Operation Zagreb

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2017

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Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

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ISBN 978-3-644-22301-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-22301-1

ohne dessen Ermutigung

es niemals entstanden wäre.

Alfred Döblin

Ich musste erst nach Jugoslawien kommen, um zu verstehen, was Geschichte in Fleisch und Blut bedeutet.

Rebecca West

… es stand geschrieben, ich solle loyal sein gegenüber dem Albtraum meiner Wahl.

Joseph Conrad

Französische Riviera, 1956

Wölfe werden üblicherweise mit tiefblauen Augen geboren. Diese werden nach und nach heller und verblassen schließlich zu ihrer erwachsenen Farbe, die meist Gelb ist. Huskies hingegen haben blaue Augen, und weil das so ist, denken Menschen, es müsse sich um blauäugige Wölfe handeln, doch die gibt es nicht. Wer einen Wolf mit blauen Augen sieht, hat es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mit einem reinblütigen Tier zu tun, sondern mit einem Hybriden. Dalia Dresner hatte die atemberaubendsten blauen Augen, die ich jemals bei einer Frau gesehen habe, aber ich gehe jede Wette ein, dass ein kleiner Teil von ihr von einem Wolf abstammte.

Dresner war in den 1930ern und 1940ern ein Star im deutschen Kino gewesen, zu der Zeit, als ich mit ihr eine Beziehung hatte, wenngleich nur eine kurze. Sie ist inzwischen fast vierzig, doch selbst im unbarmherzigen Technicolor noch atemberaubend schön – insbesondere ihre langsam blinzelnden, ionenstrahlkanonenblauen Augen, die aussehen, als könnte sie mit einem beiläufigen Blick eine ganze Reihe von Gebäuden in Schutt und Asche legen. Sie hatte es jedenfalls mühelos geschafft, mir ein Loch ins Herz zu brennen.

Wie den Schmerz der Trennung, so vergisst man auch niemals wirklich das Gesicht der Frau, die man geliebt hat, insbesondere wenn es das Gesicht einer Frau ist, die von der Presse die deutsche Garbo genannt wurde. Ganz zu schweigen von der Art

«Hör nicht auf», pflegte sie zu stöhnen bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen ich sie im Bett zu erfreuen versuchte. Als hätte ich irgendeine Absicht gehabt, jemals aufzuhören. Ich hätte sie mit Vergnügen weitergeliebt bis zum Ende der Zeit.

Ich sah sie wieder im Eden Cinema in La Ciotat in der Nähe von Marseille – angeblich das älteste und möglicherweise das kleinste Kino der Welt. In diesem Kino haben die Gebrüder Lumière 1895 ihren ersten Film gezeigt; es befindet sich direkt am Meer, einer Marina zugewandt, in der das ganze Jahr über Unmengen kostspieliger Jachten vertäut liegen, und gleich um die Ecke der schäbigen Wohnung, in der ich wohne, seit ich Berlin verlassen habe. La Ciotat ist ein altes Fischerdorf, belebt durch eine bedeutende französische Schiffsbauwerft – wenn man Worte wie «bedeutend» im gleichen Satz wie die französische Marine nennen kann. Es gibt einen hübschen Strand und mehrere Hotels, und in einem davon arbeite ich.

Ich steckte mir eine Zigarette an, und während ich den Film ansah, versuchte ich mich an die Umstände zu erinnern, die zu unserem ersten Treffen geführt hatten. Wann genau war das gewesen? 1942? 1943? Offen gestanden, ich hatte nie eine besondere Ähnlichkeit zwischen Dalia und der Garbo erkennen können. Für mich war Lauren Bacall die Schauspielerin, der sie am meisten ähnelte. Deutschlands Garbo war eine Idee von Joseph Goebbels gewesen. Er hatte mir erzählt, dass die einzelgängerische Schwedin eine von Hitlers Lieblingsschauspielerinnen war und Camille einer der Lieblingsfilme des Führers. Es ist seltsam, sich vorzustellen, Hitler habe einen Lieblingsfilm gehabt, insbesondere einen so romantischen wie Camille, doch Goebbels hatte gemeint, wann immer Hitler diesen Film angesehen habe, hätten

Dalia hatte einen großen Teil ihres Lebens in der Schweiz verbracht, doch sie war in Pula in Istrien geboren, das nach 1918 und der Auflösung von Österreich-Ungarn Italien zugesprochen worden war, auch wenn diese Halbinsel zum natürlichen Staatsgebiet Jugoslawiens gehört. Tatsächlich waren sämtliche Vorfahren von Dalia Kroaten gewesen. Um der erzwungenen Italianisierung und der kulturellen Unterdrückung durch Mussolinis Faschisten zu entgehen, war sie bereits in frühen Jahren nach Zagreb gezogen und dort aufgewachsen. Ihr richtiger Name lautete Sofija Branković.

Nach dem Krieg hatte sie beschlossen, ihr Zuhause in der Nähe von Zürich zu verlassen und nach Zagreb zurückzukehren, um herauszufinden, was von ihrer Familie übriggeblieben war. 1947 war sie von der jugoslawischen Regierung verhaftet worden wegen des Verdachts, während des Krieges mit den Nazis kollaboriert zu haben, doch Tito, von dem man allgemein annahm, dass er von ihr betört war, hatte persönlich interveniert und Dalias Freilassung aus dem Gewahrsam veranlasst. Zurück in Deutschland hatte sie einen Comebackversuch gestartet, der jedoch aufgrund der widrigen Umstände scheiterte. Glücklicherweise wurde ihr in Italien Arbeit angeboten, und sie hatte in mehreren positiv aufgenommenen Filmen mitgespielt. Als Cecil B. DeMille 1949 nach Darstellern für Samson und Delilah gesucht

All diese Informationen entnahm ich dem Programm, das ich vor dem Film in dem winzigen Foyer des Eden gekauft hatte, um mich mit den Details von Dalias Leben vertraut zu machen. Es mochte weniger interessant gewesen sein als meines, doch es sah auch so aus, als hätte es ein ganzes Stück mehr Spaß gemacht.

Der Film, in dem ich sie nun sah, war eine Komödie mit Rex Harrison und trug den französischen Titel Le Mari Constant. Es war eigenartig – eine Synchronstimme zu hören, die nicht die ihre war und auch noch französisch sprach. Dalias Deutsch war immer rau und verführerisch gewesen, Honig und Zigaretten. Vielleicht funktionierte der Film auf Englisch, auf Französisch jedenfalls nicht. Ich glaube nicht, dass es etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass er synchronisiert war oder dass das Wiedersehen mit ihr einen Kloß in meinem Hals entstehen ließ. Es war einfach nur ein schlechter Film. Nach und nach fielen mir in der warmen Dunkelheit der Riviera die Augen zu, und bald wähnte ich mich zurück im Sommer des Jahres 1942 …

Ich erwachte aus einem langen, unruhigen Schlaf in einer Welt, die schwarzweiß war, hauptsächlich jedoch schwarz mit silbernen Paspeln. Ich hatte Luminal aus General Heydrichs Landhaus außerhalb von Prag gestohlen, um Schlaf zu finden. Er benötigte es nicht mehr – aus dem einfachen Grund, dass er tot war. Ansonsten hätte ich es ihm bestimmt nicht geklaut. Aber Pillen waren noch schwieriger zu kriegen als Alkohol, der wie alles andere knapp war. Und ich brauchte sie, weil ich als Beamter des Sicherheitsdienstes jetzt Teil des allgemeinen Horrors war, noch mehr als Heydrich. Er war tot, im Vormonat begraben mit vollen militärischen Ehren, einer Knoblauchzehe im Mund und einem Pflock durchs Herz. Er war aus dem Spiel, und seine letzten Gedanken an Rache gegenüber seinen tschechischen Meuchelmördern hingen immer noch in seinem länglichen El-Greco-Kopf wie erstarrter grauer Schlamm. Heydrich konnte keinen Schaden mehr anrichten. Ich hingegen in meinen elenden Bemühungen, am Leben zu bleiben, koste es, was es wolle, ich konnte durchaus noch Schmerz zufügen und im Gegenzug erleiden. Solange die schwarze Fassorgel des Todes spielte, schien es, als müsste ich zu der freudlosen, von Untergang erfüllten Melodie tanzen, die unablässig auf der Trommel geschlagen wurde, wie ein kleiner livrierter Affe mit Blechtasse in der Hand und dem Grinsen voll Todesangst im Gesicht. Es machte mich nicht zu etwas Ungewöhnlichem – nur zu einem Deutschen.

Der Sommersonnenschein brachte keine Freude. Er schien im Gegenteil einen nachteiligen Effekt zu haben und die Berliner gereizt zu machen – wegen der kochenden Hitze, weil es nichts außer Wasser zu trinken gab und weil sie sich ständig daran erinnert fühlten, wie viel heißer es wohl war in den trockenen Steppen von Russland und der Ukraine, wo unsere Jungs eine Schlacht kämpften, die allmählich aussah, als hätten wir den Mund zu voll genommen. Die späte Nachmittagssonne warf lange Schatten in den Straßen zwischen den Mietskasernen um den Alexanderplatz herum und spielte den Augen Streiche, und die Phosphene auf den Retinae – die Nachwirkungen des gnadenlos hellen Lichts – schienen sich in grünliche Auren zahlloser Toter zu verwandeln. Ich gehörte in die Schatten, da fühlte ich mich wohl wie eine alte Spinne, die einfach nur in Ruhe gelassen werden möchte. Nur, dass es keine wirkliche Hoffnung auf Ruhe gab. Es zahlte sich stets aus, vorsichtig zu sein – worin alle

Auf Heydrichs Anweisung arbeitete ich nachts im Polizeipräsidium am Alex, was mir durchaus gelegen kam. Es gab keine nennenswerte Polizeiarbeit zu leisten, und ich hatte wenig bis keine Lust auf die Gesellschaft meiner Nazi-Kollegen oder ihre kaltherzigen Unterhaltungen. Die Mordkommission – oder das, was von ihr übriggeblieben war – überließ mich ganz mir selbst, wie einen vergessenen Gefangenen, dessen Gesicht für jeden den Tod bedeutete, der unvorsichtig genug war, einen Blick darauf zu erhaschen. Ich war nicht allzu unglücklich darüber. Anders als in Hamburg und Bremen gab es keine nennenswerten nächtlichen Bombenangriffe, weswegen die Stadt nach Anbruch der Dunkelheit in düsterer Ruhe versank, so ganz anders als das Berlin der Weimarer Jahre, das die lauteste und aufregendste Stadt der Welt gewesen war. All die Neonlichter, all der Jazz und insbesondere all die Freiheit, als nichts geheim gehalten werden musste und niemand verbergen musste, was oder wer er war – es war schwer zu glauben, dass die Dinge einmal so liberal gewesen waren. Das Weimarer Berlin hatte mir definitiv mehr gelegen. Die Weimarer Republik war die demokratischste aller Demokratien gewesen und zugleich – wie alle großartigen Demokratien – ein wenig außer Kontrolle. Vor 1933 war alles erlaubt gewesen, denn die wahre Natur der Demokratie besteht, wie Sokrates am eigenen Leib erfahren musste, darin, Korruption und Exzesse in all ihren Formen zu unterstützen. Die Korruption und die Exzesse von Weimar waren immer noch den biblischen Ungeheuerlichkeiten

Manchmal, wenn ich nachts aus dem Fenster meines Büros starrte, erblickte ich mein eigenes Spiegelbild, das zu mir zurückstarrte – ich selbst, nur irgendwie anders, wie eine schlechte Kopie meiner selbst, ein dunkleres Alter Ego, ein böser Zwilling oder vielleicht ein Todesbote. Hin und wieder konnte ich dieses geisterhaft bleiche Double spöttisch zu mir reden hören: «Sag mir, Gunther, was musst du heute tun und in wessen Arsch musst du heute kriechen, um deine elende Haut zu retten?»

Es war eine berechtigte Frage.

Von meinem Büro-Adlerhorst im östlichen Eckturm des Polizeipräsidiums hörte ich oft das Geräusch der Dampfzüge, die in den Bahnhof am Alex einliefen oder ihn verließen. Man konnte gerade so eben das Dach – zumindest das, was davon übrig war – der alten orthodoxen Synagoge in der Kaiserstraße sehen, die, soweit ich weiß, schon vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 dort gestanden hatte und eine der größten Synagogen in Deutschland gewesen war, mit Raum für mehr als eintausendachthundert Gläubige. Juden, genauer gesagt. Die Synagoge in der Kaiserstraße lag in einem Revier, in dem ich als junger Schupo in den Zwanzigern Streife gelaufen war. Manchmal unterhielt ich mich mit einigen der Jungen, die in die jüdische Knabenschule gingen und die regelmäßig zum Bahnhof kamen, um die Züge anzusehen. Einmal sah mich ein uniformierter Kollege dabei. «Was finden Sie bloß daran, sich mit diesen Juden zu unterhalten?», wollte er von mir wissen. Ich hatte ihm geantwortet, sie seien nur Kinder, und wir hätten über die gleichen Dinge geredet, über die man mit allen Kindern so redet. Das war, bevor ich herausfand, dass ich selbst eine Spur jüdischen Blutes in den

Es war eine Weile her, seit ich jüdische Jungen auf der Kaiserstraße gesehen hatte. Seit Juni hatten die Nazis damit begonnen, die Berliner Juden aus einem Transitlager in der Großen Hamburger Straße an unbekannte Orte im Osten zu deportieren. Bald darauf wurde öffentlich, dass diese Orte finaler waren als irgendein nebulöser Punkt auf der Landkarte. Die meisten Deportationen fanden nachts statt, wenn niemand zugegen war, der dabei zusehen konnte, doch eines Morgens gegen fünf Uhr, als ich einem Bagatelldiebstahl am Anhalter Bahnhof nachging, sah ich, wie ungefähr fünfzig ältere Juden in den geschlossenen Waggon eines wartenden Zuges verladen wurden. Sie sahen aus wie etwas, das Pieter Brueghel in einer Zeit hätte gemalt haben können, als Europa ein noch barbarischerer Ort gewesen war als heute – als Könige und Kaiser ihre schwarzen Verbrechen ungeniert im hellen Tageslicht begangen hatten und nicht zu nachtschlafender Zeit, wenn niemand da war, um sie zu beobachten. Die Waggons sahen halbwegs unschuldig aus, doch ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine ziemlich gute Vorstellung davon, was mit diesen Juden passieren würde. Ich nehme an, ich wusste mehr als sie selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sonst jemals freiwillig an Bord dieser Züge gegangen wären.

Ein alter Berliner Schupo wollte mich zum Weitergehen auffordern, als ich ihm meine Marke zeigte und ihn darüber informierte, was er mich konnte.

«Verzeihung, Herr Kommissar», sagte er und salutierte schneidig. «Ich wusste nicht, dass Sie zum RSHA gehören.»

«Wohin wird diese Charge gebracht?», hörte ich mich fragen.

«Irgendwo nach Böhmen. Theresienstadt, glaube ich. Sie haben Mitleid für die da, stimmt’s, Herr Kommissar? Aber ich

«Nein, nicht in Theresienstadt, bestimmt nicht», informierte ich ihn. «Ich bin gerade aus Böhmen zurück.» Und dann erzählte ich ihm alles, was ich darüber wusste, und noch ein wenig mehr, über das, was in Russland und der Ukraine geschah. Der Ausdruck von Entsetzen auf dem rötlichen Gesicht des Mannes war das Risiko beinahe wert, das ich einging, indem ich ihm die ungeschminkte und widerwärtige Wahrheit erzählte.

«Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Kommissar», sagte er erschrocken.

«O doch. Mein voller Ernst. Es ist eine Tatsache, dass wir da draußen in dem Sumpf östlich von Polen systematisch Tausende Menschen ermorden. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Und mit ‹wir› meine ich uns, die Polizei. Das RSHA. Wir sind es, die das Morden übernehmen.»

Der Schupo blinzelte heftig und sah aus, als hätte er mich nicht verstanden. «Das kann einfach nicht sein! Das ist sicherlich ein Scherz, was Sie da erzählen, Herr Kommissar.»

«Nein, das ist kein Scherz. Was ich Ihnen erzählt habe, ist die einzige Wahrheit, die Sie heute den ganzen Tag hören werden. Fragen Sie herum, aber versuchen Sie diskret zu sein. Die Leute reden aus offensichtlichen Gründen nicht gern darüber. Sie könnten in Schwierigkeiten geraten. Wir beide könnten in Schwierigkeiten geraten. Ich sage Ihnen, diese Juden dort sind auf dem Weg in die Hölle. Genau wie wir.»

Ich wandte mich ab und ging sadistisch in mich hinein grinsend davon. In Nazi-Deutschland war die Wahrheit eine machtvolle Waffe.

Ausgerechnet einer dieser Mörder vom RSHA war es, der mich aus der Kälte zurück ins Warme holte. Gerüchten

Fünfundvierzigtausend.

Eine so große Zahl im Zusammenhang mit Mord war schwer vorstellbar. Der Berliner Sportpalast, wo die Nazis manche ihrer Aufzüge veranstalteten, fasste vierzehntausend Personen. Drei ganze Sportpaläste voller Menschen, die erschienen waren, um Goebbels bei einer seiner Reden zuzujubeln. So sahen fünfundvierzigtausend Leute aus. Nur, dass keiner der Ermordeten gejubelt hatte.

Ich fragte mich, was Nebe seiner Frau Elise und seiner Tochter Gisela erzählt hatte über das, was er draußen im Sumpf vom Iwan getrieben hatte. Gisela war eine schöne junge Frau von sechzehn Jahren, und ich wusste, dass Arthur einen Narren an ihr gefressen hatte. Intelligent war sie obendrein. Hatte sie ihm je Fragen gestellt über seine Arbeit bei der SS? Oder etwas Ausweichendes in den fuchsartigen Augen ihres Vaters gesehen und dann schnell das Thema gewechselt, wie die Leute es früher gemacht hatten, wenn das Thema des Großen Krieges in einer

Auf Nebes Vorschlag hin trafen wir uns sonntags zum

Wir aßen Seeforelle mit Kartoffeln und Erdbeeren mit Schlagsahne und genossen dazu zwei Flaschen guten Mosel. Nach dem Essen nahmen wir ein längliches Boot oder Kanu und fuhren auf den See hinaus. Wegen meiner umfassenden maritimen Erfahrung überließ Nebe mir das Rudern – oder vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ich Hauptmann war und er General. Während ich mich also mit den langen Riemen beschäftigte, steckte er sich eine dicke Havanna an und starrte hinauf in den makellos blauen preußischen Himmel, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt, die ihn trüben könnten. Vielleicht gab es auch keine. Gewissen war ein Luxus, den sich nur wenige Offiziere bei der SS und beim SD leisten konnten. Der Wannsee erinnerte an ein impressionistisches Gemälde von einer idyllischen Szene auf der Seine. Die Art von Szenerie, die aussieht, als litte das Bild

Ein weiterer Grund, warum es Nebe auf dem Wannsee so gut gefiel, war, dass man absolut sicher sein konnte, nicht belauscht zu werden. Seit September 1938 und dem fehlgeschlagenen Oster-Attentat, bei dem er eine wichtige Rolle gespielt hatte, hegte Nebe den Verdacht, dass er beschattet und

«Danke für das Essen», sagte ich. «Ist eine Weile her, seit ich mir so einen feinen Tropfen wie diesen Moselwein genehmigt habe.»

«Welchen Sinn hätte es, Chef der Kripo zu sein, wenn man nicht eine Extraration Essen und ein paar Getränkemarken organisieren könnte?», entgegnete er.

Marken waren notwendig für das deutsche Rationierungssystem, das zunehmend drakonisch erschien – insbesondere, wenn man Jude war.

«Ob Sie es glauben oder nicht, was wir gegessen haben, stammt alles aus der Gegend», sagte er. «Seeforelle, Kartoffeln, Erdbeeren. Wenn man das im Sommer in Berlin nicht mehr kriegt, können wir gleich aufgeben. Das Leben wäre nicht mehr lebenswert.» Er stieß einen Seufzer aus und blies eine Tabakswolke über seinem silbergrauen Kopf in den Himmel. «Wissen Sie, manchmal komme ich hierher und nehme einen Kahn für mich allein, löse die Leine und lasse mich einfach über den See treiben, ohne einen Gedanken daran, wohin die Fahrt geht.»

«Man kommt nirgendwohin. Nicht auf diesem See.»

«Das klingt, als wäre daran etwas falsch, Bernie. Aber das ist die Natur von Seen. Sie sind dazu da, dass man sie anschaut und sie genießt, nicht für irgendetwas Praktisches wie das, was Sie da andeuten.»

Ich zuckte die Schultern, zog die Riemen ein und starrte über

Nebe lachte auf. «Einmal Detektiv, immer Detektiv, wie? Und Sie fragen sich, wieso Sie weiterhin nützlich sind für unsere Herren?»

«Ist das der Grund für unser Treffen? Damit Sie mir schmeicheln können mit Ihrer Versicherung, ich wäre nützlich?»

«Wäre möglich.»

«Ich fürchte, die Tage, in denen ich für irgendjemanden nützlich war, sind lange vorbei, Arthur.»

«Sie unterschätzen sich, Bernie, wie üblich. Wissen Sie, in meinen Gedanken vergleiche ich Sie immer ein wenig mit diesen Volksautomobilen von Dr. Porsche. Ein wenig langweilig vielleicht, aber billig im Unterhalt und äußerst effizient. Stabil gebaut, für die Ewigkeit. Beinahe unzerstörbar.»

«Im Moment könnte meine Maschine ein wenig Luftkühlung gebrauchen», sagte ich und stützte mich auf die Riemen. «Mir ist ziemlich heiß.»

Nebe paffte an seiner Zigarre und ließ eine Hand durchs Wasser schleifen. «Was machen Sie, Bernie? Wenn Sie von allem abschalten wollen? Einfach vergessen?»

«Es dauert eine Weile, bis man alles vergisst, Arthur. Insbesondere hier in Berlin. Glauben Sie mir, ich hab’s versucht. Ich habe das ungute Gefühl, es könnte den Rest meines Lebens dauern, das alles zu vergessen.»

Nebe nickte. «Sie irren sich, wissen Sie? Es ist wirklich leicht zu vergessen, wenn man dazu entschlossen ist.»

«Indem ich eine bestimmte Sicht auf die Welt habe. Das ist ein Konzept, mit dem sicher alle Deutschen vertraut sind. Mein Vater war Lehrer, und er pflegte zu sagen: ‹Finde heraus, woran du glaubst, Arthur, und wo dein Platz ist, und dann halte dich daran. Nutze diese Sicht auf die Dinge, um Ordnung in dein Leben zu bringen, ganz gleich, was geschieht.› Was ich daraus gezogen habe, ist Folgendes: Das Leben ist Zufallssache. So sehe ich die Dinge. Wäre ich nicht als Chef von Gruppe B in Minsk gewesen, dann wäre jemand anderes da gewesen. Dieser Bastard Erich Naumann beispielsweise. Das ist das Schwein, das meinen Posten übernommen hat. Manchmal denke ich, dass ich nie wirklich dort war, zumindest nicht mein wirkliches Ich. Ich habe nur wenige Erinnerungen an diese Zeit. Sehr wenige.

Wissen Sie, damals, nach dem Großen Krieg, habe ich versucht, bei Siemens eine Anstellung zu finden, als Verkäufer von Osram-Glühbirnen. Ich habe sogar versucht, als Feuerwehrmann zu arbeiten. Sie wissen ja selbst, wie es damals war. Jede Art von Arbeit sah verlockend aus. Aber es hat nicht sollen sein. Der einzige Laden, der mich haben wollte, nachdem ich die Armee verlassen musste, war die Kripo. Das ist es, wovon ich rede. Warum verschlägt es in diesem Leben einen Mann in die eine Richtung, als Glühbirnenverkäufer oder in die andere als Feuerwehrmann und treibt genau den gleichen Mann in eine ganz andere Richtung, wo er zum Scharfrichter des Staates wird?»

«So nennen Sie das?»

«Warum nicht? Ich habe keinen Zylinderhut getragen, zugegeben, aber die Arbeit war die gleiche. Tatsache ist nun einmal, dass diese Dinge häufig nur wenig mit dem Menschen selbst zu tun haben. Ich bin nicht in Minsk gelandet, weil ich ein schlechter Mensch bin, Bernie. Ich glaube das wirklich. Es war ein Zufall, der mich dorthin verschlagen hat, sonst nichts. So sehe ich

«Danke für die Nachhilfestunde in Philosophie. Ich denke, ich fange an, es zu begreifen.»

«Sie sollten mir wirklich danken. Ich bin hier, um Ihnen einen Gefallen zu tun.»

«Sie sehen nicht aus, als hätten Sie eine Pistole dabei, Arthur.»

«Nein, ehrlich. Kein Witz. Ich habe einen Posten für Sie in der Abteilung für Kriegsverbrechen im Bendlerblock, ab September.»

Ich lachte auf. «Soll das ein Witz sein?»

«Wenn man es bedenkt – es klingt ganz danach, nicht wahr?», räumte Nebe ein. «Ich finde eine Arbeit für Sie im Bendlerblock – ausgerechnet. Aber ich meine es vollkommen ernst, Bernie. Das ist ein gutes Angebot für Sie. Sie kommen vom Alex weg und an einen Ort, wo man Ihre Fähigkeiten zu schätzen wissen wird. Sie sind weiterhin beim SD, daran kann ich nicht viel ändern. Aber nach den Worten von Richter Goldsche, dem Sie unterstellt sein werden, öffnen Ihre Uniform und Ihre Erfahrungen als Ermittler eine Reihe von Türen, die den Leuten verschlossen bleiben, die gegenwärtig dort arbeiten. Die meisten von ihnen sind Anwälte und Von-und-zus von der Sorte, die

«Sie meinen das wirklich ernst, oder?»

«Selbstverständlich. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich meine Zeit damit verschwende, mit Ihnen essen zu gehen, ohne einen verdammt guten Grund zu haben? Ich hätte ein hübsches Mädchen mitbringen können oder vielleicht auch ein Mädchen, das nicht ganz so hübsch ist, anstatt einen Zyniker wie Sie. Sie dürfen jetzt ruhig Danke sagen.»

«Danke.»

«So, und nachdem ich Ihnen jetzt einen Gefallen getan habe, möchte ich, dass Sie als Gegenleistung auch etwas für mich tun.»

«Als Gegenleistung? Vielleicht haben Sie unser dreckiges Wochenende in Prag vergessen, Arthur. Sie waren es, der mich gebeten hat, Heydrichs Tod zu untersuchen, oder nicht? Vor weniger als einem Monat. Und meine Schlussfolgerungen haben Ihnen nicht gefallen. Als wir uns im Hotel Esplanade getroffen und miteinander geredet haben, haben Sie mich informiert, dass unsere Unterhaltung nie stattgefunden hat. Ich habe diesen Gefallen nie zurückgefordert.»

«Das war zu unser beider Bestem, Bernie. Ihrem und meinem.» Nebe fing an, sich das Ekzem auf der Rückseite seiner Hand zu kratzen, ein untrügliches Zeichen, dass er allmählich gereizt wurde. «Das hier ist etwas anders. Es ist etwas, das selbst Sie erledigen können, ohne Scherereien zu verursachen.»

«Was mich zu der Frage bringt, ob ich für diesen Auftrag die richtige Person bin.»

Er steckte sich die Zigarre in den Mund und kratzte noch

«Ist es etwas Persönliches, Arthur?», fragte ich. «Oder ist es etwas, das wir Detektive ‹Arbeit› nennen?»

«Ich erzähle es Ihnen, wenn Sie für eine Minute den Rand halten, ja? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es jemand mit so einem großen Mundwerk geschafft hat, so lange am Leben zu bleiben!»

«Ich habe mir die gleiche Frage auch schon gestellt.»

«Es ist Arbeit. Etwas, wofür Sie rein zufällig in einzigartigem Maß qualifiziert sind.»

«Sie kennen mich, Arthur. Ich bin für alle möglichen Arbeiten in höchstem Maße qualifiziert, die andere Männer nicht mit der Kneifzange anrühren würden.»

«Sie erinnern sich an die Internationale Kriminalpolizei-Kommission?», fragte er.

«Die existiert noch?»

«Ich bin der amtierende Vorsitzende», sagte Nebe bitter. «Und wenn Sie jetzt meinen, Sie müssten mir was vom Bock erzählen, der zum Gärtner gemacht wurde, erschieße ich Sie.»

«Ich bin nur ein wenig überrascht, das ist alles.»

«Wie Sie vielleicht wissen, war ich bis 1940 in Wien stationiert. Bis Heydrich beschloss, das Hauptquartier der Kommission hierher nach Berlin zu verlegen.»

Nebe deutete nach Westen, über den See und eine Brücke über die Havel, ein wenig südlich des Schwedischen Pavillons.

«Dort drüben, um genau zu sein. Mit ihm als Chef natürlich. Ein weiterer hellerleuchteter Schaukasten für die Reinhard-Heydrich-Schau. Ich hatte gehofft, dass wir nun, nachdem der

«Aber wir haben Krieg!», warf ich ein. «Wer zum Teufel soll denn kommen, Arthur?»

«Sie wären überrascht. Die französische Sureté beispielsweise. Sie mögen gute Feste und werden die Gelegenheit nutzen, ihre Meinung kundzutun. Dann die Schweden. Die Dänen. Die Spanier. Die Italiener. Die Rumänen. Selbst die Schweizer kommen. Und natürlich die Gestapo, die dürfen wir nicht vergessen. Im Grunde genommen kommen alle mit Ausnahme der Briten. Es gibt also keinen Mangel an Delegierten, das dürfen Sie mir glauben. Das Dumme daran ist, man hat mich mit der Aufgabe betraut, ein Programm von Rednern zu organisieren. Und ich suche verzweifelt nach Namen.»

«O nein. Sie wollen nicht im Ernst …»

«O doch. Genau das. Es heißt alle Mann an Deck für diese Konferenz. Ich hatte überlegt, dass Sie einen Vortrag darüber halten könnten, wie Sie Gormann den Würger geschnappt und überführt haben. Das ist selbst außerhalb Deutschlands ein berühmter Fall. Vierzig Minuten, wenn Sie das schaffen.»

«Das ist nicht verzweifelt suchen, das ist verzweifelt zusammenkratzen. Der Fall Gormann liegt fast fünfzehn Jahre zurück. Hören Sie, es gibt doch bestimmt jemand anderen in Ihrem hübschen neuen Polizeigebäude am Werderschen Markt.»

«Selbstverständlich gibt es andere. Direktor Lüdtke ist bereits eingeplant. Und bevor Sie die beiden vorschlagen, Kurt Daluege

«Was ist mit Otto Steinhäusl? Er war doch mal der Präsident der IKPK, oder irre ich mich?»

«Er ist verstorben, vorletztes Jahr in Wien an Tuberkulose.»

«Und dieser andere Bursche aus Prag, Heinz Pannwitz?»

«Pannwitz ist ein Kleinkrimineller, Bernie. Ich bezweifle, dass er länger als fünf Minuten reden kann, ohne zu fluchen oder mit einem Schlagstock auf das Pult einzuprügeln.»

«Schellenberg?»

«Zu verschlossen. Und zu unnahbar.»

«In Ordnung. Was ist mit dem Kollegen, der den U-Bahn-Mörder geschnappt hat, diesen Ogorzow? Das war erst letztes Jahr. Georg Heuser, jetzt fällt mir der Name ein. Den sollten Sie fragen.»

«Heuser ist Chef der Gestapo in Minsk», sagte Nebe. «Abgesehen davon ist Lüdtke furchtbar eifersüchtig auf ihn, seit Heuser Ogorzow geschnappt hat. Deswegen wird er für die nächste Zeit in Minsk bleiben. Nein, Bernie, Sie müssen ran, fürchte ich.»

«Lüdtke mag mich auch nicht besonders, Arthur. Das müssten Sie eigentlich wissen.»

«Er wird verdammt noch mal tun, was ich ihm sage! Abgesehen davon, niemand ist eifersüchtig auf Sie, Bernie. Am wenigsten von allen Lüdtke. Sie sind für niemanden eine Bedrohung, nicht mehr. Ihre Karriere ist am Ende. Sie hätten längst General sein können, wie ich, wenn Sie Ihre Karten richtig ausgespielt hätten.»

Ich zuckte die Schultern. «Glauben Sie mir, ich bin selbst am meisten von mir enttäuscht. Aber ich bin kein Redner, Arthur. Zugegeben, ich habe in meiner Zeit eine Reihe von Pressekonferenzen abgehalten, aber das war nicht mit dem vergleichbar, was

Nebe grinste und paffte an seiner Havanna, bis sie wieder glühte. Es erforderte einige Geduld und Mühe, und ich konnte sehen, dass er die Zeit nutzte, um über mich nachzudenken.

«Ich zähle darauf, dass Sie schlecht sind», fuhr er dann fort. «Tatsächlich hoffe ich, dass jeder einzelne unserer Redner schlecht ist. Ich hoffe, die ganze verdammte Konferenz ist so sterbenslangweilig, dass wir nie wieder zu einer weiteren einladen müssen. Es ist einfach lächerlich, über das internationale Verbrechen zu reden, während die Nazis damit beschäftigt sind, das internationale Verbrechen des Jahrhunderts zu begehen.»

«Das ist das allererste Mal, Arthur, dass ich das aus Ihrem Mund höre.»

«Ich habe es unter vier Augen gesagt, deswegen zählt es nicht.»

«Angenommen, ich sage etwas Unangebrachtes? Etwas, das Sie in Verlegenheit bringt? Überlegen Sie nur, wer alles dort sein wird. Als ich Himmler das letzte Mal begegnet bin, hat er mir gegen das Schienbein getreten.»

«Ich erinnere mich.» Nebe grinste. «Unbezahlbar!» Er schüttelte den Kopf. «Nein, Sie müssen sich keine Sorgen machen, in ein deutsches Fettnäpfchen zu treten. Nachdem Sie Ihre Rede aufgeschrieben haben, werden Sie den gesamten Text an das Propagandaministerium weiterleiten, wo man ihn in politisch korrektes Deutsch umschreiben wird. Staatssekretär Gutterer hat sich einverstanden erklärt, sämtliche Reden zu lesen und zu überprüfen. Er gehört zur SS, es sollte also kein Problem zwischen unseren Behörden geben. Es liegt in seinem eigenen Interesse, wenn alle anderen Reden noch stumpfsinniger klingen als seine eigene.»

Nebe schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, ich glaube, eines Tages wird Sie wirklich jemand erschießen. Und das war es dann für Sie, Bernie Gunther.»

«Nichts ist so effektiv wie eine Neun-Millimeter-Kugel aus einer Walther», entgegnete ich.

In der Ferne, am Rand des Sees, konnte ich die Lehrerin Kirsten erkennen. Sie und ihre hübschen Freundinnen legten gerade vom Bootssteg vor dem Schwedischen Pavillon ab. Ich setzte die Riemen ein und ruderte los, diesmal mit durchgedrücktem Rücken. Nebe hatte nicht gefragt, und ich hatte es nicht erwähnt, aber ich mag hübsche Frauen. Das ist meine Sicht der Dinge.

Seit der Zeit des Zweiten Reichs haben die Architekten von Berlin alles unternommen, damit sich die Bürger der Stadt klein und unbedeutend fühlen. Der neue Flügel des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda bildete keine Ausnahme. Er befand sich am Wilhelmplatz, nur einen Steinwurf entfernt von der Reichskanzlei, und er sah mehr oder weniger genauso aus wie das Reichsministerium für Luftfahrt an der Ecke Leipziger Straße. Nebeneinandergestellt konnte man den Eindruck gewinnen, der Architekt, Albert Speer, hätte seine Zeichnungen der beiden grauen Granitsteingebäude durcheinandergebracht, so ähnlich waren sie sich. Seit Februar war Speer zusätzlich Reichsminister für Rüstung und Bewaffnung, und ich konnte nur hoffen, dass er in diesem Amt mehr Kompetenz an den Tag legte als in seiner Funktion als Hitlers Haus-und-Hof-Architekt. Es heißt, Giotto konnte aus der Hand einen perfekten Kreis zeichnen. Speer konnte eine gerade Linie ziehen – zumindest mit einem Lineal, heißt es – und nicht viel mehr. Im Zeichnen von geraden Linien war er jedenfalls gut. Ich für meinen Teil konnte einen guten Elefanten zeichnen, aber dafür gibt es keinen großen Bedarf, wenn man Architekt ist. Es sei denn natürlich, der Elefant ist weiß.

Ich hatte im Völkischen Beobachter gelesen, dass die Nazis nicht viel übrighatten für den Deutschen Modernismus – Gebäude wie die Technische Universität in Weimar oder das

Im Innern des Ministeriums war die Anmutung etwas weniger rustikal und dafür mehr wie auf einem schicken modernen Ozeanriesen. Überall gemaserte Walnuss, cremefarbene Wände und dicke beigefarbene Teppiche. In der ballsaalgroßen Eingangshalle mit dem gigantischen Porträt von Adolf Hitler – ohne das kein deutsches Ministerium seine Arbeit verrichten konnte – stand eine überdimensionierte ausgekehlte Vase mit weißen Gardenien, die das gesamte Gebäude mit ihrem Duft parfümierten und zweifellos halfen, den vorherrschenden

«Guten Morgen, die Herren», sagte ich, als ich die großen Türen durchquerte und mich nach rechts wandte, wo ich den alten Leopoldpalast vermutete.

SD