Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «The Laughing Monsters» 2014 bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2017
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«The Laughing Monsters» Copyright © 2014 by Denis Johnson
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Umschlaggestaltung und Motiv Anzinger und Rasp, Miriam Bröckel
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN Printausgabe 978-3-499-26984-4 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-04621-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04621-4
Für Charlie und Scout
Elf Jahre seit meinem letzten Aufenthalt, und der Flughafen von Freetown immer noch chaotisch, einer von denen, wo eine Treppe ans Flugzeug gerollt wird und man aus den geregelten Temperaturen Europas direkt in die Bruthitze Westafrikas tritt. Der Shuttle zum Terminal war passabel, aber nicht klimatisiert.
Drinnen der übliche Pulk Idioten. Ich musterte die glänzenden Gesichter, aber das von Michael sah ich nicht.
Die PA-Anlage ertönte. Nur die Vokale drangen durch. «Wurde da gerade ein Mr. Nair ausgerufen?», fragte ich laut über die Köpfe der am Schalter wartenden Leute hinweg.
«Nein, Sir. Nein!»
«Mr. Nair?»
«Nichts für so einen Namen.»
Ein Mann in dunklem Anzug mit Krawatte sagte: «Willkommen, Mr. Naylor, in Sierra Leone», dirigierte mich durch das Chaos und redete während der ganzen Zollabfertigung auf mich ein, die nicht lange dauerte, denn ich bin ein Handgepäck-Typ. Er lotste mich nach draußen zu einem sauberen weißen Wagen, einem Honda Prelude. «Und für mich zweihundert Dollar», sagte er mit flau wirkendem Lächeln. Ich gab ihm ein paar Ein-Euro-Münzen. «Aber, Sir», sagte er, «das ist nicht genug heute, Sir», und ich sagte, er solle den Mund halten.
Der Fahrer des Hondas wollte so um die eine Million. Ich sagte: «Spensy mohnee!», und als er begriff, dass ich etwas Krio konnte, machte er ein langes Gesicht. Wir einigten uns im Dutzender-Bereich. Weiter könne er nicht runtergehen, sagte er, denn die kriminellen Benzinkosten hätten ihm das Herz gebrochen.
An der Fähre gab es Ärger – eine Frau mit einem Obstkarren, Polizisten in himmelblauen Uniformen, die die Waren der Frau in die Bucht warfen, während sie schrie, als ertränkten sie ihre Kinder. Drei Mann waren nötig, um sie zur Seite zu zerren, als unser Wagen über die Gangway rumpelte. Ich stieg aus und trat an die Reling, um die feuchte Brise zu erwischen. An Land verschränkten die Uniformierten die Arme vor der Brust. Einer trat gegen den Karren der Frau, der jetzt leer war und umkippte. Schreiend marschierte sie hin und her. Die Fähre fuhr in die Bucht hinaus, die Szene wurde kleiner und kleiner, und ich wechselte auf die andere Seite des Decks, um Freetown auf uns zukommen zu sehen, einen Haufen Gebäude, viele davon verfallend, und rundherum zahllose Schatten und zerlumpte Gestalten, die über ihre leeren Bäuche gebeugt weiß Gott wohin trotteten.
Am Kai von Freetown entdeckte ich einen Mann, den ich kannte, einen dürren alten Euro namens Horst, er stand neben einem Mietwagen, die Hand gegen die untergehende Sonne über die Augen gelegt, und besah sich die Ankommenden. Als unser Wagen an ihm vorbeifuhr, machte ich mich klein und wandte das Gesicht ab. Danach behielt ich ihn im Auge. Er stieg in seinen Wagen, ohne jemanden mitzunehmen.
Horst … Mit Vornamen hieß er so ähnlich wie Cosmo, aber Cosmo war es nicht. Leo, Rollo. Ich wusste es nicht mehr.
Ich nannte Emil, meinem Fahrer, das Papa Leone, meines Wissens das einzige Hotel mit verlässlicher Stromversorgung und Pool. Als wir unter der Hotelmarkise hielten, kam uns ein anderer Wagen entgegen, scherte aus, fing sich wieder und raste vorbei, im Fenster das Schild: THE SPLENDID DRIVING SCHOOL. Das sah nach Handel und Gewerbe aus, aber vom Neuen Afrika spürte ich nichts. Ich wechselte einen Blick mit einem jungen Mädchen, das gleich gegenüber vom Hotel herumlungerte, um sich zu verkaufen. Arm, schmutzig, sehr hübsch. Und sehr jung. Ich fragte Emil, wie viele Kinder er habe. Eigentlich zehn, sagte er, aber sechs seien tot.
Emil wollte mich umstimmen, was das Hotel betraf, es sei «sehr abgestiegen». Aber drinnen brannte elektrisches Licht, die geräumige Lobby roch sauber oder auch giftig, je nachdem, wie man zu gewissen Chemikalien stand, und sah akzeptabel aus. Ich hatte gehört, dass die Rebellen sich hier in den Fluren eine Schießerei mit den Machthabern geliefert hatten, aber das war vor etlichen Jahren gewesen, kurz nachdem ich geflohen war, und in der Zwischenzeit hatten sie offensichtlich alles wieder zusammengeflickt.
Der Mann an der Rezeption gab mir ohne Reservierung ein Zimmer und hatte dann eine Überraschung für mich:
«Mr. Nair, eine Nachricht für Sie.»
Nicht von Michael – vom Management, das mich mit violetter Tinte und in Schönschrift zur «Lösung aller Ihrer Probleme» willkommen hieß. Adressiert an sehr geehrte Damen und Herren, daran geheftet ein Zettel mit Instruktionen für den Internetzugang. Der Mann an der Rezeption sagte, im Moment gebe es keinen, das sei aber nicht immer so. Vielleicht heute Abend wieder.
Ich hatte ein Nokia-Telefon und nahm an, ich könnte mir irgendwo eine lokale SIM-Karte kaufen, in diesem Hotel allerdings gehe das nicht, sagte der Mann. Fürs Erste war ich so ziemlich von der Welt abgeschnitten.
Auch gut. Ich fühlte mich noch nicht bereit für Michael Adriko. Wahrscheinlich war er hier im Papa, in einem Zimmer direkt über mir, auch wenn er nach meinen Informationen nicht mehr auf den afrikanischen Kontinent zurückgekehrt war und es auch nicht tun würde, sondern mich nur in einem seiner unbegreiflichen Versuche, witzig zu sein, hergelockt hatte.
Das Zimmer war klein und hatte ebenfalls dieses «Wir haben alles getötet, was du fürchtest»-Aroma. Das Bett war in Ordnung. Auf dem Nachttisch eine weiße Kerze auf einer Untertasse neben einer rot-blauen Streichholzschachtel.
Ich war von Amsterdam aus über London Heathrow hergeflogen, hatte eine Stunde gewonnen und keinen Jetlag, nur das Bedürfnis nach einer kleinen Instandsetzung. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, hängte ein paar Sachen auf und nahm meinen Computerkram in der gelben Segeltuchtasche mit hinunter an den Pool.
Unterwegs organisierte ich mir beim Barkeeper einen doppelten Whiskey. Etwas später dann, an einem Tisch beim Pool, von kunstvollen Pflanzen und Steinen umgeben, bestellte ich ein Sandwich und einen weiteren Drink.
Ein paar Tische weiter saß eine Frau, die Hände aneinandergedrückt, das Gesicht zu den Fingerspitzen geneigt, und lächelte. Ich grüßte sie.
«How d’body?»
«D’body not well», sagte sie. «D’body need you.»
Ich klappte meinen Laptop auf und schaltete ihn ein. «Heute Abend nicht.»
Sie sah überhaupt nicht nach einer Hure aus. Wahrscheinlich hatte sie sich hier bloß die Füße ausruhen wollen und dann die Chance gewittert, auch gleich ihren Körper zu verkaufen. Am Pool waren inzwischen ein Tanzensemble und ein Schlagzeuger in Stellung gegangen, und die Gäste wurden still. Plötzlich konnte ich das Meer riechen. Der Nachthimmel war schwarz, kein Stern zu sehen. Ein irrwitziges Getrommel setzte ein.
Offline schrieb ich an Tina:
Ich bin im Papa Leone Hotel in Freetown. Von unserem alten Freund Michael keine Spur.
Es ist Abend, und ich sitze im Restaurant am Pool, wo eine afrikanische Tanztruppe, ich glaube, aus dem Kissi Chiefdom (sie sehen wie Obdachlose aus), gerade eine Nummer bringt, bei der viel hingefallen, dies und das angezündet und wild auf Congas getrommelt wird. Einer vergewaltigt jetzt quasi, vollständig bekleidet, einen Haufen brennender Stöcke, und die Leute, die in der Nähe sitzen, werfen mit Geld. Jetzt wälzt er sich neben dem Pool auf dem Boden, die brennenden Stöcke in den Armen, er hält sie an die Brust gedrückt und wälzt sich hin und her. Mit einem lichterloh brennenden Bündel Kleinholz, ungefähr halb so groß wie er. Ich wollte nur etwas essen und trinken, hatte keine Ahnung, dass wir hier von einem masochistischen Pyromanen unterhalten werden würden. O Gott, Süße, ich bin in einem afrikanischen Hotel und beobachte einen brennenden Mann und bin ein bisschen betrunken, denn ich glaube, das ist man hier in Westafrika am besten immer ein wenig, die Welt ist weich, die Nacht ist weich, und ich beobachte einen Mann
Auf der anderen Seite der Terrasse tauchte Horst auf und fädelte sich durch das Feuer und den Dunst bis zu mir durch. Horst war ein braungebrannter, schmucker weißhaariger Weißer in einer Anglerweste mit tausend Taschen, und normalerweise trug er dazu braune Wanderschuhe mit weißen Schnürsenkeln, wie mir jetzt wieder einfiel, aber im Moment konnte ich das nicht erkennen.
«Roland! Du bist es! Hübscher Bart.»
«C’est moi», gab ich zu.
«Hast du mich am Kai gesehen? Ich dich schon!» Er setzte sich. «Der Bart verleiht dir Würde.»
Wir spendierten uns gegenseitig einen Drink. «Sie sind schnell», sagte ich zu dem Barkeeper und gab ihm ein paar Euro Trinkgeld. «Das Personal hier arbeitet doch gar nicht schlecht. Wer behauptet, das Hotel hätte abgewirtschaftet?»
«Ein Sofitel ist es nicht mehr.»
«Wem gehört es jetzt?»
«Dem Präsidenten oder einem von seinen Spezis.»
«Und was ist das Problem?»
Er zeigte auf mein Gerät. «Du wirst nicht ins Internet kommen.»
Ich prostete ihm zu. «Horst verkehrt also immer noch hier.»
«Bin nach wie vor Stammgast, ja. Ungefähr sechs Monate im Jahr. Aber dieses Mal konnte ich fast ein ganzes Jahr nicht weg von zu Hause, seit letztem November. Elf Monate.»
Die Show wurde zu laut. Ich rückte meinen Bildschirm zurecht und legte die Finger auf die Tastatur. Unhöflich von mir. Aber ich hatte ihn nicht gebeten, sich zu mir zu setzen.
«Meine Frau ist ziemlich krank», sagte er, hielt kurz inne und fügte dann, fast stolz, «todkrank» hinzu.
Inzwischen hatte der Darsteller zwei Meter von uns entfernt, am Beckenrand, sein Hemd und seine Hose in Brand gesetzt.
An Tina:
Beim Einchecken habe ich ein paar US-Soldaten in merkwürdigen Uniformen an der Rezeption gesehen. Das Hotel ist das einzige in der Stadt, das abends Strom hat. Es kostet 145 $ pro Tag.
Hey – der Bart kommt ab. Der ist als Tarnung völlig ungeeignet. Man hat mich schon erkannt.
Wer konnte sich bei dem Getrommel und Geschrei unterhalten? Horst ließ mich trotzdem nicht vom Haken. Er hatte ein paar Drinks ausgegeben, über die Krankheit seiner Frau gesprochen … Zeit für Fragen. Angefangen bei Michael.
«Was? Entschuldige. Was?»
«Ich sagte: Michael ist hier.»
«Welcher Michael?»
«Ach, komm!»
«Michael Adriko?»
«Ach, komm!»
«Hast du ihn gesehen? Wo?»
«Er ist in der Gegend.»
«Wo denn? Scheiße. Hör zu. Horst. In einem Land voller Gerüchte, wie viele brauchen wir da noch?»
«Selbst gesehen habe ich ihn nicht.»
«Weshalb sollte Michael hier sein?»
«Diamanten. Ganz einfach.»
«Diamanten sind nicht mehr so einfach.»
«Kann sein, aber etwas Einfaches interessiert uns auch nicht, Roland. Uns interessiert das Abenteuer. Es ist gut für die Seele, den Geist und den Kontostand.»
«Diamanten sind heutzutage zu riskant.»
«Willst du Heroin schmuggeln? Das Drogengeschäft ist schrecklich. Zerstört die Jugend einer Nation. Und Heroin ist zu billig. Ein Kilo bringt dir sechstausend US-Dollar netto ein. Ein Kilo Diamanten macht dich zum König.»
An Tina schrieb ich: Die Show ist zu Ende. Anscheinend sind alle unverletzt. Hier riecht’s jetzt überall nach Benzin.
«Was meinst du?», sagte Horst.
«Ich meine, dass sie dich verpfeifen werden, Horst. Die verkaufen dir Diamanten, und dann verpfeifen sie dich, und das weißt du auch, weil es hier in der Gegend nichts als Spitzel gibt.»
Vielleicht stimmte er mir zu, jedenfalls hörte er mit dem Gelaber auf, während ich an Tina schrieb:
Ich betrinke mich hier mit diesem Arschloch, das früher verdeckter Interpol-Ermittler war. Er sieht viel zu alt aus, um noch für irgendwas bezahlt zu werden, klingt aber immer noch wie ein Bulle. Er nennt mich Roland wie ein Bulle.
Ich hätte ihn jederzeit nach seinem Vornamen fragen können. Elmo?
Horst gab es auf, und wir tranken nur noch. «Israel», teilte er mir mit, «hat sechs Raketen mit Nuklearsprengköpfen aus den Silos gehoben und zielt damit auf den Iran. Irgendwann während der nächsten Wahlperiode in den USA – bumm-bumm Teheran. Und dann heißt es, wie du mir, so ich dir, das ist die muslimische Art, mein Freund. Alles radioaktiv verstrahlt.»
«Das hat man vor zehn Jahren auch schon gesagt.»
«Geh bloß nicht nach Hause. Binnen zehn Jahren ist das da drüben ein Haufen Schutt, genau wie hier. Aber unser Schutt ist nicht radioaktiv. Bloß wirst du mir das nicht glauben, bevor du es nicht mit einem Geigerzähler geprüft hast.» Der Whiskey hatte seine europäischen Manieren weggespült. Er war ein weißhaariger, rotgesichtiger munterer Zwergkannibale.
In der Lobby schüttelten wir uns die Hand und wünschten uns gute Nacht. «Natürlich wollen sie einen gern verpfeifen», sagte er. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um möglichst dicht an meinem linken Ohr zu flüstern: «Deshalb geht man nie denselben Weg zurück, den man gekommen ist.»
Später lag ich im Dunkeln und hielt mir den Taschenradioempfänger an ebendieses Ohr, während ich mit dem anderen darauf horchte, ob der Generator des Hotels ansprang. Kopfschmerzen attackierten mich. Ich riss ein stinkiges Streichholz an, entzündete die Kerze, öffnete das Fenster. Die Insekten prallten so beharrlich ans Fliegengitter, dass ich die Kerze wieder auspusten musste. Die BBC berichtete, ein gewaltiger Sturm mit Windgeschwindigkeiten von 120 km/h sei durch die amerikanischen Bundesstaaten Virginia, West Virginia und Ohio gefegt, drei Millionen Häuser und Wohnungen hätten vorübergehend ohne elektrischen Strom auskommen müssen.
Hier im Papa Leone floss der Strom jetzt wieder. Der Fernseher funktionierte. CCTV, der chinesische Kabelsender, auf Englisch. Ich hörte wieder Radio.
Die Telefone in Freetown machen Ring-ring! Ring-ring! wie die englischen. Der Anrufer spricht vom Grund eines Brunnens:
«Internet funktioniert!»
Es funktioniert! – Jedes Mal ein kleiner Kick. Mein Gerät lag neben mir auf dem Bett. Ich spielte mit den Tasten, fügte ein PS an Tina hinzu:
Ich habe Bargeld vom Reisekonto abgehoben – 5T US. Kreditkarten trauen sie hier nach wie vor nicht. ’02 kriegte man für einen Euro 250 Leone, und der größte Schein war ein Hunderter. Man musste sein Bargeld in einer Einkaufstüte mit sich herumtragen, manche nahmen auch einen Schuhkarton. Jetzt wollen sie Dollar. Euro nehmen sie notfalls auch. Sie hassen ihr eigenes Geld.
Ich verschickte meine E-Mails und wartete, dann war die Internetverbindung wieder weg.
Auf BBC lief «World Have Your Say», und das Thema war langweilig.
Geh nie denselben Weg zurück, den du gekommen bist.
Plötzlich hatte ich es. Bruno. Bruno Horst.
Um drei herum wachte ich auf, zog mir Hose, Hemd und Slipper an und folgte der Taschenlampe meines Nokia die acht Stockwerke zur flackernden Lobby hinunter. Niemand zu sehen. Während ich zwischen großen Schatten im Kerzenlicht stand, gingen plötzlich die Lichter an, und die Türen beider Fahrstühle öffneten und schlossen sich, öffneten und schlossen sich wieder.
Ich fand den Nachtportier schlafend hinter der Rezeption und schickte ihn das Mädchen holen, das ich bei meiner Ankunft gesehen hatte. Ich beobachtete, wie er über die Straße ging, zu der Stelle auf dem warmen Asphalt, wo sie schlief. Er blickte erst in die eine, dann in die andere Richtung, wartete und stupste sie schließlich mit dem Fuß an.
Ich fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Ein paar Minuten später brachte er sie zu mir ins Zimmer und ließ sie da.
«Du darfst gern die Dusche benutzen», sagte ich, und sie sah mich verständnislos an.
Fünfzehn Jahre alt, Ivorerin, kein Wort Englisch, nur Französisch. Im Busch geboren, ein Bauchnabel so groß wie eine Walnuss, geknotet von einer Tante oder älteren Schwester in einer Hütte aus Zweigen und Schlamm.
Sie ging unter die Dusche und kam nackt und nass wieder zu mir.
Ich war froh, dass sie kein Englisch verstand. Ich konnte zu ihr sagen, was ich wollte, und das tat ich auch. Fürchterliches Zeug. All das, was man nicht sagen darf. Danach begleitete ich sie hinunter und rief ihr ein Taxi, als wüsste sie, wohin. Ich schloss die Wagentür hinter ihr und hörte, wie der alte Fahrer, noch bevor er den Gang einlegte, zu ihr sagte: «Du bist eine schlechte Frau, eine Hure und eine Schande …», aber sie verstand ja kein Wort.
Ich wachte davon auf, dass jemand mit einem kleinen Besen tote Eintagsfliegen vom Gehweg unter meinem Balkon fegte. Um sechs herum war eine Viertelstunde lang ein heftiger Regen niedergegangen, der massenhaft Insekten vom Himmel geholt hatte, und Eintagsfliegen nenne ich sie nur der Einfachheit halber, denn zum Teil sahen sie auch wie Kakerlaken aus. Als ich den Mann am Empfang später fragte, was für Tiere das seien, sagte er: «In-seck.»
Michael hatte angerufen und an der Rezeption eine Nachricht für mich hinterlassen. «Warum haben Sie ihn nicht zu meinem Zimmer durchgestellt?», fragte ich, und der junge Mann kratzte mit dem Fingernagel am Tresen, betrachtete die Kerbe und schien die Frage zu vergessen, aber dann sagte er: «Ich weiß nicht.»
Michael wollte mich um 16 Uhr treffen. Im Scanlon. Das sagte viel über seine Situation.
Zwanzig Minuten vor zehn – bevor das kostenlose Buffet abgeräumt wurde – ging ich hinunter, der letzte Frühstücksgast, und wurde Zeuge, wie sich das Personal um die metallenen Rechauds drängte und die Teller füllte. Das essen sie also, dachte ich, und indem ich hier mit meinem Teller auftauche, schnappe ich jemandem diese fette Bratwurst sozusagen direkt vor dem Mund weg. Du halbamerikanisches Schwein. Ich nahm mir auch ein paar Bratkartoffeln – «irisch» heißen sie – und hatte dann keinen Appetit, aß aber, weil sie mich beobachteten, trotzdem. Unter ihren teilnahmsvollen Blicken aß ich alles bis zum letzten Krümel auf.
Es war Oktober, mit Temperaturen um die dreißig Grad am Tag, im Schatten nicht unerträglich, wie immer sehr schwül. Jetzt gerade hatten wir eine kühle Meeresbrise, ein paar helle Wolken am blauen Himmel und weißen Sonnenschein, der gegen zwölf wie ein heißer Amboss herunterknallen würde. Der einzige andere Gast war ein junger amerikanisch aussehender Mann in Zivilkleidung mit einem Wikingerkopf-Tattoo auf dem Unterarm.
Es gab wieder Strom. Amerikanische Country-Musik dudelte aus den Lautsprechern. Ich nahm die zweite Hälfte meines Kaffees mit an einen Tisch in der Nähe des Fernsehers, um auf dem chinesischen Sender Nachrichten zu schauen, aber das Regionalprogramm war eingeschaltet, und ich bekam nur eine Guinness-Reklame zu sehen. In dem Werbespot kehrt ein älterer Bruder von seinem erfolgreichen Leben in der Stadt in den afrikanischen Busch zurück. Im weichgezeichneten Licht von Lampen, wie man sie im Busch gar nicht besitzt, trinkt er mit seinem jüngeren Bruder Guinness Draught. Großer Stadtbruder reicht kleinem Buschbruder einen Busfahrschein: «Bist du bereit, am Tisch der Männer zu trinken?» Dankbar und entschlossen sagt der Jüngere: «Ja!», und nimmt den Fahrschein entgegen. Der Sprecher sagt gottgleich:
«Guinness. Streben Sie nach Höherem.»
Nach dem Frühstück ging ich hinaus, meine Computertasche wie eine Babytrage vor die Brust geschnallt. Schweiß tränkte mein Hemd, aber die Tasche war wasserdicht.
Der einzige Wagen vor dem Hotel hatte die Kühlerhaube oben. Ein paar junge Männer saßen rittlings auf ihren Okadas, Motorrädern der kleinsten Sorte, neunzig Kubikmeter zumeist. Ich entschied mich für eines namens «Boxer», eine chinesische Marke. «Boxer-Mann. Kennen Sie den indischen Markt? Elefantenmarkt?»
«Elefant!», rief er. «Los geht’s!» Er schlug mit der flachen Hand auf den Sitz hinter sich, ich stieg auf, und schon rasten wir über vom Regenguss der letzten Nacht noch vermatschte, rutschige Straßen zum indischen Markt, schlingernd und Schlenker fahrend, knapp an der Furche, am Schlagloch, am Fußgänger, am Fahrrad, an der riesigen, alles zermalmenden Front des entgegenkommenden Lasters vorbei – alles gleichzeitig und immer wieder. Als wir beim Markt mit seinem Mauerbild von Ganesha, dem Hindu-Gott des Wissens und des Feuers, ankamen, fühlte ich mich lebendiger, aber auch gemordet.
Der elefantenköpfige Gott war noch da, aber der Ganesha Market hatte einen neuen Namen – «Y2K Supermarket».
«Ich warte auf Sie», sagte mein Pilot.
«Nein. Schluss», sagte ich, auch wenn ich wusste, er würde warten.
Ich ließ den Boxer am Vordereingang stehen und ging an der Seite wieder hinaus. In der Unterwelt nennt man dieses Manöver, glaube ich, die Doppeltür.
Ich befand mich in einer kleinen Gasse voller Läden, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich ging auf die größere Straße links von mir zu, bog ein und wurde fast umgeworfen, von einem Okada-Fahrer in die eine Richtung gewirbelt, von einem Fahrrad in die andere. Ich hatte mein Gefühl für den Rhythmus dieser Gegend verloren, ärgerte mich über den Verkehr, schwitzte, war orientierungslos. Eine Dreiviertelstunde lang irrte ich durch namenlose, schlammbespritzte Straßen, bis ich die fand, die ich suchte, einschließlich des kleinen Etablissements mit der Anschlagtafel: ELVIS DOCUMENTS.
Drei Sonnenkollektoren lagen auf Strohmatten mitten auf dem unbefestigten Gehweg, sodass die Leute ausweichen mussten. Auf der Tafel stand: «Angebote, Fotokopien, Bindung, Schreibdienste, Versiegelung, Rechnungsbücher, Computertraining.»
Drinnen saß ein Mann zwischen den Gerätschaften seines Broterwerbs – einer Kamera mit Stativ, einem klobigen Fotokopierer, ein paar Computern, alles in einem Gewirr von Stromkabeln – am Schreibtisch.
Er stand von seinem Bürosessel auf, einem Lederdrehstuhl, dem die Rollen fehlten, und sagte: «Willkommen. Womit kann ich dienen?», und dann «Ach!», als hätte er einen Kern verschluckt. «Das ist ja Roland Nair.»
Und das war Mohammed Kallon. Unfassbar. Ich musste zweimal hinsehen.
«Wo ist Elvis?»
«Elvis? Keine Ahnung.»
«Aber an mich erinnerst du dich noch. Und ich mich an dich.»
Er sah traurig aus, auch ängstlich, und zwang sein Gesicht zum Lächeln. Weiße Zähne, schwarze Haut, ungesunde gelbe Augäpfel. Er trug ein weißes Hemd, braune Hosen mit einem glänzenden schwarzen Plastikgürtel. Anstelle von Schuhen Plastikhauslatschen.
«Was ist los mit deinem Laden, Mohammed? Hier riecht’s wie auf dem Klo.»
«Wollen wir uns streiten?»
Ich antwortete nicht.
Sein Gesicht sagte alles – das Lächeln, die tränenden Augen. «Wir sind jetzt auf derselben Seite, Roland. Im Frieden kann es nur eine Seite geben, weißt du.» Er klappte einen Stuhl neben dem Schreibtisch auf und setzte sich wieder auf seinen Drehsessel. «Hätte ich mir denken können, dass du in Freetown bist.»
Ich stutzte. «Wieso?»
«Weil Michael Adriko hier ist. Ich hab ihn gesehen. Den Deserteur.»
«Du nennst Michael einen Deserteur?»
«Hah!»
«Wenn er ein Deserteur ist, dann kannst du mich auch einen nennen.»
«Hah!»
Ich war gereizt, kurz davor, mich mit ihm anzulegen. Mohammed war immer noch ein guter Vernehmer. «Pass mal auf», sagte ich, «Michael gehört zu keinem dieser Leone-Clans, keinem der Stammesfürstentümer. Ich glaube, er kommt ursprünglich aus dem Kongo. Also – wenn er damals plötzlich verschwunden ist, dann war das kein Desertieren.»
«Kannst du dich nicht mal hinsetzen, während wir reden?»
«Bruno Horst ist hier.»
«Das glaube ich gern. Du bist es ja auch.»
«Arbeitet er für eine der Organisationen?»
«Woher soll ich das wissen?»
«Keine Ahnung. Aber du wüsstest es.»
«Und für wen arbeitet Roland Nair?»
«Nenn mich Nair. Nair ist aus rein privaten Gründen in Freetown. Und hier drinnen stinkt es wirklich.»
«Für wen arbeitest du?»
Ich zuckte mit den Schultern.
«Egal für wen. Wie üblich», sagte er.
Ich war kein Folterer. Ich hatte nie knöcheltief in den Ausscheidungen meiner Opfer gestanden … «Ich begreife nicht, wieso du hier gelandet bist», sagte ich. «Du bist völlig falsch für das hier.»
«Heiliger Strohsack! Falsch für was?»
«Du arbeitest mit schmutzigen Tricks.»
Mohammeds Lächeln war weg. «Da höre ich doch ein schwarzes Schaf zum anderen sagen: ‹Ich bin weiß!› Kennst du die Redewendung?»
Er hatte nicht ganz unrecht. «Na gut», sagte ich, «wir sind beide schwarz»; ich fand’s witzig.
Mohammeds Lächeln war wieder da. «Nair, ich will nicht, dass wir uns nach so langer Zeit gleich in die Wolle kriegen, ehrlich – noch dazu, wo gleich der Moment kommt, wenn du mich zum Mittagessen einlädst!»
«Mittagessen ist nicht ausgeschlossen», sagte ich. «Aber gib mir erst ein paar Minuten an deinen Computern.»
«Die funktionieren alle nicht.»
«Die Computer im Keller.»
«Es gibt keinen Keller.» Er war ein miserabler Lügner. Ich sah ihn so lange an, bis er es begriff. «Scheiße, Mann!»
«Lass uns mal einen Blick in deine Geheimkammer werfen.»
«Jeder Tag hält neue Überraschungen bereit!» Er sah aus, als hätte er etwas Verbotenes, Köstliches gegessen. «Bist du bei der NIIA?»
«Lass uns das Protokoll befolgen.» Das Protokoll verlangte, dass er mir aus dem Weg ging.
Er setzte sich wieder und wandte sich einem Haufen Quittungen zu, aus irgendwelchen dummen privaten Gründen vor hämischer Freude schier platzend, während ich zu seiner offen stehenden Besenkammer ging, die zugleich als Toilette diente, ein Schmutzeimer mit einem Holzbrett darüber und einer Rolle bräunlichem Papier auf dem Boden daneben. Das erklärte den Gestank im Laden.
Ich blickte auf die Anzeige meines Codierers, eines Geräts, das an einen Schlüsselanhänger passt. Der achtstellige Code ändert sich alle neunzig Sekunden. Ich betrat die Kammer und schloss die Tür hinter mir, schob im Licht meines Nokia eine Abdeckung an der hinteren Wand beiseite und gab die Zahlen in die Schaltsperre ein, drückte die Wand auf und ging, während die Wandplatte hinter mir ohne mein Zutun wieder zuschnappte, die Metalltreppe hinunter.
Hier brannten alle vier Lichter.
Vor langer Zeit hatte ich diesen unterirdischen Ort mehr als einmal betreten. Er war nach amerikanischen Maßen gebaut, nicht Metern, sondern Fuß: zehn mal sechzehn in der Grundfläche, acht Fuß hohe Betonwände und ein Dutzend abwärtsführende Metallstufen. Eine Batteriebank in einem am Boden festgeschraubten Drahtkorb, je eine elektrische Glühbirne in ebensolchen Körben an den Betonwänden. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, beide aus Metall, beide angeschraubt. Auf dem Schreibtisch zwei Computer – wesentlich kleinere, als wir sie zwölf Jahre zuvor benutzt hatten.
Ich setzte mich und holte einen als Feuerzeug getarnten Akzessor aus meiner Tasche, ein von der NATO ausgegebenes, USB-Stick-ähnliches Gerät, in das die Algorithmen einprogrammiert sind. Man kann tatsächlich eine Flamme damit machen. Ich hielt es an mein Gesicht, scannte meine Iris und steckte es seitlich in den Computer vor mir, schaltete ihn an und loggte mich ein. Über den Proxyserver des NATO-Geheimdiensts verschickte ich eine KBV-Meldung – aber zweimal hintereinander, womit Tina vorgewarnt war, dass eine Mail an ihre private Adresse folgen würde. Tina wusste, dass sie für diesen Austausch die militärischen Algorithmen beiseitelassen musste. Wir benutzten PGP-Verschlüsselung, PGP wie Pretty Good Privacy. Das ist, wie schon der Name sagt, ein ziemlich guter Schutz.
Ich loggte mich aus NIIA aus und verband meine eigene Tastatur mit der Konsole, nahm die nötigen Handgriffe vor, richtete ein virtuelles privates Netzwerk ein und sendete:
Besorg mir Datei 3TimothyA. Dein NEMCO-Passwort wird funktionieren.
Nichts mehr zu hören jetzt außer dem Geräusch meines Atems und den Gebeten dreier kleiner Ventilatoren. Die Ventilatoren kühlten die Geräte, nicht den Benutzer. Ich wischte mir Gesicht und Hals mit meinem Taschentuch ab. Danach war es klatschnass. Mein Atem ging schneller und schneller. Die Uhr auf meinem Nokia zeigte kurz nach dreizehn Uhr an – zwölf in Amsterdam. Dafür, dass ich mich verlaufen würde, hatte ich keine Zeit eingerechnet. Tina war vielleicht beim Mittagessen. Es ärgerte mich, dass ich meinen Atem nicht beruhigen konnte.
Aber Tina war an ihrem Schreibtisch und einsatzbereit. Ich schrieb: «Schick mir die schmutzigen Bilder.»
Binnen zwei Minuten war die Sache erledigt.
Ich glaube, mit dieser Transaktion riskierten wir beide lebenslange Haftstrafen. Aber nur einer von uns wusste das. Wie alle, die beim Geheimdienst arbeiten, stellte Tina keine Fragen. Außerdem liebte sie mich.
Ich ging wieder hinauf zu Elvis Documents, meine Tasche an die Brust gedrückt, als befände sich darin die heiße Ware, aber so war es nicht. Die heiße Ware befand sich auf einem Cruzer, der im Taillenbund meiner Hose versteckt war.
Mohammed wartete auf seinem kaputten Stuhl, den Blick geflissentlich woandershin gerichtet.
«Lass uns was essen gehen», sagte ich.
Wir aßen ein Stück die Straße hinunter im Paradi. Passable indische Küche.
In den späten Neunzigern und ein paar Jahre danach, als die Medien sich für diesen Ort interessierten, hatte Kallon als Korrespondent für AP und als CIA-Informant gearbeitet, und dann hatte die CIA ihn in den leonischen Geheimdienst gehebelt, damit er aus dem tiefsten garstigen Herzen der Dinge berichtete, und er hatte einer Menge Menschen geschadet. Und nun hatte er einen Job bei der NATO ergattert.
Dass die CIA Mohammed Kallon einmal unter Vertrag gehabt hatte, war nur eine Vermutung von mir, zugegeben, ausgelöst von meinem Riecher für einen bestimmten Duftstoff. Spitzel stinken.
Ich ließ Kallon für uns beide bestellen und ging auf die Herrentoilette.
Ich schob den Riegel vor, nahm meinen Pass aus der Hemdtasche und den Cruzer aus dem Hosensaum. Ich wollte ihn möglichst schnell loswerden. Feige – aber die Situation war zu neu, um mir geheuer zu sein.
Ich bewahre meinen Pass für gewöhnlich in einer verschließbaren Plastiktüte auf. Daraus entnahm ich ihn jetzt und steckte stattdessen den Cruzer hinein, wickelte ihn fest ein und sah mich nach einem Versteck um.
Die Toiletten, es gab zwei, waren in den Boden eingelassen und hatten je ein Pedal zum Spülen. Ich untersuchte die Kacheln an allen vier Wänden, fummelte am Spiegel herum, strich mit den Fingern am Fensterbrett entlang. Ich versuchte, die Pfosten der Trennwand zwischen den beiden Toiletten anzuheben, und einer löste sich aus dem Boden. Mit dem Finger kratzte ich eine Kuhle in das Loch, ließ das kleine Päckchen hineinfallen und stellte den Pfosten darauf.
Damit alles echt wirkte, trat ich auf eins der Pedale. Die Spülung funktionierte nicht. Die andere bespritzte mir den Schuh. Ich wusch mir am Waschbecken die Hände und ging zu Mohammed Kallon zurück.
Beim Essen redeten wir im Grunde über nichts; außer als ich ihn ganz direkt fragte: «Was läuft hier?», und er sagte: «Michael Adriko läuft.»
Da ich nichts weiter vorhatte, kam ich eine Stunde zu früh im Scanlon an, einem Hotel, das zentraler lag als die besseren. Als die Region noch Journalisten anzog, wohnten viele von ihnen hier, in diesem vierstöckigen Gebäude, das in Dieselschwaden versank oder, wenn trockenes Wetter herrschte, im Staub.
Drinnen war es schummrig und still – kein Strom im Moment, bitte, Sir –, aber gerammelt voll. Mitten in der Lobby stand eine Gestalt im zweiteiligen Jogginganzug aus lila Velours, ein korpulenter Mann mit kahlem, schokoladenbraunem, projektilförmigem Kopf, den er hin und her bewegte, während er sich laut und heftig in ein weißes Handtuch schnäuzte. Die Leute starrten ihn entweder an oder gaben sich Mühe, es nicht zu tun. Das war Michael Adriko.
Michael faltete das Handtuch und legte es sich, als ich auf ihn zukam, über die Schulter. Obwohl wir verabredet waren, empfand er mein Erscheinen offensichtlich als Rückschlag, und das Erste, was er zu mir sagte, war: «Was-was.» Diesen Ausdruck verwendet Michael oft. Er dient zu allem Möglichen. Eine pauschale Übersetzung wäre «verfluchte Scheiße».
«Danke, dass du mich am Flughafen abgeholt hast.»
«Ich war da! Wo warst du? Ich habe alle aus dem Flugzeug kommen sehen und dich nirgends entdeckt. Ich schwöre es!» Er lügt immer.
Er streckte seine kolossale Hand aus, schüttelte meine nur leicht und schnipste dann mit den Fingern.
«Um Himmels willen, Nair, dein Bart ist ja grau!»
«Und mein Haar noch rabenschwarz.»
«Haben Raben denn Bärte?» Jetzt hatte er wieder Boden unter den Füßen. «Mir gefällt er jedenfalls.» Bevor ich ihn daran hindern konnte, berührte er meinen Bart. «Wie alt bist du?»
«Knapp vierzig. Zu knapp, um drüber zu sprechen.»
«Neununddreißig?»
«Achtunddreißig.»
«Genau wie ich! Nein. Warte. Ich bin siebenunddreißig.»
«Du bist sechsunddreißig.»
«Stimmt», sagte er. «Wann habe ich aufgehört zu zählen?»
«Michael, du hast ja einen amerikanischen Akzent. Nicht zu fassen.»
«Und ich kann nicht fassen, dass du mit einem hübschen Vollbart in den Tropen auftauchst.»
«Der kommt demnächst weg.»
«Genau wie mein Akzent», sagte er und sprach dann in so dickem Krio mit dem Kellner, dass ich nicht folgen konnte, aber ich gewann den Eindruck, mindestens einer von uns würde ein Hähnchensandwich bekommen.
Ich fragte den Mann an der Rezeption, ob ein Friseur verfügbar sei, und er schüttelte den Kopf und sagte: «So jemanden gibt es nicht.»
«Hast du deine Haarschneidemaschine noch?», fragte ich Michael.
Breit lächelnd streichelte er seine Glatze. «Ich bin immer tadellos frisiert. Schicken Sie mir das Sandwich aufs Zimmer», sagte er zu dem Mann an der Rezeption. «Zwei drei null.»
«Ich kenne Ihre Zimmernummer», sagte der.
«Komm, Nair. Schneiden wir dir den Bart ab. Du wirst dich jünger fühlen. Komm. Komm.» Im Gehen rief Michael dem Hotelmitarbeiter zu: «Und eine Flasche Mineralwasser!» Den Kopf noch nach hinten gewandt, kollidierte er mit einer sehr gut aussehenden Frau – Afrikanerin, hellhäutig –, die, wie mir schien, extra ein wenig von ihrem Kurs abgewichen war, um die Kollision herbeizuführen. Er blickte zu ihr hinunter und sagte: «Was-was», und ich sah, dass sie Freunde waren und mehr.
Sie war schön, auch jung – noch nicht lange mit dem Studium fertig, nahm ich an –, und das überraschte mich nicht. Solche Frauen erlagen Michael schnell und zogen dann bald weiter.
Sie trug Entwicklungshelfer- oder Safarikleidung – Khaki-Cargohosen, Anglerweste und leichte, robuste Wanderschuhe. Auf dieser Grundlage beurteilte ich sie falsch. Mehr war es gar nicht – ich urteilte aufgrund ihrer Kleidung, und mein Urteil war falsch. Aber der erste Eindruck war stark.
Michael ärgerte sich anscheinend über sie. «Alle sind gleichzeitig hier.»
«Nicht mehr lange – ich gehe auf Erkundungstour.» Sie klang amerikanisch.