Über die Autorin
Dolores Redondo wurde 1969 in San Sebastián (Baskenland) geboren und hat Jura studiert. Heute lebt sie in der nordspanischen Region Navarra, die sie auch als Schauplatz ihrer Krimis gewählt hat. Mit ihrer Baztán-Trilogie hat Dolores Redondo die spanischen Bestsellerlisten im Sturm erobert, alle drei Romane standen auf Platz 1. Die Trilogie erscheint in über 30 Ländern und wird fürs Kino verfilmt.
DOLORES REDONDO
DER NÄCHTLICHE
BESUCHER
KRIMINALROMAN
Aus dem Spanischen von
Matthias Strobel
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Dolores Redondo Meira
Titel der spanischen Originalausgabe: »Ofrenda a la tormenta«
Originalverlag: Editorial Planeta, S.A.
By Agreement with Pontas Literary & Film Agency
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © getty images/Iñaki Gomez Marin
Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3001-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Eduardo, wie alles, was ich mache.
Für meine Tante Ángela und all die stolzen Frauen in meiner
Familie, die immer zu tun wussten, was zu tun war.
Und vor allem für Ainara.
Ich kann dir keine Gerechtigkeit widerfahren lassen,
doch wenigstens an deinen Namen kann ich erinnern.
»Wir wollen zusammen hinknien, wir wollen
versuchen, uns eines Gebetes zu erinnern.«
(…)
»Solche Worte haben keinen Sinn mehr für mich.«
OSCAR WILDE, Das Bildnis des Dorian Gray
Alles, was einen Namen hat, existiert.
Volksweisheit aus Baztán, gesammelt von
JOSÉ MIGUEL DE BARANDIARÁN in Hexerei und Hexen
Trust I seek and find in you
Every day for us something new
Open mind for a different view
And nothing else matters.
METALLICA, Nothing Else Matters
Die Lampe auf dem Nachttisch verströmte warmes, rötliches Licht, das sich an den schönen Feenbildern des Glockenschirms in weitere Farbtöne brach. Auf dem Regal saß eine ganze Sammlung kleiner Plüschtiere und betrachtete mit glänzenden Augen den Eindringling, der schweigend das ruhige Gesicht des schlafenden Babys musterte. Der Eindringling horchte auf das Geräusch des Fernsehers, der im Nachbarzimmer lief, und auf das lautstarke Atmen der Frau, die im kalten Licht des Bildschirms auf dem Sofa schlief. Wie verzückt ließ er den Blick durch den Raum schweifen und achtete auf jedes Detail, als könnte er so den Augenblick festhalten und auf ewig bewahren, wie einen Schatz, an dem er sich bis ans Ende seiner Tage erfreuen konnte. Mit einer Mischung aus Gier und Gelassenheit prägte er sich die sanft geschwungenen Linien des bemalten Papiers ein, die gerahmten Fotos, die Reisetasche mit den Windeln und der Wäsche der Kleinen, und ließ den Blick schließlich auf der Wiege ruhen. Ein Gefühl von Betrunkenheit machte sich in ihm breit, eine Art Übelkeit, die am Mageneingang lauerte. Das auf dem Rücken liegende Mädchen trug einen Frotteeschlafanzug und lag bis zur Hüfte unter einer geblümten Daunendecke, die der Eindringling nun wegzog, um es ganz sehen zu können. Das Baby seufzte im Schlaf, zwischen den rötlichen Lippen lief Speichel hervor, der auf der Wange eine feuchte Spur hinterließ. Die drallen Händchen, die leicht geöffnet neben dem Kopf lagen, zitterten kurz und ruhten dann wieder reglos. Angesteckt von der Kleinen, seufzte auch der Eindringling, und eine Welle der Zuneigung durchlief ihn, kurz nur, aber lang genug, um sich gut zu fühlen. Er nahm das Plüschtier, das vor der Wiege saß wie ein stiller Wächter, und konnte die Sorgfalt fast spüren, mit der jemand es dort platziert hatte. Es war ein Eisbär mit schwarzen Äuglein und dickem Bauch. Um seinen Hals trug er ein nicht ganz passendes rotes Band, das ihm bis zwischen die Hinterläufe hing. Der Eindringling strich dem Plüschbären sanft über den Kopf und vergrub seine Nase in dem weichen Bauch, um den süßen Duft des teuren Spielzeugs einzuatmen.
Plötzlich bemerkte er, wie sein Herz zu rasen begann und ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Zorn wallte in ihm auf, und er riss sich den Bären förmlich vom Gesicht. Entschlossen legte er ihn auf den Kopf des Babys und drückte zu.
Die Händchen zuckten, reckten sich gen Himmel, ein Fingerchen streifte das Handgelenk des Eindringlings. Kurz darauf schien das Baby in einen tiefen, erholsamen Schlaf zu sinken, all seine Muskeln entspannten sich, und seine Seesternhändchen ruhten wieder reglos auf dem Laken.
Der Eindringling hob den Plüschbären wieder an und betrachtete das Gesicht des Mädchens. Nichts deutete darauf hin, dass es gelitten hatte, abgesehen von einer leichten Rötung, die wahrscheinlich von der Nase des Bären stammte. Kein Leuchten war mehr in seinem Gesicht, und das Gefühl, es mit einem leeren Gefäß zu tun zu haben, wuchs noch, als der Eindringling das Plüschtier wieder zum Gesicht führte, um den Duft einzuatmen, der nun um den letzten Hauch einer Kinderseele bereichert war. Dieser Duft war so süß und köstlich, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Der Eindringling seufzte dankbar, zupfte das Bändchen zurecht und setzte den Bären wieder vor die Wiege.
Plötzlich hatte er es eilig, als wäre ihm schlagartig bewusst geworden, dass er sich schon viel zu lange aufgehalten hatte. Nur einmal drehte er sich noch um. Das Licht der kleinen Lampe warf einen mitfühlenden Glanz auf die Augenpaare der anderen Plüschtiere, die ihn vom Regal aus entsetzt anstarrten.
Amaia saß seit zwanzig Minuten im Auto und observierte das Haus. Sie hatte den Motor ausgemacht, die Scheiben waren beschlagen, und der Regen tat sein Übriges dazu, dass die Fassade mit den dunklen Fensterläden nur verschwommen zu sehen war.
Ein Wagen hielt direkt vor der Tür. Ein junger Mann stieg aus, spannte einen Regenschirm auf, beugte sich über das Armaturenbrett und griff nach einem Notizbuch. Er warf einen kurzen Blick hinein und ließ es dann wieder auf die Ablage fallen. Dann machte er die Tür zu, holte ein flaches Paket aus dem Kofferraum und ging zum Hauseingang.
Amaia war bei ihm, als er gerade läutete.
»Wer sind Sie?«
»Sozialer Dienst. Wir bringen jeden Tag das Mittag- und Abendessen«, erklärte er und deutete auf das in Zellophan eingeschweißte Essen in seiner Hand. »Der Mann darf nicht aus dem Haus und hat niemanden, der sich um ihn kümmert. Sind Sie eine Angehörige?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Nein, Policía Foral.«
»Aha«, sagte der Sozialarbeiter, offenbar enttäuscht.
Er klingelte noch einmal, trat näher an die Tür und rief:
»Señor Yáñez, ich bin’s, Mikel, vom Sozialen Dienst. Erinnern Sie sich? Ich bringe Ihnen …«
Bevor er zu Ende sprechen konnte, wurde geöffnet. Das hagere, aschgraue Gesicht von Yáñez erschien in der Tür.
»Natürlich erinnere ich mich, ich bin ja nicht senil. Und wieso zum Teufel schreien Sie so? Taub bin ich nämlich auch nicht«, blaffte er schlecht gelaunt.
»Natürlich nicht, Señor Yáñez«, beschwichtigte der junge Mann grinsend, drückte die Tür auf und schlüpfte hinein.
Amaia suchte nach ihrem Dienstausweis.
»Nicht nötig«, sagte Yáñez, der sie erkannt hatte und beiseitetrat, um sie hereinzulassen.
Er trug eine Cordhose und einen dicken Pullover, über den er einen Frotteebademantel gezogen hatte, dessen Farbe Amaia im spärlichen Licht, das durch die fast vollständig geschlossenen Fensterläden fiel, nicht ausmachen konnte. Sie folgte Yáñez über den Flur in die Küche, wo die Neonlampe mehrmals flackerte, bevor sie ansprang.
»Aber Señor Yáñez!«, rief der junge Mann einen Tick zu laut. »Sie haben Ihr Abendessen ja gar nicht gegessen!« Er hatte den Kühlschrank geöffnet, holte ein paar verschweißte Päckchen heraus und stellte die neuen hinein. »Sie wissen doch, dass ich das in meinem Bericht vermerken muss. Wenn der Arzt mit Ihnen schimpft, dürfen Sie sich nicht bei mir beschweren.« Er sprach wie zu einem kleinen Kind.
»Das kannst du von mir aus sonstwo vermerken«, raunzte Yáñez.
»Hat Ihnen der Seehecht mit Soße nicht geschmeckt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Heute gibt’s Kichererbsen mit Fleisch und Joghurt, und zum Abendessen Tortilla, Suppe und als Nachtisch Biskuit.« Er drehte sich um, stapelte die nicht angerührten Speisen auf einem Tablett, bückte sich zur Spüle hinunter, verknotete die halbleere Mülltüte und machte sich auf den Weg. An der Tür blieb er noch einmal stehen und sagte wieder etwas zu laut: »Gut, Señor Yáñez, das wär’s dann. Guten Appetit und bis morgen.«
Er nickte Amaia zu und ging los. Yáñez wartete, bis er die Haustür ins Schloss fallen hörte, bevor er das Wort ergriff.
»Na, wie fanden Sie diesen Auftritt? Heute hat er sich ziemlich viel Zeit genommen, normalerweise dauert es keine zwanzig Sekunden. Der arme Kerl will weg, bevor er überhaupt reingekommen ist«, sagte er, schaltete das Licht aus und ließ Amaia fast im Dunkeln stehen. »Hier drin kriegt er das Grausen, und ich kann es ihm nicht verübeln, ist ja auch wie auf dem Friedhof bei mir.«
Auf dem braunen Samtsofa lagen ein Kissen, zwei grobe Decken und ein Laken. Amaia vermutete, dass Yáñez dort schlief und wahrscheinlich auch den größten Teil des Tages dort verbrachte. Überall waren Krümel, und auf einer der Decken prangte ein trockener eigelbfarbener Fleck. Yáñez setzte sich, gegen das Kissen gelehnt. Amaia betrachtete ihn aufmerksam. Ein Monat war vergangen, seit sie ihn auf dem Kommissariat gesehen hatte. Aufgrund seines Alters wartete er unter Hausarrest auf seinen Prozess. Er war dünner geworden, und der harte, misstrauische Gesichtsausdruck hatte sich ihm so tief eingegraben, dass er wie ein verrückter Asket wirkte. Seine Haare waren kurz geschnitten, und er hatte sich auch rasiert, aber unter dem Bademantel und dem Pullover lugte das Schlafanzugoberteil hervor. Amaia fragte sich, wie lange er das wohl schon trug. Es war eiskalt in der Wohnung, als wäre seit Tagen nicht mehr geheizt worden. Dem Sofa gegenüber befanden sich ein Kamin, in dem allerdings kein Feuer brannte, und ein auf lautlos gestellter, ziemlich neuer Fernseher, der den Kamin an Größe noch übertraf und das Zimmer in ein kaltes bläuliches Licht tauchte.
»Kann ich die Fenster öffnen?«, fragte Amaia.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Hauptsache, Sie machen sie hinterher wieder zu.«
Sie nickte, öffnete die Fenster und stieß die Holzläden auf, um das spärliche Licht Baztáns einzulassen. Dann drehte sie sich wieder zu ihm und bemerkte, dass er seine ganze Aufmerksamkeit auf den Fernseher gerichtet hatte.
»Señor Yáñez.«
Er starrte auf den Bildschirm, als wäre sie überhaupt nicht anwesend.
»Señor Yáñez.«
Missmutig sah er sie an.
»Ich würde mich gern mal umsehen«, sagte sie und machte eine Geste in Richtung Flur.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, erwiderte er, »aber bringen Sie nicht alles durcheinander. Beim letzten Mal haben Ihre Kollegen das reinste Chaos hinterlassen. Ich hab ewig gebraucht, bis alles wieder so war wie vorher.«
»Natürlich.«
»Außer dem Polizisten gestern, der war etwas rücksichtsvoller.«
»Gestern war ein Polizist hier?«, fragte sie erstaunt.
»Ja, ein netter Mensch. Hat mir sogar einen Milchkaffee gemacht, bevor er wieder gegangen ist.«
Das Haus hatte nur ein Stockwerk. Neben der Küche und dem kleinen Wohnzimmer gab es noch drei Schlafzimmer und ein ziemlich großes Bad. Amaia öffnete die Schränkchen und nahm die Regale genauer unter die Lupe: Rasierzeug, Toilettenpapier, irgendwelche Tabletten. Das erste Schlafzimmer dominierte ein Ehebett, in dem schon seit längerem niemand mehr geschlafen zu haben schien. Die geblümte Tagesdecke, die gut zu den Vorhängen passte, war an den Stellen, auf die seit Jahren die Sonne schien, stark ausgebleicht. Häkeldeckchen auf dem Toilettentisch und den beiden Nachttischen verstärkten noch den Eindruck einer Zeitreise in diesem Zimmer, das jemand in den Siebzigerjahren mit viel Liebe eingerichtet hatte, wahrscheinlich Yáñez’ Frau. Offenbar hatte er daran nie wieder etwas geändert. Die Vasen mit den Plastikblumen in den schrillsten Farben riefen in Amaia ein unwirkliches Gefühl hervor, als wäre das Zimmer eine Rekonstruktion in einem ethnologischen Museum, so kalt und unwirtlich wie ein Grab.
Das zweite Schlafzimmer war leer, bis auf eine alte Schreibmaschine und einen Weidenkorb vor dem Fenster. Amaia erinnerte sich noch gut an den Durchsuchungsbericht. Trotzdem hob sie den Deckel an, um sich die Stoffreste anzusehen, unter denen auch eine farbintensivere Version des Vorhangstoffs aus dem ersten Schlafzimmer war.
Das dritte Schlafzimmer war das Kinderzimmer, so hatte es wenigstens im Bericht geheißen. Und so war es auch: das typische Zimmer eines elf oder zwölf Jahre alten Jungen. Einzelbett mit einer sauberen weißen Tagesdecke; auf den Regalen Exemplare einer Kinderbuchreihe, die auch sie selbst schon gelesen hatte, und Spielzeug, vor allem Modellbauten, Schiffe, Flugzeuge, eine ganze Sammlung Metallautos, alle schön aufgereiht und ohne einen Fussel Staub; an der Innenseite der Tür das Poster eines Ferraris und auf dem Schreibtisch alte Schulbücher und ein Stapel Sammelbildchen, die von einem Gummiring zusammengehalten wurden. Sie nahm ihn in die Hand und stellte fest, dass das Gummi hart, rissig und mit der bleichen Pappe der Bildchen verklebt war. Sie legte den Stapel wieder zurück und verglich im Geist dieses eiskalte Zimmer mit Berasateguis Wohnung in Pamplona. In Yáñez’ Haus gab es noch zwei weitere Räume, eine kleine Waschküche und eine gut gefüllte Brennholzkammer, in der auch Gartenwerkzeuge und Kisten mit Kartoffeln und Zwiebeln verstaut waren. Neben der Tür, die nach draußen führte, befand sich ein ausgeschalteter Gasbrenner.
Amaia holte sich aus der Küche einen Stuhl und stellte ihn zwischen Yáñez und den Fernseher.
»Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen.«
Yáñez nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann sah er Amaia an, mit seinem typischen Gesichtsausdruck zwischen wütend und verbittert, der Amaia schon bei ihrer ersten Begegnung dazu veranlasst hatte, ihn in der Kategorie unberechenbar abzuspeichern.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn.«
Yáñez zuckte mit den Schultern.
»Wie war Ihre Beziehung zu ihm?«
»Er ist ein guter Junge«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. »Und er hat alles getan, was man von einem guten Jungen erwarten konnte.«
»Zum Beispiel?«
Diesmal musste er nachdenken.
»Er hat mir Geld gegeben, ab und zu eingekauft, Essen gebracht, solche Sachen halt.«
»Ich habe da ganz andere Informationen. Im Dorf heißt es, Sie hätten den Jungen nach dem Tod Ihrer Frau zum Studieren ins Ausland geschickt und er hätte sich jahrelang nicht mehr hier blicken lassen.«
»Er hat eben studiert und musste viel lernen, zwei Studiengänge und ein Master, der Junge ist einer der besten Psychiater überhaupt.«
»Seit wann hat er Sie wieder häufiger besucht?«
»Weiß nicht, seit einem Jahr vielleicht.«
»Hat er auch mal was anderes mitgebracht als Essen, etwas, das Sie hier oder woanders für ihn aufbewahren sollten?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Ich habe mir das Haus angesehen«, sagte sie und blickte sich um. »Sehr sauber.«
»Das muss so sein.«
»Verstehe, für den Fall, dass Ihr Sohn wiederkommt.«
»Nein, wegen meiner Frau. Es ist alles so, wie es war, als sie gegangen ist.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse aus Ekel und Schmerz, ohne einen Laut von sich zu geben. Dass er weinte, wurde Amaia erst klar, als ihm Tränen über die Wangen liefen.
»Das ist das Einzige, was ich tun konnte, alles andere habe ich vermasselt.«
Er ließ den Blick von einem Gegenstand zum anderen schweifen, als läge irgendwo zwischen dem ausgeblichenen Zierrat auf den Fensterbrettern und den Tischchen eine Antwort verborgen, bis er schließlich an Amaias Augen haften blieb. Plötzlich packte er eine Decke, zog sie sich vor das Gesicht und riss sie zwei Sekunden später wütend wieder herunter, als wollte er sich selbst für die Schwäche bestrafen, vor Amaia geweint zu haben. Amaia war fast sicher, dass ihr Gespräch damit beendet war, aber Yáñez hob das Kissen an, an dem er gelehnt hatte, und holte ein gerahmtes Foto hervor, das er wie verzückt ansah, bevor er es ihr überreichte. Diese Geste versetzte Amaia ein Jahr zurück, in ein anderes Zimmer, in dem ein ebenfalls verzweifelter Vater ihr das Porträt seiner ermordeten Tochter überreicht hatte; auch er hatte es unter seinem Kissen aufbewahrt. Sie hatte den Vater von Anne Arbizu nicht wiedergesehen, aber sein Schmerz, der nun in dem Gesicht dieses anderen Vaters stand, traf sie mit großer Wucht. Wie sehr doch der Schmerz zwei unterschiedliche Menschen in einer Geste vereinen kann, dachte sie.
Aus dem Rahmen lächelte ihr eine junge, höchstens fünfundzwanzigjährige Frau entgegen. Sie betrachtete sie kurz, bevor sie Yáñez das Foto zurückgab.
»Ich dachte, ich hätte das Glück gepachtet. Eine junge Frau, hübsch, gutherzig … Aber als der Kleine auf der Welt war, wurde sie komisch, war ständig traurig, lächelte nicht mehr, wollte das Kind nicht in den Arm nehmen, sagte, sie könne ihn nicht lieben, er weise sie ab, das spüre sie. Und ich konnte ihr nicht helfen. Das ist doch Quatsch, habe ich zu ihr gesagt, natürlich liebt er dich, aber das hat sie nur noch trauriger gemacht. Immer trauriger. Trotzdem hat sie das Haus immer sauber gehalten und jeden Tag gekocht. Nur gelächelt hat sie nicht mehr, oder genäht. Wenn sie frei hatte, hat sie geschlafen, die Fensterläden zugemacht und geschlafen, so wie ich jetzt. Ich weiß noch gut, wie stolz wir waren, als wir dieses Haus gekauft haben, wie hübsch sie es eingerichtet hat; wir haben es gestrichen und Blumenkästen angebracht. Es lief alles gut, und ich dachte, so würde es für immer bleiben. Aber ein Haus bedeutet nicht automatisch ein Zuhause, stattdessen verwandelte es sich in ihr Grab. So wie jetzt für mich, nur dass man es in meinem Fall Hausarrest nennt. Der Anwalt meint, wenn das Urteil gefällt ist, werde ich meine Strafe hier absitzen können, also wird dieses Haus mein Grab werden. Nachts kriege ich kein Auge zu, spüre unter meinem Kopf das Blut meiner Frau.«
Amaia betrachtete das Sofa näher. Es passte nicht recht zur restlichen Einrichtung.
»Ich habe es neu beziehen lassen, weil überall Blut war. Diesen Stoff habe ich ausgesucht, weil der ursprüngliche nicht mehr hergestellt wird. Ansonsten habe ich nichts verändert. Wenn ich mich hinlege, kann ich unter dem neuen Bezug das Blut riechen.«
»Ziemlich kalt hier«, sagte Amaia und unterdrückte ein Schaudern, das ihr den Rücken hinunterlief.
Yáñez zuckte mit den Schultern.
»Warum machen Sie nicht die Heizung an?«
»Die ist kaputt, seit dem Abend, als der Strom ausfiel.«
»Das ist doch schon über einen Monat her. Leben Sie seither ohne Heizung?«
Er antwortete nicht.
»Was ist mit dem Sozialen Dienst?«
»Ich lasse nur den Burschen mit dem Tablett rein. Das habe ich denen von Anfang an klargemacht: Wenn sie herkommen, stehe ich mit der Axt in der Tür.«
»Sie haben auch noch den Kamin. Warum zünden Sie den nicht an? Warum sitzen Sie hier in der Kälte rum?«
»Weil ich es verdient habe.«
Amaia stand auf, verließ das Zimmer und kam mit einem Korb voller Brennholz und alten Zeitungen wieder. Sie kniete sich vor den Kamin und stocherte die Asche zurecht, um die Scheite richtig zu platzieren. Dann nahm sie die Streichhölzer, die auf dem Bord lagen, machte Feuer und kehrte an ihren Platz zurück. Yáñez hielt den Blick starr auf die Flammen gerichtet.
»Das Zimmer Ihres Sohnes ist auch noch so wie früher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Mann wie er dort übernachten möchte.«
»Hat er auch nie. Manchmal kam er zum Mittagessen, blieb auch mal bis zum Abendessen, aber geschlafen hat er hier nie. Lieber ist er abends gegangen und am anderen Morgen wiedergekommen. Im Hotel sei es ihm lieber, hat er gesagt.«
Amaia glaubte das nicht. Sie hatten es überprüft, und es hatte sich kein Hinweis darauf gefunden, dass er in einem Hotel oder Landgasthof im Tal übernachtet hatte.
»Sind Sie sicher?«
»Ja, schon, aber hundert Prozent bestätigen kann ich es nicht. Mein Gedächtnis ist bei weitem nicht mehr so gut, wie ich es der Sozialbehörde weismache, manchmal vergesse ich auch Sachen.«
Amaia holte ihr Handy hervor, das zuvor schon mehrmals in ihrer Manteltasche vibriert hatte. Sie suchte nach einem Foto, tippte auf das Display, um es zu vergrößern, und zeigte es Yáñez, ohne selbst einen Blick darauf zu werfen.
»War er mit dieser Frau hier?«
»Das ist Ihre Mutter.«
»Kennen Sie sie? Haben Sie sie an jenem Abend gesehen?«
»Nein, an jenem Abend nicht, aber ich kenne Ihre Mutter, seit ich denken kann. Sie ist älter geworden, sonst hat sie sich kaum verändert.«
»Denken Sie gut nach, Sie haben ja selbst gesagt, dass Ihr Gedächtnis nachlässt.«
»Manchmal vergesse ich, zu Abend zu essen, manchmal esse ich auch zweimal, weil ich vergessen habe, dass ich schon gegessen habe, aber ich vergesse garantiert niemanden, der zu mir zu Besuch kommt. Und Ihre Mutter hat nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt.«
Amaia schaltete das Display aus und ließ das Handy wieder in ihre Manteltasche gleiten. Bevor sie aufbrach, stellte sie den Stuhl an seinen Platz zurück und klappte die Fensterläden zu. Als sie wieder im Auto saß, wählte sie eine Nummer, während das Handy schon wieder vibrierte. Der Mann am anderen Ende sagte seinen Namen und den der Firma.
»Ja, ich hätte gern, dass Sie jemanden schicken, um einen Heizkessel zu reparieren, der seit dem großen Sturm kaputt ist.« Dann gab sie Yáñez’ Adresse durch.
Amaia parkte vor dem Lamien-Brunnen. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und durchquerte den kleinen Torbogen, der den Platz von der Pedro-Axular-Straße trennte. Trotz des prasselnden Regens waren die aufgeregten Stimmen deutlich zu hören. Inspektor Iriartes Gesicht verriet die gleiche Dringlichkeit wie seine unzähligen Anrufe. Er nickte ihr von weitem zu, ohne den Menschenpulk aus den Augen zu lassen, den er von dem Streifenwagen fernzuhalten versuchte. In dem Auto saß ein müde wirkender Mann, der seinen Kopf an die von Regentropfen übersäte Scheibe lehnte. Zwei Beamte bemühten sich erfolglos, einen Kordon um einen Rucksack zu bilden, der mitten in einer Wasserlache stand. Amaia ging schneller, um ihnen zu Hilfe zu kommen, und holte gleichzeitig ihr Handy hervor, um Verstärkung herbeizurufen. In diesem Augenblick rasten zwei Streifenwagen mit heulenden Sirenen über die Giltxaurdi-Brücke und zogen die Aufmerksamkeit des Pulks auf sich, der, vom Sirenengeheul übertönt, verstummte.
Iriarte war vollkommen durchnässt. Immer wieder wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht, während er mit Amaia sprach. Wie von Zauberhand erschien von irgendwoher Jonan Etxaide und reichte ihnen einen riesigen Regenschirm, bevor er sich zu den Polizisten gesellte, die sich gegen die Menschenmenge stemmten.
»Inspector?«
»Der Verdächtige im Wagen ist Valentín Esparza. Seine vier Monate alte Tochter ist vorgestern Abend im Haus der Großmutter mütterlicherseits gestorben. Der Arzt hat plötzlichen Kindstod attestiert, es handelt sich also vermeintlich um ein Unglück. Nun ist es aber so, dass die Großmutter, Inés Ballarena, gestern im Kommissariat vorstellig wurde. Laut ihrer Aussage war es das erste Mal, dass sie die Kleine hütete, damit die Eltern mit einem Abendessen ihren Hochzeitstag feiern konnten. Sie hatte sich sehr darauf gefreut und dem Mädchen sogar ein eigenes Zimmer hergerichtet. Abends hat sie ihm das Fläschchen gegeben, es ins Bett gelegt und ist dann im Nachbarzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie schwört, dass das Babyphone eingeschaltet war. Nachts weckte sie ein Geräusch. Sie vergewisserte sich, dass die Kleine schlief, und hörte draußen ein Prasseln, wie wenn Autoreifen über Kies rollen. Als sie aus dem Fenster sah, fuhr tatsächlich gerade ein Auto weg. Das Kennzeichen hat sie nicht erkannt, doch sie meint, das Auto ihres Schwiegersohns erkannt zu haben, weil es groß und grau war«, erklärte Iriarte mit einer vagen Geste. »In diesem Moment sah sie auf die Uhr. Es war vier, und sie dachte, die beiden wären vielleicht vorbeigefahren, um zu schauen, ob noch Licht brannte. Ihr Haus liege nämlich auf ihrem Heimweg. Deshalb habe sie sich auch nicht weiter gewundert. Sie legte sich wieder auf das Sofa und schlief weiter. Am nächsten Morgen wunderte sie sich, dass die Kleine nicht nach Essen schrie, und als sie nach ihr sah, war sie tot. Die Frau ist am Boden zerstört, wird schier erdrückt von ihren Schuldgefühlen. Als der Rechtsmediziner den Todeszeitpunkt auf zwischen vier und fünf Uhr morgens bestimmte, fiel ihr wieder ein, dass sie genau um diese Uhrzeit das Auto gehört hatte. Und sie vermutet, dass sie vorher von einem Geräusch im Haus aufgeweckt wurde. Sie fragte ihre Tochter danach, aber die sagte, sie seien gegen halb zwei nach Hause gekommen, weil ihr nach ihrer langen Abstinenz ein Glas Wein und ein Drink in den Kopf gestiegen seien. Als der Schwiegersohn befragt wurde, reagierte er merkwürdig, wurde nervös und verweigerte die Aussage, wahrscheinlich sei in dem Auto irgendein Pärchen gewesen auf der Suche nach einem ungestörten Ort, das sei angeblich schon öfter vorgekommen. Aber da erinnerte sich Inés Ballarena an ein weiteres Detail: Die Hunde hatten nicht gebellt. Sie hält zwei Hunde im Garten und versichert, dass sie sofort wie verrückt bellen, wenn jemand Fremdes sich nähert.«
»Was ist dort drüben los?«, fragte Amaia und richtete den Blick auf den Pulk, der sich eingeschüchtert von der Polizeipräsenz und dem immer stärker werdenden Regen zum Eingang der Leichenhalle zurückgezogen hatte. In der Mitte der Menschenmenge stand eine Frau, die wiederum eine andere Frau umarmte, die hysterisch etwas Unverständliches schrie.
»Die, die schreit, das ist die Mutter; die, die sie umarmt, die Großmutter«, erklärte Iriarte, der Amaias Blick gefolgt war. »Die arme Frau ist erschüttert, hat die ganze Zeit geweint, als sie mir alles erzählt hat. Zuerst dachte ich, sie sucht nur eine Erklärung für etwas, das sie nicht verkraften kann. Es war wie gesagt das erste Mal, dass man ihr das Baby anvertraut hatte, die erste Enkelin, kein Wunder, dass sie am Boden zerstört ist.«
»Was gibt es noch?«
»Ich habe den Kinderarzt angerufen. Plötzlicher Kindstod, ohne jeden Zweifel. Das Mädchen kam zu früh zur Welt. Weil die Lunge noch nicht ganz ausgebildet war, hat es die ersten zwei Monate im Krankenhaus verbracht. Es ist zwar entlassen worden, aber der Kinderarzt hat das Mädchen in dieser Woche untersucht, weil es erkältet war, nichts Schlimmes, ein Schnupfen. Für ihn war die Todesursache jedenfalls klar, weil das Baby noch so klein war und mit Untergewicht geboren wurde. Vor einer Stunde kam die Großmutter aber erneut aufs Kommissariat. Sie behauptete steif und fest, das Mädchen habe einen kleinen Abdruck auf der Stirn, einen etwa knopfgroßen Kreis. Sie habe es ihrem Schwiegersohn gegenüber erwähnt, woraufhin der ihr das Wort abgeschnitten und den Sarg schnell habe schließen lassen. Als wir am Beerdigungsinstitut eintrafen, haben wir ihn gerade noch erwischt. Er hatte diesen Rucksack dabei, und die Art, wie er ihn trug, kam mir komisch vor.« Um deutlich zu machen, was er meinte, verschränkte Iriarte die Arme vor der Brust und trat an den Rucksack heran, der inzwischen nur noch ein feuchtes Bündel war. »Er trug den Rucksack nicht so, wie man normalerweise einen Rucksack trägt. Als er mich sah, wurde er blass und rannte weg. An seinem Auto holte ich ihn ein, und er begann zu schreien, wir sollten ihn in Ruhe lassen, er müsse es beenden.«
»Was beenden? Sein Leben?«
»Das dachte ich zuerst auch. Und dass er womöglich eine Waffe in dem Rucksack hatte.«
Der Inspektor kniete sich neben den Rucksack und stellte den Schirm darüber wie ein Dach. Er öffnete den Reißverschluss und löste die Plastikklemme der Kordel, mit der er zugeschnürt war. Trotz des dunklen Flaums erkannte man deutlich die Fontanellen des kleinen Köpfchens. Die Gesichtshaut war so blass, dass jeder Zweifel ausgeschlossen war, aber die roten Lippen wirkten so lebendig, dass Amaia ihren Blick sekundenlang nicht davon lösen konnte. Erst Doktor San Martín brach den Bann, als er hinzutrat und sich zu ihnen herunterbeugte. Iriarte fasste für den Rechtsmediziner zusammen, was er Amaia erzählt hatte. San Martín holte unterdessen aus seinem Koffer ein Wattestäbchen und machte sich daran, die fettige Schminke zu entfernen, die jemand grobschlächtig auf die Stirn des Babys geschmiert hatte.
»So ein kleines Wesen«, sagte der Arzt traurig. Iriarte und Amaia sahen ihn erstaunt an. San Martín bemerkte es und konzentrierte sich auf seine Arbeit, um sich die Niedergeschlagenheit nicht weiter anmerken zu lassen. »Ein ungeschickter Versuch, eine Druckstelle zu verbergen. Wahrscheinlich entstand sie in dem Moment, als die Atmung aussetzte, wurde aber erst jetzt, da die Leichenblässe eingesetzt hat, so deutlich sichtbar. Helfen Sie mir mal, bitte.«
»Bei was?«
»Ich muss es ganz sehen«, antwortete er und machte ein Gesicht, als läge das auf der Hand.
»Bitte nicht jetzt. Die Gruppe da drüben, das sind die Angehörigen«, sagte Iriarte und nickte in Richtung Bestattungsinstitut, »darunter auch die Mutter und die Großmutter. Wir haben es gerade geschafft, sie einigermaßen zu beruhigen. Wenn sie jetzt die Leiche auf dem Boden liegen sehen, drehen sie womöglich vollends durch.«
Amaia sah San Martín an und nickte.
»Der Inspector hat recht.«
»Dann muss ich sie erst auf dem Tisch haben, bevor ich Ihnen sagen kann, ob noch andere Anzeichen auf eine Misshandlung hindeuten. Sie müssen den Tatort gründlich absuchen. Ich hatte mal einen ähnlichen Fall, da stammte der Abdruck auf der Wange vom Knopf eines Kissenbezugs. In unserem Fall kann ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge helfen.« Er kramte in seinem Gladstonekoffer und holte ein kleines Digitalgerät heraus, das er stolz vorzeigte: »Ein digitaler Messschieber«, erklärte er, während er ihn ansetzte, um den runden Abdruck auf der Stirn des Babys abzumessen. »Da haben wir’s«, sagte er und zeigte ihnen das Display, »13,85 Millimeter. Nach diesem Durchmesser müssen Sie suchen.«
Sie erhoben sich, damit die Kriminaltechniker den Rucksack in einen Leichensack stecken konnten. Als Amaia sich umdrehte, erblickte sie Richter Markina, der nur einige Meter entfernt stand und sie schweigend beobachtete. Wegen des schwarzen Regenschirms und des spärlichen Lichts, das durch die dichten Wolken sickerte, wirkte sein Gesicht düster. Trotzdem konnte sie erkennen, wie sehr seine Augen glänzten, wie intensiv sein Blick war, als er sie begrüßte, eine kurze Geste nur, aber lang genug, um sie nervös zu machen, was auch Iriarte und San Martín bemerkten. San Martín erteilte seinen Mitarbeitern Anweisungen und fasste für den Justizsekretär, der sich zu ihm gesellt hatte, alles zusammen. Iriarte beobachtete, wie unter den Angehörigen Unruhe entstand. Kurz darauf wurden wütende Forderungen nach Aufklärung laut, verstärkt noch durch das laute Wehklagen der Mutter.
»Der Kerl muss schleunigst von hier weg«, sagte Iriarte zu einem der Beamten.
»Bringen Sie ihn direkt nach Pamplona«, befahl Markina.
»Das werde ich, sobald es geht, Euer Ehren. Aber bis der Gefangenentransporter kommt, schaffen wir ihn erst einmal aufs Kommissariat. Wir sehen uns dort.« Iriarte verabschiedete sich.
Sie nickte, grüßte kurz Markina und ging zum Auto.
»Inspectora … Haben Sie eine Minute für mich?«
Sie blieb stehen und drehte sich um. Der Richter kam auf sie zu und trat so nah an sie heran, dass er den Schirm über sie halten konnte.
»Warum haben Sie mich nicht angerufen?« Es war kein Vorwurf, nicht einmal eine Frage, sondern eher eine verführerische Einladung, ein kokettes Spiel.
Der dunkelgraue Mantel, den er über einem ebenfalls dunkelgrauen Anzug trug, das makellose weiße Hemd und die diskrete Krawatte, die nicht recht zu ihm passte, verliehen ihm etwas Seriöses und Elegantes, ein Eindruck, der Lügen gestraft wurde durch das Löckchen, das ihm in die Stirn fiel, und den scheinbar nachlässigen Zweitagebart. Unter dem schmalen Rund des Regenschirms wirkte er noch imposanter, und das teure Parfüm, das seiner weichen Haut entströmte, und der fiebrige Glanz in seinen Augen machten sie noch empfänglicher für dieses gewisse Lächeln.
Jonan Etxaide trat zu ihnen.
»Chefin, die Autos sind voll. Können Sie mich zum Kommissariat mitnehmen?«
»Natürlich, Jonan«, sagte sie errötend. »Euer Ehren, wenn Sie uns entschuldigen würden.« Sie verabschiedete sich und ging mit Jonan zu ihrem Auto. Sie drehte sich nicht noch einmal um, Jonan hingegen schon, was Markina, der noch immer an derselben Stelle stand, mit einem Gruß quittierte.
Obwohl es auf dem Kommissariat warm und behaglich war, war Inspector Iriarte noch immer etwas blass um die Nase. Er hatte gerade einmal genügend Zeit gehabt, sich schnell etwas anderes anzuziehen.
»Was hat er gesagt? Was wollte er mit der Leiche?«
»Nichts hat er gesagt, er kauert ganz hinten in der Zelle auf dem Boden und schweigt.«
Amaia stand auf und ging zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um.
»Und Sie? Was glauben Sie? War es eine Kurzschlusshandlung, weil ihn der Schmerz überwältigt hat, oder hat er etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun?«
Iriarte dachte nach.
»Keine Ahnung. Kann eine Übersprunghandlung gewesen sein, wie Sie sagen, kann aber auch sein, dass er eine zweite Autopsie verhindern wollte, weil er mitgekriegt hat, dass seine Schwiegermutter ihn verdächtigt.« Er schwieg und sah sie ernst an. »Ich kann mir nichts Abgründigeres vorstellen als einen Vater, der sein eigenes Kind tötet.«
Wie durch einen Zauber sah sie plötzlich das Gesicht ihrer Mutter vor sich. Sie verdrängte es sofort, und es wurde von einem anderen Bild ersetzt: dem der Krankenschwester Fina Hidalgo, wie sie mit ihrem schmutzigen, grün verfärbten Fingernagel frische Triebe köpfte: »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was es für eine Familie bedeutet, mit so einem Kind zurechtkommen zu müssen?«
»Inspector, war das Mädchen normal? Ich meine, hatte es irgendwelche Gehirnschäden oder war es sonst irgendwie zurückgeblieben?«
»Nein, es war nur etwas untergewichtig wegen der Frühgeburt. Abgesehen davon war es laut Kinderarzt ein gesundes Mädchen.«
Die Zellen des neuen Kommissariats von Elizondo hatten keine Gitterstäbe, sondern eine Wand aus Panzerglas, die freie Sicht erlaubte. Außerdem wurden sie ausgeleuchtet und rund um die Uhr von Kameras überwacht. Amaia ging den Korridor entlang. Alle Türen waren geöffnet. Bis auf eine. Sie trat an die Glasscheibe. Hinten an der Wand saß ein Mann auf dem Boden, zwischen Waschbecken und Kloschüssel. Da er die Knie angewinkelt und seine Arme darum geschlungen hatte, konnte man sein Gesicht nicht sehen. Iriarte drückte auf den Knopf der Sprechanlage, über die man nach drinnen kommunizieren konnte.
»Valentín Esparza«, rief er.
Der Mann hob den Kopf.
»Inspectora Salazar möchte Ihnen einige Fragen stellen.«
Der Mann vergrub den Kopf wieder in seinen Armen.
»Valentín«, rief Iriarte erneut, diesmal bestimmter. »Wir kommen jetzt rein, Sie werden sich ganz ruhig verhalten, okay?«
Amaia beugte sich zu Iriarte hinüber.
»Ich werde allein reingehen, das wirkt weniger feindselig. Ich trage keine Uniform, außerdem bin ich eine Frau.«
Iriarte nickte und zog sich in den Nebenraum zurück. Von dort aus konnte er alles beobachten. Amaia betrat die Zelle und blieb schweigend vor Esparza stehen. Erst nach einigen Sekunden fragte sie:
»Darf ich mich setzen?«
Verwirrt hob er den Kopf.
»Was?«
»Ob es Ihnen etwas ausmacht, wenn ich mich setze«, sagte sie und zeigte auf die Bank, die fast die gesamte Wand einnahm und auch als Bett diente. Indem sie ihn um Erlaubnis bat, erwies sie ihm Respekt. Sie behandelte ihn nicht wie einen Häftling, ja nicht einmal wie einen Verdächtigen.
Er nickte.
»Danke«, sagte sie und setzte sich. »Um diese Uhrzeit bin ich immer ziemlich erschöpft. Ich habe nämlich selbst ein Baby, einen kleinen Sohn. Ich weiß, dass Sie Ihre Tochter verloren haben.« Der Mann hob wieder den Kopf, um sie anzusehen. »Wie alt war die Kleine?«
»Vier Monate«, flüsterte er mit heiserer Stimme.
»Mein herzliches Beileid.«
Er nickte und musste schlucken.
»Heute war mein freier Tag, wissen Sie?«, sagte sie. »Und jetzt muss ich mich um diesen tragischen Vorfall kümmern. Warum erzählen Sie mir nicht, was passiert ist?«
»Haben Ihre Freunde Ihnen das nicht schon erzählt?«
»Ich möchte es von Ihnen hören.«
Er nahm sich Zeit. Jemand mit weniger Verhörerfahrung als Amaia hätte vielleicht gedacht, dass er nicht sprechen würde, doch sie wartete einfach ab.
»Ich habe mir die Leiche meiner Tochter genommen.«
Er hatte Leiche gesagt, also gestand er sich ein, dass sie tot war.
»Um sie wohin zu bringen?«
»Wohin?«, fragte er verwirrt. »Nirgendwohin. Ich … Ich wollte sie nur noch mal bei mir haben.«
»Sie wurden verhaftet, als Sie in Ihr Auto steigen wollten. Wo wollten Sie hin?«
Er schwieg.
Sie versuchte es anders. »Unglaublich, wie sehr sich das Leben verändert, wenn man ein Baby hat. So viele neue Anforderungen, da weiß man manchmal nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Mein Sohn hat jede Nacht Koliken. Wenn ich ihn abends vor dem Einschlafen stille, weint er zwei oder drei Stunden lang durch, und ich kann nichts weiter tun, als ihn in den Armen zu halten und ihn umherzutragen, bis er sich beruhigt hat. Da ist es nicht verwunderlich, wenn man auch mal an seine Grenzen kommt, denke ich des Öfteren.«
Er nickte.
»War es so?«
»Was?«
»Ihre Schwiegermutter sagt, Sie wären mitten in der Nacht bei ihr vorbeigefahren.«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie hat Ihr Auto erkannt, als Sie wegfuhren.«
»Meine Schwiegermutter irrt sich.« Die Feindseligkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Die kann die Automarken doch gar nicht auseinanderhalten. Das war bestimmt nur ein Pärchen, das in der Einfahrt ein stilles Plätzchen gesucht hat, um … Sie verstehen schon.«
»Ja, aber die Hunde haben nicht gebellt, es kann also nur jemand gewesen sein, den sie kennen. Darüber hinaus hat Ihre Schwiegermutter ausgesagt«, fügte sie mit einem gewissen Unterton hinzu, »dass das Mädchen einen Abdruck auf der Stirn hatte, der noch nicht dort war, als sie es ins Bett brachte; und dass sie ein Geräusch gehört hat und dann Ihren Wagen wegfahren sah.«
»Die alte Schlange würde alles tun, um mir zu schaden, die konnte mich noch nie ab. Fragen Sie doch meine Frau. Wir waren abendessen und sind anschließend direkt nach Hause gefahren.«
»Haben wir schon, aber das hat uns nicht weitergebracht. Ihre Frau widerspricht Ihrer Aussage nicht, kann sie aber auch nicht bestätigen, weil sie sich schlicht nicht erinnert.«
»Ja, sie hat ein bisschen was getrunken. Wegen der Schwangerschaft verträgt sie nicht mehr so viel.«
»Es war bestimmt nicht leicht.«
Er sah sie verständnislos an.
»Ich meine das letzte Jahr. Erst die Risikoschwangerschaft, die Bettruhe, kein Sex, dann die Frühgeburt, zwei Monate Krankenhaus, kein Sex, dann kommt sie endlich nach Hause, aber da steht das Baby im Mittelpunkt, also wieder kein Sex.«
Er zeigte so etwas wie ein Lächeln.
»Das weiß ich aus Erfahrung«, fuhr sie fort. »An Ihrem Hochzeitstag ist es endlich so weit. Sie geben die Kleine in die Obhut Ihrer Schwiegermutter, Sie führen Ihre Frau in ein teures Restaurant aus, und nach dem dritten Glas ist sie so beschwipst, dass Sie sie nach Hause bringen müssen, also wieder kein Sex. Aber noch ist es früh. Sie schnappen sich das Auto, fahren zu Ihrer Schwiegermutter, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Sie kommen an, Ihre Schwiegermutter ist auf dem Sofa eingeschlafen, worüber Sie sich aufregen. Sie gehen in das Zimmer, in dem Ihre Tochter schläft, und da wird Ihnen klar, dass dieses Baby eine Last ist, dass vorher alles besser war. Und dann treffen Sie eine Entscheidung.«
Reglos hörte er zu, ohne sich auch nur ein Wort entgehen zu lassen.
»Sie tun, was Sie tun müssen, und fahren wieder nach Hause. Doch Ihre Schwiegermutter wacht auf und sieht Ihr Auto.«
»Wie gesagt, meine Schwiegermutter ist eine alte Giftspritze.«
»Ja, ich weiß, wovon Sie sprechen, meine auch. Aber Ihre ist nicht nur eine Giftspritze, sondern auch klug. Sie hat nämlich den kleinen Abdruck bemerkt, den das Mädchen auf der Stirn hat. Gestern war er noch kaum zu sehen, aber der Rechtsmediziner heute war sich sicher: Es handelt sich um einen Abdruck, der entsteht, wenn man mit einem Gegenstand fest aufdrückt.«
Er seufzte tief.
»Auch Sie haben den Abdruck gesehen, deshalb haben Sie an dieser Stelle die Schminke aufgetragen, und deshalb haben Sie Anweisung gegeben, den Sarg zu schließen, doch Ihre blöde Schwiegermutter ließ einfach nicht locker. Also haben Sie nur noch einen Ausweg gesehen: Sie mussten die Leiche fortschaffen, um zu verhindern, dass auch andere Leute Fragen stellen. Ihre Frau, zum Beispiel. Jemand hat gesehen, wie Sie sich vor der Leichenhalle gestritten haben.«
»Sie verstehen gar nichts. Das war alles nur, weil sie die Leiche einäschern lassen wollte.«
»Und Sie nicht? Sie wollten eine klassische Bestattung? Deswegen wollten Sie sie fortschaffen?«
Plötzlich schien ihm etwas klarzuwerden.
»Was passiert jetzt mit der Leiche?«
Amaia fiel auf, wie er von seinem Kind sprach, in einem fast neutralen Ton. Ein trauernder Vater würde nicht das Wort Leiche benutzen, er würde Mädchen sagen oder Baby oder … Erst jetzt bemerkte sie, dass sie gar nicht wusste, wie das Kind hieß.
»Der Rechtsmediziner wird eine Autopsie vornehmen, dann wird die Leiche wieder der Familie übergeben.«
»Sie darf nicht eingeäschert werden.«
»Das müssen Sie unter sich ausmachen.«
»Sie darf nicht eingeäschert werden. Ich muss es zu Ende bringen.«
»Was zu Ende bringen?«
»Es zu Ende bringen eben, sonst war alles umsonst.«
Plötzlich war Amaia hellwach. »Was hätte geschehen sollen?«
Schlagartig hielt Esparza inne, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, wo er war und wie viel er schon preisgegeben hatte. Er zog sich in sich selbst zurück.
»Haben Sie Ihre Tochter getötet?«
»Nein.«
»Wissen Sie, wer es war?«
Schweigen.
»Vielleicht war es ja Ihre Frau.«
Verächtlich schüttelte er den Kopf, als wäre schon allein die Vorstellung lächerlich.
»Bestimmt nicht.«
»Wer dann? Wen haben Sie mit zu Ihrer Schwiegermutter genommen?«
»Niemanden.«
»Stimmt, weil nämlich Sie es waren, Sie haben Ihre Tochter getötet.«
»Nein«, schrie er plötzlich. »Ich habe sie nur übergeben.«
»Übergeben? Wem? Wozu?«
Er grinste selbstzufrieden.
»Ich habe sie …« Seine Stimme wurde leiser und leiser, bis sie nur noch ein unverständliches Flüstern war. »… übergeben … wie die anderen …«, murmelte er noch, und dann vergrub er wieder das Gesicht in seinen Armen.
Amaia blieb noch eine Weile in der Zelle, aber sie wusste, dass das Verhör zu Ende war, dass er nichts mehr sagen würde. Sie drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage, damit ihr geöffnet wurde. Als sie schon fast draußen war, wandte Esparza sich noch einmal an sie.
»Könnten Sie etwas für mich tun?«
»Kommt drauf an.«
»Sorgen Sie dafür, dass man sie nicht einäschert.«
Jonan und Zabalza warteten zusammen mit Iriarte im Nachbarraum.
»Konnten Sie hören, was er am Ende gesagt hat?«
»Nur, dass er sie übergeben hat. Den Namen habe ich nicht verstanden. Auch auf der Aufzeichnung ist er nicht zu verstehen, man sieht nur, wie er die Lippen bewegt. Vielleicht hat er nur so getan, als würde er was sagen.«
»Zabalza, schauen Sie doch mal, ob man da technisch was machen kann, vielleicht mit Extremvergrößerung. Wahrscheinlich hat Inspector Iriarte recht, und er macht sich über uns lustig, aber wer weiß. Jonan, Montes und du, ihr kommt mit mir mit. Apropos, wo ist Fermín eigentlich?«
»Der hat gerade die Aussagen der Angehörigen aufgenommen.«
Amaia öffnete ihr Feldköfferchen, um zu prüfen, ob alles Nötige darin war.
»Wir müssen irgendwo einen digitalen Messschieber besorgen.« Sie grinste, als Iriarte ein fragendes Gesicht machte. »Ist was?«
»Heute war doch Ihr freier Tag.«
»Das hat sich wohl erledigt.« Sie lächelte, nahm das Köfferchen und machte sich auf den Weg zum Auto, wo Jonan und Montes bereits warteten.