivia entweder arbeitete oder sich im Fitness-Studio perfektionierte, und hatte gehofft, dass sich das im Urlaub einmal ändern könnte. Aber abgesehen vom ersten Abend hatten sie noch so gut wie nichts gemeinsam unternommen.
Olivia überlegte, ob sie flunkern sollte, entschied sich jedoch dagegen. Hannah und sie kannten sich seit langer Zeit, und sie schuldete ihr die Wahrheit. »Ich ertrage es einfach nicht, dass ich es nicht schaffe«, sagte sie. »Ich muss üben.«
»Aber du kannst es! Du bist supergut. Du bist immer supergut!«
Olivia bestritt das nicht. Falsche Bescheidenheit war hier fehl am Platz. »Aber warum lobt Claudio mich dann nie? Warum redet er nicht einmal mit mir? Das macht mich allmählich verrückt!«
Hannah zuckte mit den Schultern und seufzte. Der Drang ihrer Freundin nach Perfektion lief manchmal ein wenig aus dem Ruder.
Olivia übte weiter jeden Nachmittag, weil sie sich sicher war, dass Claudio sie eines Tages bemerken würde. Und irgendwann war es tatsächlich so weit. Er betrat die Küche, als sie gerade ein Risotto zubereitete. Es sollte ebenso cremig und sämig werden wie das, was er selbst zauberte. In zwei Tagen würden sie abreisen, und das Risotto war sozusagen ihr Gesellenstück. Olivia hörte nicht, wie er hinter sie trat.
»Was machen Sie da?«
Sie zuckte zusammen und wusste im ersten Moment nichts zu sagen. Er schien zornig zu sein. Seine Brauen waren gerunzelt und sein sinnlicher Mund fest zusammengepresst.
»Sie rühren doch da etwas. Was ist das?«, fragte er.
»Risotto.« Sie schaffte es, nicht zu stottern, doch es kostete sie einige Mühe.
»Und wonach schmeckt es?«
»Ich habe es nicht probiert. Wahrscheinlich ist es köstlich. Und es ist gleich fertig.«
»Dann probieren Sie es!«
»Ich esse keinen Reis. Er gehört zu den komplexen Kohlenhydraten.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, hätte nicht verächtlicher sein können, wenn sie ihm gestanden hätte, dass sie gern kleine Kinder aß. »Man kann nicht kochen, wenn man nicht kostet. Würden Sie etwa mit geschlossenen Augen ein Bild malen?«
»Aber ich weiß doch, woraus dieses Gericht besteht«, rechtfertigte sie sich. »Ich habe mich genau an das Rezept gehalten, alle Zutaten sorgfältig abgewogen …«
»Essen Sie es!«, schrie er sie an.
Bis zu diesem Augenblick hatte Olivia geglaubt, sich vor nichts und niemandem zu fürchten. Doch vor diesem wütenden Koch fürchtete sie sich. Hastig suchte sie nach einer Gabel, einem Teller und einer Serviette. Claudio schnaubte nur und drückte ihr einen Holzlöffel in die Hand.
»Probieren Sie!«
»Aber die Keime!«, protestierte sie. »Von diesem Löffel kann ich nicht essen. Er …« Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, als er ihr den Löffel aus der Hand nahm und ihn im Risotto versenkte.
»Schließen Sie die Augen!«, befahl er. »Und öffnen Sie den Mund!«
Es bedurfte einer enormen Willensanstrengung, aber sie gehorchte, einigermaßen sicher, dass sie sofort entweder würgen oder husten musste. Sie spürte den Holzlöffel für den Bruchteil einer Sekunde an den Lippen, dann sagte Claudio plötzlich: »Nein, so geht es nicht. Räumen Sie das Durcheinander hier auf und kommen Sie mit!« Mit diesen Worten warf er den benutzten Löffel auf die Arbeitsplatte.
Während Olivia aufräumte und wischte, holte er scheinbar wahllos Dinge aus dem Kühlschrank und aus der Küche und stopfte sie in eine Tasche. Eine reife Melone, Tomaten, Käse, ein Messer, Brot, eine Flasche Wein, Öl, eine Pfeffermühle, eine Lage Parmaschinken, etwas Mascarpone und ein paar Feigen. »So, und jetzt kommen Sie!«
Olivia war es nicht gewohnt, so behandelt zu werden. Ihre jeweiligen Freunde respektierten sie, wussten, dass sie nach dem Prinzip »Selbst ist die Frau« lebte, sich nie die Einkaufstüten abnehmen ließ und lieber allein schlief. Die merkwürdige Behandlung durch den Koch schockierte sie. Sie zitterte und schwitzte und versuchte, sich mit Yoga-Atemübungen zu beruhigen, ohne dass Claudio es bemerkte. Sie hatte gerade eine halbe Ujjayi-Atmung hinter sich gebracht, als er sie am Handgelenk packte und aus der Küche zerrte.
Kurz überlegte sie, ob sie die Kenntnisse aus ihrem Selbstverteidigungskurs anwenden sollte, wollte es aber dann doch lieber nicht riskieren. Er war zwar nicht übermäßig groß, wirkte jedoch ziemlich fit. Sie sah die Muskeln unter seinem T-Shirt. Eine der Frauen hatte Claudio einmal als »wandelnden Sex« bezeichnet, und die anderen waren damit durchaus einverstanden gewesen. Olivia wusste im Augenblick nicht genau, wie sie dazu stehen sollte, doch ihr Gefühl hatte sicher mehr mit Hormonen und Pheromonen zu tun, als ihr lieb war.
Neben dem roten Ferrari, mit dem er jeden Morgen zum Kurs kam, blieb er stehen. Olivia hatte beim ersten Anblick des Wagens leise von einem billigen Klischee gesprochen, doch die anderen waren überhaupt nicht ihrer Meinung. Claudio öffnete die Tür, warf die Tasche nach hinten und befahl knapp: »Einsteigen!«
In London hätte Olivia es ebenso heftig abgelehnt, mit einem solchen Mann ins Auto zu steigen, wie sie es abgelehnt hätte, die Themse zu durchschwimmen. Sie konnte sich doch keinem fast fremden Mann anvertrauen! Und noch schlimmer: einem Fremden, der mit ziemlicher Sicherheit halsbrecherisch fahren würde. Hätte sie jedoch abgelehnt, hätte er ihr das als Schwäche ausgelegt und als Beweis dafür angesehen, dass sie nicht zu leben wusste. Also ließ Olivia sich in den Sitz sinken, fummelte am Sicherheitsgurt herum und spürte, dass Claudio sie ansah. Sie wusste, dass er sie für feige hielt, weil sie sich anschnallen wollte.
Während der gesamten Fahrt hielt sie die Augen fest geschlossen und wandte den Kopf ab, damit er es nicht sah. Als sie schließlich ausstieg, zitterten ihre Knie. Sie wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. Nicht, dass er sie etwa berührte und den Schweiß spürte!
»Folgen Sie mir!«, befahl er und nahm die Tasche aus dem Auto. Er blickte sich nicht zu ihr um. Den Zündschlüssel ließ er stecken. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie einfach einsteigen und zurückfahren können. Gut, vielleicht wäre es nicht einfach, aber möglich. Doch sie tat es nicht.