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Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2016

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Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Dan Krauss/Getty Images

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ISBN Printausgabe 978-3-87134-170-0 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-10002-2

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-10002-2

Ich möchte Ihnen von einem Verlust berichten. Es geht um meine Bibliothek. Es gibt diese Bibliothek nicht mehr. Ich habe sie verloren.

Das Thema kam bei einem Essen zur Sprache, das zu meinen Ehren ausgerichtet wurde, denn ich hatte einen kleinen Erfolg zu verzeichnen. Es war mir unangenehm, an diesem Essen teilzunehmen, aber ich wollte den anderen nicht die Freude verderben, die sie mir zu machen meinten. Alles in allem war es dann auch eine gelungene Veranstaltung.

Neben mir saß Henry, die in Wirklichkeit einen viel schöneren Namen hat. Seit Längerem hatte ich eine gewisse Schwäche für sie. Wir redeten fast schon vertraut miteinander, wobei ich vermutete, dass diese Vertrautheit eher von ihrer sanften, bedächtigen Art herrührte als von einer tatsächlichen Nähe. Wir redeten, wie wir es schon öfter getan hatten, über Literatur, und anstatt mich von meiner besten und also auch leicht verlogenen Seite zu zeigen, offenbarte ich ihr, dass ich keine Bibliothek mehr besaß.

Es war ein Impuls, dem ich einfach folgte; seit einiger Zeit ging ich mit meinen Verlusten und Mankos offener um als zuvor, obwohl diese Bekenntnisse immer auch schambesetzt und anstrengend waren. Die eigene Katastrophe auszustellen, hat etwas Aufdringliches; es aber nicht auszusprechen, ist noch verquerer, wenn man ohnehin schon einmal bei den Konsequenzen angelangt ist. Bertram, der Gastgeber, bekam das Detail auf der anderen Seite des Tisches mit, und wir redeten über das langsame, aber stetige Anwachsen von Bibliotheken im Laufe des Lebens, überhaupt über die Anhäufung von Zeug und Material, das für manche über die Jahre zu einem nicht unwesentlichen Teil

Im Englischen gibt es die bekannte Wendung «the Elephant in the Room». Sie bezeichnet ein offensichtliches Problem, das ignoriert wird. Da steht also ein Elefant im Zimmer, nicht zu übersehen, und dennoch redet keiner über ihn. Vielleicht ist der Elefant peinlich, vielleicht ist seine Präsenz allzu offensichtlich, vielleicht denkt man, der Elefant werde schon wieder gehen, obwohl er die Leute fast gegen die Zimmerwände drückt. Meine Krankheit ist ein solcher Elefant. Das Porzellan (um ihn gleich durch sein zweites Bild stampfen zu lassen), das er zertreten hat, knirscht noch unter den Sohlen. Was rede ich von Porzellan. Ich selbst liege drunter.

Früher bin ich ein Sammler gewesen. Süchtig nach Kultur, hatte ich mir über die Jahrzehnte eine imposante Bibliothek aufgebaut, die ich mit großer Liebe zum Detail ständig ergänzte und erweiterte. Mein Herz hing an diesen Büchern, und ich liebte es, im Rücken all die Schriftsteller zu wissen, die mich früher geprägt und begeistert hatten, dazu die Kollegen, deren Neuerscheinungen mir immer wieder vor Augen führten, dass die Zeit voranschritt und die Dinge sich änderten. Ich hatte die Bücher nicht alle gelesen, aber ich

2006 hatte ich den größten Teil meiner Bibliothek verkauft, vor allem die Klassiker. Plötzlich waren mir, dem Maniker, die vorher geliebten Bücher ein Ballast, den ich so schnell wie möglich loswerden wollte. 2007, in der Depression, betrauerte ich diesen Verlust dann sehr. Ein Sammler hatte die Objekte seiner Leidenschaft in alle Winde verstreut, und eine Rückholaktion war nicht möglich. Drei Jahre harrte ich zwischen den dezimierten Beständen aus, dann wurde ich wieder manisch und verkaufte, 2010 war das, den größten Teil der übriggebliebenen Rumpfbibliothek, dazu alle CDs und Platten, die die Händler noch annahmen. Den Rest warf ich weg, genauso wie einen beträchtlichen Teil meiner Kleider. 2011 erwachte ich wieder aus dem irren Rausch und war bestürzt, alles verloren und verscheuert zu haben, was mir vorher lieb gewesen war.

Ich vermisse diese Bücher noch heute. Meist rede ich mir ein, dass auch bei normaler psychischer Konstitution eine Verschlankung der Bibliothek nicht die schlechteste Idee gewesen wäre (aber eine Verschlankung bloß!) oder dass ich irgendwann eh genug gehabt hätte vom ständigen Archivieren und Horten, um einem neuen, befreienden Minimalismus zu frönen, weiße Wände, ein Sofa, ein Tisch mit Gerhard-Richter-Kerze drauf, mehr nicht. Doch die Entscheidungen sind krankheitsbedingt gewesen. Kein freier

Henry wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie sah mich nickend an und versicherte dann, sie kenne selbst solche Zustände, auch wenn es ihr fern läge, meine und ihre Disposition auch nur im Ansatz miteinander vergleichen zu wollen. Wir redeten noch weiter über diese Zustände, diese massiven Hoch- und Tiefdruckgebiete der Psyche, ohne dass ich beschreiben wollte oder konnte, was meine Krankheit für mein Leben wirklich bedeutete. Kein weiteres der verheerenden Details kam über meine Lippen. Die Erwähnung der Bibliothek musste fürs Erste reichen. Es hatte dennoch nichts Peinliches, mit ihr zu reden, das Vertrauen war spürbar, genauso aber die sich einschleichende Distanz. Die Erkrankung stand, jetzt ausgesprochen, noch manifester zwischen uns, und dennoch bereute ich nicht, es ihr gesagt zu haben. Drei, vier Wochen später verliebten wir uns ineinander. Zusammen kamen wir jedoch nicht. Meine Krankheit machte ihr Angst, mir ihre altadelige, in aller Weltläufigkeit fast engstirnige Familie, und nach einer Woche, die wir wie im Traum verlebten, wussten wir, dass es keinen Platz für uns in der Wirklichkeit gab, auch wenn wir es gegen alle fremden und eigenen Einwände noch einige Monate lang störrisch versuchten. Ich habe ihr seitdem nur wenige Details meiner Geschichte erzählt, wiewohl sie eine der Personen wäre, denen ich alles erzählen könnte und müsste. Dieses Buch ist solchen Unmöglichkeiten gewidmet – und einer Liebe, die sich sofort zurücknahm.

Als ich Sex mit Madonna hatte, ging es mir kurz gut. Madonna war noch immer erstaunlich fit, was mich allerdings kaum verwunderte. Man hatte ja verfolgen können, wie sie um 2006 zur Fitnessmaschine mutiert war und sich im Video «Hung Up» abplackte, zwischen Splits und Squats, immer härter, immer extremer, als Gummimensch mit weichgezeichneten Kurven, der seinen Körper nach starkem Willen formt und der Vergänglichkeit so in den labbrigen Arsch tritt. Und jetzt wurde ich Nutznießer dieser Bemühungen; jetzt wurde ich endlich mit den Früchten ihrer schweißtreibenden Körperarbeit belohnt – ich, der ich ebenfalls in den letzten Monaten beachtlich abgemagert war und diesen Prozess auch mehr oder weniger lückenlos dokumentiert hatte, auf meinem Blog, den ich täglich zerstörte und erneuerte. Also war es jetzt so weit, und ich konnte sie mit der größten Selbstverständlichkeit von der Oranienstraße wegpflücken. Wieso sollte ich auch überrascht sein? Sie hatte ihr Leben lang über mich gesungen.

Wie auch Björk. Die allerdings ging mir inzwischen gehörig auf die Nerven. Verloren wuselte sie in Cafés und Bars um mich herum und versuchte, mein Herz mit ihrem brüchigen Elfengesang zur Räson zu rufen. Denn war sie nicht immer meine wahre Popliebe gewesen? Wieso denn jetzt plötzlich Madonna? So schien es aus ihr zu wimmern. Im Gegensatz zu Madonna aber hatte Björk nicht konsequent an sich gearbeitet, sich nicht ständig neu erfunden und gehäutet. Björk schien zu glauben, durch Aufsetzen ihrer Selma-Brille aus «Dancer in the Dark» und ihre schlampige, fertige, mitleidheischende Erscheinung könnte sie meine Jugendliebe zu ihr umstandslos neu entfachen. In ordinär verhangenen Cafés näherte sie sich mir, Laub in den Haaren,

An den eigentlichen Geschlechtsakt mit Madonna kann ich mich kaum erinnern. Es wird weder besonders wild noch besonders langweilig gewesen sein. Madonna ist nämlich gar keine Sexbombe, genauso wenig wie Elvis eine war, von dem eine Liebhaberin bekanntlich meinte, er sei ihr im Bett wie ein kleines, unbeholfenes Baby vorgekommen, samt Schnappreflex zur Mutterbrust. Madonna war ähnlich inzestuös unterwegs, schien in mir noch immer ihren Sohn zu sehen, den gefallenen Jesus, dem sie Oralsex verpassen will: I’m down on my knees, I’m gonna take you there, und so dünstete unser Sex den Ruch des Verbotenen aus, ohne dass dieses Ketzertum mich auch nur im Geringsten kickte. Bald erkannte ich auch die alte Frau unter mir, das Fleisch nun doch weicher und labbriger unterm Zugriff, die Masken alle gefallen, die Krähenfüße vom vielen Lachen tief in die Haut gezogen. Die Masken alle gefallen, ja: bis auf dieses wölfische Grinsen, das mir schon in der Fensterreflexion des Buchladens entgegengestrahlt hatte. Madonna bleckte ihre langen Zähne. Wir hatten die Bücher in der Auslage betrachtet, unsere Blicke hatten sich getroffen, ein Erkennen auf meiner, ein Schmunzeln auf ihrer Seite, und ohne ein weiteres Zeichen waren wir in meine zerschossene Wohnung am Kottbusser Tor geeilt, der nasse Teer ein dunkler Spiegel unter unseren Füßen. Sie kam einfach mit. Ich weiß noch, dass ich anfangs staunte, wie gut in Schuss sie war, fast so wie auf den Aktbildern aus den frühen Achtzigern, muss aber auch eingestehen, dass mir ihre Brüste bald viel übersichtlicher vorkamen als angenommen, als von den Medien oder von ihr selbst regelrecht vorgetäuscht. Mindestens zwei Körbchengrößen musste man abziehen, dann stimmte es

Dass die Stars plötzlich aus allen Löchern gekrochen kamen, kannte ich schon. Es war immer dasselbe. Kaum war ich mir wieder meiner unaussprechlichen Funktion bewusst, kaum begann ich, die richtigen Signale auszusenden, umschwärmten sie mich wie Sterne ihr schwarzes Loch. Und ich fraß sie alle. Bevor ich mit Madonna abstürzte, war MCA um mich herumgestromert, der gute, inzwischen leider tote MC der Beastie Boys, um abzuchecken, was ich so tat in dieser gottverlassenen Nacht. Im Gegensatz zum ständig und überall lauernden Werner Herzog war MCA eine reine, integre Seele. Er bedeutete mir kurz mit gerecktem Daumen, dass alles okay sei, und so konnten Madonna und ich reinen Gewissens loslegen. Denn MCA war selbst das personifizierte Gewissen des Pop, und was er abnickte, war politisch wie moralisch korrekt, egal, was die Dragqueens vor dem Roses uns hinterherzischten oder die jungen Türken vor dem Oregano, die die Dragqueens skeptisch beäugten und maulfaul dissten. Sollten sie ihre Verachtung intern regeln; mit uns hatte das nichts zu tun. Wiewohl, wer weiß – hatte ich den Dragqueens doch Wochen vorher geholfen, indem ich mich zwischen sie und aggressive, bullige Gangsterrapper gestellt und schließlich, als die Schläger dennoch losprügelten, die Polizei gerufen hatte. Ich, die Polizei! Eine Farce. Aber die Türken verstanden meine Haltung und krümmten mir nicht

Als Madonna weg war, war sie weg, und nichts war geschehen. So war es meist zu jener Zeit: Ich hatte ein Erlebnis, das in vorbewussten Phasen für eine Menge Wirbel und Skandal gesorgt hätte – jetzt aber verpuffte jeder mögliche Eklat im Nichts, ob ich nun in Handschellen «sistiert» oder von Madonna verführt wurde. Ich erzählte ja auch niemandem davon, oder höchstens Wochen später, völlig whiskeyzerstört in einem aufs Neue fremdzerwühlten Bett. Die Ereignisse waren intensiv, aber folgenlos. Jeder Tag war wie eine Reinkarnation, und ein neuer, schärferer Reiz musste her, um das Bewusstsein zu befrieden. Und das Gestern war verdrängt wie ein kürzlich verlorener Krieg.

3

Allein das Wort: bipolar. Das ist einer jener Begriffe, die andere Begriffe verdrängen, da sie der Sache angeblich gerechter würden, indem sie der Benennung das diskriminierende Element nähmen. Getarnte Euphemismen, die ihrem Gegenstand durch Umtaufung den Stachel ziehen sollen. Letztendlich passt der alte Begriff «manisch-depressiv» aber, jedenfalls in meinem Fall, viel besser. Erst bin ich manisch, dann depressiv: ganz einfach. Erst kommt der manische Schub, der bei den meisten ein paar Tage bis Wochen, bei wenigen bis zu einem Jahr dauert; dann folgt die Minussymptomatik, die Depression, die völlige Verzweiflung, solange sie nicht von fühlloser Leere aufgelöst und ins dumpf Amorphe verformt wird. Auch diese Phase kann, je nach Erkranktem, wenige Tage bis zwei Jahre dau

Dem Wort «bipolar» ist, neben den durchaus vorhandenen positiven Effekten, die die Umbenennung mit sich brachte – etwa die Einbeziehung gemischter und milderer Krankheitsformen –, eine gewisse Technizität mitgegeben, die den wahren, katastrophalen Gehalt des Begriffs abdämpft und ins Aktenkundige rubriziert: das Desaster als verbraucherfreundlicher terminus technicus. Das Wort ist so lasch, dass manche noch immer nicht wissen, was es eigentlich bedeutet. Und die Unkenntnis spricht Bände. Der gebildete Bürger kann mit dem Begriff «Bipolarität» wenig anfangen – wie erst mit dem Krankheitsbild. Solche Dinge sind, und das soll kein Vorwurf sein, den Menschen noch immer völlig fremd und zutiefst unheimlich. Das Wort ist billig, der Sachverhalt aber erschütternd. Hier die Normalen, selbst von Neurosen, Phobien und echten Verrücktheiten durchzogen, aber alle liebenswert, alle mit einem Augenzwinkern integrierbar, während dort die Verrückten mit ihren Unverständlichkeiten hadern, schlichtweg nicht mehr einzuordnen sind, nicht zu ironisieren oder durch Humor kommensurabel zu machen. Das ist das Fatum der Irren: ihre Unvergleichbarkeit, der Verlust jeglichen Bezugs zum Leben der restlichen Gesellschaft. Der Kranke ist der Freak und als solcher zu meiden, denn er ist ein Symbol des Nichtsinns, und solche Symbole sind gefährlich, nicht zuletzt für das fragile Sinnkonstrukt namens Alltag. Der Kranke ist, genau wie der Terrorist, aus der Ordnung der Gesellschaft gefallen, gefallen in einen feindlichen Abgrund des Unverständnisses. Und er ist sich sogar selbst nicht verständlich, grausamerweise. Wie soll er

Am besten wäre es wohl, man ließe sich als psychisch Kranker, so man den Schub denn überhaupt überlebt hat, ein für allemal stillstellen und versuchte im Weiteren, ohne große Reflexion und Grübelei bis zum Ende durchzuvegetieren. Verloren ist eh das Meiste. Sich mit der eigenen Erkrankung aktiv und analytisch auseinanderzusetzen, strengt an und schmerzt, und es ist gefährlich.

 

Ich bin zu einer Gestalt aus Gerüchten und Geschichten geworden. Jeder weiß etwas. Sie haben es mitbekommen, sie geben wahre oder falsche Details weiter, und wer noch nichts gehört hat, dem wird es hinter vorgehaltener Hand kurz nachgereicht. In meine Bücher ist es unauslöslich eingesickert. Sie handeln von nichts anderem und versuchen doch, es dialektisch zu verhüllen. So geht es aber nicht

Ursachen, Ursachen, Ursachen. Nimm zehn Therapeuten, und du hast hundert Ursachen. Gesetzt ist jedenfalls immer wieder die sogenannte Vulnerabilität: eine, wörtlich, Verletzbarkeit, die zwar erst einmal nur die Anfälligkeit für psychische Krankheiten meint, aber durchaus auch als Dünnhäutigkeit zu lesen ist, als eine Art überempfindliche Rezeptivität, welche die Alltagswelt schnell zur Überforderung werden lässt. Zu viele Wahrnehmungen, zu viele Blicke, und die Denke des anderen wird stets miteinberechnet, so dass die Außenperspektive den Innenblick dominiert. Zum Beispiel überfordert das Betreten eines öffentlichen Raumes, eines Theaters oder einer Bar, das Eintauchen in das soziale Spannungsfeld, das dort herrscht, den solchermaßen Vulnerablen sofort. Die Möglichkeiten der Gefahr, die sich in diesem Feld auftun, sind vielfältig. Da wird der Smalltalk zur Falltür, die Blicke der Anwesenden erscheinen wie Attacken, Gesprächsfetzen irritieren die Konzentration, das bloße Rumstehen stößt einen in die größte Verlorenheit. Der Vulnerable muss sich immer wieder überwinden, will er nicht völlig in der eigenen Soziophobie verschwinden. Wenig widerstandsfähig und wirr von all dem Außen, meidet er das Soziale und verlernt es, wenn er es denn je gelernt hat. Oder desensibilisiert sich zwangsweise mit Alkohol und anderen Drogen. Und fängt so an, den Neuronenhaushalt durcheinanderzubringen und langsam kippen zu lassen. Vielleicht. Vielleicht ein Grund, eine Ursache.

Ich kann nur sagen: So und so ist es bei mir gewesen (und so wird es hoffentlich nie wieder sein). Was davon Ursache ist, was Folge und was von der Krankheit nicht betroffener Umstand, ist letztgültig nicht festzustellen. Also muss ich erzählen, um es begreifbarer zu machen.

«Etwas stimmt nicht.»

Darauf konnten wir uns einigen. Lukas meinte es zwar anders als ich. Aber er war klug und hielt den Satz so allgemein, dass auch ich ihm zustimmen konnte. Etwas stimmte also nicht. Ich meinte: mit der Welt. Er meinte natürlich: mit mir.

Ein Hahn krähte. Es war ein Spaßobjekt in Form eines Hahns, das, wenn bewegt, blecherne Töne von sich gab. Andreas hielt das Plastiktier in der Hand und ließ es wiederholt aufkrächzen. Wahrscheinlich war das eine Art ratloser Scherz, eine Persiflage auf die Trigger meiner Paranoia: Da ist ein Signal, ein Zeichen, ein Krähen, ja. Es ist für dich. Und es ist nichts. Es ist ein Witz. Wach auf.

Die erste Nacht meines Wahns lag hinter mir. Ich erinnerte mich schon jetzt kaum mehr an sie. Gewiss hatte ich trotz aller Aufgescheuchtheit geschlafen. Ich hatte mich sicher auch mit Bier beruhigt, was die Mediziner tatsächlich als Selbstmedikation bezeichnen. So schnell ändern sich nämlich die Bewertungen: Was eben noch das Besäufnis eines Slackers war, ist einen Tag später die Selbstmedikation eines Kranken.

Ratlos saßen die Freunde um mich herum, morgens, am Küchentisch. So etwas war ihnen noch nicht untergekommen. Man hatte einmal von einer Jurastudentin erzählt, die am Tag vor dem Examen ausgerastet sei und sich am Telefon als ihre Großmutter ausgegeben habe. Das hatte mich natürlich aufhorchen lassen, denn ich war empfänglich für solche Geschichten. Jetzt war ich im Begriff, selbst eine solche Geschichte zu werden. Und die Freunde saßen erst einmal da und wussten nichts zu sagen. Sie blickten mich an, verstohlen bis irritiert.

Knut versuchte in einer Gefühlswallung als Einziger,

Ein «Ja» heißt dann automatisch «schizophren», ein «Nein» noch nichts, es lässt alle Optionen offen in diesem Multiple-Choice-Verfahren, das die Antworten des Erkrankten nie in Frage stellt, alles abnickt. Solche Praktiken werden ihren langbewährten Sinn haben, und die meisten Paranoiker sind natürlich kaum von ihren Überzeugungen abzubringen. Doch manchmal frage ich mich, ob ein Zwischenruf von berufener Instanz, ein schlichtes Negieren der Wahnvorstellungen, vielleicht en passant, im Ton der Nebensächlichkeit, nicht doch hilfreich sein könnte: «Was Sie denken, stimmt übrigens nicht, aber … –»

Knut jedenfalls versuchte es. Oder vielmehr brach der Versuch unkontrolliert aus ihm heraus, denn Knut war bisweilen ein Hitzkopf, der seinen roten Haaren alle Ehre machen zu wollen schien.

«Aber das stimmt doch alles gar nicht!»

Ich weiß noch, wie ich ihn anstarrte, wie sich ein Hiatus öffnete, in dem die Wirklichkeit aufschien, die normale Welt von vorgestern, die einigermaßen gefestigte Ordnung, die ich kannte. Ich weiß noch, wie ich ihm für ein paar Sekunden, während derer die anderen betroffen schwiegen,

Denn die Angst ließ mich verstummen. Nicht nur waren meine Gedanken zu wild und neu, als dass ich sie auf irgendeinen Begriff hätte bringen können, sondern war es mir aus Furcht und Erschrockenheit kaum möglich, überhaupt den Mund zu öffnen. Ich war noch zu durchgerüttelt, zu fertig vom vergangenen Tag. Die Panik steckte dumpf in mir, und ich wusste nicht mehr, wo oben und unten, wo innen und außen war. Ich sah die Freunde nur verständnislos an, dann senkte sich der Blick wieder auf die Tischfläche, wo er haften blieb. Der graue Himmel spiegelte sich matt im Lack. Im Kopf war glühender Matsch. Es waren doch dieselben Freunde von früher, dieselben sofort erkennbaren, vertrauten Gesichter und Gemüter, und doch war alles anders, eine große Fremdheit zwischen uns, eine Grenze aus Unaussprechlichem. Wieder krähte es. Ich war so allein wie nie.

The day the whole world went away. Man muss sich das vorstellen wie eine Pubertät im Zeitraffer, eine prompte Umwertung aller Werte und Ansichten, das Öffnen sofort geblendeter Augen, den Verlust der Unschuld, und das eben nicht über Jahre, sondern innerhalb eines Tages, in Stunden, fast mit einem Wimpernschlag. Die ganze Welt ist plötzlich anders strukturiert als bisher angenommen. Die Prinzipien

«Die Leute verhalten sich so seltsam», stammelte ich.

«Natürlich verhalten sie sich seltsam. Weil du dich seltsam verhältst!»

Ja? Wieder dieser kurze Augenblick einer möglichen Umkehr, dieses Aufscheinen der Normalität, Hebelgriff des gesunden Menschenverstands: Stimmt, ich verhalte mich abstrus und seltsam, ich bin durch die Stadt gerannt und habe fremde Leute angesprochen. Bizarr, was ist da los? Doch dann sofort der Gedanke: Sie sind ja nicht fremd. Sie kennen mich. Seit wann?

Als alles nichts half, fing Lukas mich wieder ein: «Etwas stimmt nicht.» Da nickte ich, dem konnte ich zustimmen. Etwas stimmte nicht, und zwar grundlegend, bis in die Basis, bis ins Wesen der Dinge hinein. Dieses Wesen der Dinge musste ins Krankenhaus, nicht ich, wie es meine Freunde vorschlugen. Sie überredeten mich dazu, erst einmal die Wohnung zu verlassen.

2

Die Straßen durchquerte ich wie bekifft. Der Beton schien, wenn ich mich nicht drauf konzentrierte, unter meinen Füßen nachzugeben; wurde ich mir dieser Empfindung aber bewusst, verschwand sie sofort wieder. Alles wirkte künstlich ausgeleuchtet, die Häuserfassaden

In einer türkischen Restaurantkantine namens «Deutsches Haus» aßen wir Linsensuppe und Köfte. Es war das Erste, was ich seit Tagen zu mir nahm. Das Essen fiel mir schwer, weil ich mir beobachtet vorkam, Angst vor den Blicken der anderen Gäste hatte. Als ein Kamerateam die Räume betrat, um den Anwesenden Reaktionen auf das Erdbeben abzunötigen, das die Türkei am Tag zuvor erschüttert hatte, wollte ich fast wieder alles ausspeien. Natürlich bezog ich die laufende Kamera gleich auf mich, auch wenn sie nicht einmal in meine Richtung filmte. Das hieß in meiner Einbildung: Man wollte mich, von oberster Stelle angeordnet, auf meine neue Rolle vorbereiten. Knut musste ob der Absurdität der Situation lachen, denn er merkte sofort, wie das Kamerateam meine Paranoia befeuerte.

Erste Monologe schossen aus mir hervor. Ein Kommilitone von Andreas und Lukas war zu uns gestoßen, und seine Hornbrille sowie die spitzbübische Süffisanz, die er ausstrahlte, machten mich gleich aggressiv. Ich hatte einen neuen Feind gefunden, dabei tat er gar nichts Böses. Er redete lediglich von irgendeiner Gastfamilie, die ihm nach einer Magenverstimmung eine Banane gereicht hätte. Das habe geholfen. Vorher musste ich also selbst berichtet

Abends war ich wieder allein in der Wohnung und übergab mich drei-, viermal. Die Zeichen, mit denen ich bis obenhin voll und vergiftet war, mussten aus mir raus. Aber es half nichts. Sie blieben in mir drin. Alles blieb drin.

«DRIN                      ‹das ist ja einfach›

 

14.32 Uhr: Jeder Tod, den ich sterbe, ist ein weiterer Verrat an der Wahrheit. Die Surpriseparty für Lukas endet also vorerst mit meiner Einweisung in die Geschlossene. Wenn man pinkelt, ist die Klotür in der Regel auf. Ein normaler Platz wie jeder andere, eine nicht neue Erfahrung. Unseltsam. Ich würde gerne draußen mitschreiben, nicht hier drinnen bei den Ausgeschlossenen. Wer hat diese Leute kaputtgemacht?

Dr. Mabuse: rock on. Gestern ausgetickt. Keine Griffe hier. Ich habe: ‹keinen Ausgang›. Herr Melle (auch ‹Mehle›) hat heute keinen Ausgang, können Sie ihm vielleicht Zigaretten mitbringen, Herr Noeres. Herr Noeres ist nämlich zuverlässig.

 

15.12 Uhr: Die Verschwörung meiner Freunde und Freundesfreunde. Donnerstagabend wurde eine konspirative Versammlung bei Lukas einberufen, Informationen wurden über mich zusammengetragen, was weiß wer von welcher neuerlichen Aktion, wohin soll das führen.

Magda war wohl auch dabei: der Magda-Verrat. Leider ist einem natürlich nicht ganz so ersichtlich, warum für die anderen ein Witz ins Kranke ablappt, wo für einen selbst ja noch der normale alte Witz besteht. So wird eine lässige Flugblattaktion ohne auffordernden Charakter zum Anlass für die automatische Einweisung in die Geschlossene. Die krasse Asymmetrie von Sendung und Empfang. Eine nette Geste wird da zum plötzlichen Würgegriff. Welche Mechanismen sind am Werk?

Don’t cry a river for me.

 

Ich lese: ‹Lichte Gedichte›, ‹Abfall für alle›, ‹Preacher›, Catull und Horaz, wenig Wittgenstein. Wittgenstein ist mir gerade zu verrückt. Luhmannvervollständigung: Die Gesellschaft der Gesellschaft das Gesellschaft.

Zusammenrottung um mich im Raucherzimmer. Ende dieser Notizen.

 

So traurig.

Wobei, wenn die Sehnsucht ständig erfüllt würde, das Ersehnte plötzlich verschwände. Das Ende der Beziehung: Klammern und Unfreiheit. Gewäsch.

Tee und Kakao in rauen Mengen, und qualmen tu ich, wie der irre Olaf Gemeiner (zu ihm später), Filterzigaretten. Die Romantik der Irren, etwas Besonderes zu sein: Wurzel allen Irrsinns. Ich dagegen immer wieder, in jedem Satz, der Versuch zu sagen: Ich bin ein normaler Mensch. Fresst das und lasst mich endlich in Ruhe mit euren Blicken. Aus euren Blicken bau ich mir ein Haus, sage ich, und ihr, baut euch eure Welt doch alleine. Kommt jemand in den Raum, fällt sein Blick zuerst auf mich, instinktiv gewittert. Schlieren vor dem Auge – weshalb ich auch nichts mehr mit F. zu tun haben will. Schon der Sex war bei ihr Voyeurismus. Schauen wir ihm mal zu, unserem Pornostar. ‹Lost Highway› war nichts dagegen. Jetzt ist sie lesbisch, war klar.

Nicht offen: zu.

Ein Zirkelschluss: die ganze Ethik. Die neue Perspektive ist nicht neu.

Und die Gemeinheiten geschehen ungewollt, im Ironischen, Distanzierten, lakonisch Schmunzelnden. Das nehme ich immer als fies wahr. Warum gibt es hier eigentlich keine Pissoirs auf den Toiletten? Es sind doch nur Männer hier. Es ist dies doch die Männer-Geschlossene, oder habe ich das falsch verstanden?

 

Der Drogenbeau fragt mich nach einer Urinprobe. Ich verneine.

Ins Auge schießen: Kreide, Tafel, Fadenkreuz (Zeichnung)

 

11.00 Uhr: SAUNA UND DOCH SO FERN

 

13.45 Uhr: Nur kurze Nachfrage: Wie soll man da eigentlich noch Vertrauen haben in die engsten Freunde, wenn noch die kleinsten, vielleicht schrägere-als-sonst Aktionen sofort konspirativ kolportiert und letztendlich wirklich gegen einen verwandt werden? Was sagt die Sprache denn da? ‹Verwandt?› Was, bitte, wer und womit?

Dieser Moment der Entfremdung, ein Zeitblitz im Bewusstsein –

 

22.34 Uhr: Abends Unruhe. Der General ruft alle Leute mit großem Hallo zusammen und spricht von einer Feuerpolice. Er ist auf der Suche nach seiner Hose. Alle sind wieder bekloppt.

Magda war da, schön. Auch die anderen, Konrad, Lukas, Andrea, Isa, Knut, Andreas: kurz. Ein Brettspiel namens Kuhhandel wurde gespielt. Der Generaldirektor umarmt mich. Olaf Gemeiner (zu ihm später) sagt: ‹Du hast Schübe von Anal in dir.›

Wir machen das militärisch: Nachtruhe

Nachtruhe im Direktoratsbett, so machen wir das

Dichter dicht, laut und flüssig inzwischen:

‹7 Freunde›, beschimpft er mich –

‹Und keiner regt sich auf› (ich beim Kuhhandel)

 

17.47 Uhr: Ulrich Janetzki kontaktieren, gleich nächsten Monat. Rauchen und Schauen. Warten auf Entlösung, mit -t-. Entschuldigung, ich wollte nix Böses. Ich gut. Gut und krank, in Heilanstalt. Wo ist der Grund? Wo ist der Grund?

 

18.34 Uhr: MÖGLICHE SEMINARE UND DISSERTATIONSTHEMEN

Wittgensteins Nacktheit

Der Schlaf in der Literatur

Eine analytische Philosophie der Literatur

Geschosse in der Literatur des XX. Jahrhunderts

Paranoia in der Literatur des XX. Jahrhunderts

Pynchon und das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus

Ekel bei Brinkmann und Goetz

Drastik des Dramas – Sarah Kane und Werner Schwab

Kritik der Psychoanalyse

Cyberpunk und Neurobiologie

Bernd Alois Zimmermann – die Zeit als Kugel und Depression

Mind the Surface: Kreatiefes Schreiben

ha, haha, haha

haháhahahahá

 

im Exil

 

4.03 Uhr: schlaflos

Ausflug ins Jahr 2008

Leider seh ich Dich nicht, wie Du mich nicht siehst»

 

(Aus meinen Aufzeichnungen, 17. bis 21. September 1999)

4

Der erste Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik ist meist traumatisch. Die Grenze ist überschritten, die Türen schließen sich. Hier hilft kein Foucault, kein Durchbuchstabieren der diskursiven bis handfesten Machtverhältnisse und Ausschlussmechanismen: Theorie und Geschichte des Wahnsinns gehen keinen mehr etwas an. Hier ist man mit der Praxis konfrontiert, nein, man ist Teil und Objekt einer Praxis, die sich jeglichem subjektiven Einfluss entzieht. Lasse also, der du eintrittst, alle Selbstbilder fahren. Du bist jetzt dort, wo nichts mehr stimmt. Schreie und Schlurfgeräusche begrüßen dich. Und eine aufgeladene Stille, die Art von Stille, die herrscht, wenn schweigende Leute schon zu lange auf etwas warten. Nur warten die Patienten auf nichts Bestimmtes. Auf die nächste Dosis höchstens, auf den ersten Ausgang, eher aber auf die ferne Erlösung. Sie warten ohne Ziel. Es ist eine fremde und durchregulierte, eine bis in die bürokratischen Details unheimliche Welt, gleich neben der normalkranken Welt angesiedelt, ein Haus weiter nur vom Röntgeninstitut gelegen, ein Stockwerk über der Orthopädie.

Mit einem Schlag betritt man das Reich des Wahns, sei

Erstmal eine rauchen, dachte ich und ging den langen, mit dunklem Kunstmarmor ausgelegten Gang hinunter. Im Raucherraum spürte man die jahrealte, zeitschwere Routine. Neuankömmlinge wie ich wurden lasch begrüßt oder misstrauisch angestarrt. Ich sagte erst einmal nichts und rauchte mit den anderen, in diesem Taubenschlag aus Nikotin und angespannter Lähmung. Aggression lag in der Luft. Die Leute kamen, rauchten und gingen, Tür auf, Tür zu, ohne viele Worte zu wechseln. Nach zwei Zigaretten stand ich auf und stampfte in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett. Mein Zimmernachbar spielte dilettantisch auf seiner Gitarre, nachdem er verkündet hatte, ein Star zu sein. Seine Selbstüberschätzung erkannte ich im Gegensatz zu der meinen sofort. Ich hörte kurz zu, wunderte mich, wie seine verzerrte Eigenwahrnehmung zustande kommen konnte, sprang wie

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Entgegen der Aussage eines Chefarztes, der ein Jahrzehnt später mein nicht sehr hilfreicher Gutachter werden sollte, nachdem ich mich monatelang in seiner Klinik aufgehalten und ihn dabei nur einmal zu Gesicht bekommen hatte, erinnert der Maniker sich eben nicht an alles. Ganz im Gegenteil: Er erinnert sich an nur wenig. Die Manie sei, was die Erinnerung angeht, eine gnädige Krankheit, schreibt Kay Redfield Jamison, eine Professorin für Psychiatrie, die selbst an einer bipolaren Störung leidet. Die Manie, stellt sie fest, löscht die Erinnerungen größtenteils aus. Mit Abstrichen stimmt das. Jedoch weiß ich nicht, ob ich dies wirklich als Gnade ansehen soll. Der fehlende Zugriff auf die eigenen Taten und Erlebnisse stellt einen weiteren, nachträglichen Kontrollverlust dar, der sich neben all den anderen Kontrollverlusten, die die akute Erkrankung mit sich bringt, zwar sanft ausnimmt, aber gleichzeitig die eh angegriffene Identität des Erkrankten noch weiter in Frage stellt. Ich persönlich wüsste nämlich gerne, was ich während der Schübe alles so gemacht habe, und das möglichst lückenlos. Geht aber nicht. Momentaufnahmen der besonders krassen und einschneidenden Ereignisse sind abrufbar, auch unspektakuläre Augenblicke, einzelne Begegnungen mit Menschen, Fragmente. Vieles, was ich über mein Verhalten währenddessen weiß, weiß ich von anderen.

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1999. Der Sommer war ein wilder und doch bedrückender gewesen. Mit meinen neuen Freunden war ich viel ausgegangen, hatte die Euphorie genossen, die Alkohol und Musik mir manchmal täglich bescherten. Es war die Zeit des Cookie’s, des Eimers und des Kunst und Technik. Es war die Zeit von Berlin, eines fast noch größeren Versprechens, als die Universität eines gewesen war, des Versprechens der Großstadt, die uns seit Jahren unüberhörbar rief, mit ihrem Chaos, ihren Clubs, ihrem Beat und dem ganzen Geist, der sich dort versammelt hatte, der Kultur, die uns umtrieb, den Exzessen, die wir wollten. Wir, schreibe ich, als spräche ich für andere und nicht nur für mich; aber ich war ja auch einer von ihnen, einer von uns. Ich war dabei und ließ mich treiben, durchs Nacht- und Tagleben, durch die neuen, heißen Bücher, durch die Zeitungen und Gedanken, durchs noch junge Internet, durch die Seminare, die Stadt. Ich sah mich als Teil von etwas.

Endlich hier, endlich unterwegs – und doch schon von Anfang an eine Bedrückung, die Brust, Atem und Blick verengte. Ich kam mir vor wie ein Slacker, hing manchmal nur herum, soff und war dennoch ein hyperfleißiger Student. Wie konnte das zusammengehen? Es ging. Eine Fernbeziehung, in der anfangs viel Romantik steckte, zerbrach lautlos. Die Tage wurden blasser, die U-Bahn-Fahrten länger. Die

Träge hing ich manchmal in den Seilen, wusste nicht ein noch aus, wollte es nicht wahrhaben, sprang dann ziellos auf, geisterte durch die Straßen, die Supermärkte, auf der Suche nach der Punica-Oase, nach irgendeinem Produkt, das etwas bringen könnte, fand nichts und schlich zurück in die unbelebte, abweisende Wohnung. Dort saß ich dann ratlos am Küchentisch, schmierte mir ein Brot, das ich nur halb aß, und versuchte, zurück in die Lektüre zu finden. Noch gelang es.

Diese Zustände gab es nicht erst seit Berlin. Es hatte sie schon immer gegeben, in der Kindheit, der Jugend, der Adoleszenz: dieses hartnäckige Gefühl, aus der Bahn geworfen zu sein und ständig einen Abstand zwischen der Welt und mir überwinden zu müssen, und zwar nicht nur für ein paar

So bereits in Tübingen. Dort hatte ich, aufgeheizt und angemacht von einem großen Lernenwollen, 1994 mein Studium mit einem derartigen Elan, einer Energie aufgenommen, dass es manchem wohl befremdlich war. Die Universität ist für den Schulabgänger ja ein Versprechen. Endlich kann der junge Geist seine wahren Interessen vertiefen, unbelästigt von einer teilweise doch recht frustrierten und also einengenden Lehrerschaft, fern von der Familie und den, in meinem Falle, kleinbürgerlichen und zerrütteten Verhältnissen. Sich im Studium neu erfinden, sich weiterfinden, das Wissen mehren, die Fähigkeiten schärfen, das war mein Ziel. Ich wollte ein Streber sein und meinen Bildungsroman leben.

Morgens um acht stapfte ich freiwillig in das Evangelische Seminar, um mit den Theologiestudenten Altgriechisch zu pauken, tatsächlich zu pauken, auf die altmodischste Weise. Dann ging es weiter, in die Seminare und in die Bibliothek, Unerschöpflichkeiten taten sich auf, und was ich früher als gewichtige Literatur gelesen hatte, diente mir jetzt, so überspannt war ich tatsächlich, als Relaxans zwischen den Theorieblöcken. So dachte ich es mir jedenfalls und las Enzensberger und Broch in den Pausen. Ich war begeistert von der Lehre und beseelt vom unbewussten Glück, noch unsichtbar, noch nicht festgeschrieben zu sein.

Ein paar Freundschaften mit analytischen Philosophen entstanden, die meine Lernisolation gegen Ende des ersten Jahres auflockerten. Oft gingen wir etwa nach freitäglichen