Dr. Laurin 92 – Sie wollte ihn erpressen

Dr. Laurin –92–

Sie wollte ihn erpressen

Roman von Patricia Vandenberg

Dr. Laurins Miene war düster, als er nach der Visite das Schwesternzimmer betrat. Marie, seine langjährige bewährte Helferin, ahnte gleich, was ihn bedrückte.

»Hat Frau Kayser wieder mal Theater gemacht?«, fragte sie. »Über wen beschwert sie sich denn diesmal?«

»Über den Kollegen Vanhoven. Weil er sie nicht besucht hat. Als ob ein geplagter Allgemeinmediziner nichts anderes zu tun hätte, als täglich auch noch die Patienten zu besuchen, die in Kliniken sowieso ärztlich betreut werden.«

Schwester Marie lächelte hintergründig. »Ich glaube eher, dass da von ihr aus ein sehr persönliches Interesse besteht«, meinte sie.

»Meine Güte, dann kann ich erst recht verstehen, dass er sie meidet. Er scheint bei den Damen einen Stein im Brett zu haben.«

»Was ihm wohl in erster Linie eine gut florierende Praxis beschert«, erwiderte Marie mit einem bedeutungsvollen Lächeln.

»Ob ihm das aber recht ist?«, meinte Leon Laurin sarkastisch. »Er ist ein guter Arzt. An seinen Diagnosen ist nichts zu auszusetzen. Frau Kayser hat ihm zu verdanken, dass sie wieder ganz gesund werden wird.« Er hielt inne und schaute zur Treppe. »Da kommt er ja, der Vielgeliebte«, raunte er Marie noch zu.

Dr. Fridolf Vanhoven kam mit beschwingten Schritten auf den Chefarzt der Prof.-Kayser-Klinik zu. Man konnte verstehen, dass ihm die Frauenherzen zuflogen. Er war kein Schönling, aber er hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. Groß, schlank und breitschultrig, mit einem ausdrucksvollen Gesicht, dunklen Haaren, die zu den warmen grauen Augen einen interessanten Kontrast bildeten, einem gut geschnittenen Mund, der Humor und Lebensbejahung verriet, hatte er aber auch gleich die Sympathie der Ärzte der Prof.-Kayser-Klinik gewonnen, als er nicht weit entfernt seine Praxis eröffnete.

»Frau Kayser erwartet Sie schon sehnsüchtig«, sagte Dr. Laurin gleich nach der Begrüßung.

Fridolf Vanhoven runzelte die Stirn. »Ihretwegen bin ich aber nicht gekommen«, sagte er reserviert. »Ich weiß sie doch bestens versorgt.« Er sah Dr. Laurin forschend an. »Sie ist wohl sehr schwierig?«

»Sehr exzentrisch, und sie denkt, dass Sie nur für sie allein da sind.«

»Weil sie zufällig meine erste Patientin war«, sagte Fridolf unwillig. »Sie ist nie zufrieden. Sie hat zu viel Geld und zu viel Zeit.«

»Und Kinder wird sie nun bestimmt nicht mehr bekommen«, erklärte Dr. Laurin.

»Ich nehme an, dass sie schon ein paar Abtreibungen hinter sich gebracht hat. Sie leugnet es zwar, aber ich glaube nicht, dass ich mich täusche. Sie behauptet, dass ihr Mann keine Kinder haben wolle und es ja auch unverantwortlich sei, in der heutigen Zeit noch welche in die Welt zu setzen.«

»Ja, das Lied kenne ich auch schon«, nickte Dr. Laurin.

»Ich habe leider mehr solche Patientinnen. Ich bin jetzt nur gekommen, um mich abzumelden. Ich fahre in Urlaub. Meine Vertretung macht Dr. Werner, Sie kennen ihn ja. Aber ich möchte Ihnen doch sagen, dass eine Patientin, die im sechsten Monat schwanger ist, zu Ihnen kommt, falls es Komplikationen geben sollte. Sie ist zwar auch schwierig, aber nicht auf mich fixiert. Sie hat keine leichte Schwangerschaft, will aber das Kind bei Professor de Lucca in Luzern zur Welt bringen. Es handelt sich um Esther Herbrand.«

»Um die Frau des großartigen Pianisten?«

»Sie kennen ihn?«, fragte Dr. Vanhoven.

»Wir besuchen öfter Konzerte. Er macht schnell Karriere.«

»Und sie ist maßlos eifersüchtig, aber vielleicht hängt das auch mit der Schwangerschaft zusammen, weil sie ihn nicht mehr auf allen Reisen begleiten kann. Ich bleibe ja nur vierzehn Tage weg, und es kann durchaus sein, dass sie diese Zeit gut übersteht. Ich wollte Sie nur vorsichtshalber bitten, sie behutsam zu behandeln, sie ist übersensibel.«

»Ich werde mich danach richten«, erwiderte Dr. Laurin schmunzelnd. »Und Sie wollen Frau Kayser nicht mal kurz besuchen?«

»Doch, das werde ich«, erwiderte Fridolf mit einem schweren Seufzer. »Macht sie Fortschritte?«

»In jeder Beziehung, vor allem darin, Schwestern und Ärzte in Atem zu halten.«

Hella Kayser zeigte sich Dr. Vanhoven gegenüber von ihrer süßesten Seite, aber sie umklammerte seine Hände so kräftig, dass er Mühe hatte, sich aus diesem Griff zu befreien. Aber sie wurde zornig, als er sagte, dass er nun vierzehn Tage Urlaub machen wolle.

»Jetzt, wo ich gerade erst operiert bin?«, warf sie ihm vor.

»Liebe Frau Kayser, Sie sind hier in allerbesten Händen und in der Prof.-Kayser-Klinik gut aufgehoben. Wäre ich in der Praxis, hätte ich wahrhaftig keine Zeit, Sie zu besuchen, also gönnen Sie mir bitte auch einen Urlaub.«

»Fahren Sie allein?«, fragte sie neugierig.

»Ja, ich fahre allein«, gab er kühl zur Antwort. »Und jetzt darf ich Ihnen weiterhin gute Genesung wünschen und mich verabschieden.«

Bevor sie noch etwas sagen konnte, war er schon an der Tür. Ja, man musste sich seiner Haut zu wehren wissen. Dr. Laurin hatte Recht. Manchmal fragte sich Fridolf, ob er nicht lieber Kinderarzt hätte werden sollen.

Aber zwei Stunden später saß er am Steuer seines flotten Cabrios, und die Fahrt gen Süden begann. Nun konnte er fröhlich vor sich hinpfeifen. Zuerst wollte er seine Eltern besuchen, die den Sommer in der Tos­kana verbrachten, seit sein Vater, der als Diplomat weit in der Welt herumgekommen war, seinen Abschied genommen hatte und nur noch seine Ruhe haben wollte.

Fridolf hatte einen guten Kontakt zu seinen Eltern, aber er hatte auch früh gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen – was von den Eltern auch gefördert worden war.

Fridolf hatte ein überaus glückliches und ausgeglichenes Naturell. Er schuf sich keine Probleme, ging Schwierigkeiten aber nicht aus dem Weg, sondern packte sie an, um sie zu bewältigen.

Er hatte als Kind nie das Gefühl gehabt, von den Eltern vernachlässigt worden zu sein, obgleich sie wenig Zeit für ihn hatten. Er hatte als Heranwachsender auch nicht mit ihnen gehadert, weil er ins Internat geschickt worden war. Dafür hatten sie ihm aber auch keine Schwierigkeiten gemacht, als er erklärte, dass er Allgemeinmediziner werden wolle, obgleich sie sich für ihn eine andere Karriere gewünscht hätten, wenn als Arzt, dann schon mit dem Ziel einer Professur. Aber sie waren klug und ließen ihm die Freiheit der Entscheidung.

Sie hatten ihm die Wege geebnet zu einer modernen Praxis. Er hatte nicht die Sorgen wie andere Kollegen mit einer Praxisgründung, weil es an Geld mangelte, und er konnte sich auch mehr leisten als andere, was ihn aber keineswegs überheblich machte.

Er hatte noch eine Schwester, die in England mit einem Lord verheiratet war, und sie hatte mindestens ebensoviel bekommen von den Eltern wie er, also brauchte er keine Gewissensbisse zu haben. Es wussten nur wenige von all diesen Vorteilen, denn Fridolf prahlte damit nicht. Er schätzte Publicity überhaupt nicht, aber ein Allgemeinmediziner hatte die auch nicht – und er hatte auch weder Zeit noch Lust, sich in den Kreisen zu bewegen, über die in Kolumnen getratscht wurde.

Er genoss jetzt die Fahrt bei strahlend schönem Wetter, und er legte auch eine ausgiebige Rast fern der Autobahn ein.

Am Abend erreichte er Castelfiorentino und das Haus seiner Eltern, das sich stilvoll in die malerische Landschaft einfügte. Er hatte seinen Besuch nicht auf Tag und Stunde genau angekündigt, sondern seine Eltern nur telefonisch verständigt, dass er auf der Durchreise vorbeikommen würde.

Sie freuten sich, als er nun vor der Tür stand. Die Begrüßung war herzlich, aber nicht überschwänglich, denn Getue liebten die Vanhovens nicht.

»Ihr seht blendend aus«, sagte er anerkennend, seine noch jugendlich wirkenden Eltern betrachtend. Man sah ihnen beiden nicht an, dass sie auf die Siebzig zugingen.

»Und du scheinst Urlaub nötig zu haben, Fridolf«, stellte Georgine Vanhoven fest.

»Ich bin ja dabei, Mama«, erwiderte er.

»Dann solltest du hierbleiben. In ein paar Tagen kommt Violet mit den Kindern.«

»Dann wäre es aber für mich kein Urlaub mehr. Ich kenne meine Schwester und ihre verwöhnten Kinder. Kommt Percy nicht mit?«

»Er hat noch in Rom zu tun, dort ist eine Kunstauktion.«

»Vielleicht treffe ich ihn. Ich will auch nach Rom. Ein Patient von mir gibt dort ein Konzert, und außerdem möchte ich Rom auch mal besser kennenlernen.«

»Das ist aber keine Entspannung, Fridolf«, warf Reginald Vanhoven ein.

»Ich fahre ja auch ans Meer, Papa.«

Er aß mit großem Appetit, was die alte Lucia auftischte, und er trank auch einige Gläser Wein.

Sie unterhielten sich angeregt. Er musste von seiner Praxis berichten, und seine Mutter erkundigte sich besorgt, ob er finanziell zurechtkam, wenn er jetzt auch noch eine Vertretung bezahlen müsste.

»Die brauche ich nicht zu bezahlen, wir Ärzte helfen uns da gegenseitig aus. Diesbezüglich gibt es keine Schwierigkeiten.«

»Und wenn dir die Vertretung Patienten wegnimmt?«, fragte sein Vater.

»Wenn es so wäre, kommen andere dafür«, erwiderte Fridolf lächelnd.

»Wäre es nicht doch besser gewesen, du hättest auf eine Professur hingearbeitet?«, meinte Georgine.

»Für mich nicht, ich brauche den Kontakt zu Menschen aus allen Schichten. Nur dann fühle ich mich in meinem Beruf bestätigt, wenn ich mich auch mit ihren Sorgen beschäftigen und ihnen helfen kann.«

»Wenn du zufrieden und glücklich bist, soll es uns recht sein«, sagte seine Mutter.

»Aber du wirst müde sein. Ich bringe dich zu deinem Zimmer.«

Sie wollte gern noch ein bisschen allein mit ihm reden, ihn fragen, ob es jetzt nicht doch eine Frau in seinem Leben gäbe, dass er mal an Heirat denken würde.

»Ich habe doch Zeit, Mama«, erwiderte er mit leisem Lachen. »Bisher ist mir die Richtige noch nicht über den Weg gelaufen.«

»Vielleicht ist es auch besser. Zwischen Violet und Percy scheint es Spannungen zu geben. Sie sagt zwar nichts, aber ich habe ein ungutes Gefühl. Nun ja, es ist jetzt das siebente Jahr.«

»Ist das nicht auch ein dummer Aberglaube?«

»Manchmal stimmt es schon. Ich mische mich da nicht ein, aber es würde mich schon betrüben wegen der Kinder.«

»Rede Violet zu, dass sie mit den Kindern nach München kommt, damit wir uns mal aussprechen können, falls sie darauf Wert legt. Früher haben wir uns immer gut verstanden.«

»Deswegen habe ich auch gehofft, dass du bleiben würdest, Fridolf.«

»Nun, vielleicht komme ich zurück, wenn es mir in Rom nicht gefällt und am Meer zu viel Betrieb ist.«

»Hier bist du ja auch gleich am Meer, aber ich will dich nicht beeinflussen. Ich sehe ein, dass du Ruhe brauchst.«

»Ja, zuerst muss ich mal Abstand gewinnen. Der Winter mit der Grippewelle war anstrengend. Und die Kälte hat sich eingenistet gehabt. Da dürstet man schon nach Wärme und Sonne.«

»Wir genießen es, unabhängig zu sein, Fridolf, und in diesem Jahr sind wir auch schon früher hergefahren, weil es uns im Norden zu kalt und unfreundlich war.«

»Es freut mich, wenn es euch gutgeht, Mama.«

*

Fridolf schlief tief und traumlos in dieser Nacht. Die wundervolle Ruhe, die herrliche Luft, die durch das offene Fenster drang, war so erquickend, dass er schon um sechs Uhr putzmunter war und sogleich beschloss zu joggen. Lange war er nicht mehr dazu gekommen, sich so in der freien Natur zu bewegen. Mal eine Stunde Tennis oder Schwimmen war alles gewesen, was er sich in anstrengenden Monaten gestatten konnte.

Seine Eltern schliefen noch, und Lucia blickte ihm kopfschüttelnd nach, als er über die Wiese davonlief, langbeinig und elastisch. Er genoss es. Er lief langsam, um auch die Schönheit der Umgebung in sich aufzunehmen. Er war nur einmal einen Tag hiergewesen, als seine Mutter Geburtstag hatte, und da war er nicht dazu gekommen, sich die Gegend anzuschauen.

Er bummelte zwischendurch eine Weile herum, atmete tief ein und aus, und dann machte er kehrt, weil er Hunger bekam. Er war eine Stunde unterwegs gewesen, und Lucia hatte für ihn schon das Frühstück zubereitet.

Seine Eltern erschienen erst nach neun Uhr, und Georgine fragte ihn bestürzt, warum er denn so früh auf sei.

»Weil ich so gut geschlafen habe, Mama«, lachte er. »Und ich bin schon eine ganze Weile herumgelaufen, da schmeckt das Frühstück doppelt gut.«

Er ließ es sich auch noch mal in ihrer Gesellschaft schmecken, und er genoss den herrlichen Tag in vollen Zügen. Doch am nächsten Morgen fuhr er weiter, wie er es sich vorgenommen hatte.

Er war schon zu lange auf sich gestellt, und es lag ihm auch nicht, herumzufaulenzen. Zwischendurch war das ganz schön, aber er wollte auch etwas sehen, und er hatte Jörg Herbrand versprochen, nach Rom zu kommen. Es war Jörgs erstes Konzert in Rom vor einem großen Publikum, und er hatte Lampenfieber. Fridolfs Zuspruch half ihm da mehr als ein Beruhigungsmittel.

Rom war wirklich verlockend. Er konnte auch einmal bei Paola anrufen, vielleicht freute sie ein Wiedersehen. Er hatte sie vor drei Jahren beim Ski fahren in der Schweiz kennengelernt, und sie war mal nach München gekommen. Ein nettes Mädchen, keine Klette, und das hatte ihm gefallen.

Er hatte sich darauf verlassen, dass Jörg Herbrand ihm in seinem Hotel ein Apartment reservieren lassen würde, und das war auch geschehen, wie er zufrieden feststellen konnte. Es war ein sehr hübsches Zimmer mit einer Wohnecke und Bad, und man hatte vom zehnten Stockwerk aus einen schönen Blick auf Rom, in dem es um diese Zeit wie in einem Hexenkessel brodelte.

Jörg Herbrand war nicht im Hause, aber er kam eine Stunde später, erschöpft von der Hitze und der Probe.

»Ich glaube, ich schaffe es nicht, Dr. Vanhoven«, sagte er. »Es herrschen hier ganz andere Verhältnisse als bei uns.«

»Vergessen Sie die Verhältnisse, die Umgebung und auch die Hitze«, sagte Fridolf beruhigend. »Entspannen Sie sich. Heute Abend trinken wir gemeinsam einen Schlummertrunk.«

»Darf ich Sie zum Essen einladen?«, fragte Jörg.

»Kommt nicht infrage. Sie sind bald Familienvater. Eine Karte zum Konzert können Sie mir besorgen.«

»Ich habe schon zwei für Sie reserviert. Vielleicht möchten Sie jemanden mitnehmen?«

»Könnte sein, vorerst verbindlichen Dank.«

»Haben Sie meine Frau noch gesehen vor Ihrer Abreise?«