Patrick Kingsley
DIE NEUE ODYSSEE
Eine Geschichte der
europäischen Flüchtlingskrise
Aus dem Englischen übersetzt von
Hans Freundl und Werner Roller
C.H.Beck
Europa erlebt die größte Migrationswelle seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – und niemand hat intensiver und mehr über die Krise berichtet als Patrick Kingsley. Der Migrationskorrespondent des «Guardian» hat siebzehn Länder bereist und Hunderte von Flüchtlingen auf ihrer epischen Odyssee gesprochen und begleitet. Sein Buch ist die Geschichte dieser Menschen. Es erzählt, wer sie sind, warum sie kommen und wie sie es bewerkstelligen. Es berichtet von Schleppern, denen sie sich ausliefern, von der Küstenwache, die sie aus Seenot rettet, von Helfern, die sie versorgen, und von Grenzpatrouillen, die sich ihnen in den Weg stellen. «Die neue Odyssee» ist ein außergewöhnliches Buch, wie es noch niemand geschrieben hat über die große Tragödie unserer Zeit.
«Ein dringend nötiges Buch, das Augen und Herzen öffnet. Wer noch immer nicht begriffen hat, was gerade geschieht und warum es geschieht, der muss dieses großartige Buch lesen.»
Michael Lüders, Autor von «Wer den Wind sät»
Patrick Kingsley ist der Migrationskorrespondent des «Guardian». Er wurde 2015 in Großbritannien zum Auslandskorrespondenten des Jahres gewählt und hat für seine Arbeit bereits mehrere Auszeichnungen erhalten.
PROLOG
Mittwoch, 15. April 2015, 23 Uhr
1. EIN UNTERBROCHENER GEBURTSTAG
Haschems Flucht aus Syrien
Sonntag, 15. April 2012, 18 Uhr
2. DAS ZWEITE MEER
Die Wüstenrouten durch die Sahara
Niger, August 2015
3. HANDEL MIT MENSCHEN
Schleusernetzwerke an der nordafrikanischen Küste
Libyen, April 2015
4. SOS
Haschems Abfahrt aus Ägypten und die Schiffsreise nach Italien
Montag, 20. April 2015, 12 Uhr
5. SCHIFFBRUCH
Wie Menschen im Meer ertrinken und wie sie gerettet werden
Auf hoher See im Mittelmeer, April 2015
6. GELOBTES LAND?
Haschems erste Schritte in Europa
Sonntag, 26. April 2015, 11.30 Uhr
7. ZWISCHEN WÄLDERN UND WASSER
Die Anfänge der Balkanroute
Griechenland, Türkei, Mazedonien, Serbien und Ungarn, Frühsommer 2015
8. NACH SCHWEDEN
Haschems letztes Wegstück in Richtung Skandinavien
Montag, 27. April 2015, 11.50 Uhr
9. EIN TOR FÄLLT INS SCHLOSS
Die Explosion der Balkanroute, Europas moralische Krise und die Schließung der ungarischen Grenze
Ungarn, Österreich, Serbien, Kroatien, September 2015
10. STATUS UNGEKLÄRT
Haschems angstvolles Warten auf Asyl
Freitag, 23. Oktober 2015, 12 Uhr
EPILOG
Was geschah als Nächstes?
EINE NACHRICHT VON HASCHEM AL-SOUKI
ANMERKUNG DES AUTORS
DANK
ANMERKUNGEN
PROLOG
1. EIN UNTERBROCHENER GEBURTSTAG
2. DAS ZWEITE MEER
3. HANDEL MIT MENSCHEN
4. SOS
5. SCHIFFBRUCH
7. Zwischen Wäldern und Wasser
9. EIN TOR FÄLLT INS SCHLOSS
10. STATUS UNGEKLÄRT
ABBILDUNGSNACHWEIS
Fußnoten
Meiner Mutter und meinem Vater
… Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, wenn es auf dem Wasser nicht sicherer ist als auf dem Land.
Warsan Shire, Home
Und verfolgt mich ein Gott im dunklen Meere, so will ich’s dulden; mein Herz im Busen ist längst zum Leiden gehärtet!
Denn ich habe schon vieles erlebt, schon vieles erduldet, Schrecken des Meers und des Kriegs: so mag auch dieses geschehen!
Homer, Odyssee,
V. Gesang
Es ist dunkel, weit draußen auf dem Meer. Haschem al-Souki kann seine Nachbarn nicht sehen, aber er kann sie hören. Es sind zwei afrikanische Frauen – vielleicht aus Somalia, aber jetzt ist nicht die Zeit, danach zu fragen –, und Haschem liegt mit ausgestreckten Armen und Beinen auf ihnen. Seine Schenkel pressen sich auf ihre. Sie wollen, dass er wegrückt, schnell, und das möchte er auch tun. Aber er kann nicht – mehrere andere Menschen liegen auf ihm. Und über diesen befindet sich möglicherweise noch eine weitere Schicht Menschen. Dutzende Menschen sind auf dieser hölzernen Jolle zusammengepfercht. Wenn sich einer zu bewegen versucht, stößt einer der Schleuser ihn wieder zurück an seinen Platz. Sie möchten verhindern, dass das überfüllte Boot aus dem Gleichgewicht gerät und sinkt.
Es ist vielleicht 23 Uhr, aber Haschem ist sich nicht sicher. Er verliert allmählich das Gefühl für Zeit und Ort. Am frühen Abend, an einem Strand an der nördlichsten Spitze von Ägypten, wurden er und seine Reisegefährten auf dieses kleine Boot geführt. Nun treibt dieses Boot wer weiß wo, schaukelt in der nächtlichen Dunkelheit auf den Wellen, irgendwo im südwestlichen Mittelmeer. Und die darauf befindlichen Passagiere schreien.
Einige Schreie klingen Arabisch, andere nach anderen Sprachen. Es sind Menschen aus Afrika auf dem Boot, andere kommen aus dem Nahen Osten. Es sind Palästinenser, Sudanesen und Somalier. Auch Syrer, wie Haschem. Sie wollen nach Nordeuropa: nach Schweden, nach Deutschland, jedenfalls irgendwohin, wo sie eine bessere Zukunft finden können als in ihren verwüsteten Heimatländern. Für diese vage Hoffnung nehmen sie diese gefährliche Bootsfahrt zur italienischen Küste auf sich. Wenn alles gut geht, sollten sie in fünf bis sechs Tagen Italien erreichen. Aber momentan weiß Haschem nicht, ob er diese Nacht überleben wird. Oder ob sie überhaupt jemand auf dem Boot überleben wird.
Eine Stunde vergeht. Sie treffen auf ein zweites Boot, ein größeres, dann auf ein drittes, das noch größer ist. Bei jedem dieser Boote werfen die Schleuser die Passagiere über Bord wie Säcke mit Kartoffeln. Jetzt haben sie etwas mehr Platz, aber sie sind völlig durchnässt. Sie mussten durch die Wellen waten, um zu der Jolle zu gelangen, und das zweite Boot war voller Wasser. Ihre Kleider sind tropfnass, sie frieren. Und ihnen ist schlecht. Die Person, die links neben ihm liegt, erbricht sich über Haschem. Dann tut Haschem es ihr gleich und erbricht sich über den Mann rechts von ihm. Er blickt um sich und sieht, dass es den anderen ebenso geht, die Kleider aller Passagiere sind voll mit Erbrochenem. Jeder von ihnen hat mehr als 2000 Dollar bezahlt, um sich über seine Mitflüchtlinge zu erbrechen. «Das ist eine richtige Kotzparty», denkt sich Haschem.
Das Bemerkenswerteste an dieser Szene ist wahrscheinlich die Tatsache, dass sie gewissermaßen alltäglich geworden ist. Die Welt erlebt gegenwärtig die größte Massenmigration seit dem Zweiten Weltkrieg – und die dramatischsten Erscheinungsformen dieses Phänomens ereignen sich im Mittelmeer. In den Jahren 2014 und 2015 überquerten mehr als eine Million Menschen das Mittelmeer in klapprigen Booten wie diesem.[1] Zwischen 2016 und 2018 könnten nach Schätzungen der Europäischen Union mehr als drei Millionen ihrem Beispiel folgen, da die Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan und im Irak eine bislang ungekannte Zahl von Menschen in Richtung Europa treiben. Jahrelang wurde die Last der globalen Flüchtlingskrise überwiegend von den Entwicklungsländern getragen, in denen nach Angaben der UNO bislang 86 Prozent aller Flüchtlinge Unterschlupf gefunden haben. Nun wird sich Europa ihrer Existenz bewusst.
Die Migration nach Europa ist keineswegs neu. Schon seit langem versuchen afrikanische Migranten über Marokko nach Spanien oder vom Senegal aus auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Seit Jahren sind Libyen, die Türkei und Ägypten Sprungbretter für Menschen, die sich nach Italien, Griechenland oder Bulgarien durchzuschlagen hoffen. Doch noch niemals zuvor sind sie in solch großer Zahl gekommen.
Im Jahr 2014 bestand der Flüchtlingsstrom hauptsächlich aus Syrern, Eritreern und Menschen aus Schwarzafrika. Die meisten reisten damals über Libyen (nachdem dort im Gefolge des Arabischen Frühlings die politische Ordnung zusammengebrochen war), einige auch über Ägypten nach Italien. Ungefähr 170.000 Flüchtlinge gelangten 2014 nach Italien, nahezu dreimal so viele wie auf dem Höhepunkt der vorhergehenden Flüchtlingswelle.[2] Im Jahr 2015 brachen fast ebenso viele afrikanische Flüchtlinge wie im Sommer des Vorjahres von Libyen und Ägypten aus nach Europa auf. Doch in diesem Jahr löste Griechenland Italien als bedeutendstes Einfallstor nach Europa ab. Eine Änderung der Visumsvorschriften für syrische Flüchtlinge hatte zur Folge, dass diese nicht mehr ohne weiteres nach Nordafrika gelangen konnten, und der Krieg in Libyen führte dazu, dass viele dies auch nicht mehr wollten. Deshalb begannen sie nun in großer Zahl von der Türkei auf die griechischen Inseln überzusetzen, ebenso wie Emigranten aus Afghanistan und dem Irak, wo die politische Instabilität immer mehr zunahm. Kleine Inseln, die bisher verschlafene Urlaubsorte am Rande der Ägäis gewesen waren, wurden über Nacht in das Zentrum der nahöstlichen Flüchtlingskrise gerissen. Die Griechen, die ohnehin mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu kämpfen hatten, waren auf diese Entwicklung völlig unvorbereitet.
Plötzlich wurde ein Problem, das bisher nur Westeuropa betroffen hatte, auch zu einer Herausforderung für den Osten Europas. Im Jahr 2015 setzten sich mehr als 850.000 Flüchtlinge von den Küsten der Türkei aus in Bewegung[3] – und der größte Teil von ihnen zog über den Balkan nach Norden, in der Hoffnung, der Sicherheit und der Stabilität Nordeuropas teilhaftig zu werden. Ungarn, an dessen Südgrenze noch vor fünf Jahren nur 2400 Migranten angekommen waren,[4] musste plötzlich das Hundertfache dieser Zahl bewältigen. Schließlich errichtete die ungarische Regierung einen Grenzzaun entlang der Südflanke ihres Landes. Als die Flüchtlinge über Kroatien auswichen, bauten die Ungarn einen zweiten Zaun an der Grenze zu Kroatien.
Zwischen den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Union brachte diese Krise Teilungen und Konflikte eher metaphorischer Art hervor. Italien und Griechenland wollten nicht einsehen, dass sie allein mit dieser gewaltigen Flüchtlingswelle zurechtkommen sollten, und suchten nach Wegen, einen Teil der Last auf die anderen EU-Länder umzuverteilen. Zunächst winkten die Italiener und die Griechen viele Flüchtlinge einfach durch, anstatt die Insassen der ankommenden Boote zu ermutigen, sich auf italienischem oder griechischem Boden niederzulassen, wie es die geltenden EU-Bestimmungen, die so genannten Dublin-Verordnungen, verlangten. Dann versuchten sie ihre Anliegen am Verhandlungstisch durchzusetzen und bemühten sich, ihre Nachbarn zur freiwilligen Übernahme von Migranten zu bewegen. Doch trotz endloser Konferenzen und Gipfeltreffen weigerten sich die meisten anderen EU-Länder, den Italienern und Griechen mehr als nur eine symbolische Zahl von Flüchtlingen abzunehmen. Im Herbst verständigte sich die Mehrheit der Regierungen schließlich auf eine Vereinbarung, derzufolge 120.000 Flüchtlinge von den an der EU-Außengrenze liegenden Staaten in die übrigen Länder des Kontinents verteilt werden sollten. Für die zahlenverliebten Bürokraten in Brüssel war dies ein kleiner Sieg und die Schaffung eines wichtigen Präzedenzfalles. In Wirklichkeit aber war es eine erbärmliche Reaktion. Diese 120.000 Menschen machten lediglich ein Neuntel der Gesamtzahl von Flüchtlingen aus, die 2015 in Italien und Griechenland ankamen,[5] wodurch dieses so genannte Abkommen praktisch bedeutungslos wurde. Eines der Gründungsprinzipien der Europäischen Union – die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten – schien nichts mehr zu zählen.
Im weiteren Verlauf des Jahres 2015 errichteten immer mehr Länder Grenzzäune, um die Flüchtlingsströme umzuleiten, und einige drohten sogar, ihre Grenzen vollständig abzuriegeln. Dadurch geriet ein weiterer zentraler Wert der Europäischen Union in Gefahr – die Freizügigkeit zwischen den Ländern auf dem europäischen Festland, ein Prinzip, das durch das Schengen-Abkommen, das 1985 in Kraft trat, feierlich verkündet worden war und das noch immer als eine der größten Errungenschaften des europäischen Projekts gilt. Zusammen mit den gleichzeitig auftretenden Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs von Griechenland wurde die Flüchtlingskrise zur größten Bedrohung des Zusammenhalts der Europäischen Union seit ihrer Gründung.
Aber sie war auch eine der unnötigsten. Die Bezeichnung «Flüchtlingskrise» ist in gewisser Weise irreführend. Es ist eine Krise, aber diese wurde zum großen Teil durch unsere Reaktion auf die Flüchtlinge und weniger durch die Flüchtlinge selbst ausgelöst. Die Zahl 850.000erscheint hoch – und in Bezug auf die historischen Wanderungsbewegungen in Europa ist sie das auch. Aber diese Zahl macht nur ungefähr 0,2 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung von 500 Millionen aus – ein Zustrom, den der reichste Kontinent der Welt durchaus verkraften kann, wenn – und nur dann – sachgerecht und angemessen damit umgegangen wird. Es gibt durchaus Länder, deren soziale Infrastruktur aufgrund der Flüchtlingskrise zusammenzubrechen droht, aber die meisten dieser Länder liegen nicht in Europa. Das offenkundigste Beispiel ist der Libanon, der bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 4,5 Millionen knapp 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt.[6] Das ist einer von fünf – ein Zahlenverhältnis, das die europäischen Staatsführer wohl in große Verlegenheit bringen würde.
Bedauerlicherweise ist das nicht der Fall. Stattdessen bemühten sie sich hektisch um eine Lösung, die den Anschein erweckte, dass man die Bootskrise lösen könne, ohne irgendetwas zu tun, was sie tatsächlich besser handhabbar machen würde. Sie beendeten die groß angelegten Rettungsaktionen im südlichen Mittelmeer mit der Begründung, dass deren Existenz der Grund dafür sei, dass so viele Menschen sich über das Meer auf den Weg machten. Dann aber führten sie sie wieder ein, nachdem klar geworden war, dass die Leute dennoch kamen. Danach verständigten sie sich auf eine abwegige Militärstrategie und kündigten an, libysche Schleuser mit Kriegsschiffen anzugreifen. Auch dies wurde ein Fehlschlag.
Mit jedem ihrer verzweifelten Pläne ignorierten die Politiker die Realität der Situation – nämlich dass die Menschen einfach kommen, ob wir es wollen oder nicht. Daher wollten sie auch nicht wahrhaben, dass es keine einfache Möglichkeit gibt, den Zustrom der Migranten zu unterbinden, sondern nur Möglichkeiten, ihn besser zu verwalten und zu gestalten. Hätten die Politiker ein System zur organisierten Massenumsiedlung entwickelt und wäre dieses System schnell genug und im erforderlichen Umfang eingerichtet worden, wäre Europa vielleicht imstande gewesen, die chaotischsten Aspekte der Krise einzudämmen. Ein solches System hätte vielen Migranten Anreize geboten, kurzfristig im Nahen Osten zu bleiben und ihre Hoffnungen auf einen formellen Umsiedlungsprozess zu setzen. Dies hätte es Europa ermöglicht, sich planvoller auf ihre Ankunft vorzubereiten. Damit hätte man auch die Türkei dazu bewegen können, mehr zu tun, um die Menschen davon abzuhalten, von ihren Küsten aus nach Europa aufzubrechen – zum einen indem sie den Migranten das Recht zu arbeiten einräumte[*1] und zum anderen durch eine bessere Bewachung der Küsten. Doch während des gesamten Jahres 2015 wurde nirgendwo ein derartiges Programm entwickelt – wodurch Hunderttausende Menschen gezwungen wurden, die einzige Möglichkeit zu nutzen, die ihnen blieb,und auf eigene Faust nach Griechenland aufzubrechen. Es war eine Verkettung von lauter Katastrophen, in der es für die Flüchtlinge keinen Grund gab, zu Hause auszuharren, und für die Länder des Nahen Ostens keinen Grund, sie an der Auswanderung zu hindern, während die Europäer keine Mittel besaßen, ihnen den Weg zu versperren.
Das Chaos ereichte seinen Höhepunkt nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015. Wie sich herausstellte, waren zwei der neun Angreifer wahrscheinlich einen Monat vorher mit einer Bootsladung Flüchtlinge in Griechenland angekommen. In Panik geraten, forderten manche Kommentatoren und Politiker, die Grenzen für Flüchtlinge vollständig zu schließen, denn sie fürchteten, dass ein weiterer Zustrom den europäischen Kontinent großen Gefahren aussetzen würde. Diese Ängste waren verständlich und auch erwartbar – aber letztlich unlogisch. Zum einen war dies die Reaktion, welche die Terroristen hervorrufen wollten: der endgültige Beweis für die moralische Verkommenheit des Westens und ein wertvolles Rekrutierungsinstrument für den IS. Und wenn Europa zum anderen tatsächlich entschlossen gewesen wäre, die Zugbrücke hochzuziehen, so hatte es in der Vergangenheit gezeigt, dass es dazu schlicht nicht in der Lage war. Auch heute ist es dazu nicht fähig. Europa ist nicht Australien, ein Land, das – ob dies richtig war oder nicht – imstande war, «die Boote aufzuhalten». Australien und Indonesien liegen Hunderte Kilometer auseinander; die östlichen Küsten Europas sind nur acht bis zehn Kilometer von der Türkei entfernt.
Der Zustrom Tausender unregistrierter Menschen aus Griechenland erzeugt aus nachvollziehbaren Gründen ernstzunehmende Sicherheitsbedenken. Doch diese Bedenken und Befürchtungen hätte man aus den oben ausgeführten Gründen am besten abschwächen können, wenn man legale, geordnete Einreisemöglichkeiten für den Großteil dieser Menschen geschaffen hätte. Eine solche Maßnahme hätte den Flüchtlingsstrom über die Ägäis vermindert und es dadurch auch erleichtert, zu überwachen und zu kontrollieren, wer nach Europa einreiste. Doch niemand besaß die Weitsicht, an dergleichen zu denken. Stattdessen nutzten die Politiker die Ängste vor einer sozialen Katastrophe als Entschuldigung für ihre Untätigkeit – jene Ängste, die zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wurden.
Während all dieser politischen Auseinandersetzungen strömten weiterhin Flüchtlinge in bislang ungekannter Zahl über das Meer – und starben in bislang ungekannter Zahl. Allein um das Boot zu erreichen, mussten die meisten von ihnen eine Reise zurücklegen, die man zu Recht als eine moderne Odyssee bezeichnen kann. In einer Zeit, in der das Reisen für die meisten Menschen leicht und mühelos ist, sind die Reisen dieser Menschen durch die Sahara, den Balkan oder über das Mittelmeer, die sie zu Fuß, in den Laderäumen hölzerner Fischerboote oder unter den Bodendielen von Geländefahrzeugen unternahmen, von einer fast ebensolchen epischen Qualität wie jene der antiken Helden vom Schlage eines Äneas oder Odysseus. Ich möchte diese Verbindung nicht zu stark strapazieren, aber dennoch gibt es offenkundige Parallelen. Wie die antiken Helden fliehen auch viele der heutigen Migranten vor einem Konflikt im Nahen Osten und fahren mit Schiffen über das Ägäische Meer. Die heutigen Sirenen sind die Schleuser mit ihren leeren Versprechungen einer sicheren Überfahrt, und die gewalttätigen Grenzwächter sind die modernen Zyklopen. Drei Jahrtausende, nachdem ihre antiken Vorfahren die Gründungsmythen des europäischen Kontinents schufen, schreiben die heutigen Reisenden eine neue Erzählung, die in den kommenden Jahren auf Europa wirken wird, im Guten wie im Schlechten.
In diesem Buch geht es darum, wer diese Reisenden sind. Es geht um die Frage, warum sie kommen und wie sie dies bewerkstelligen. Es geht um die Schlepper, die ihnen auf den Weg helfen, und um die Küstenwachen, die sie am anderen Ende retten. Um die Freiwilligen, die sie mit Essen versorgen, die Hotelbetreiber, die ihnen Unterkunft geben, und die Grenzschützer, die sie draußen zu halten versuchen. Und um die Politiker, die wegschauen.
Gestützt auf Interviews und persönliche Begegnungen in 17 Ländern auf drei Kontinenten erzählt dieses Buch die Geschichte der Passage über das Mittelmeer und der Durchquerung dessen, was Helfer Libyens zweites Meer nennen, das Meer der Sahara – und dann der Wanderung weiter nach Europa. Sie wird erzählt aus den Unterschlupfen von Berber-Schleusern und sizilianischen Häfen, aus westeuropäischen Eisenbahnen und Wanderrouten auf dem Balkan. Sie ist auch eine Kritik des Umgangs Europas mit der Migrationskrise und ein Plädoyer dafür, wie man ihr besser gerecht werden könnte. Diese Krise wird uns noch viele Jahre begleiten; in meinem Buch möchte ich erzählen, was 2015 geschah, in jenem Jahr, in dem die Krise ein bislang ungekanntes Ausmaß erreichte, und was wir daraus lernen können.
In diesen Geschichten steckt auch ein Stück von mir: Zu Anfang des Jahres 2015, bevor die Migrationswelle zum beherrschenden Thema in Europa wurde, bestellte mich mein Ressortleiter in weiser Voraussicht zum ersten Migrationskorrespondenten des Guardian. Wir wussten es damals noch nicht, aber dies war die Funktion, die es mir erlaubte, die Migrationskrise in wesentlich größerer Breite und Tiefe zu verfolgen, als es den meisten anderen Journalisten möglich war. Es war ein Job, der mit einem absurden Privileg ausgestattet war. In einer denkwürdigen Woche reiste ich von der Wüste Sahara über das Mittelmeer zur ungarischen Grenze. In einer anderen Woche überquerte ich neun Staatsgrenzen, während bis zu 1300 Menschen bei dem Versuch ertranken, nur eine dieser Grenzen zu überwinden. In diesem Buch werde ich hin und wieder auch auf meine eigenen außergewöhnlichen Wanderungen eingehen, während ich den Wanderungen anderer Menschen folge.
In erster Linie aber ist Die neue Odyssee die Geschichte eines bestimmten Menschen: eines Syrers namens Haschem al-Souki. Ungefähr in jedem zweiten Kapitel geht es um Haschems Suche nach einem sicheren Hort. Seine sehr persönliche Geschichte wird der Darstellung der allgemeinen Krise gegenübergestellt, was es uns ermöglicht, zwischen der Reise eines Einzelnen und der Entwicklung des Kontinents, den er durchquert, hin und her zu springen. Warum gerade Haschem? Er ist kein Freiheitskämpfer und kein Superheld. Er ist nur ein gewöhnlicher Syrer. Aber gerade deshalb möchte ich seine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte eines Durchschnittsmenschen, in dessen Fußstapfen jeder von uns eines Tages treten könnte.
Dass er heute zitternd im Erbrochenen anderer liegt, ist nur die jüngste Entwürdigung, die Haschem auf seiner dreijährigen Odyssee zu erdulden hat. Er ist ein kräftiger, 40 Jahre alter Mann mit einem freundlichen Lächeln, der mit seinen ergrauenden Haaren älter wirkt, als er ist. Er verließ im April 2012 sein Haus in Damaskus, und von diesem Haus ist ihm nur noch der Schlüssel in seiner Hosentasche geblieben. Der Rest wurde von der syrischen Armee zerbombt.
Er denkt an seine Kinder – Osama, Mohammed und Milad, die weit weg in Ägypten leben. Er nimmt diese Reise auf sich, damit sie sie nicht unternehmen müssen. Damit seine Söhne und deren Mutter Hajam auf legale Weise wieder mit ihm vereint werden können, wenn er auf die andere Seite gelangt ist – und wenn er später Schweden erreicht.
Nachdem sein Land zerstört ist, weiß Haschem, dass auch seine Hoffnungen und Träume zerstoben sind. Aber um seine Kinder lohnt es sich zu kämpfen und zu sterben. «Ich setze mein Leben aufs Spiel für etwas Größeres, für Ziele, die größer sind als das», erzählt er mir vor seinem Aufbruch. «Wenn ich scheitere, dann scheitere ich allein. Aber indem ich all das riskiere, kann ich vielleicht für drei Kinder einen Traum wahr werden lassen: für meine Kinder – und vielleicht auch noch für meine Enkelkinder.»
Er denkt dabei vor allem an Osama, seinen Ältesten. Heute, am 15. April 2015, hat Osama Geburtstag. Und in den Morgenstunden dieses Tages hat Osamas 14. Lebensjahr damit begonnen, dass sein Vater weinte, sich für seine bevorstehende Abreise entschuldigte und ihn dann in dem Wissen verließ, dass die beiden sich vielleicht niemals wiedersehen würden.
Auf den Tag genau vor drei Jahren beginnt Haschems Reise. Wieder ist es Osamas Geburtstag. Wieder wird der Geburtstag unterbrochen. In Syrien ist der Sonntag ein Arbeitstag, der erste Arbeitstag der Woche, und Haschem kommt gegen 18 Uhr nach Hause. Er setzt sich kurz zu seinen Jungen und schaut mit ihnen fern. Seine Frau Hayam, Lehrerin und zwei Jahre jünger als ihr Ehemann, bereitet in der Küche das Essen zu. Haschem ruht sich ein wenig aus, dann holt er seinem Sohn Osama ein Stück Kuchen.
Da klopft es an der Tür. Es ist eher ein Hämmern – ein Hämmern, das für Haschem völlig unerwartet kommt.
Haschem ist kein sonderlich politischer Mensch. Er ist 37 Jahre alt und Beamter beim regionalen Wasserverband. Dort leitet er die Computerabteilung, und seine Arbeit besteht darin, jeden Monat die Wasserrechnungen für die Einwohner von Damaskus und Umgebung zu erstellen. Er konzentriert sich auf seine Arbeit und denkt sich ansonsten seinen Teil.
Doch das alles spielt jetzt keine Rolle mehr. Das Regime geht von Haus zu Haus und holt alle Männer heraus, derer es habhaft werden kann. Ob es daran liegt, dass es sich bei ihnen um Sunniten handelt, die in einem Land leben, das von den Alawiten regiert wird, einer religiösen Gruppierung, die zur schiitischen Strömung des Islam gehört, darüber kann Haschem nur spekulieren. Doch diese Überlegung ist nicht abwegig: Im syrischen Bürgerkrieg gewinnt die Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften immer stärker an Bedeutung.
Haschems Kinder beobachten ihren Vater, wie er zur Tür geht. Draußen stehen 20 Männer. Ob sie vom Militär sind, von der Polizei oder von einer für das Regime kämpfenden Miliz, weiß er nicht. Aber sie sind gekommen, um ihn zu holen, und die Hälfte der übrigen Anwohner dieser Straße.
Der Konflikt hatte weit von hier entfernt begonnen. Ende 2010 und Anfang 2011 war eine Welle des Protestes gegen die autoritären Regimes durch die arabische Welt gerollt und hatte Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain und den Jemen erfasst. Im Februar 2011 erreichten die Demonstrationen auch Syrien. Es begann mit einem Protest auf dem Markt von Damaskus, besser in Erinnerung geblieben ist aber eine wesentlich kleinere Protestaktion Mitte März. Eine Gruppe von Jungen sprühte Pro-Demokratie-Parolen an die Mauern einer Schule in Deraa im Süden des Landes. Unter der Diktatur von Baschar al-Assad, dem früheren Augenarzt, der im Jahr 2000 seinem Vater als Staatspräsident nachfolgte, wurde ein derartiger Widerspruch nicht toleriert. Die Jungen wurden verhaftet und gefoltert. Dieser Umgang mit ihnen rief größere Proteste hervor, die das Assad-Regime mit Waffengewalt niederschlug, was mehrere Todesopfer forderte. Nun bekamen die Demonstrationen in Syrien allmählich einen ähnlichen Schwung wie in den anderen arabischen Staaten, wo durch die Proteste schließlich die Abdankung von vier Staatspräsidenten erzwungen wurde. Überall in Syrien versammelten sich empörte und zunehmend furchtloser werdende Demonstranten und verlangten Assads Rücktritt. Im Laufe des Monats März wurden Dutzende Menschen getötet, als Hunderttausende im gesamten Land protestierten.
Doch durch die Repression konnte der Aufstand nicht unterdrückt werden. Im Laufe des Frühlings und des Sommers nahmen die Demonstrationen im ganzen Land zu, und schließlich kam es in mehreren besonders aufmüpfigen Städten zu einer brutalen militärischen Niederschlagung der Proteste und zu Massakern an der Bevölkerung. Erschüttert begannen daraufhin einige Soldaten aus Assads Armee zu desertieren. Ab dem Herbst führten diese Deserteure, die sich größtenteils unter dem Banner der so genannten Freien Syrischen Armee zusammenschlossen, vermehrt Guerillaangriffe auf die Armee durch, und der Aufstand nahm allmählich die Form eines Bürgerkriegs an. Anfang des Jahres 2012 kontrollierten die Aufständischen bereits einige Gebiete des Landes.
Bis zum April 2012 blieb die Stadt Haran al-Awamid, wenige Kilometer südöstlich von Damaskus, weitgehend von der Gewalt verschont. Die ruhige Stadt, errichtet um einige römische Ruinen, hat rund 15.000 Einwohner, überwiegend Verwaltungsmitarbeiter. Früher war sie von der Landwirtschaft geprägt, doch aufgrund von Dürreperioden in den vergangenen Jahren und im Zuge des Baus eines Flughafens in der Nähe der Stadt haben viele Bewohner die Landwirtschaft aufgegeben und sich im Staatsdienst verdingt. An den Wochenenden verbringen viele Familien, wie auch jene von Haschem, ihre Zeit in den örtlichen Parks und grillen Fleisch unter den Pinien. In jüngster Zeit aber haben die Spannungen zugenommen. Anhänger des Regimes haben zwei junge Männer getötet, ihre Leichen an ein Auto gebunden und durch die Stadt geschleift. Nicht alle wagten es, dagegen zu protestieren, doch die Freunde und die Familien der beiden Getöteten gingen auf die Straße.
Und nun wird Haschem in einen Kleintransporter gestoßen, und seine Kinder verfolgen die Szene vom vordersten Zimmer des Hauses aus. Das Regime nimmt Rache, und es sollte eine lange währende Rache werden. Zuerst werden Haschem und seine Nachbarn in ein geheimes Gefängnis gebracht, das tief unterhalb des Flughafens von Damaskus eingerichtet worden ist. Es wird vom mächtigen Luftwaffengeheimdienst betrieben, dessen Fangarme sich weit über die Luftfahrt und die zivile Leitung hinaus erstrecken. Kein Strafverfolger fragt nach dem Verbleib von Haschem, und weder er noch die anderen Verhafteten werden jemals vernommen. Sie werden einfach nur geschlagen und bleiben eingesperrt, bis eine genügend große Zahl von Männern aus den umliegenden Dörfern zusammengeholt worden ist. Drei Tage später werden sie weitertransportiert – zum Hauptquartier des Luftwaffengeheimdienstes in Damaskus.
Hier werden Hunderte von Männern in Zellen zusammengepfercht, die tief unter der Erde liegen. Jeden Tag werden vier oder fünf von ihnen zu den Folterräumen gebracht. Alleinstehende Männer werden durch Stromstöße an den Geschlechtsteilen gefoltert. Verheirateten Männern wie Haschem bleibt diese Demütigung manchmal erspart, stattdessen werden sie an den Handgelenken aufgehängt. Haschem verbringt zwölf Stunden in dieser Position, während sich die Stricke in seine Haut graben. Andere werden noch länger dieser Tortur unterzogen, so dass ihnen später die Hände amputiert werden müssen.
Das sind keine Ausnahmefälle. In gewisser Weise haben diese Männer sogar Glück, denn man lässt sie am Leben. Später wird bekannt werden, dass in der Zeit von 2011 bis 2013 mindestens 11.000 Personen in syrischen Kerkern wie jenem, in dem sich Haschem wiederfindet, gefoltert und umgebracht wurden. Ein Datenträger mit 55.000 Fotos der Leichen von Inhaftierten wurde von einem Fotografen, der den Tarnnamen «Caesar»[1] trug und von der Regierung beauftragt worden war, die Toten zu dokumentieren, aus Syrien herausgeschmuggelt. Diese Fotos legen Zeugnis ab von der Grausamkeit des Regimes und zeigen, dass viele Gefangene in der Haft geschlagen, aufgehängt und mit Elektroschocks gequält wurden. Einigen wurden auch die Augen herausgerissen.
Haschem entgeht einem solchen Schicksal, doch er bleibt eingesperrt; nach ungefähr drei Monaten wird er in einen Flugzeughangar verlegt. Er weiß zunächst nicht, wo er sich befindet, später erfährt er, dass es sich um den Flughafen Mazzeh handelt. Eine Militärbasis, die auch von der Familie Assad benutzt wird. Der Hangar ist ein riesiges Areal, in dem mehrere Flugzeuge Platz finden. Doch es sind so viele Gefangene hier zusammengezwängt, dass sie sich abwechselnd zum Schlafen niederlegen müssen.
Es ist unklar, wer in der Nacht und wer bei Tag schläft. Den Männern sind bereits bei ihrer Verhaftung ihre Armbanduhren abgenommen worden. Es gibt kein Tageslicht in dem widerhallenden Raum, daher lässt sich das Verstreichen der Zeit nicht messen. Monate vergehen. Vielleicht mehrere Jahreszeiten, niemand weiß es. Der Ramadan kommt und geht, doch die Gefangenen bekommen nichts davon mit. Klar ist nur, dass sie nicht mehr so oft geschlagen werden, weil die Wächter die Gewalt zu langweilen beginnt. Doch noch immer fragt keiner, wann sie wieder freigelassen werden. Sie haben gelernt, nicht danach zu fragen, aus Angst, erneut gefoltert zu werden.
Ende Oktober kommt eines Tages ein Offizier und erklärt den Männern, dass der Präsident ihre Freilassung angeordnet hat. Die Gefangenen werden in Transportern in das Zentrum von Damaskus gebracht, und dort stößt man sie auf die Straße hinaus. Wie sich herausstellt, ist es der Tag, an dem das Eid al-Adha stattfindet, ein wichtiges islamisches religiöses Fest. Die Männer steigen aus dem Wagen, schließen die Augen wegen der hellen Sonne und fragen sich, welches Syrien sie nach einem halben Jahr in der Haft wohl erwarten wird.
Als Haschem verhaftet wurde, war der Aufstand gegen das Regime erst ein Jahr alt, und die Gewalt hatte Haran al-Awamid noch weitgehend verschont. Während seiner Abwesenheit hat sich die Situation verändert. Als ihn ein Freund nach Hause fährt, bemerkt er, dass sie einen eigenartigen Umweg nehmen. Vor was wollen wir ausweichen?, fragt Haschem. Vor der Frontlinie, antwortet sein Freund. Als Haschem zu Hause ankommt, erhält er noch schlechtere Nachrichten. Zwei seiner Brüder wurden am selben Tag von einem Heckenschützen erschossen. Der zweite bei dem Versuch, den Leichnam des ersten zu bergen.
Das Rote Kreuz hat offiziell verkündet, dass der Konflikt als Bürgerkrieg einzustufen sei. Baschar al-Assad hat damit begonnen, Fassbomben einzusetzen. Assads schiitischer Verbündeter im Libanon, die Hisbollah-Miliz, hat zu seiner Unterstützung Kämpfer nach Syrien geschickt, und der Konflikt nimmt zunehmend die Züge eines Religionskrieges an. Die kurdische Minderheit des Landes hat teilweise die Kontrolle über den nördlichen Landesteil an der Grenze zur Türkei übernommen. Die Freie Syrische Armee und das Regime führen fast überall im Land Krieg gegeneinander. Für Haschem sieht die Zukunft düster aus.
Einen Monat später, in den letzten Wochen des Jahres 2012, wird die Situation in seiner Stadt unhaltbar. Haschem und Hayam schicken ihre drei Söhne weg, um sie in Sicherheit zu bringen. Zuerst schicken sie sie nach Hozroma, ein nicht weit entferntes Dorf östlich von Damaskus. Dann, als eines Nachmittags auf dem Schulweg Bomben nur wenige Meter neben den Jungen einschlagen, wird klar, dass auch Hozroma keine Sicherheit mehr bietet. Innerhalb weniger Tage ziehen sie erneut um, diesmal in ein Dorf namens al-Tal auf der anderen Seite von Damaskus.
1 – Haschem, seine Frau Hajam und die drei Söhne Milad, Mohammed und Osama
2 – Der Inhalt von Haschems Rucksack (im Uhrzeigersinn, von links oben): das Tagebuch, mit dem er seine Seereise dokumentieren wollte; syrische Ausweise sowie ein Ausdruck des Berichts von Human Rights Watch über die Zerstörung seines Heimatortes; syrischer Pass; Schwimmweste; Dokumente zur Familie; eine Packung Käse, die für die Dauer der Seereise reichen sollte; Tabletten gegen die Seekrankheit; Baseballmütze als Schutz gegen den Sonnenbrand an Deck. Nicht im Bild: der Schlüssel für sein zerstörtes Haus in Syrien.
Überall um die Familie herum bricht das Land zusammen – und auch ihr Haus. Im wörtlichen Sinn. In Haran al-Awamid will das Regime eine Pufferzone rund um den Flughafen von Damaskus schaffen. In diesem Zusammenhang wird im Februar 2013 neben Hunderten anderer auch das Wohnhaus der Familie Souki zerstört. Bis heute trägt Haschem den Hausschlüssel bei sich. Die Tür, die einstmals damit abgesperrt wurde, gibt es nicht mehr.
Nachdem ihr Haus in einen Haufen Schutt verwandelt wurde, sieht sich Haschems Familie immer weniger imstande, in Syrien ihre Existenz zu bestreiten. Sie harren noch eine Weile in al-Tal aus, dann ziehen sie im Mai nach Damaskus um. Doch noch im selben Monat treffen sie den Entschluss: Genug ist genug. Syrien kann nicht länger ihre Heimat sein. Die Rebellen geraten zunehmend unter den Einfluss von Dschihadisten, auch dank der Entscheidung von Assad, Hunderte sunnitischer Extremisten freizulassen. Assad hofft, dass diese die Opposition unterwandern und radikalisieren, damit er sie gegenüber neutralen Beobachtern als extremistisch brandmarken und dadurch die konfessionelle Dimension des Konflikts herausstellen kann – was zumindest Haschem und andere daraus schließen.[2] Im Frühjahr 2013 beginnt sich dieser vermutete Plan auszuzahlen. Die Gruppe, die sich später «Islamischer Staat» nennt, erzielt bedeutende Geländegewinne im Norden Syriens.
Zu dieser Zeit teilt sich die Familie Souki in Damaskus eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit drei weiteren vertriebenen Familien. Angesichts der Aussichtslosigkeit der Situation beantragen die Mitglieder der Familie Souki Pässe, um Syrien verlassen zu können. In kurzfristiger Sicht ist dies eine verheerende Entscheidung. Im Passamt wird Haschem vor den Augen seiner Kinder erneut verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Dort trifft er auf Kinder und alte Männer; einige von ihnen schmachten seit mehreren Monaten in den Zellen. Wie üblich, wird er geschlagen, doch in diesem Gefängnis befinden sich weniger Häftlinge und daher ist der Aufenthalt weniger traumatisierend als bei seiner ersten Inhaftierung; er kann sich zumindest zum Schlafen hinlegen. Wie sich herausstellt, ist sein zweiter Gefängnisaufenthalt auch wesentlich kürzer als der erste. Während Haschem im Gefängnis sitzt, befragen die Strafverfolger Haschems frühere Arbeitskollegen beim Wasserversorger nach seinem Hintergrund, und einer dieser Kollegen – ein Alawit – setzt sich für ihn ein. Ein paar Tage später wird er freigelassen, und mit etwas Beklemmung bemüht er sich bei der Auswanderungsbehörde abermals um einen Pass. Draußen entdeckt er einen Polizisten und nutzt die Gelegenheit. Stehe ich noch auf irgendeiner Fahndungsliste?, fragt ihn Haschem. Der Polizist hat Mitleid mit ihm und geht in das Gebäude, um in den Unterlagen nachzusehen. Einige Minuten später kehrt er zurück. Gegen Haschem liegt nichts vor. Also betritt Haschem nun selbst das Amt und stellt einen Passantrag – und zu seiner Überraschung wird dieser bewilligt.
Das ist ein fast unerklärlicher glücklicher Zufall, aber Haschem hat keine Zeit, für sein Glück zu danken. Er muss weg. Aber wohin kann die Familie gehen? Hayam und Haschem denken an Jordanien, wo bereits ein Zehntel der Bevölkerung aus syrischen Flüchtlingen besteht, aber dann erfahren sie, dass in den Flüchtlingslagern schreckliche Bedingungen herrschen und dass Syrer nicht arbeiten dürfen. Eine weitere Möglichkeit ist der Libanon, in dem zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Million syrische Flüchtlinge leben, die ein Fünftel der gesamten Bevölkerung ausmachen. Doch das Ehepaar Souki fürchtet Übergriffe der Hisbollah-Anhänger im Libanon, die Baschar al-Assad unterstützen. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit: Ägypten. Zu diesem Zeitpunkt, im Juni 2013, sind Syrer der ägyptischen Regierung noch willkommen.
Also entscheiden sie sich für Ägypten – vorausgesetzt, dass sie das erforderliche Geld auftreiben können. Sie haben kein Haus, das sie verkaufen könnten, und auch keine Ersparnisse, um den Flug zu bezahlen. Hayam verscherbelt ihren gesamten Schmuck, alles bis auf ihren Ehering, aber es reicht noch immer nicht für ein Flugticket. Eine Busfahrt nach Jordanien und eine Reise mit der Fähre nach Ägypten wären erschwinglich. Für ungefähr 11.000 syrische Pfund kommen sie in einem Salonwagen zur jordanischen Hafenstadt Akaba. Die Fähre von dort nach Ägypten kostet ungefähr 65 US-Dollar.
Es ist alles vorbereitet zur Abreise – aber eine Person muss erst noch überzeugt werden: Haschems Vater. Seine Mutter versteht, warum Haschem seine Familie in Sicherheit bringen möchte, aber sein Vater ist darüber sehr bestürzt. Wer soll sich um ihn kümmern, wenn Haschem nicht mehr da ist?
«Warum willst du weggehen und mich alleinlassen?», fragt ihn sein Vater bei einer ihrer letzten Begegnungen.
«Vater, es tut mir sehr leid», erwidert Haschem. «Aber hier ist es unerträglich geworden. Ich muss fortgehen – nicht meinetwegen, sondern wegen meiner Frau und meiner Kinder.»
Am 26. Juni 2013 begibt sich die Familie Souki gegen Mittag zum Marjeh-Platz im Zentrum von Damaskus. Dort drängen sich bereits viele Syrer, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht haben. An diesem Platz gibt es zahlreiche Touristikbetriebe, die sich bis zum Beginn des Aufstands um Urlauber kümmerten. Ihren jetzigen Kunden, die sich vor einer Reihe von Bussen aufstellen, geht es darum, einem Krieg zu entkommen.