Inhaltsverzeichnis

Alle Flüsse

fließen ins

Meer, das Meer aber

füllt sich nie

denn alle Flüsse kehren

in Flüsse zurück.

Glaubt mir.

Das ist das Geheimnis

der Gezeiten.

Das ist die geheime

Lehre der Sehnsucht.

Avot Yeshurun

Herbst

Kapitel

Jemand war an der Tür. Der Lärm in der Wohnung übertönte das zurückhaltende Zirpen, und erst als es ungeduldig, länger und aggressiver wurde, riss es mich aus meinen Gedanken.

Es war ein Samstagnachmittag Mitte November. Morgens hatte ich einige Besorgungen gemacht und jetzt saugte ich die Sofas und den Holzfußboden im Wohnzimmer zur voll aufgedrehten Nirvana-CD, während der röhrende Staubsauger sein Übriges tat.

Irgendwie flößte ausgerechnet dieses monotone weiße Rauschen mir Ruhe ein. Für einige Minuten versank ich im Vergessen und verfolgte dabei unbeirrt und gedankenlos mit dem Saugrohr den Staub auf dem Teppich und die im Gewebe festsitzenden Katzenhaare, ausschließlich konzentriert auf die rötlich blauen Farbtöne, die sich im gesträubten Gewebe des Teppichs noch vertieften.

Mit dem ersterbenden Stöhnen des Staubsaugers kam ich wieder zu mir. Im selben Augenblick versiegten die letzten Töne des Songs. Und genau in diesem Einschnitt von zwei, drei Sekunden vor dem Auftakt zum nächsten Stück, noch ganz benommen von der Stille, von der hallenden Leere in meinen

Es war dreizehn Uhr dreißig, aber das trübe Grau draußen schien schon das Herannahen des Abends anzukündigen. Durch die dick beschlagenen Scheiben, die aus dem zwölften Stock auf die Ecke 9th Street / University Place blickten, zeichneten sich im Nebel die soliden Gebäude der 5th Avenue ab, und zwischen die rauchenden Heizungsschornsteine drängte sich ein Streifen des tief hängenden, stählern glänzenden Himmels.

Wieder zerriss das heisere Schrillen die Luft und brach ab, eine oder zwei Sekunden nachdem ich die Musik leise gestellt hatte. »Eine Minute, bitte …« Im Flurspiegel warf ich einen flüchtigen Blick auf meine Erscheinung, den verrutschten Pferdeschwanz, das staubige T-Shirt, die fleckige Trainingshose, die alten Sportschuhe, und machte mit einem Schwung die Tür auf.

Auf der Schwelle standen zwei Männer in den Vierzigern. Sie trugen Anzüge und dunkle Krawatten. Der rechte mit der schwarzen Aktenmappe unter dem Arm war wohl einen Kopf größer als der linke, der sich vor mir aufbaute wie ein Cowboy, kurz bevor er die Pistole zieht, oder wie einer, der in jeder Faust einen unsichtbaren Koffer schwingt. Sie schienen schon länger vor der Tür gewartet zu haben, denn der Hochgewachsene trommelte noch nervös auf seiner Aktentasche. Das fleischige Gesicht des Cowboys entspannte sich jetzt.

»Guten Tag«, sagte ich verwundert und kaum hörbar.

»Guten

Ich muss in meiner Verwirrung gestottert und geblinzelt haben, jedenfalls meinten die beiden angesichts meiner Taubstummen-Reaktion, dass ich Schwierigkeiten mit der englischen Sprache hätte. Der Große ließ seinen Blick über meinen Kopf hinweg kurz durch die Wohnung schweifen. Der augenblicklich in mir aufsteigende Verdacht, sie könnten mich für die Putzfrau oder eine Haushaltshilfe halten, bestätigte sich, als der Schlägertyp mit erhobener Stimme und übertriebener Betonung wiederholte, als spreche er zu einem Kind: »Nur ein paar Fragen, bitte, wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Dürfen wir eintreten?«

Meine Stimme zitterte vor Verlegenheit und Ärger über die Beleidigung, wodurch mein Akzent stärker hervortrat: »Darf ich vielleicht fragen …«, ich räusperte mich, »Entschuldigung, Sir, dürfte ich vielleicht erfahren, aus welchem Grund Sie hier sind?«

In den Augen des Cowboys leuchtete Erleichterung auf. »Das werden Sie sofort erfahren, Madam, es wird nur einige

In der Küche füllte ich ein Glas mit lauwarmem Wasser und stürzte es in einem Zug hinunter. Kein Grund zur Panik. Mein Visum war gültig. Und dennoch zerrte die Tatsache, dass zwei FBI-Agenten im Wohnzimmer saßen und mich verhören wollten, ziemlich an meinen Nerven. Ich nahm zwei weitere Gläser aus dem Schrank und überlegte, wen ich anrufen sollte, Andrew oder Joy. Beide waren amerikanische Staatsbürger, alteingesessene New Yorker. Ich entschied mich für Andrew, den ich seit meinem neunzehnten Lebensjahr noch aus Israel kannte. Vielleicht wäre es besser, wenn er herkäme und meine Identität bezeugte. Von der Anstrengung zu formulieren, was ich ihm am Telefon sagen wollte, wurde ich gleich wieder durstig.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatten die beiden FBI-Agenten die Stühle, die ich zum Saubermachen umgekehrt auf den Esstisch gestellt hatte, schon heruntergehoben. Der Große zog den Mantel aus und setzte sich mit dem Rücken zur Küche. Der Cowboy stand neben dem stummen Staubsauger und sah sich im Zimmer um.

»Wohnen Sie hier allein?«

Ein Zucken fuhr durch meine Hand, sodass die Gläser auf dem Tablett klirrten. »Ja, die Wohnung gehört Freunden von mir.« Ich deutete mit dem Kopf auf das Hochzeitsbild von Dudi und Charlene. »Sie sind im Fernen Osten, für länger. Ich hüte die Wohnung und die Katzen.« Franny und Zooey hielten sich wohlweislich versteckt.

Sein Blick blieb an den Wasser- und Futterschälchen unter dem Bücherregal hängen. »Und woher kennen Sie die beiden?« Er schaute noch einmal auf das Foto. »Sind das die Mieter oder die Besitzer der Wohnung?«

»Die

Der Cowboy brummte etwas und ließ seine Blicke schweifen. »Sie sind Israelin?«

»Ja, Sir.«

Er wanderte zu den Fenstern hinüber. Ich sah ihm kurz nach, dann nutzte ich die Gelegenheit, um mich dem Tisch zu nähern.

»Und wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Etwa zwei Monate«, endlich konnte ich mich vom Tablett befreien, »meine Freunde werden irgendwann im Frühling zurückkehren.« Mir fiel ein, dass mir die Zigaretten ausgegangen waren. »Aber ich habe noch einen anderen Freund, der von hier ist«, meine Augen suchten das drahtlose Telefon, »den können Sie fragen …«

»Was soll ich ihn fragen?«

»Keine Ahnung«, brachte ich verunsichert hervor, »etwas über mich vielleicht …«

Er wandte sich zum Fenster: »Das ist im Augenblick nicht nötig.«

»Vielen Dank«, der Große überraschte mich mit seiner sonoren Radiosprecherstimme.

»Wie bitte?«

»Vielen Dank für das Wasser«, er lächelte mich über die Flasche hinweg an. Seine Zähne waren perfekt angeordnet und strahlten wie in der Zahnweiß-Werbung. Ich nickte nervös und reichte ihm meinen Pass, aufgeschlagen auf der Seite mit dem Visumseintrag. Obwohl ich wusste, dass das Visum noch fünf Monate gültig war, hatte ich das Datum in der Küche sicherheitshalber noch einmal kurz überprüft.

Er

»Benjamini«, half ich rasch mit der richtigen Aussprache nach, als ob das etwas ändern würde, »ich heiße Liat Benjamini.« Seine wachen grauen Augen, in denen ich den transparenten Umriss von Kontaktlinsen ausmachte, wanderten zwischen meinem angespannten Gesicht und dem lächelnden Konterfei auf dem Passfoto hin und her.

Er deutete auf den nächsten Stuhl: »Setzen Sie sich doch bitte!«

»Ja«, murmelte ich und zog gehorsam den Stuhl zurück, der dabei quietschend über den Boden schrammte, »ich bin Israelin.«

Das Verhör dauerte wirklich nicht länger als eine Viertelstunde. Die meisten Fragen stellte der Cowboy. Sein hochgewachsener Kollege zog einen Block mit Formularen aus seiner Aktentasche, die alle das FBI-Logo in blassem Grün aufwiesen, und setzte in blauer Schrift das Datum in die linke obere Ecke. Meinen Namen kopierte er in weit auseinanderstehenden Großbuchstaben vom Pass, danach, wesentlich kleiner und dünner, mein Geburtsdatum. Seine Handschrift war angenehm klar und genauso beeindruckend wie die Stimme, die mich jetzt bat, ihm noch einmal meine Adresse und Telefonnummer zu nennen und die Namen der Wohnungseigentümer. Er fügte noch einige mir unverständliche Großbuchstaben und Abkürzungen hinzu und zeichnete ein x und noch ein x in zwei leere Kästchen am Ende einer Reihe. Dann blätterte er weiter und schaute mich plötzlich prüfend an. Ich fuhr zurück und senkte den Blick. Er notierte zweimal »black«, offenbar

Jetzt kam der Cowboy zu uns, nahm meinen Pass und öffnete ihn vom Ende her, von links nach rechts. Etwas verwirrt blätterte er von einer Seite zur anderen, besann sich kurz und drehte ihn herum, sodass er ihn richtig in der Hand hielt.

»Ich sehe, dass Sie 1973 in Israel geboren sind«, stellte er fest, »dann sind Sie jetzt also …«

»Neunundzwanzig«, ergänzte ich.

»Verheiratet?«

»Nein.« Sogleich gruben meine Fingernägel sich nervös in meine Handflächen.

»Kinder?«

»Nein.« Ich schob die zu Fäusten geballten Hände unter meine Oberschenkel.

»Wo wohnen Sie?«

»In Israel?«

»Ja, Madam, in Israel.«

»Aha. In Tel Aviv.«

»Haben Sie einen Beruf?

Ich zog meine Hände hervor und nahm einen Schluck Wasser. »Ich mache meinen Master an der Tel Aviver Universität.«

»In welchem Fach?«

Mir fiel ein, dass er mich anfangs für die Haushaltshilfe gehalten hatte. »Ich habe den Bachelor-Abschluss in Anglistik und Philologie. Ich übersetze Forschungsarbeiten.«

»Oh, Philologie. Sie übersetzen Forschungsarbeiten …«, verwundert wiederholte er meine Worte. »Das erklärt Ihr ausgezeichnetes Englisch.«

»Danke. Ich bin hier mit einem Fulbright-Stipendium«, erklärte

Er blickte noch einmal in den Pass. »Für fast ein halbes Jahr. Wie ich sehe, läuft Ihr Visum erst im Mai 2003 aus.«

»Ja«, ich unterdrückte das Zappeln meines Fußes unter dem Tisch und sehnte mich nach einer Zigarette, »bis zum zwanzigsten Mai.«

»Sehr interessant. Sie übersetzen also vom Englischen ins Hebräische?«

Ich nickte verhalten. Ich bedauerte schon, das überhaupt erwähnt zu haben. Hätte ich nicht einfach nur sagen können, ich sei eine Studentin aus Israel, und es dabei bewenden lassen? Doch offensichtlich hatte ich das Bedürfnis verspürt, mich etwas hervorzutun und mein Ansehen zu retten. Seine Miene blieb ungerührt. Mit rosigen Fingernägeln klopfte er leicht auf die Glasplatte. »Ich nehme an, dass Hebräisch Ihre Muttersprache ist.«

»Ja. Ach … eigentlich nicht, nein … meine Eltern stammen ursprünglich aus dem Iran, aber meine Schwester und ich sind mit Hebräisch aufgewachsen«, fügte ich unbehaglich hinzu.

Das Klopfen hörte auf, stattdessen begann er leise zu summen. »Einwanderer aus dem Iran?«

»Meine Eltern sind Juden aus Teheran, sie sind Mitte der 1960er nach Israel gekommen.«

Er vergewisserte sich, dass sein Kollege diese Dinge mitschrieb, und wandte sich dann wieder an mich: »Dann sind also Ihre beiden Eltern Juden.«

Wieder nickte ich. Für den Großen, der den Kopf hob und mich fragend ansah, wiederholte ich laut und deutlich: »Richtig.«

»Das

»Nein«, sagte ich. Die Wendung, die das Gespräch nahm, verlieh mir Sicherheit. »Sie sind alle nach Israel ausgewandert und jetzt israelische Staatsbürger.«

»Sind Sie selbst in den letzten Jahren im Iran gewesen?«

»Niemals.«

Er bohrte weiter: »Wollten Sie sich das Land nicht einmal ansehen? Sagen wir, auf der Suche nach den Wurzeln?«

»Mit dem da« – ich deutete auf meinen Pass in seiner Hand – »empfiehlt es sich nicht, in den Iran zu fahren. Hineinlassen würde man mich vielleicht, aber ob ich wieder herauskäme …?«

Die Antwort schien ihm zu gefallen. Mit einem winzigen Lächeln schlug er den Pass dort auf, wo sein Zeigefinger steckte. »Sie geben also an, nie im Iran«, er betrachtete die gestempelten Seiten, »gewesen zu sein.«

»Richtig.«

»Ich sehe hier allerdings, dass Sie in den letzten Jahren auffällig oft in Ägypten waren.«

»Ja, früher fuhren wir gern in den Sinai. Aber das ist in letzter Zeit ein bisschen zu gefährlich geworden. Das heißt, gefährlich für Israelis …«

Er hatte meinen Pass bis zum Ende durchgeblättert. Als ich sah, was er aus der Plastikhülle fischte, schloss ich die Augen, denn ich wusste, was jetzt kommen würde.

»Was, bitte, ist das?«

Es war eine Ausreiseerlaubnis der israelischen Armee, die ich schon längst nicht mehr brauchte, denn ich war ja seit Jahren keine Soldatin mehr. »Das ist eine Bescheinigung der IDF, der Israeli Defense Forces, die besagt, dass ich jederzeit aus meinem Land ausreisen kann.«

Bevor

Der unerwartete Wortschwall und insbesondere das Bemühen, meine Stimme völlig ruhig klingen zu lassen und ihr sogar eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, als fände ich die ganze Begebenheit zunehmend amüsant, raubten mir die letzte Kraft.

»Und nun sagen Sie mir bitte«, bat er in einem leichten, fast freundschaftlichen Tonfall, »wie Sie Ihre Übersetzungen anfertigen«, er schloss den Pass und reichte ihn mir zurück, »mit einem Stift auf Papier oder auf einem Rechner?«

Diese Frage hatte ich nun wirklich nicht erwartet. »Auf einem Rechner.«

»Einem Laptop?«

Unglaublich, dass sich das immer noch hinzog. »Ja, ich …«

Er faltete die Hände und legte sie vor sich auf den Tisch.

»Hier, zu Hause?«

»Hier oder in der Unibibliothek …«

»Und im Café? Arbeiten Sie manchmal mit dem Laptop in einem Café?«

»Das kommt vor.«

»Haben Sie ein Stammcafé?«

»Ein Stammcafé?«, fragte ich zögernd. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Ich verstehe die Frage nicht.«

»Madam,

»Im Aquarium, ja …«

»Waren Sie vielleicht in der letzten Woche dort? Am Dienstagabend?«

»Dienstagabend, das kann gut sein.«

Resigniert schloss er die Augen: »Besten Dank, Madam.«

Kapitel

In der Tat fand ich mich noch am selben Tag im Café Aquarium ein, kaum eine Stunde nachdem die FBI-Agenten gegangen waren. Vor einigen Tagen hatte ich mit Andrew ausgemacht, dass wir uns am Samstagnachmittag dort treffen würden. Es war zwanzig nach drei gewesen, als die beiden sich endlich verabschiedet hatten, doch nachdem ich mich geduscht, angezogen und bei Andrew angerufen hatte, um ihn zu fragen, ob wir uns woanders treffen könnten, nur nicht im Aquarium, ging der Anrufbeantworter an.

»Wir sind gerade nicht zu Hause«, deklamierte der dreistimmige Familienchor fröhlich. Andrew und Sandra hatten sich im vergangenen Jahr getrennt, doch er hatte noch nicht den Mut aufgebracht, das Band zu löschen. Das schallende Lachen seiner kleinen Tochter Josie wurde von einem langen Piepton unterbrochen.

»Ich bin’«, rief ich meinem Spiegelbild im Flur zu und schlängelte mich in meinen Mantel, »bist du schon unterwegs, Andrew?«

Ich wartete noch ein bisschen auf eine Antwort. Der Staubsauger, der Schrubber, der Eimer mit den Putztüchern –

»Gut, macht nichts …«

Das Café Aquarium liegt neben der öffentlichen Bibliothek in der 6th Avenue und blickt auf die Ecke der 10th Street West. Ich näherte mich der Glastür und schlüpfte hinein. Die Glocke, die plötzlich erklang, bimmelte noch einmal, als die Tür sich hinter mir schloss. Draußen wehte ein beißend kalter Wind. Welch ein spürbarer Unterschied zwischen der stürmischen Straße und der geheizten Luft im Café, der heimeligen, fast tropischen Wärme! Ich sog das Duftgemisch von Kaffee und Hefegebäck ein, und an meine gefrorenen Ohren drangen träge Piano- und Kontrabassklänge, unterbrochen vom kochenden Zischen der Espressomaschine. Der Tisch neben dem Fenster war frei. Ich zog den Mantel aus und bestellte bei der herbeieilenden Kellnerin einen Cappuccino.

In meinen Gedanken begleiteten mich die beiden Agenten wie zwei Leibwächter und nahmen auf den freien Stühlen Platz. Ich setzte eine möglichst gleichgültige Miene auf und ließ kühle, zögernde Blicke zu den anderen Gästen wandern. Fünf saßen an dunklen Holztischen, in Gespräche versunken oder in Zeitschriften blätternd. Zwei Männer lehnten am Tresen. Eine junge Mutter hatte sich mit ihrem Baby in eine Ecke zurückgezogen. Niemand schickte mir misstrauische oder schiefe Blicke, und einer der Leute am Tresen, der seine Augen kurz von der Metro-Times hob, wandte sich mit gleichgültiger Miene unverzüglich wieder seiner Zeitung zu.

Es sah nicht so aus, als würde meine nahöstliche Erscheinung heute irgendjemandem die Ruhe rauben. Von den Agenten hatte ich erfahren, dass ein besonders vorbildlicher

Die Kellnerin brachte mir den Cappuccino mit einem kleinen Butterkeks. Die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte zehn Minuten nach vier. Die Glocke bimmelte wieder. Eine Frau kam herein, und hinter ihr noch eine. Jemand ging hinaus. Hinter der Scheibe kroch eine Kolonne gelber Taxis vorbei. Über ihnen erhob sich an der Ecke der 10th Street West das achteckige gotische Gebäude der öffentlichen Bibliothek mit den vom Dach aufragenden Türmen. Am höchsten Turm zeigte eine große Uhr mit römischen Ziffern die Zeit an: sechzehn Uhr zehn.

»Verzeihung?«

Vor meinem Tisch stand, wie aus dem Nichts hereingeschneit,

Ich nickte erwartungsvoll. Ein verrückter Gedanke schoss mir durch den Kopf: War der Bursche mit dem Lockenkopf vielleicht auch vom FBI, ein Geheimagent, der mich in eine Falle locken sollte? Noch bevor ich aufstand, reckte ich den Hals und glättete mein Haar.

»Ach, wie gut, dass ich dich gefunden habe.« Die Erleichterung stand ihm im Gesicht geschrieben. »Ich bin ein Freund von Andrew. Er entschuldigt sich vielmals, aber er kann leider nicht kommen. Das soll ich dir ausrichten …«

Wie ihn aus dem Heute heraus beschreiben, wo anfangen? Wie den ersten Eindruck jener weit zurückliegenden Augenblicke wieder herausfiltern? Wie das vollendete, aus vielen Farbschichten bestehende Porträt zurückführen auf die flüchtige blasse Bleistiftskizze, die mein Auge einfing, als es zum ersten Mal auf ihm ruhte? Wie jetzt mit ein paar Strichen das ganze Bild mit all seinen Flächen und Furchen malen? Ist denn ein klarer Blick zurück überhaupt möglich, wenn die Finger der Sehnsucht immer wieder an die Erinnerung rühren und unentwegt ihre Abdrücke hinterlassen?

»Ist mit Andrew alles okay?«

»Ja, es ist alles in Ordnung. Es war nur ein Missverständnis zwischen ihm und seiner Frau. Er musste plötzlich los und seine Tochter abholen …«

Seine Stimme klang heiser und sensibel. Er sprach ein gutes Englisch, geschmeidig und selbstbewusst, mit eindeutig arabischem Akzent.

»Ich bin Chilmi.« Das »ch« kam tief aus dem Rachen und wirkte in dieser Umgebung exotisch. Er reichte mir die Hand. Sein Händedruck war ruhig und sicher, und er hatte

»Ach, dann bist du Chilmi«, jetzt verstand ich alles, »du gibst Andrew Arabischunterricht.«

Meine Hand spürte noch die verwirrende Berührung der seinen, kalt und trocken war sie gewesen, doch der Druck der Finger vertrauenswürdig und warm. Was hatte Andrew mir über ihn erzählt? »Ein netter, begabter Typ, den musst du unbedingt mal kennenlernen.« Der Satz fiel mir wieder ein, und ich meinte gehört zu haben, Chilmi sei Schauspielschüler.

»Wir hatten die Stunde gerade abgeschlossen, als Andrews Frau anrief …«, er deutete lässig hinaus auf die Avenue. Mein Blick folgte seiner Geste, die etwas Langsames, Schwebendes hatte. »Ja, stimmt, Andrew hat mir gesagt, dass du heute zu ihm kommst.«

Die Trennung von Sandra, die große Leere, die jetzt besonders an den Wochenenden gähnte, hatte in Andrew die Sehnsucht an seine Zeit in Israel geweckt, in der er im Agami-Viertel in Jaffa in einer Dachwohnung gelebt hatte. Als Fotograf für die Nachrichtenagentur Reuters war er zwischen beiden Seiten des vorläufigen Grenzverlaufs, zwischen den Sprachen Arabisch und Hebräisch hin und her gesprungen.

Ich überlegte, was ich noch sagen könnte. Er lächelte, und unter den Bartstoppeln lugte ein Grübchen hervor: »Andrew ist ein prima Kerl, wirklich in Ordnung.« Seine Lippen entblößten den rosigen Bogen des Oberkiefers, einer seiner Vorderzähne war etwas gelblich verfärbt.

»Du bist«, ich zögerte ein wenig, bevor ich verlegen fortfuhr, »du bist aus Ramallah, nicht wahr?«

Er nickte kaum merklich: »Hebron, Ramallah …«

»Dann

 

Wo also beginnen? Wie das Antlitz eines Menschen unter so vielen Gesichtern auffinden und mit einigen abgenutzten Eigenschaftswörtern bezeichnen? Wie seine Züge so geheimnisvoll darstellen, wie sie mir damals bei unserer ersten Begegnung erschienen? Wie unter unzähligen braunen Augen die seinen suchen, die sanft, klug und offenherzig blickten, in jener Situation aber auch verwundert und ein wenig verwirrt? Wie seine Lippen nachzeichnen, die Nase, die Augenbrauen, das Kinn? Sie noch einmal prüfend betrachten, möglichst gefühllos, mit den Augen eines der Gäste am Nebentisch oder der Kellnerin, die sich jetzt näherte.

»Möchten Sie etwas bestellen?«, fragte sie ihn, der immer noch vor mir stand.

Er schaute auf den Stuhl: »Darf ich?« Seine lange Mähne wogte, ein Meer pechschwarzer Locken, die Augen waren zimtbraun, die Wimpern so lang und dicht, dass ich für einen Moment meinte, er habe seine Augen mit einem schwarzen Stift geschminkt. Er mochte etwa einen Meter siebzig groß sein, trug braue Cordhosen, einen grauen Pullover, darüber eine abgeschabte Wildlederjacke. Als wir uns die Hände reichten, hatte ich bereits bemerkt, wie groß und wohlgeformt die seinen waren und wie viel Zärtlichkeit sie ausstrahlten. Er bestellte einen Espresso und ein Glas Wasser, und als ihm die Getränke gebracht wurden, leerte er das Wasser in einem Zug, wobei ich verstohlen die Härchen

Er dankte der Kellnerin, die ihm unaufgefordert noch ein Glas Wasser brachte, und prostete mir lächelnd zu: »Cheers …« Seine Nase war groß und gewölbt, die feinen Nüstern schnupperten begehrlich am Espresso, der Adamsapfel hob und senkte sich. Weiße Flöckchen, Zeichen des Durstes, blieben, auch nachdem er das zweite Glas geleert und geräuschvoll abgestellt hatte, in den Mundwinkeln kleben. Seine Lippen hatten sich gerötet. »Wow, wie ich das gebraucht habe!«

Chilmi war übrigens Maler, kein Schauspieler. Zwei Jahre jünger als ich, siebenundzwanzig. Er hatte sein erstes Examen an der Akademie der Schönen Künste in Bagdad gemacht. Nach New York war er neunzehnhundertneunundneunzig gekommen, seit vier Jahren besaß er ein Künstlervisum. Er wohnte in einem Studio in Brooklyn, in der Bay Ridge Avenue, das er sich mit einer Mitbewohnerin namens Jenny teilte, einer Halblibanesin, die Architektur studierte. Die Studiowohnung gehörte Jennys Mutter.

»Aber Jenny lebt schon seit August bei ihrem Verlobten in Paris«, er saugte kurz beide Lippen ein, eine Bewegung, die er ab und zu wiederholte, eine Lippe auf die andere gepresst, wie um das Ende eines Satzes zu bezeichnen, »und das Zimmer steht immer noch leer.«

Ich weiß nicht, was an seinen Worten mir das Verhör in Erinnerung rief. »Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist«, fing ich plötzlich aufgeregt zu erzählen an, »gerade eben, bevor ich hierherkam«, ich presste die Lippen zusammen und leckte an ihnen, genau, wie er es vorher getan hatte.

»Ist dir das vorher nie passiert?«

»Dass mir jemand gefolgt ist?«

»Nein, dass man dich für eine Araberin gehalten hat«, er lächelte, »denn es stimmt, du siehst aus wie …«

»Wie was? Wie ein Schläfer?«

Sein Lächeln war absolut bezaubernd: »Genau.«

»Als ich in Asien herumgereist bin, hat man mich für eine Inderin gehalten, oder für eine Pakistani …«

»So ähnlich geht es mir auch oft …«

»Und hier denken die Leute die ganze Zeit, dass ich Griechin bin, Mexikanerin …«

»Was hat man zu mir nicht schon alles gesagt? Brasilianer. Kubaner. Spanier. In der Metro hat mich jemand sogar für einen Israeli gehalten und mich etwas auf Hebräisch gefragt. Sorry, Sir, hab ich zu ihm …« Chilmi schien plötzlich abgelenkt, »ich spreche nicht Hebrä…«, er begann in seiner linken Jackentasche zu wühlen, »Sekunde, bitte«, dann in seiner rechten, in der Kleingeld klimperte. »Ich muss mal kurz nachsehen …«

Er bückte sich und hob seinen offenstehenden Rucksack, ein orangefarbenes, abgegriffenes Stück, auf den Tisch. Hastig zog er einen langen Wollschal hervor, einen braunen Handschuh, ein dickes Ringbuch, eine zerdrückte Tüte aus

»Nicht so wichtig«, murmelte er, »nur Geld, aber wo hab ich die Scheine gelassen?« Er öffnete das Ringbuch mit dem Daumen und blätterte zurück. Von Bleistiftzeichnungen bedeckte Seiten öffneten sich mir kurz, runde Formen, geschwungene Wimpern, leichte Wellen, Locken, Schneckenhäuser, dazwischen viele Zeilen verschlungener arabischer Schrift. Wieder verschwand sein Arm bis zum Ellenbogen im Rucksack und rumorte weiter, plötzlich fuhr die Hand heraus und klopfte sich an die Brust, um sich dann unter den Pullover zu wühlen und aus der Hemdtasche ein Bündel Scheine zu ziehen: Fünfdollarnoten, Zwanzigdollarnoten und ein grünlich-grauer Hunderter.

Fast hätte ich ihn gebeten, mir sein Heft mit den Zeichnungen näher ansehen zu dürfen, aber er hatte schon alles in den Rucksack zurückgestopft, sammelte Metrokarten und Zettel vom Tisch und sagte, er müsse los. Die Zeiger der römischen Turmuhr standen auf fünf nach fünf. Chilmi erklärte, er müsse es noch bis zum Großhandelsladen schaffen, in dem er seine Farben kaufte. »Die schließen um sechs, und ich habe kein Blau mehr.« Er legte einen Zwanzigdollarschein auf den Tisch und rief die Kellnerin.

»Ausgerechnet Blau ist dir ausgegangen?«

Er sagte, die blauen und grünen Farbtöne gingen ihm immer als Erste aus, weil er sehr viel Wasser male. »Das kannst du in meinem Studio sehen«, fügte er hinzu, als ich meinen Blick von der herankommenden Kellnerin wieder ihm zuwandte, »viel Himmel und viel Meer.«

»Warum

Ich drehte mich zur Rückenlehne um und krauste die Stirn, als wäre mir etwas anderes eingefallen, das mich gerade jetzt in Anspruch nähme. »Vielleicht irgendwann einmal mit Andrew …«

Chilmi blieb sitzen und sah mir zu, wie ich aufstand und mich in den Mantel schlängelte. «Warum irgendwann einmal? Warum nicht gleich?«

Kapitel

Draußen war es schon dunkel, der Verkehr brauste an uns vorbei. Einige Nächte zuvor war der erste Schnee gefallen, und in der Stadt hatte sich eine vorweihnachtliche Atmosphäre ausgebreitet. Abends glühten Lichterketten an den nackten Ästen der Bäume. In rot-grün dekorierten Schaufenstern prangten Weihnachtsbäume und von Rentieren gezogene Kutschen. Gläserne Wolkenkratzer mit gleißenden Lichtreklamen auf den Dächern ragten in der Ferne auf, und es schien, als ob auch die Straßenlaternen, die Scheinwerfer der Autos und die Lichter an der Ampel an jenem Abend heller leuchteten als sonst. Lag es am Frost, der alles in Glanz tauchte, an der Abendkälte, die mit ihrer winterlichen Feuchtigkeit die Luft reinigte, oder waren es die Tränen, die mir in die Augen stiegen?

Wir bahnten uns einen Weg durch die vielen Passanten und setzten unser Gespräch fort. Zweimal geschah es, dass ich meinte, unter den Vorübergehenden ein vertrautes Gesicht zu entdecken. Plötzlich sah ich eine Frau, die meiner Zahnärztin ähnelte, etwas später meinte ich, einen Bekannten aus Tel Aviv zu erkennen. Nachdem sie aufgetaucht und verschwunden waren, sah ich mich mit ihren Augen,

Und während wir den Union Square überquerten, die Statue von George Washington passierten und auf dem Broadway nach Norden strebten, wurden meine und auch seine Schritte energischer, und mein Körper erhitzte sich. Nachdem wir an der Ampel in der 18th Street stehen bleiben mussten und dann die 20th und die 21st Street überquerten, wurde unser Gespräch freier, wir sprangen von einem Thema zum nächsten, und mich überkam eine Art spontaner Freude an der unbeschwerten Unterhaltung. Die Befangenheit, die uns vorher wie ein drückender Schatten begleitet hatte, war verflogen. Ich fühlte mich wohler und benahm mich natürlicher, und auch in Chilmi ging eine Veränderung vor, er wirkte nun freier und mutiger. Manchmal spürte ich, dass er mich am Arm berührte, um mich durch das Gedränge zu führen, manchmal, wenn wir eine Straße überquerten, ruhte seine Hand leicht auf meinem Rücken. Wie schon im Café, ließ er auch jetzt die Augen kaum von mir. Er spähte voraus und wandte sich dann gleich wieder mir zu, damit ihm ja kein Wort entging, damit er jeden Schatten auf meinem Gesicht bemerkte.

»Und dann haben wir uns getrennt«, kam ich rasch zum Ende der Geschichte, »ich habe alle meine Sachen aus seiner Wohnung geholt, und zwei Wochen später war ich schon hier.«

Chilmi

»Ja«, nicke ich, »das war eine ziemlich lange Zeit.«

Ich blickte voraus zum kleinen betonierten Platz an der Ecke der 23rd Street und spürte, dass Chilmi mich immer noch anschaute. Vor uns lagen die stark befahrene Straße, das keilförmige Flatiron-Hochhaus und der Madison-Square-Park mit seinen geschützten Bäumen.

»Wie bitte?«

Inzwischen hatte Chilmi sein Gewicht auf das andere Bein verlagert, er bückte sich wieder und band auch den Schnürsenkel am linken Schuh zu.

»Ich hab nur gesagt, dass du die Geschichte offenbar recht gut überwunden hast …«

Die Sanftheit, mit der er Dinge berührte, die sinnliche Zärtlichkeit seiner Hände. Auch jetzt fiel mein Blick auf seine Finger und verweilte auf dem dunklen Flaum. Er hob kurz den Kopf: »Oder etwa nicht?« und beugte sich gleich wieder über den Schuh. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, deklamierte ich mit einem verlegenen Grinsen und war froh, dass er mich jetzt nicht ansah, dass er mein bemüht lässiges Schulterzucken nicht bemerkte. Schuldbewusst dachte ich an Noam, was hätte er wohl gesagt, wenn er gewusst hätte, mit welch gespielter Leichtigkeit ich ihn abschüttelte, ihn und unseren Abschiedsschmerz im Sommer, wie kühl ich den Kummer wegwischte, das Bedauern, die Tränen und die sehnsüchtigen Ferngespräche nach Israel. Ob er in Tel Aviv mit seiner neuen Frau auch so locker über mich sprach und nur

»Ja, nicht wahr? Auch wir kennen diesen Spruch. Baid an el-ain, baid an el-kalb.« Er zurrte die letzte Schleife fest und stand wieder auf: »Ganz erstaunlich, wie zutreffend das ist.«

»Habt ihr in Tel Aviv gewohnt?«, fragte Chilmi im Weitergehen. Warum, weiß ich nicht, aber der arabische Akzent mit dem er es aussprach – »in Telabib?« – überspülte mich mit einer neuen kühnen Welle der Wärme, mit dem Gefühl der Nähe, das seine Gegenwart mir einflößte.

»Ja, ganz in der Nähe des Mittelmeers, in der Wohnung seiner El…«

»Ach, wirklich?«, fragte er mit erstaunt gerundeten Augen, »in der Nähe des Meeres?«

Seine Reaktion belustigte mich: »Ja, zwei Minuten vom Strand.«

»Wow! Und konntet ihr vom Fenster aus das Meer sehen?«

Wieder lachte ich. »Leider nur vom Balkon des Badezimmers aus, da sah man zwischen den Dächern ein kleines Stück.« Für einen Augenblick stand ich wieder dort und hängte Wäsche auf, und im freien Raum zwischen dem Sheraton-Hotelturm und den Nachbargebäuden blinkte das Meer hinter Wasserbehältern und Satellitentellern wie eine blaue Scherbe. Mein Herz weitete sich, und meine Augen wurden feucht, in einem plötzlichen Anfall von Sentimentalität hob ich den Kopf zum Himmel: »Ach, das Meer, das Meer«, ich atmete tief durch, »das Meer ist einzigartig!«

Auch Chilmi hob den Blick, und ich erzählte träumerisch von den herrlichen Sonnenuntergängen in den letzten Herbsttagen.

»Hey, guck mal …«, ich zeigte auf den Mond, der gerade über den Dächern aufstieg.

Chilmi ließ ein sanftes Murmeln hören, seine Brust entleerte sich mit einem Seufzer, die Schultern sanken zusammen.

»Was hast du gesagt? Ich hab dich nicht verstanden …«, fragte ich nach.

Er senkte den Blick und sah mir in die Augen. »Der Mond ist fast ganz voll …«

Fast voll?, überlegte ich einen Augenblick und fragte dann vorsichtig: »Ist es nicht eher umgekehrt?«

Seine Augenlider waren schwer geworden, der Blick nach innen gerichtet, er schien in einen Strom anderer Gedanken einzutauchen: »Wieso umgekehrt?«

Wenn der Mond zunehme, dann öffne sich die Sichel nach links, erklärte ich ihm. Der Mond über uns aber öffnete sich nach rechts. »Siehst du? Das heißt, dass er abnimmt.«

»Keine Ahnung«, geistesabwesend schickte er einen fragenden Blick zum Himmel, »bist du sicher?«

»Ja, klar. Wir haben so ein System, nach dem man es an bestimmten hebräischen Buchstabenformen erkennen kann …«

Wir erreichten das Geschäft zehn Minuten vor sechs. Chilmi ging zu den Regalen, auf denen die Ölfarben im Spektrum des Regenbogens angeordnet waren, und griff sich hier und dort eine der dicken Blechtuben. Ich folgte ihm durch den Gang und studierte die Namen auf den Etiketten.

Am

»Bist du eigentlich schon mal getaucht?«, fragte ich ihn, als wir den Laden verließen. »Mit Schnorchel oder mit Sauerstoffflasche?«

Er schüttelte den Kopf: »Nein.«

Ich gab mit den beiden Sternen an, die ich in einem Tauchkurs

»Vor Scharm-el-Scheich«, seine Stirn spannte sich, »am Roten Meer?«

»Ja«, sagte ich und drehte mich nach ihm um, denn er war etwas zurückgeblieben, »in Scharm-el-Scheich, in Dahab, in Nuweiba …«

Er zog die Lucky-Strike-Packung hervor, kam mit einem großen Schritt an meine Seite zurück und wies auf die zerdrückte Zigarette, die er aus dem Päckchen hervorgeschüttelt hatte: »Möchtest du?«

Ich nickte und zog sie heraus, »danke!«

Das Feuerzeug in seiner Hand klickte ein- oder zweimal, bis es ein winziges Flämmchen hervorbrachte, das jeden Augenblick zu erlöschen drohte. »Komm«, er schützte das Flämmchen mit seiner Hand, »komm schnell.« Sein Kopf beugte sich zu mir, als wollten wir Geheimnisse austauschen. Das Flämmchen erlosch, nachdem es die Zigarette kurz berührt hatte. Er kam noch etwas näher und meinte: »Das ist der Wind …«

Ich beschützte das Feuerzeug nun mit einer Hand von der anderen Seite und sagte: »Ja, es ist windig …«

Mein Gesicht war jetzt ernst und angespannt. Die Spitze einer seiner wippenden Locken schien für eine Sekunde meine Stirn zu kitzeln, sein warmer Atem, leichter als der Wind, meine Wange zu streifen. Wenn er mich jetzt so von oben musterte, er war ja einen halben Kopf größer, würde er dann an meiner Schläfe meine Herzschläge zählen können?

Unterdessen rötete sich die Glut und entzündete sich zischend.

»Na bitte!«, sein Blick folgte dem sich auflösenden Rauch, dann zerdrückte er die leere Schachtel in seiner Faust und warf sie gezielt in einen Abfallbehälter hinter uns.

»Aber Chilmi«, das leere Feuerzeug blitzte im Flug kurz auf, als es den Weg der Schachtel nahm.

»Was denn?«

»Das war deine letzte!«

»Na und?« Mit einer flinken eleganten Scherenbewegung seiner Finger entwendete er mir die Zigarette und meinte: »Wir können sie ja teilen.«

Er nahm zwei zusammenhängende Züge, der erste tief saugend, der zweite flüchtig. »Beseder?« Er kannte also das hebräische Wort für ›in Ordnung‹, und balagan für ›Unordnung‹ kannte er ebenfalls. Irgendwann unterwegs deklamierte er zu meinem Entzücken noch: »Ten li et sä«, gib mir das, »Boker tov«, guten Morgen, »Ma schlomech?«, wie geht es dir?

Da ich ihm nicht geantwortet hatte, fragte er noch einmal: »Ist das in Ordnung?« und verwirrte mich nur noch mehr. Ich wusste nicht genau, was er meinte, und schaute ihm zögernd in die Augen. Jetzt waren unsere Blicke so ineinander verfangen wie unsere Finger, zwischen denen die Zigarette aufragte und dem Wind graue Rauchkringel anvertraute.

»Natürlich!« Ich fasste mich und zog meine Hand weg, »sie gehört dir.«

»Aber jetzt gehört sie auch dir. Hier, nimm …«

»Also rauchen wir sie gemeinsam …«

»Ja, gemeinsam …«

 

Von

»Im Ernst, du musst es mal probieren«, sagte ich, » bei der ersten sich bietenden Gelegenheit.«

»Was, tauchen?« Er lachte erstaunt.

»Ja«, ich legte die rechte Hand aufs Herz, »das ist einfach wunderbar.«

Er zog die Augenbrauen hoch und krauste die Stirn: »Ich?« Dann legte er ebenfalls die rechte Hand aufs Herz: »Es gibt drei Dinge, die ich nicht kann …«

»Bravo, nur drei …?«

»Drei Dinge, die ein Mann können muss …«

»Muss?«

»Ja. Ein Mann muss Autofahren können, und ich kann es nicht, ich hab noch nie am Steuer gesessen.«

»Im Ernst? Also das wäre das Erste«, ich spreizte einen Daumen zum Mitzählen.

»Zweitens kann ich nicht mit einem Gewehr schießen …«

Ich richtete den Zeigefinger auf und formte so ganz unwillkürlich mit der Hand eine Art Kinderpistole.

»Und drittens kann ich nicht schwimmen.«

Er beobachtete, wie meine Züge in sich zusammenfielen.

»Ich

»Ich weiß, aber …«

»Später sind wir nach Ramallah gezogen. Und auch dort …«

»Ja, aber im Gazastreifen«, das kam aus mir heraus wie ein unangenehmes, zu hohes Piepsen, »da habt ihr doch eine lange Küste.«

»Das Meer in Gaza …«, er schüttelte müde den Kopf und begann die lange Liste der Hindernisse aufzuzählen, die die israelische Armee den Arabern in den Weg legte, wenn sie aus dem Westjordanland in den Gazastreifen fahren wollten. Die Kontrollpunkte, die Genehmigungen, monatelange Wartezeiten.

»Seit meiner Kindheit«, hob er an und schien es selbst kaum glauben zu können, »bin ich erst dreimal am Meer gewesen, das heißt, dreimal im ganzen Leben.«

Nach einigen Schritten bemerkte er, dass ich stehen geblieben war. All mein fröhliches Geplapper von vorhin, mit dem ich mich selbst in Begeisterung geredet hatte, »Chilmi, ich …«

»Nun komm schon«, er streckte mir die Hand entgegen, »deswegen werden wir dich nicht ins Meer werfen, komm …«

Wir gingen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das hohle, doppelte Echo unserer Schritte auf dem Pflaster hallte in meinen Ohren.

»Weißt du, eines Tages«, fuhr er gutmütig fort, »wird das Meer uns allen gehören, und wir werden dort gemeinsam schwimmen.«

»Gemeinsam?«

»Ja,

»Gemeinsam, wie meinst du das? Wo denn?«

»Moment mal, meine Schlüssel. Ich finde meine Schlüssel nicht …«

Kapitel

Wieder wurden Schal und Federtasche aus dem Rucksack hervorgezogen, diesmal fahrig und nervös. Die braunen Handschuhe, das dicke Ringbuch, die Subwaykarte, der Taschenschirm – alles polterte auf die Motorhaube eines am Straßenrand parkenden Autos.

Chilmi schüttelte ungläubig den Kopf und stampfte mit dem Fuß auf. Er riss sich den Mantel vom Leib und klopfte ihn, das Gesicht grimmig verzogen, einige Male ab wie vorher den leeren Rucksack. Mein Blick folgte dem Klimpern einiger Münzen, und ich bückte mich, um zwei über den Bürgersteig rollende Vierteldollars und ein paar Cents aufzuheben. Passanten schauten sich über die Schulter nach uns um und setzten ihren Weg unbeirrt fort. Der Wind blätterte das Ringbuch auf. Chilmi fischte verzweifelt in seinen Hosentaschen und biss sich auf die Unterlippe.

»Hör mal kurz auf damit«, ich sah ihn aufmunternd an und legte eine Hand behutsam auf seinen Arm. »Wo hast du deinen Schlüsselbund zum letzten Mal gesehen? Vielleicht an der Kasse im Farbengeschäft?«

»Nein«, sagte er mit geschlossenen Lidern und unterdrückte