Ein Länderporträt

Editorische Notiz: Sofern japanische Begriffe im Deutschen geläufig beziehungsweise im Duden verzeichnet sind, folgt dieses Buch der eingedeutschten Schreibweise. Andernfalls wird die original transkribierte Form beibehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
3. Auflage als E-Book, September 2018
entspricht der 3., aktualisierten Druckauflage vom September 2018
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von einem Taxi in Tokio (bigstock / Lucian Milasan)
Lektorat: Günther Wessel, Berlin
eISBN 978-3-86284-216-2
Vorwort
Von modernen Traditionen und langlebiger Moderne
Der gleichzeitige Beginn der Moderne und der Traditionen
Japanertheorien
Wider die Mentalität
Imaginäre Geografie
Alte und neue Hauptstadt
West und Ost
Zentrum und Peripherie
Kleinere Gegensätze
Die Last der Geschichte
Postkoloniale Probleme
Das Erbe der Schuld
Der Kaiser und die jüngere Geschichte
Alles Sushi oder was?
Reis und Identität
Regionale Unterschiede
Ein Lächeln kostet nichts
Alltagskultur
Religion
Feste
Umgangsformen
Bücher und Zeitungen
Manga und Anime
Fernsehen und neue Medien
Als die aufgeblasene Wirtschaft platzte
Das Wunder der Einkommensverdoppelung
Die zweitgrößte Weltwirtschaft
Die Spekulationsblase
Die verlorenen Jahrzehnte
Das Ende der Gemeinschaft?
Individuum und Gruppe
Der Normlebenslauf
Die politische Starre und Stabilität
Gewinner und Verlierer
Wer ist Japan?
Die Zukunft ist das Alter
Die radikale Alterung
Pflege als Problem
Altern als Chance
Wie sieht die alte Zukunft aus?
Three Eleven
Das große Hanshin-Awaji-Erdbeben 1995
Der 11. März 2011 und die Folgen
Fukushima – und wie weiter?
Von der dreifachen Katastrophe 2011 zu den Olympischen Spielen 2020
Die dreifache Katastrophe in Deutschland
Anhang
Empfehlungen: Literatur, Mangas und Internetquellen
Übersichtskarte Japan
Basisdaten
Über den Autor
Viele Bücher oder Zeitschriftenartikel, die Japan vorstellen, beginnen damit, das Land »zwischen Tradition und Moderne« anzusiedeln. Traditionen, das sind buddhistische Mönche und Tempel, altertümliche Riten und Kunstwerke. Auch die scheinbar untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft wird gerne unter dieser Rubrik verbucht. Dem gegenüber stehen Hightechprodukte wie Plasmafernseher und zukunftsweisende Autos mit Hybridtechnologie. Das Miteinander von Tradition und Moderne sei das typische Kennzeichen des Landes, manchmal schwer zu ertragen, manchmal aber von wohltuend ausgleichender Wirkung. Dieses Bild wird in Japan von der Politik und den Medien gerne angenommen und kultiviert, und so hat es sich fest verankert. Es ist jedoch nicht sonderlich hilfreich, wenn man dort leben und dazu seine Umgebung verstehen will. Das wurde mir recht schnell vor Augen geführt, als ich mich nicht mehr nur in meiner Studierstube mit Japan beschäftigte, sondern mich auf ins Land »zwischen Tradition und Moderne« machte.
Als ich zu Beginn der 1990er Jahre anfing, Japanologie zu studieren, schienen Tradition und Moderne gerade besonders heftig aufeinanderzuprallen. Japan überschwemmte die westlichen Märkte mit Videorekordern, Videospielkonsolen und Autos. Gleichzeitig begeisterten sich die meisten meiner Kommilitonen wie viele andere Menschen für Zen-Buddhismus oder japanische Kampfkünste. Schulen für Judo, Karate oder Aikido waren gut frequentiert, und Berichte über asketische Mönche in alten Klöstern liefen häufig im Fernsehen. Auch die wirtschaftliche Stärke wurde oft auf Zen zurückgeführt. Meditieren stärke die Manager und mache sie offen für ungewöhnliche Lösungen, so konnte man in der einschlägigen Literatur lesen. Japan, damals ökonomisch unglaublich erfolgreich, wurde also oft durch Zen-Buddhismus erklärt, und nicht wenige erlagen der Faszination dieser buddhistischen Schule. Manche tun es sogar heute noch, wie die Regisseurin Doris Dörrie in ihrem Film »Erleuchtung garantiert«.
Obwohl ich kein Zen-Adept und Anhänger von Kampfkünsten war, fand ich es schon ein wenig überraschend, von all dem so wenig zu sehen, als ich mich 1993 erstmals gen Osten aufmachte. Ich lebte das erste halbe Jahr in einer Homestayfamilie und bekam dadurch einen sehr guten Einblick in das Alltagsleben. Meine Homestayeltern hatten zwar einen buddhistischen Hausaltar, aber mit Zen konnten sie wenig anfangen. Für meine Homestayfamilie war Judo so anrüchig wie Boxen – ein seltsamer Sport für Gewaltfanatiker –, und meine Freunde sahen es allesamt genauso. Ebenso liefen nirgends Zen-Mönche durch die Straßen, und buddhistische Tempel waren fast immer verwaist. Noch dazu gehörten die meisten von ihnen ganz anderen buddhistischen Schulen an. Gerta Ital, eine Deutsche, die in den 1960er Jahren nach Japan reiste, um sich voll dem Zen-Buddhismus zu verschreiben, machte eine ganz ähnliche Erfahrung. Aber sie ließ sich nicht davon verunsichern, dass so wenig von Zen zu sehen war, obwohl im Westen so viel darüber geschrieben und geredet wurde. Stattdessen behauptete sie in ihrem Buch Der Meister, die Mönche und ich. Eine Frau im Zen-Buddhistischen Kloster einfach, dass die Japaner sehr wohl alle tief vom Zen-Buddhismus beeinflusst seien. Sie wüssten es nur selber nicht mehr und hätten ihre zen-buddhistische Prägung gewissermaßen ins Unterbewusste verdrängt – eine nicht wirklich überzeugende Erklärung.
Inzwischen unterrichte ich selber Studierende an der Universität und bemerke, dass sich der Blick auf Japan seit Anfang der 1990er Jahre völlig verändert hat. Zen ist überhaupt kein Thema mehr – kaum jemand würde heute deshalb Japanologie studieren. Stattdessen interessieren sich die Studierenden für Mangas und Animes, japanische Comics und Zeichentrickfilme. Manche träumen sogar davon, selber mangaka, also Comiczeichner, zu werden. Ob nun die Vorstellung wirklich zutrifft, Japan sei das Paradies für Mangaanhänger, ist vielleicht fraglich. Ziemlich sicher trifft es die Sache aber eher als der Glaube meiner Studentengeneration an das zenbuddhistische Paradies auf Erden. Im Gegensatz zu Zen sind Manga und Anime wirklich weit verbreitet.
Heißt das nun, dass Japan eher ein modernes als ein traditionelles Land ist, weil so viele Japaner moderne Populärkultur schätzen und deshalb Manga lesen, jedoch nur ganz wenige sich dem Zen zuwenden? Haben die Japaner ihre Traditionen abgelegt und sich nun endgültig und unwiderruflich der Moderne zugewandt? So einfach ist es nun auch wieder nicht. Zen mag keine so große Rolle spielen. Doch seit über tausend Jahren regiert ein Kaiser, und obgleich Zen-Mönche eher seltene Erscheinungen sind, ist doch beispielsweise Schinto, den man gerne als japanische Naturreligion bezeichnet hat, ein wichtiger Bezugspunkt. Also doch ein Land »zwischen Tradition und Moderne«? An diesem Punkt möchte ich mit meiner Beschreibung einsetzen. Wenn man versteht, dass dieser Gegensatz zwischen Tradition und Moderne so nicht existiert, hat man schon viel gelernt. Der Trick dabei ist, dass vieles an dem, was uns traditionell anmutet, alles andere als alt ist. Viele Traditionen sind jüngeren Datums und sehr bewusst von der Politik lanciert worden. Das heißt nicht, dass die Beschäftigung mit diesen »Traditionen« unsinnig wäre. Im Gegenteil versteht man vieles von dem, was heutzutage vor sich geht, indem man sich vor Augen hält, warum diese Traditionen so modern geworden sind.
Die Frage, wie Tradition und Moderne einerseits so zusammengehen könnten und welche Widersprüche sich daraus ergäben, wurde vor nicht allzu langer Zeit noch einmal aufs heftigste in den Medien aufgeworfen. Als im März 2011 erst ein Erdbeben Nordjapan erschütterte, dann ein Tsunami die Küstenregion zerstörte, fast 20 000 Menschenleben forderte und schließlich in den Kernkraftwerken von Fukushima mehrere Reaktorblöcke unkontrollierbar wurden, wollten nicht nur Journalisten schnelle Erklärungen haben. Viele Verhaltensweisen schienen unverständlich. Warum zeigten so wenige Menschen ihre Gefühle und ließen ihrer Trauer freien Lauf, warum flüchtete praktisch niemand ins Ausland, warum opferten sich 50 Arbeiter in Fukushima, um Schlimmeres zu verhindern? Zunächst einmal beruhten diese drei häufigsten Fragen auf höchst oberflächlichen Beobachtungen und waren falsch gestellt. Davon abgesehen fielen die Antworten in alte Muster zurück. Die Antwort, die Georg Diez im Spiegel zehn Tage nach dem Beginn der Katastrophe auf die letzte der drei Fragen, die nach den Motiven der sogenannten Fukushima 50, gab, ist bezeichnend: »Weniger die Pflicht scheint diese Männer anzutreiben …, sondern das, was man mit dem altmodischen, vordemokratischen, sperrigen Wort der Ehre meint.« Mit vordemokratischen und altmodischen Motiven hätten die Arbeiter sich also dem größtmöglichen Unfall der Moderne, der Kernschmelze, entgegengeworfen. Ihr Opfer für die Gruppe sei in Zeiten des Individualismus vorbildlich.
Ich habe im März 2011 einer Journalistin der Bild- Zeitung versucht zu erklären, warum die Dinge etwas komplexer sind als diese holzschnittartigen Beschreibungen. Das Gespräch war sehr fruchtlos, weil die Dame immer wieder auf ihre einfachen Antworten zurückkam und diese nur von mir bestätigt haben wollte. Am Ende kamen wir zu keiner gemeinsamen Version der Ereignisse, und sie zog los, einen neuen, handzahmeren Fachkundigen zu suchen. Viele Japaner in Deutschland und Japanexperten bemühten sich ebenfalls nach Kräften, den Medien bessere Erklärungen zu geben. Nicht allzu oft sind sie damit durchgedrungen. Die Medien sind im Falle einer Katastrophe diesen Ausmaßes völlig überfordert und greifen auf bekannte Muster zurück. Aber gerade dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, sich nicht mehr mit dieser Form von Analysen zufriedenzugeben. Ich schreibe deshalb am Ende des Buches über die dreifache Katastrophe und zeige anhand dieses Beispiels, dass man Japan nicht mehr als in sich geschlossene, selbstgenügsame Gesellschaft beschreiben kann. Wir müssen ständig im Auge behalten, wie sich Informationen, politische Bedingungen und Netzwerke weltweit in Reaktion auf lokale Ereignisse verhalten.
Man kann die Auseinandersetzung allerdings nicht nur auf die Demontage vieler uns vertrauter Japanbilder reduzieren, und das will auch ich in diesem Buch nicht tun. Die japanische Gesellschaft erlebt nicht nur in Folge der dreifachen Katastrophe riesige Umbrüche. So wurde der Glaube an eine immer weiter wachsende Wirtschaft, die damit einhergehende Vollbeschäftigung und letztlich die unbegrenzten Segnungen der Moderne bereits Anfang der 1990er Jahre erschüttert. Damals platzte die sogenannte »Bubble Economy«, die über alle Maßen aufgeblasene Wirtschaft – das spielt für die Beschreibung des Landes eine zentrale Rolle. Vielleicht können wir dabei auch etwas über uns selbst lernen. Eine ganz ähnliche Krise haben wir mit der Weltwirtschaftskrise gerade erst erlebt.
Noch eine Entwicklung, die wir mit Japan teilen, vollzieht sich dagegen langsamer, aber im internationalen Vergleich doch erschreckend rasch. Die japanische Gesellschaft ist die am schnellsten alternde der Welt. Schon jetzt ist ein Viertel aller Menschen dort über 65 Jahre alt, und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten noch weiter erhöhen. Hier ist man uns ebenfalls einfach nur ein Stückchen voraus, wenngleich auf ungewohnte Weise. Die deutsche Gesellschaft altert zwar weniger schnell, doch ein Blick nach Japan könnte gleichzeitig etwas über unsere eigene Zukunft verraten.
Es lohnt sich also, überkommene Vorstellungen beiseitezuschieben und unvoreingenommen auf das Land zu blicken, weil uns einiges nur allzu bald sehr vertraut sein wird. Das heißt nicht, dass man die klassischen Japanbilder direkt überspringen sollte. Die Beschäftigung mit ihnen verrät viel über das Land.
Ein letzter Punkt ist noch wichtig. Japanische Namen werden oft falsch ausgesprochen. Besonders Sportreporter tun sich hier unrühmlich hervor, was auffällt, da in der Fußball-Bundesliga immer mehr japanische Spieler antreten. Dabei ist die Aussprache des Japanischen eigentlich ganz einfach. Alle Vokale spricht man wie im Deutschen aus, alle Konsonanten wie im Englischen. Shinji Kagawa, Spieler von Borussia Dortmund, ist also ein Fall, wo man beim Nachnamen nichts falsch machen kann. Der Vorname allerdings würde für Deutsche wohl Schindschi geschrieben, wobei das »dschi« stimmhaft ist. Die Aussprache mit einem deutschen »j« ist jedenfalls sehr schmerzhaft für geschulte Ohren. In diesem Buch heißt Shinji Kagawa aber sowieso Kagawa Shinji. Japanische Namen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge wiedergegeben – was die Wiedererkennung vor Ort wesentlich erleichtern wird. Der Nachname, also Kagawa, steht dabei immer vor dem Vornamen, also Shinji. Außerdem finden sich mitunter Striche über dem o oder dem u, wie bei Kyūshū, der südlichsten der vier Hauptinseln Japans. Diese Vokale werden lang ausgesprochen, alle anderen kurz. Eigentlich müsste es im Text nach diesem System der Umschrift auch Tōkyō, Kyōto oder Ōsaka heißen. Da aber diese Eigennamen längst als Tokio, Kioto und Osaka Eingang ins Deutsche gefunden haben, werden sie im Buch auch so verwendet. Beim e gibt es den Längenstrich im Übrigen nur bei Fremdwörtern. Ansonsten spricht man »ei« als langes e aus und eben nicht als Ei.
Wenn ich Vorträge über Japan in einem nichtwissenschaftlichen Rahmen gehalten habe – und selbst manchmal in einem wissenschaftlichen –, kam fast immer irgendwann einmal eine Frage oder Bemerkung in der anschließenden Diskussion, die sich unter die Rubrik »Japan – Land zwischen Tradition und Moderne« einordnen lässt. Dann musste ich erklären, dass der Widerspruch nur scheinbar ist und alles sowieso viel komplexer, als es die Frage andeutet. Aber die konkrete Antwort ist gar nicht so wichtig. Hier geht es mir nur um den Reflex vieler, Tradition und Moderne in einem ewigen Spannungsverhältnis zu sehen. Die Idee, dass sich da etwas reiben würde, ist jedenfalls sehr stark ausgeprägt. Dieser auffallend große Gegensatz regt die Fantasie an. Das macht Japan besonders exotisch, irgendwie rätselhaft und zu einem Objekt der Neugier.
Aber es ist nicht allein eine mögliche Zerrissenheit, die exotisch ist. Oft wird für Japan konstatiert, dass trotz dieser Zerrissenheit Tradition und Moderne doch irgendwie sogar zusammenkommen. Das wirft eine Reihe weiterer verwirrender Fragen auf: Wie kann es sein, dass da ein Ort existiert, an dem die Moderne nicht einfach die Tradition nach und nach auslöscht, wie es eigentlich sein müsste? Und wenn wir uns schon eingestehen, dass andernorts oder womöglich sogar bei uns Traditionen nicht vollständig durch die Moderne verdrängt wurden, bleibt doch eines offen: Warum sind die Traditionen in Japan nicht fein säuberlich abgetrennt von der Moderne, sondern gehen mit ihr scheinbar eine wilde Mischung ein? Wie kann ein schintoistischer Priester, der allein durch seine Kleidung und seinen rituellen Gestus für das Vergangene steht, ein Auto weihen, das ein Produkt der Moderne ist? Das ergibt doch irgendwie keinen Sinn.
Der Gegensatz zwischen »Tradition und Moderne« ist an sich schon problematisch. Das wird klar, wenn man sich viele der Traditionen einmal genauer anschaut und bemerkt, dass sie oft kaum älter als 150 Jahre sind und sehr bewusst erfunden wurden. Das heißt, dass so manche Tradition oft genauso modern ist wie eben jene Moderne, zu der sie doch den Gegensatz bilden sollte. Es ist keineswegs ein Zufall, dass das Traditionelle und das Moderne in Japan in ihrer Entstehung zeitlich so nahe beieinanderliegen. Beides entstammt einer Epoche der Geschichte, in der ganz neu definiert wurde, was eigentlich als Kern der japanischen Identität gelten soll. Wenn man diesen Prozess der Selbstdefinition durchschaut, wird so manches klarer, und viele Bestandteile des fremden und scheinbar so unverständlichen Japans verlieren ein bisschen ihre Exotik.
Wenn man sich nur eine Jahreszahl zur japanischen Geschichte merken sollte, so ist es ganz sicher 1868. Bis 1868 regierten die Shogune der Tokugawa-Familie de facto das Land von Tokio aus, das damals Edo hieß. Sie hatten rund 250 Jahre vorher die Macht an sich reißen können, nachdem das Land eine Phase chaotischer Bürgerkriege hinter sich gebracht hatte. Der Begriff Shogun ist vielen aus der gleichnamigen Fernsehserie mit Richard Chamberlain aus den 1970er Jahren bekannt und bedeutet in etwa Militärherrscher. In der Fernsehserie wird eines der wichtigsten Merkmale der Zeit thematisiert: Die Europäer, speziell die Seefahrernationen wie Portugal, Spanien, die Niederlande und England, entdeckten Japan. Der Shogun durchschaute aber, dass ihre Einflussnahme das Land womöglich schwer regierbar machen könnte, und verbot nach und nach jegliche Außenkontakte. Am Ende waren die Holländer die einzigen Europäer, die noch begrenzten Kontakt mit den Japanern haben durften. Der Erfolg gab dem Tokugawa-Shogunat recht. 250 Jahre durchlebte das Reich eine relativ friedliche Zeit.
Mitte des 19. Jahrhunderts schickten allerdings die USA eine Mission nach Edo, die die Öffnung des Landes für ihre Schiffe und Händler verlangen sollte. Ein Hintergrund war, dass der amerikanische Walfang immer größere Ausmaße annahm, wie man gut in Melvilles Moby Dick nachlesen kann. Die global agierenden Walfangschiffe hätten gerne Japan angesteuert, um ihre Vorräte aufzufüllen, wurden jedoch aufgrund der Politik des Shogunats immer wieder abgewiesen. Die US-Mission wurde angeführt von Commodore Matthew Calbraith Perry. Sie erreichte die Bucht von Tokio, damals noch Edo, 1853. Der Anblick der ausländischen Schiffe, die vor Anker gegangen waren und durch Kanonenschüsse ihre Präsenz zu unterstreichen versuchten, war ein Schock für die Bewohner Edos, die so etwas nicht gewohnt waren. Sie verpassten Perrys Miniflotte den Namen »schwarze Schiffe«. Das Shogunat geriet in Aufruhr. Wie sollte man sich angesichts der amerikanischen Forderungen verhalten? Die Holländer hatten die Regierung zwar vorgewarnt und mit Informationen zur allgemeinen Weltlage versorgt, dennoch brach Konfusion aus. Perry segelte wieder ab mit der Ankündigung, in einem Jahr zurückzukommen. Bis dahin hatte das Shogunat erkannt, dass eine Ablehnung der Forderungen angesichts der Kräfteverhältnisse wohl wenig ratsam gewesen wäre. So weitete das Land also seine Außenkontakte deutlich aus. Die europäischen Mächte kamen schon bald und verlangten ähnliche Bedingungen wie die Amerikaner. Die Verträge spiegelten die Machtverhältnisse deutlich wider. Die japanische Seite musste Häfen öffnen und den Ausländern eine Reihe von Rechten einräumen, ohne selbst sonderlich viel zu erhalten. Deswegen werden die Abmachungen ungleiche Verträge genannt. Einzig die Einfuhr von Opium wurde verboten – angesichts des Schicksals Chinas, wo die Menschen von den Engländern durch Opium gefügig gemacht wurden, ein nicht ganz unwichtiges Zugeständnis.
Als Konsequenz dieser Episode zerbrach das Shogunat nur ein Jahrzehnt später. Viele Samurai hatten ihr Vertrauen in die Macht des Shoguns verloren, hatte dieser doch das Eindringen der Ausländer nicht abwenden können. Sie setzten deshalb auf jemand anders: den Kaiser. Der hatte durch die ganze Zeit des Shogunats hindurch seinen Hof in der alten Hauptstadt Kioto, wie schon Jahrhunderte zuvor. Allerdings war seine Macht eher symbolisch. Alle tatsächliche Regierungsgewalt ging von den Shogunen aus, die zwar den kaiserlichen Hof alimentierten, aber dafür sorgten, dass er allmählich bei der breiten Bevölkerung in Vergessenheit geriet. Angesichts der Krise pochten vor allem junge Samurai darauf, die Macht wieder komplett zurück an den Kaiser zu übertragen. Nach diversen inneren Unruhen kam es im Jahr 1868 zum Showdown. Die feindlichen Lager, die Anhänger des Shoguns und des Kaisers, bekämpften sich. Am Ende dankte der letzte Shogun ab. Die neue Regierungsepoche bekam den Namen Meiji. Der Kaiser, der mit Eigennamen Mutsuhito hieß, wurde deshalb Meiji-Tenno genannt – alle japanischen Kaiser werden seitdem nach der Bezeichnung ihrer Regierungsepoche benannt. Der Meiji-Kaiser war ein junger Mann, der erst kurz vorher den Thron bestiegen hatte. Er sollte etwas mehr als 40 Jahre auf diesem bleiben.
In der Meiji-Zeit wandelte sich das Reich ganz grundlegend. Die jungen Samurai, die infolge dieser sogenannten Meiji-Restauration von 1868 die politische Macht ergriffen hatten, erkannten sehr schnell, dass sich das Land modernisieren musste. Es half nichts, über das Eindringen der Amerikaner und Europäer zu lamentieren. Im Zeitalter des Imperialismus galt offenkundig das Recht des Stärkeren. Wollte man irgendwann einmal die ungleichen Verträge revidieren – und das war das erklärte Hauptziel – musste man im imperialen Spiel mitspielen und stark werden. Nur so konnte man die Nordamerikaner und Europäer beeindrucken.
In nur wenigen Jahren wurden die alten Strukturen der Tokugawa-Ära abgeschafft. Die Shogune hatten das Land weitestgehend durch einen feudalen Aufbau regiert. Jetzt wurde die Macht zentralisiert. Um den Machtübergang symbolisch ganz eindeutig festzuhalten, verließ der Tenno die alte Hauptstadt Kioto und machte Edo zur neuen Hauptstadt. Edo wurde sogleich in Tokio umbenannt, was so viel heißt wie Hauptstadt des Ostens. Das war ein sehr selbstbewusster Schritt, trat die Stadt doch damit in Konkurrenz zu Beijing, dessen Name übersetzt Hauptstadt des Nordens bedeutet. Japan wollte sich nicht mehr wie jahrhundertelang vorher an China orientieren, sondern am Westen. China zerfiel offensichtlich im Zeitalter des Imperialismus. Sein alter Glanz war längst vergangen. Stück für Stück wurde die Küste unter den westlichen Kolonialmächten aufgeteilt – das konnte kein Vorbild sein.
Stattdessen wurden westliche Errungenschaften eingeführt. Schon kurz nach der Meiji-Restauration 1868 wurde die erste Eisenbahn zwischen Tokio und Yokohama eingeweiht. Yokohama war noch zehn Jahre vorher ein kleines Fischerdorf gewesen, jetzt aber einer der Häfen, die die Westmächte anlaufen durften. In der Folge entwickelte sich die Stadt zur zweitgrößten in Japan. Auch andere Zöpfe wurden im wahrsten Sinne des Wortes abgeschnitten. Die Samurai mussten ihre Haartracht, die bis dato aus einem zusammengebundenen Zopf auf einem weitestgehend rasierten Kopf bestanden hatte, den westlichen Gepflogenheiten anpassen. Sie verloren ihre Standesrechte wie das Tragen von Schwertern. Dafür wurde eine reguläre Armee aufgestellt und nach preußischem Vorbild ausgebildet. Die Preußen hatten 1870/71 im Krieg gegen Frankreich bewiesen, dass sie auf diesem Gebiet die besten waren. Überhaupt wollte man immer von den Besten lernen. Die Marine orientierte sich an England. Das neue Rechtssystem schaute man sich in Frankreich und im neuen Deutschen Reich ab. Um die Grundlagen der westlichen Medizin kennenzulernen, lud man vorwiegend Deutsche als Professoren in die neugegründeten Universitäten ein. Aus diesem Grund können viele ältere Ärzte noch Deutsch, das bis vor einigen Jahrzehnten Pflichtfach im Medizinstudium war. Ein Arzt diagnostizierte bei mir einmal Mumps, obwohl er sonst nicht viel Deutsch sprach.
Der gesamte Wissenstransfer der Meiji-Zeit ging in nur wenigen Jahrzehnten vor sich. Nicht wenigen dürfte es angesichts des raschen Wandels schwindlig geworden sein. Eine ganze Welt, die der Shogune und des Feudalismus, brach in kürzester Zeit zusammen und wurde nach westlichem Vorbild wieder aufgebaut. Jetzt könnte man vermuten, dass genau hier der Bruch zwischen Tradition und Moderne begründet liegen würde. Alles Alte würde als Tradition erhalten bleiben, alles Neue als Moderne das Leben bestimmen. Die Traditionen hätten dazu gedient, den Menschen Halt in einem sehr unübersichtlichen Wandlungsprozess zu geben. Da sie aber gegen die Moderne der Meiji-Zeit gerichtet gewesen seien, wären das Land und die Menschen innerlich hin- und hergerissen. Nicht nur die schon genannten zahllosen Bücher mit dem ominösen »zwischen« im Titel stützen diese These. Filme wie »Der letzte Samurai«, in dem Tom Cruise quasi als Bewahrer der echten Tradition Japans auftritt, schlagen in die gleiche Kerbe. In Japan ist diese Sichtweise durchaus populär.
Aber genau so ist es eben nicht. Die meisten Traditionen sind nicht die Überreste aus der Zeit von vor 1868, die sich trotz des Ansturms der Moderne erhalten haben. Stattdessen wurden sie von den neuen Mächtigen im Land im Zuge der Modernisierung gleich mit eingeführt. Das Beispiel des Schinto zeigt dies besonders eindrücklich. Die jungen Samurai, die an die Regierung gelangt waren, wollten nach westlichem Vorbild eine Staatsreligion einführen. Sie hatten erkannt, dass die Kolonialmächte ihre Regierenden jeweils mit verschiedenen Formen des Christentums legitimierten. Sehr deutlich war dies beim deutschen Vorbild, wo der Kaiser gleichzeitig das Oberhaupt des Protestantismus war. Auch in England lagen die Verhältnisse mit Königin Viktoria an der Spitze der Church of England, also der anglikanischen Kirche in Großbritannien, ähnlich. Zwei religiöse Systeme boten sich in Japan an, um eine Staatskirche zu formen: der Buddhismus und der Schinto. Der Buddhismus war allerdings in unzählige Schulen mit teilweise recht widersprüchlichen Ansichten zerfallen. Außerdem war er aus China nach Japan gekommen, hätte also als Staatsreligion immer irgendwie Bezüge nach außen mit sich getragen, die sich womöglich schwer in eine neue nationale Religion hätten einfügen lassen. Aber das Hauptargument gegen den Buddhismus als Staatsreligion war, dass sich die Tokugawa-Shogune für ihre Regierung auf dessen Tempel gestützt hatten. Die Tempel waren für die Registrierung der Bevölkerung eingesetzt worden. Da sich die neuen Mächtigen deutlich von der alten Regierungsgewalt distanzieren wollten, verfolgten sie zu Beginn der Meiji-Zeit sogar die buddhistischen Mönche und zerstörten deren Tempel.
Stattdessen bauten sie die höchst diversen Volksriten zu einem einheitlichen System aus, dem Schinto. Die unzähligen Schreine, in denen man alle möglichen Gottheiten anbetete, wurden alle dem Hauptschrein in Ise unterstellt. Dieser Schrein beherbergte die Sonnengöttin Amaterasu, die mythische Urahnin des Tenno-Geschlechts. Auf diese Weise wurden die religiösen Praktiken auf den Kaiser hin ausgerichtet. Der Staats-Schinto, im Unterschied zum Volks-Schinto, wurde an Schulen gelehrt und gelebt. Er wurde durch aufwendige Inszenierungen, aber auch durch Zwang in die Köpfe der Menschen eingebrannt. Dabei behaupteten die Mächtigen gerne, dass es sich um die eigentliche und ursprüngliche Religion Japans handle, um dem neuen Staats-Schinto mehr Legitimität zu verleihen.
Im Ergebnis war der Staats-Schinto höchst erfolgreich, sogar genau genommen viel zu sehr. Diese scheinbare Tradition war eine der Grundlagen für die ultranationalistische Zeit ab den 1930er Jahren, die oft als japanischer Faschismus bezeichnet wird. Auf der Grundlage dieser Ideologie eroberte die japanische Armee halb Ostasien und verübte schwerwiegende Kriegsverbrechen – dazu später mehr.
Ganz deutlich wird an diesem Beispiel, dass vieles von dem, was wir heute als äußerst ursprünglich vorgestellt bekommen, eigentlich neueren Datums ist. Der Widerspruch zwischen Tradition und Moderne ist nur ein scheinbarer. In der Meiji-Zeit wurden viele Traditionen geradezu erfunden, um zum einen den eigenen Machtanspruch zu legitimieren. Zum anderen sollten die Menschen mit dem Ansturm der westlichen Moderne versöhnt werden, indem man ganz bewusst scheinbar uralte japanische Werte dagegenhielt. Das Motto hieß westliche Technik, aber japanischer Geist. Nur dass der Geist gleichzeitig mit der Technik eingeführt wurde und keineswegs der Kern der japanischen Identität war, der die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überdauert hatte.
Dieser Erfindung von Traditionen im ausgehenden 19. Jahrhundert folgten im 20. Jahrhundert die sogenannten Japanertheorien, die auf Japanisch nihonjinron heißen. Nachdem durch die neuen Traditionen ein Korsett für die neue japanische Identität geschaffen worden war, musste es noch mit Leben gefüllt werden. Das leisten die Japanertheorien. Deren Höhepunkt liegt eigentlich in den 1960er bis 80er Jahren, aber der Ausgangspunkt lässt sich schon im frühen 20. Jahrhundert finden. Diese Theorien ziehen sich durch zahllose Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Das typische Medium, durch das sie sich verbreitet haben, sind jedoch Bücher. Einige der großen japanischen Bestseller der letzten 50 Jahre lassen sich diesem Genre zurechnen. Es haben also sehr viele Japaner und Japaninteressierte irgendwann einmal Japanertheorien gelesen und oft verinnerlicht.
Grob gesagt geht es bei diesen Theorien darum, Japan gezielt gegenüber dem Westen abzugrenzen. Viele Autoren finden immer neue Argumente, warum ihr Land ganz anders ist als der Rest der Welt. Und wenn sie »Rest der Welt« schreiben, meinen sie in aller Regel Europa und Nordamerika, also die einflussreichsten Staaten ihrer Zeit. Doch nicht nur Japaner haben Japanertheorien geschrieben. Einige der bekanntesten Werke des Genres stammen sogar von westlichen Autorinnen und Autoren wie das Buch Die Chrysantheme und das Schwert der amerikanischen Ethnologin Ruth Benedict. Sie wurde von den amerikanischen Streitkräften kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges beauftragt, die Kultur Japans im Hinblick auf die bevorstehende Besetzung zu analysieren. Ihre Voraussage, dass die Japaner keinen Widerstand leisten würden, traf zwar ein, aber ihre krasse Gegenüberstellung der westlichen und der japanischen Welt liest sich aus heutiger Sicht zwiespältig. Ihr Buch hatte auf jeden Fall im Nachkriegsjapan großen Erfolg und wurde intensiv diskutiert.
Es lohnt sich, die Japanertheorien genauer zu kennen, weil man immer noch in Gesprächen, Vorträgen oder den Medien sowohl in Japan wie auch hierzulande auf viele Versatzstücke und Argumente trifft, die genau hier ihren Ursprung haben. Kennt man die Hintergründe, muten einige Aussagen nicht mehr so überzeugend an. Ich werde selbst immer wieder auf allen Ebenen mit diesen Theorien konfrontiert. Meine Studierenden haben oft einige Thesen aufgesogen, bevor sie an die Universität kommen, und können sich nur schwer wieder davon lösen. In Vorträgen gibt es immer Zuhörer, deren Fragen dadurch klarer werden, dass ich den Hintergrund einschätzen kann. Und in Japan selbst greifen Gesprächspartner ebenfalls oft auf Japanertheorien zurück, um ihr Land zu erklären – sogar, wenn das offensichtlich nicht sinnvoll ist.
Die Japanertheorien waren und sind einfach so erfolgreich, dass sich viele Menschen ihrer bedienen. Das kann manchmal ganz schön anstrengend sein, denn diese Theorien sind sehr holzschnittartig vergröbernd. Differenziert wird in ihnen eigentlich nur auf eine Art – Japaner gegenüber Nichtjapanern (sprich Westlern). Die Sprache neigt in diesen Theorien oft zu einer Art von Verallgemeinerung, dass man sich an Bücher über die Flora und Fauna erinnert fühlt: Der gemeine Hausjapaner ist im Gegensatz zum gemeinen Hauswestler … – an dieser Stelle kann man dann einen beliebigen abgrundtiefen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Menschenschlag einsetzen.
Was für Japanertheorien gibt es konkret? So ziemlich alles, was man sich an potenziellen Unterschieden zwischen Japanern und anderen Menschen denken kann, wurde schon einmal aufgegriffen. Sehr beliebt sind psychologische Erklärungsmuster. Da wären dann Japaner anders als Westler, weil ihr Verhältnis zur Mutter ein ganz anderes sei. Westliche Mütter würden ihren Kindern klare Regeln mit auf den Weg geben. Bei Verstößen werden die Kinder dann bestraft und lernen so ihren Weg durchs Leben. Dagegen hätten japanische Kinder bis zu einem gewissen Alter alle Freiheiten, weil die Mütter höchst nachsichtig seien. Während die westlichen Kinder durch die Regeln irgendwann zu Individuen erzogen würden, die nicht auf die Nachsicht der Mutter hoffen dürfen, so dass die enge Bindung sich nach und nach löst, würden die japanischen Kinder lernen, Abhängigkeiten wie die zur Mutter zu schätzen. Am Ende sind die Westler Individuen. Die Japaner dagegen vertrauen sich ganz höhergestellten Bezugspersonen wie dem Chef an und verlassen sich gänzlich darauf, dass er sie bei Fehlverhalten nicht fallenlassen wird. Eine Gruppenbezogenheit entsteht. Das ist sehr verkürzt das Grundgerüst eines der bekanntesten Werke der Japanertheorien, Amae – Freiheit in Geborgenheit. Zur Struktur japanischer Psyche des Psychologen Doi Takeo. Die schlussendliche These ist ganz typisch für Japanertheorien und kommt in vielen Werken zur Anwendung: Die Westler sind starke Individuen, die Japaner dagegen Gruppenmenschen.
Diese These findet sich auch oft in Religionsstudien, hat dort aber eine andere Begründung. Die Japaner sind gruppenorientiert, weil der Schinto die dörfliche Gemeinschaft oder die Nation als Ganzes im Auge hat, wird argumentiert. Das Christentum hingegen stellt die Beziehung zwischen Individuum und Gott in den Mittelpunkt. Der Einzelne hat sich nur seinem Schöpfer gegenüber zu verantworten. Allein die Zwiesprache mit ihm steuert das Gewissen des Christen. Dagegen besitzen weder der Buddhismus noch der Schinto eine starke Morallehre. Verfehlungen werden durch die Dorfgemeinschaft bestraft, so sie überhaupt bekannt werden. Als Konsequenz leben Westler nach ihrem Gewissen und scheren sich im Zweifelsfall wenig darum, ob ihre Gewissensentscheidungen im Einklang mit den Regeln ihrer Umgebung stehen. Wichtig ist ja allein, ob sie vor Gott Bestand haben. Ganz im Gegensatz dazu sind Japaner quasi gewissenlos und schauen nur darauf, wie die anderen Mitglieder ihrer Gruppe zu ihrem Verhalten stehen. Was nicht der Norm der Gruppe entspricht, wird einfach verheimlicht. Die Gruppe ist in den Theorien historisch das Dorf, das dann in der Neuzeit durch die Nachbarschaft, die Kollegen und ähnliche moderne Kontexte ersetzt wird. Das alles klingt in der Theorie halbwegs nachvollziehbar. In der Praxis wird es problematisch. Wer die Enge von Dorfgemeinschaften in Europa kennt, weiß, dass sich nicht jeder an Gott und absoluten Werten orientiert, sondern durchaus japanisch die Meinung der Umgebung in seine Entscheidungen einbezieht. Die Details und konkreten Fallstricke sind also nicht so die Sache der Japanertheorien. Wenn es nur schön schwarz-weiß ist, wird es schon stimmen. Hauptsache, die Japaner sind am Ende völlig anders als alle anderen Menschen.
Man kann die Japanertheorien strategisch einsetzen, und damit sind wir bei einem dritten Bereich nach der Psychologie und der Religionswissenschaft. Als in den 1980er Jahren zwischen Japan und den USA ein Streit um den Freihandel tobte und die Amerikaner forderten, dass Importbeschränkungen aufgehoben würden, argumentierten japanische Wissenschaftler, dass das in einigen Bereichen gar nicht gehe. Amerikanisches Rindfleisch könne beispielsweise gar nicht so einfach verkauft werden, weil der Verdauungstrakt der Japaner ganz anders aufgebaut sei als der der amerikanischen Konsumenten. Nicht, dass es in Japan kein Rindfleisch gäbe. Die Kobe-Rinder, deren Bäuche unter sanften Musikklängen gestreichelt und massiert werden, liefern bekanntermaßen ganz außergewöhnlich zartes und teures Fleisch. Aber wahrscheinlich sind amerikanische Rinder ganz anders und somit völlig ungeeignet für den Export nach Japan. Die Argumentation war jedenfalls durchsichtig.
Vielleicht kann man das als Westler gar nicht richtig verstehen, weil natürlich das Hirn laut einigen Theorien ganz anders aufgebaut ist. In Das Gehirn der Japaner behauptete der Hirnforscher Tsunoda Tadanobu Ende der 1970er Jahre, dass Japaner Vokale, natürliche Geräusche und Musik im Gegensatz zum Rest der Welt, insbesondere den Westlern, mit der linken Hirnhälfte verarbeiten würden. So würden Japaner beim Zuhören vor allem auf die mitschwingenden Gefühle achten und weniger auf die Informationen des Gesagten. Letzteres ist wieder eine typische These der Japanertheorien. Sie konstatieren immer wieder, dass Japaner überaus feinfühlige, emotionale Menschen seien, während es dem Westler eher um das Rationale ginge. Diese Idee schwingt ja schon bei der Gegenüberstellung von westlichen Individuen gegenüber japanischen Gruppenmenschen mit. Diese Hirntheorie hielt jedoch unabhängigen Messungen nicht stand. Das tat allerdings den Verkaufszahlen des Buches keinen Abbruch.
Eine andere Hirntheorie schlägt in eine ähnliche Kerbe. Während Westler sich des Alphabets bedienen, gibt es in Japan die Schriftzeichen. Diese sind mehr wie Bilder aufgebaut. Diesmal benutzen die Leser der Schriftzeichen mehr die rechte Hirnhälfte, während westliche Leser die linke für das Alphabet einsetzen. Im Gegensatz zur obigen Hirntheorie sind die Beweise deutlich stichhaltiger. Interessanterweise werden die beiden alphabetartigen Schriften Katakana und Hiragana, die es neben den Schriftzeichen gibt, wie das lateinische Alphabet ebenfalls mit der linken Hirnhälfte gelesen. Das Problem bei dieser Theorie ist, dass von einigen Autoren wieder sehr weitreichende Schlüsse aus all dem abgeleitet wurden, die weit weniger belegbar sind.
Ein letzter wichtiger Bestandteil der Japanertheorien, der einem im Land immer wieder begegnet, ist die Behauptung, Japaner besäßen eine besonders innige Beziehung zur Natur. Man mag das eigentlich kaum glauben, lebt man in Tokio oder einer anderen Großstadt. Selbst auf dem Land ist sehr auffällig, wie Beton die an sich sehr schöne Landschaft ganz oft aufs Gröbste verschandelt. Trotzdem bekommt man immer wieder zu hören, dass wir Westler die Natur ja zu beherrschen versuchten, weil schon in der Bibel stehe, dass wir uns die Erde untertan machen sollten. Die Japaner würden dagegen im Einklang mit der Natur leben und eine besondere Sensibilität für sie empfinden. Dieses Argument hat eine lange Tradition. Schon um 1900 herum wurden sowohl in Europa und Nordamerika als auch in Japan das Naturempfinden der Ostasiaten und ihr besonderer Sinn für Ästhetik immer wieder hervorgehoben. Letztendlich hängt viel von der Frage ab, was Natur überhaupt sein soll, und natürlich davon, ob man fest daran glauben möchte, dass Japaner und Westler ganz grundsätzlich unterschiedlich sind.
Irgendwann war ich es ein bisschen leid, in meiner Umgebung immer wieder mit recht oberflächlich durchdachten Argumenten dazu konfrontiert zu werden, wie anders die Japaner doch sind.