Unter einem Dach

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Inhaltsübersicht

Fußnoten

  1. Alle Namen aus dem Umfeld des Autors Amir Baitar sind geändert. Die seiner Verwandten, um sie in Syrien nicht zu gefährden. Die seiner Freunde in Deutschland, damit sie – unbehelligt vom Echo auf dieses Buch – ihr Leben leben können.

Die Geschichte von Amir und uns, vom Flüchtling und seiner Gastfamilie, sie ist reich an Missverständnissen, komischen Überraschungen und irren Wendungen. Und sie begann gleich mit einer Fehleinschätzung, bei der es um ein großes Zimmer und eine kleine Reisetasche ging. Und hintergründig um viel mehr.

Es war ein Abend im Dezember 2015, windig, kalt und dunkel. In den Nachrichten fiel das Wort «Willkommenskultur» noch ungefähr genauso oft wie «Obergrenze», der Kölner Hauptbahnhof war einfach nur ein Hauptbahnhof, Regionalzüge und Einkaufszentren keine angsterfüllten Orte, und Angela Merkels Satz «Wir schaffen das» wurde zwar schon angezweifelt, doch es gab noch eine Menge Menschen, die den Optimismus teilten, der ihm zugrunde lag. Der Satz war noch nicht tot, noch nicht abgelegt und historisch eingemottet wie ein Ausstellungsstück im Haus der Geschichte in Bonn, wie Konrad Adenauers Mercedes also oder wie Helmut Kohls Strickjacke. Der Satz lebte noch.

Deshalb stand ich am Hamburger Busbahnhof, wartete auf Flixbus Nummer 150 und fror.

Wir schaffen das? Ich hatte einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass Merkels «Wir» in diesem Satz mal kein

Wir hatten einige Wochen lang gegrübelt, uns gegenseitig beäugt und schließlich beraten. Seit dem Sommer waren da diese Bilder gewesen: der tote Junge an einem türkischen Strand. Die ungarische Kamerafrau, die einem Mädchen ein Bein stellte. Flüchtlingsgruppen, die durch bayerische Milchtütenlandschaft zogen. Inwieweit ging uns das etwas an? Wir hielten uns für politisch, das schon. Aber bislang hatte «sich für politisch halten» bedeutet: Zeitung lesen, Nachrichten gucken, wählen gehen, eine Meinung haben, bei zwei Meinungen diskutieren. Niemand von uns ist Mitglied in einer Partei. In der Kleinstadt, in der wir leben, haben wir kein einziges Mal eine Ratsversammlung besucht. Ich glaube, wir gehören einer Generation an, die unter dem Eindruck aufgewachsen ist, dass Politik oft etwas Fernes, Abstraktes, schwer Beeinflussbares ist – ob sich die Chinesen an ihren Aktienmärkten verspekulieren, die Europäer nächtelang ergebnislos in Brüssel tagen oder die Amerikaner sich für immer beängstigendere Präsidenten begeistern. Zugleich hat Politik, wenn es um persönlichen Konsum geht, eine kleinteilige, konkrete

Wenn Politik nah war, war sie also meistens klein. Wenn sie groß war, war sie eher fern. Kriege, Attentate, Putsche; all das sah man sich aus sicherer Distanz an. Sogar als in Berlin die Mauer fiel, mussten wir hinfahren, um wirklich dabei zu sein.

Das war jetzt anders. Die eine Million Flüchtlinge gab es nicht nur als Bildpunkte auf dem Fernsehschirm. Sie liefen durch unser Land. Auf dem Weg zur Arbeit sahen wir sie an Bahnhöfen stehen, sie stiegen mit uns in die Straßenbahnen und warteten vor uns an der Supermarktkasse. Falls es stimmte, was Politiker sagten, dass nämlich eine neue Völkerwanderung im Gange sei, dann gab es zu dieser keinen historischen und auch keinen räumlichen Sicherheitsabstand mehr. Dies geschah hier und jetzt, nicht im Geschichtsbuch. Und ob es gutgehen oder schieflaufen würde – das lag in unseren Händen.

Heute kann ich nicht mehr sagen, welche genauen Anteile an Überzeugung, Pflichtgefühl, Abenteuerlust und Selbstverliebtheit uns bewogen, einen Menschen aus dieser Million aufzunehmen: Amir, 24 Jahre alt, Syrer, aufgewachsen in einem Dorf am Euphrat. Er würde aus Sachsen kommen, umsteigen in Berlin und aussteigen in Hamburg, Haltebucht Nummer 15.

Ich war seit Jahren nicht mehr am Busbahnhof

Sofort verbot ich mir dieses Urteil wieder, wie so vieles, was mir durch den Kopf ging seit unserer Entscheidung, einen Fremden aufzunehmen. Von dem Augenblick an, in dem wir Merkels «Wir» zu unserem gemacht hatten, liefen unablässig innere Monologe in unseren Köpfen: Sollten wir Amir mit einem Geschenk empfangen? Oder würden wir ihn beschämen, falls er keins für uns haben würde? Lag zu viel Spielzeug in den Kinderzimmern herum und kündete stumm von zu viel Sorglosigkeit? Hing irgendein Foto in unserem Haus, eine zahnweiße Familienikonographie, die ihm all seine Verluste vor Augen führen würde? Oder müsste er mit dem derzeitigen geographischen und geschichtlichen Glück in Deutschland nicht ohnehin leben? War Amir nicht genau deshalb gekommen?

Eigentlich haben meine Frau und ich mit Besuchen Erfahrung. Wir wissen, welches Essen unseren Eltern

Statt Antworten: Aktionismus. In den Tagen vor Amirs Ankunft räumten wir unser Arbeits- und Gästezimmer leer, trugen diesen ganzen Organisationskrempel aus Strom- und Müllabrechnungsordnern, Onlinebanking-Unterlagen und PIN-TAN-Generatoren hinauf ins Schlafzimmer, sortierten Bücher aus, brachten einiges an Ladekabel- und Was-war-das-noch-mal-Elektroschrott zur Müllkippe, leerten Schrank um Schrank und Schublade für Schublade, bis da fünf mal drei Meter Raum waren: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, eine Schrankwand, ein Computer. Fünf mal drei Meter Deutschland. Fünf mal drei Meter Leere, die sich füllen sollte. Fünf mal drei Meter, auf denen sich Politik und Privatsphäre aufs engste vermischen würden. Fünf mal drei Meter, auf denen wir gesaugt, gewischt und richtig Platz geschaffen hatten.

All die Verwicklungen, bei denen es um Bartlängen und Telefonküsse, Alkohol und hartgekochte Eier, Frauenhaut und Colaflaschen gehen würde, waren da noch Zukunft. Die erste Verwirrung war eine andere, sie wurde offenbar, als an jenem Abend im Dezember Bus 150 ankam. Als

Amir

Der Mann wartete am Bahnhof auf mich. Er war schmal, nicht groß, hatte schütteres Haar und trug eine Brille. Henning sah aus wie ein typisch deutscher Mann. Ich hatte ihn kurz vor meiner Ankunft benachrichtigt, dass ich in zehn Minuten in Hamburg sei. Er antwortete: «You are welcome!» Mir war das vorher nicht klar gewesen, aber er war extra zum Busbahnhof nach Hamburg gekommen.

Mit dem Auto fuhren wir hinaus in eine kleine Stadt in der Nähe von Hamburg. Die Häuser waren neu und schön anzusehen, einige hatten spitze Dächer, andere waren flach wie Würfel. Früher hatte ich immer gedacht, alle Häuser in Deutschland hätten einen roten Dachgiebel.

Unterwegs erzählte Henning, er habe Maklouba gekocht. Mir ging das Herz auf! Er hatte tatsächlich darüber nachgedacht, was ich wohl gern essen möge, und dann nicht etwa Nudeln oder Pizza gemacht oder irgendein anderes normales Gericht, sondern ein arabisches! Und sogar mit Huhn, obwohl die Familie fast kein Fleisch isst, wie ich heute weiß. Sie hatten es nur mir zu Ehren gekocht! Das hat mich sehr berührt.

Ich hatte die Familie schon einige Wochen vor meinem Einzug getroffen, zu einem ersten Kennenlernen. Damals lebte ich noch in einem Flüchtlingsheim in Sachsen. Verglichen damit, machte das Haus auf mich sofort einen sehr ordentlichen und sauberen Eindruck, von allen Seiten schien die Sonne hinein. Das Haus war groß; auch wenn unser Haus in Syrien noch größer war: die Fläche doppelt so groß, fünf Zimmer. Meine Mutter organisierte den Haushalt, mein Vater arbeitete auf unserem Acker. Wir waren dreizehn Geschwister: sechs Brüder und sieben Schwestern, die älteren waren bereits ausgezogen. So lebten wir, bevor der Krieg losbrach. Ein Unglück, das mir noch vor wenigen Jahren unvorstellbar schien.

In meinem neuen Zuhause empfing mich die Familie herzlich. Nicole, Hennings Frau, führte mich im Haus herum. Zuerst zeigte sie mir das Zimmer unten, in dem ich wohnen würde – mein Zimmer. Es war anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte gedacht, dass meine deutsche Familie in einer kleinen Wohnung lebte; und ich würde im Dachgiebel des Hauses unterkommen, der so winzig wäre wie die durch Holzwände abgetrennten Arbeitsbereiche in einem Großraumbüro, wie ich sie aus amerikanischen und europäischen Filmen kenne.

In meinem Zimmer standen leere Regale, ein paar Bilder hingen an der Wand. Auf einem Schreibtisch stand ein Apple-Computer, den ich benutzen könne, wann immer ich wolle, wie Henning sagte. Im Zimmer gab es auch

Überall im Haus standen Skulpturen, es gab viele Bücher und Aktenordner, deren Inhalt ich bis heute nicht kenne. Nicole zeigte mir noch die Zimmer der Kinder und das Zimmer von ihr und Henning. Alle liegen im oberen Stockwerk. Im Raum meiner Gasteltern stand eine Nähmaschine. Als ich sie sah, musste ich sofort an meine Mutter denken. Sie kann sehr gut nähen.

Die Tochter und der Sohn haben jeweils ein eigenes Zimmer, was, wie ich inzwischen weiß, in Deutschland normal ist. Nicht so bei uns zu Hause, denn wie sollte das gehen, wenn eine Familie fünf oder sieben Kinder hat? Auch ich habe mir in Syrien ein Zimmer mit meinem Bruder geteilt. Wenn er von der Arbeit kam, schliefen wir beide dort, manchmal waren wir sogar zu dritt.

Seltsam fand ich, dass die Küche sich zum Wohnzimmer hin öffnet, wie das, glaube ich, in Deutschland oft der Fall ist. In meiner Heimat sind die Wohnzimmer strikt von der Küche getrennt. Wenn ich hier kochen möchte, zieht der Geruch durch die ganze Wohnung. Man stelle sich einmal vor, wie es ist, Fisch zu kochen!

Kein Zaun umgibt das Grundstück, keine Mauer. Es gibt keinerlei Schutz für das Haus und die Menschen, die darin leben – nicht nur das war neu für mich, als ich im Dezember 2015 bei dieser deutschen Familie einzog.

In Syrien sind die Häuser normalerweise von Mauern und Zäunen umgeben. Bei uns zu Hause verlief eine hohe Mauer um das Haus und den Garten, die einem das Gefühl von Sicherheit vermittelte. Hier öffnete ich manchmal die Türen, um zu lüften. In den ersten Tagen fürchtete ich mich ein wenig und schloss sie rasch wieder.

Doch auch in meiner Heimat schützten die Mauern die Hausbewohner nicht, niemand fühlte sich damals sicher, und keine Mauern konnten die Bewohner vor den Flugzeugen und der Artillerie bewahren. Die Häuser sind jetzt leer, täglich sterben Menschen.

Henning

Wir hatten von Amir erstmals per Mail erfahren, die unter dem Betreff «Hier bittet jemand um Hilfe» durch den Verlag kreiste, bei dem ich arbeite. Hier bittet jemand um Hilfe? Mit solchen Worten schleicht sich andauernd Spam in unsere Postfächer. Ich hätte die Mail ungelesen gelöscht, wäre nicht ein Kollege der Absender gewesen. Genauer: Der Kollege hatte da nur etwas weitergeleitet.

Das Schreiben kam ursprünglich aus Zschopau, einer Kleinstadt im sächsischen Erzgebirge. Eine Frau namens Anne, die sich dort in einer Unterkunft um Flüchtlinge kümmerte, schrieb über Amir: «Er hat eine ganz typische schreckliche Fluchtgeschichte. Er kommt aus der Nähe

Der historische Kontext, in dem ein Mensch Entscheidungen fällt, ist aus der Froschperspektive des Einzelnen schwer zu erkennen – wenn überhaupt, dann meist erst im Rückblick. Heute wissen wir, dass Amirs Hilferuf genau in jene Phase seltsamer Stille hallte, in der in Deutschland die Stimmung von einem Extrem ins andere kippte. Die Zeit der spätsommerlichen Bahnhofs-Ergriffenheit (und auch der Ergriffenheit angesichts der eigenen Ergriffenheit) ging über in frühwinterliche Furcht vor zu vielen Flüchtlingen (und auch in Furcht, was diese Furcht alles anrichten könnte, wenn man sie ignorierte). Genau auf diesem Kipppunkt drückten wir auf den Antwortbutton unseres Mailprogramms und schrieben zurück, wir

Bevor es so weit kam, war allerdings noch eine heute grotesk anmutende Situation zu überstehen. Es gab nämlich vier Bewerber für diesen einen Flüchtling! So wurde aus Amir, dem Bittsteller, der Gastgeber einer Casting-Show, in der wir Gastgeber zu Bittstellern wurden. Deutschland sucht den Superstar? Germany’s next Topmodel? Voice of Germany? Jetzt war Der große Willkommens-Contest angesagt, Chef der Jury: Amir Baitar. Er würde vergleichen können, wir nicht.

Gemeinsam mit Anne, der Frau aus Sachsen, kam Amir für ein Wochenende nach Hamburg und besuchte Bewerber für Bewerber für Bewerber für Bewerber. Wir waren die Ersten. Auf dem Wochenmarkt hatten wir bei einer Iranerin Baklava gekauft, sirupsatte Süßigkeiten aus dem Nahen Osten.

Als wir Amir zum ersten Mal sahen, war ich ein wenig verblüfft – und erschrak gleich über diese Verblüffung. Amir sah nicht gerade ausgemergelt aus, nicht wie all die Fernsehflüchtlinge, eher wie ein gemütlicher Kerl, der viel rumgesessen hatte. Genau das hatte er in Sachsen auch gemacht, erzählte seine Begleiterin: auf seinem Zimmer

An jenem Wochenende saß Amir an unserem Küchentisch, und unsere Kinder – zehn und fünfzehn Jahre alt – bissen sich auf die Lippen, als sie sahen, wie er Löffel für Löffel kleine Zuckerpyramiden in seine Teetasse balancierte. War das bei uns zu Hause nicht verpönt? Und die Ellenbogen auf dem Tisch? Und beim Trinken schlürfen? Amir berichtete von den Islamisten des IS, die ihm vor der Universität die Jeans aufgeschnitten hatten, weil sie in ihren Augen zu eng waren. Mit unseren Fingerkuppen vollzogen wir im Atlas seine Flucht nach. Amir sprach passables Englisch, für sein Deutsch waren die weltpolitischen Verwicklungen noch zu kompliziert. Die Kinder hörten Amir zu, stumm und staunend. Unsere beiden Katzen strichen um seine Beine. Am Ende machten wir eine Stadtrundfahrt und tauschten Telefonnummern.

Richtig viel erfuhren wir an jenem Nachmittag von Amir nicht. Und er auch nicht von uns. Wir sprachen nicht darüber, wer seine Wäsche waschen würde. Ob wir gemeinsam kochen würden. Wie lange er bei uns wohnen könnte. Wir nannten seine Zeit bei uns unpräzise «eine Brücke in ein neues Leben». Höflichkeit schlug Offenheit. Wir fanden Amir nett, hinter seiner Zurückhaltung glaubten wir Zugänglichkeit zu erkennen. Das sollte vorerst reichen.

Wir haben bis heute nicht erfahren, wie Der große Willkommens-Contest weiterging. Was Amir bei den anderen

Es gefällt mir. We visited a lot of things. Everything there ist super. Ich wünsche dir eine gute nacht. Mit süßen träumen …

 

Hallo. Hamburg meine lieblingsstadt, ich hoffe, dass Hamburg my bright future ist.

 

I want to live mit euch …

Heute denke ich: Die Wahl muss Amir unendlich schwergefallen sein, trotz aller Vergleichsmöglichkeiten. Als er zu uns kam, war er zwar schon seit Monaten im Land, hatte aber erst ein- oder zweimal ein deutsches Haus betreten. Konnte er entschlüsseln, was er sah? Hatte er auch nur ansatzweise Antworten auf Fragen bekommen, die er nicht zu stellen wagte? Wochen später sollten wir merken: Der Umzug von der Asylunterkunft in unser Haus war für Amir ein ähnlich großer Schritt wie seine Flucht über zwei Kontinente. Er verließ seine syrische Sechsbettkapsel und betrat in unserem Haus gewissermaßen erstmals deutschen Boden.

Im März 2015 kam ich in Sachsen an. Meine Flucht hatte ich im Sommer zuvor geplant – das Ziel war Deutschland. Ich floh, um in Europa weiterstudieren zu können, am liebsten in England, aber Deutschland war auch attraktiv, weil es für seine Arbeits- und Studienmöglichkeiten bekannt war. Seit meiner Kindheit mochte ich das Land, weil ein Verwandter väterlicherseits dort lebte. Außerdem hatten die meisten meiner guten Universitätsdozenten in Deutschland studiert, weshalb ich bereits vor dem Krieg davon geträumt hatte, einmal in Deutschland eine Universität besuchen zu können. Ich hatte von Hamburg, Berlin und München gelesen und über Google-Recherchen herausgefunden, dass in Aachen, Stuttgart, Leipzig und Hamburg gute Universitäten für mein Fachgebiet waren.

Am Ende hat man wenig Einfluss darauf, wo einen die Schlepper über die Grenze führen. Mich hatte der Schlepper mit neun anderen syrischen Flüchtlingen über die tschechisch-deutsche Grenze gelotst, ich werde noch darüber berichten. Nach einigen Tagen in einem Übergangscamp brachte man uns in ein Heim in Zschopau. Die Menschen im Ort machten uns sehr deutlich, dass sie uns dort nicht haben wollten. Mit die ersten Worte Deutsch, die ich lernte, waren: «Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.» Im Herbst fanden sich jeden Samstag rechte Demonstranten vor unserem Haus ein. Ich traute mich nicht allein auf die Straße. So hatte ich mir Deutschland nicht vorgestellt.

Es ist leider so, dass man als Asylbewerber erst

Den ganzen Tag surfte ich auf Facebook, sah Nachrichten, wurde träge und hatte kaum noch Hoffnung auf so etwas wie ein Leben in Deutschland. Die einzigen Deutschen, die ich in dieser Zeit kennenlernte, waren ein Sozialarbeiter und Anne, eine sehr nette junge Frau, die in der Nähe wohnte und ab und zu vorbeikam. Ich wusste nicht, wie die Deutschen leben und was sie denken. Ich wusste nur: Die Leute in Sachsen hießen uns nicht willkommen. In den Nachrichten las ich von der «Willkommenskultur», sah Bilder von klatschenden Menschen am Münchner Hauptbahnhof. In Sachsen war davon nichts zu spüren. Ich wollte einfach nur weg aus Zschopau, überall schienen die Menschen freundlicher als hier.

In Syrien hatte ich mir vorgestellt, ich könnte in einer Großstadt mein Studium weiterführen. Ich habe in einem

Als ich nach Monaten des Wartens die Nachricht erhielt, dass mir Asyl gewährt werden sollte, war ich überfroh. Sollte mein Traum wahr werden? Ich sprach mit Anne. Wir überlegten, wie ich am besten nach Hamburg kommen könnte. Anne schrieb eine Mail an einen Freund in Hamburg, dann ging plötzlich alles sehr schnell: Ich hatte vier Wohnungsangebote in Hamburg. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Anfang Dezember fuhr ich nach Hamburg, als Erstes zu Hennings Familie. Ich war zunächst skeptisch. Ich wusste nicht, wo dieser Vorort liegt. Und ob ich von dort wirklich nach Hamburg zur Universität kommen würde. Aber die Familie empfing mich sehr warm. Als wir zusammen am Tisch saßen, ging der Sohn zum Sofa. Dort steckten noch Papierherzen mit Buchstaben, die zusammengenommen den Namen der Tochter ergaben – sie war kurz zuvor von einem Auslandsaufenthalt nach Hause gekommen. Der Sohn steckte die Herzen so um, dass plötzlich A M I R zu lesen war. Als ich das sah, bekam ich eine Gänsehaut. Bedeutete das nicht, dass sogar die Kinder mich willkommen hießen?

Am Nachmittag fuhr ich mit Anne zur nächsten

In Syrien waren wir eine große Familie. Ich bin es gewohnt, dass viel los ist. Mir gefiel die Vorstellung, das Leben einer richtigen Familie in Deutschland kennenzulernen. In Sachsen hatte ich nicht herausfinden können, welche Gewohnheiten die Menschen in Deutschland haben, was sie essen, worüber sie sprechen, wie ihre Kinder aufwachsen. Das alles wollte ich wissen. Ich freute mich auf das Leben mit der Familie. Darauf, Teil der deutschen Gesellschaft zu werden und mich richtig zu integrieren.

Henning

Eigentlich hatten wir für Amir (und auch für uns) eine Art assistiertes Einleben vorgesehen. Bevor Amir sich ordentlich integrieren würde – nach landläufiger Meinung: Deutsch lernen, Arbeit suchen und dann vierzig Jahre in die Sozialkassen einzahlen –, davor jedenfalls

In einem Film wären das alles Schlüsselszenen gewesen, auf die sich später vieles bezieht.

Es kam anders. Als sich Amir für uns entschieden hatte, hieß es, er werde «in einigen Monaten» aus Sachsen zu uns kommen, dann «in ein paar Wochen». Schließlich rief Amir an und sagte: «Ich komm in drei Tagen.»

Dummerweise war «in drei Tagen» genau vier Tage, bevor wir in einen lang geplanten Familienurlaub aufbrechen wollten, über Weihnachten und Neujahr. Kaum wäre Amir da, wären wir also weg, er zwei Wochen allein in unserem Haus – und unser Haus zwei Wochen allein mit ihm. Offenbar machte sich das Schicksal einen Spaß

In den vier Tagen, die uns zwischen Amirs Ankunft und unserer Abreise blieben, besorgten wir ihm ein gebrauchtes Fahrrad, kramten für ihn einen Ersatzschlüssel aus den Tiefen unseres Garderobenschranks, erklärten ihm Spülmaschine, Waschmaschine und Staubsauger, meldeten ihn (weil die Ämter da keine Verzögerung dulden) beim Einwohnermeldeamt an, stellten ihn beim örtlichen Jobcenter vor und nahmen Kontakt zur Sprachschule auf, in der Amir seinen Deutsch- und Integrationskurs belegen sollte. Wir gingen mit ihm alle Küchenschubladen durch, klebten für die zu erwartende Behördenpost ein Schild mit seinem Namen an unseren Briefkasten, kauften mit ihm Grundnahrungsmittel ein (darunter sehr viel Zucker), halfen ihm bei der Eröffnung des ersten Girokontos seines Lebens (weil die Ämter danach gefragt hatten) und rannten mit ihm ins örtliche Büro der gesetzlichen Krankenkasse (weil Amir mit der Anerkennung seines Asyls nicht mehr über den Staat versichert war). Wir erklärten ihm die Schlaf-, Fress- und Kratzgewohnheiten unserer Katzen und verwandten sehr viel Zeit darauf, Amir das deutsche Mülltrennungssystem begreiflich zu machen. Braune Tonne? Schwarze Tonne? Papiermüll? Gelber Sack für grünen Punkt? Für ein ordentliches deutsches Leben braucht es eine Betriebsanleitung. Wir sahen Angst in Amirs Augen. Und hatten Sorge, er könnte uns für Superspießer halten.

Amir muss das alles wie in Trance wahrgenommen

SMS

Einige Antworten verrieten Freude, andere Verblüffung. Eine lautete knapp: «Gut zu wissen.»

Als wir nach vier Tagen Turbo-Einweisung in ein deutsches Vorstadtleben ins Taxi zum Flughafen stiegen, stand Amir in Jogginghose und Schlappen vor unserem Haus und winkte. Noch vor dem Abflug erhielten wir eine WhatsApp-Nachricht:

Ich vermisse euch.

Jetzt bin ich bei unseren Nachbarn. Elisabeth und Dirk.

 

Ich habe ein Platz in Sprachschule !!!

 

Wie geht es euch? Wann kommt euch zurück nach Hause?

Als wir wiederkamen, standen Blumen auf dem Tisch, Amir wartete an der Tür wie der Hausherr. Auf die Frage, wie es ihm im leeren Haus ergangen sei, sagte er: «War okay.»