Das Unglück anderer Leute

Inhaltsverzeichnis

– Johann Wolfgang von Goethe

Bokonon lehrt uns, dass es falsch ist, nicht jeden genau gleich zu lieben.

– Kurt Vonnegut

Die Hölle, das sind die anderen.

– Jean-Paul Sartre

»Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie«, sagte ich. Nicht voller Wut. Voller Wahrheit. Wut hatte ich hinter mir gelassen. Meistens zumindest. Nun sprach ich nur noch aus, was sowieso alle dachten. Klar und ruhig, laut und deutlich, ohne Wenn, ohne Aber: Ich hasste meine Mutter.

Wenn ich an meine Mutter dachte, sah ich rot. Was nicht nur an der penetranten Feuerwehrfarbe von Mamas viel zu enger Garderobe lag. Von den Schuhen bis zum Hut, der auf ihrem weißblonden Kurzhaarschnitt saß und sie wie einen kurvigen Mafioso aussehen ließ, trug Mama seit Jahren fast ausschließlich Rot. Dieses unerträgliche Signalrot, das wie das Rot eines Stoppschilds zu sagen schien: »Guck mich an! Ich bin wichtig!«, war die sichtbarste Manifestation all dessen, was ich an meiner Mutter hasste. Mamas Aussehen war wie ein Autounfall. Man wollte nicht hingucken, aber man konnte auch nicht weggucken. Es war, als wollte Mama nicht nur alle Menschen ihrem Willen unterwerfen, sondern auch alle Augen zwingen, sich immer nur auf sie zu richten.

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie das schon wieder macht. Hast du es ihr nicht erklärt?«, fragte meine Oma (mütterlicherseits) vom Sitz hinter mir und lehnte ihre kurzen Locken so weit in den Gang, dass die Stewardessen Slalom laufen mussten.

»Natürlich hab ich’s ihr erklärt. Mehrmals. Aber das ist

»Ja, weil sie mich immer ärgern will!«, fügte Oma kopfschüttelnd hinzu.

Auch wenn wir uns uneins waren, ob Mama nun ihre Tochter oder ihre Mutter ärgern wollte, so waren wir uns doch einig, dass das Ärgern an sich eines ihrer Grundbedürfnisse war. Mama wollte ärgern. Immer. Und die gemeinsame Erkenntnis dieser Wahrheit brachte mich nun doch leicht in Rage. Ich drehte mich um, sodass ich fast auf meinem Sitz kniete und flüster-schrie zu Oma:

»Da fährt ein Bus, direkt vom Airport bis zu meiner Haustür: Heathrow–Oxford. Der braucht genau fünfzig Minuten. Der ist praktisch das einzige Verkehrsmittel, das – Maggie Thatcher sei Dank – in diesem beschissenen Land überhaupt noch funktioniert. Und Mama weiß das. Weil ich seit Jahren immer nach Heathrow fliege, um diesen Bus zu nehmen. Der ist so zuverlässig, der könnte fast deutsch sein.«

Der Alt-68er in Jeans und Öko-Latschen auf dem Fensterplatz drehte sich schockiert zu mir um.

»Keine Angst. Ich darf so was sagen. Ich bin jüdisch«, sagte ich routiniert. Er wandte sich sichtlich beruhigt wieder dem Flugzeugfenster zu. Funktioniert immer, dachte ich und textete meine Oma weiter mit Tiraden über Mama zu.

»Und trotzdem, Madame will abgeholt werden. Auch wenn sie weiß, dass wir über die M25 müssen und die halbe Nacht im Stau stehen. Verstehst du, die könnte bei unserer Ankunft schon längst im Hotel sitzen, Tee trinken

»Aber es kann doch nicht sein, dass drei erwachsene Menschen mitten in der Nacht im Linksverkehr durch England fahren müssen, nur weil sie grundlos vom Flughafen abgeholt werden will«, sagte meine Oma mit ernst scheinendem Unverständnis. Ich war nicht ganz sicher, ob sie wirklich nicht verstand oder sich lediglich über meine Wut freute und wollte, dass ich weiter einheizte.

»Oma, du kennst sie. Der Flughafen ist ihr scheißegal. Es geht ihr doch genau darum, dass sie drei erwachsene Menschen mitten in der Nacht durch ein Land kommandiert, welches nie das Glück genossen hat, von Hitler ein paar Autobahnen gebaut bekommen zu haben.«

(Oma schreckte kurz zusammen, als jüdische Exilanten-Tochter mit stark ausgedünnten Familienfeiern mochte sie es nicht so, wenn ich mit dem H-Wort herumwarf.)

»Es geht Mama doch genau darum, ihre Macht zu beweisen. Nur weil ich hier seit Jahren studiere und dieses Land mit all seinen Macken genau kenne, heißt das noch lange nicht, dass ich etwa irgendetwas besser wissen könnte als Mama. Sie macht es doch in Wahrheit, um zu zeigen, dass ihr Wille stärker ist als meine rationalen Argumente. Sie macht das, weil sie nur so beweisen kann, dass sie die Matriarchin und wir ihre Marionetten sind. Und weil sie nicht versteht, dass andere Menschen wirklich existieren. Dass du wirklich erschöpft vom Flug bist. Dass ich wirklich aufgeregt bin, weil ich morgen meinen Master verliehen bekomme. Dass Papa wirklich überarbeitet und auch noch Nichtraucher ist und einfach nur ins Bett will. Sie macht das, weil sie die Macht hat und ihre größte Lebensfreude darin liegt, sie uns zu beweisen.«

In diesem Moment meiner größten Erregung ergriff

»Entschuldigen Sie bitte«, raunte die selbstgebräunte Stewardess in für Discount-Flieger und Engländerinnen überraschend gutem Deutsch.

»Ist gut, ich bin leise«, antwortete ich und tat so, als hätte ich vor, mich wieder nach vorne zu drehen und die Unterhaltung abzubrechen.

»Es ist, die anderen Reisegäste wollen ruhen«, sagte sie lächelnd und ließ das Lippenstiftrot ihrer Schneidezähne aufblitzen.

»Natürlich. Entschuldigung«, sagte ich, geübt im Befrieden von Engländerinnen. Doch zu spät. Oma hatte bereits den Arm der Stewardess und ihre Chance ergriffen.

»Ja, wissen Sie, ich will auch ruhen, aber ich muss noch durch England fahren und Taxi spielen. Vor 100 Jahren hätte man dafür noch eine Sklavin gehabt, jetzt gibt’s eine Großmutter. Das ist doch nicht normal. Würden Sie eine neunundsiebzig Jahre alte Frau so behandeln?«

Die Stewardess fragte sich offensichtlich panisch, wie sie die kleine, alte Furie auf Platz 22C wohl dazu bringen könnte, ihren Arm wieder loszulassen. Ohne Gesichtsverlust, versteht sich. Sie wollte gerade etwas sagen, da erschallte vom Sitz neben mir ein tiefempfundener, ohrenbetäubender Schnarcher. Oma erschrak leicht, sodass sich ihr stahlharter Griff für einen Moment lockerte. Die Stewardess ließ meinen Arm los und riss sich frei. In der für ihre Profession angemessenen Höchstgeschwindigkeit stöckelte sie davon. Eine Naht im unteren Drittel ihres schwarzen Bleistiftrocks öffnete sich mit jedem Schritt und ließ das leuchtend orange Futter hervorblitzen.

Ich guckte dem wackelnden Hinterteil der Stewardess und dem orange-schwarzen Spiel ihres Rockes hinterher und spielte mit dem Gedanken, mich tatsächlich wieder

»Sie ist einfach unerzogen«, sagte Oma, als wäre unsere Konversation nie unterbrochen worden.

»Und wessen Schuld könnte das wohl sein?«, fragte ich, grinsend.

Ja, schon, Oma und ich waren gerade auf derselben Seite. Und ich liebte nichts mehr, als mich über meine Mutter aufzuregen, unter der ich ja immerhin schon seit fünfundzwanzig Jahren litt. Aber wenn Oma etwas so Dummes tat wie sich über die schlechte Erziehung ihres einzigen, alleinerzogenen Kindes aufzuregen, hatte sie einen kleinen verbalen Schlag auf die Fingerspitzen verdient.

»Natürlich, wenn du sagen willst, dass all ihr Meschuggesein allein deine Schuld ist, dann ist sie wohl die Erste, die dir recht gibt. Und ehrlich gesagt, vielleicht kommen ihre ganzen Machtkämpfe ja wirklich daher, dass sie eben eine übermächtige Mutter hatte. Niemand muss sich so sehr als Matriarchin beweisen wie das Kind der Matriarchin!«, sagte ich.

»Quatsch!«, sagte Oma, genauso wie meine Mutter auch immer »Quatsch« sagte, wenn sie ihrem Gesprächspartner auf subtile Weise vermitteln wollte, dass sie nicht einmal hören musste, was er sagen wollte, um es als völligen Blödsinn zu enttarnen. Es war komisch, dass Oma das

»Das ist alles Ralfs Schuld. Der hat sie so verhunzt. Der isst ja auch mit den Fingern«, sagte Oma.

Zumindest glaube ich, dass sie das sagte, weil sie das immer sagte. Ralf war der Vater meines kleinen Bruders, Elijah. Er und Mama waren ein Paar gewesen, nachdem Papa ausgezogen war. Oma hatte Ralf schon nicht leiden können, als er noch mit Mama zusammen war. Ihre Abneigung hatte sie auch in der Dekade seit der Trennung nicht überwunden. So musste Ralf heute noch immer dann herhalten, wenn es darum ging, Mamas Marotten zu erklären.

Ihre eigentlichen Worte konnte ich nur teilweise hören, weil sie vom Staccato-Schnarchen neben mir überdeckt wurden. Dieses Schnarchen, gespickt mit Schmatzgeräuschen, hörte erst auf, als sich der Urschnarchaffe neben mir in meinen Vater zurückverwandelte. Er blinzelte und guckte mich mit prallen Tränensäcken an, als wäre er gerade aus dem tiefsten Dornröschenschlaf aufgewacht.

»Kinder, sie will einfach mit uns zusammen sein …«, säuselte er.

»Ja, weil sie weiß, dass ich sie bei meiner Abschlussfeier nicht dabeihaben will. Und du gehst auch noch auf sie ein!«, antwortete ich energisch.

Meine Oma posaunte ebenso nachdrücklich, dass das alles Ralfs schlechter Einfluss sei, weil der immer »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« gesagt hatte und meine Mutter jetzt davon überzeugt war, dass es das Wichtigste sei,

Oma sagte nie »Ich liebe dich«. Sie kochte, putzte und belehrte. Deswegen konnte man auch nur erkennen, dass sie einen liebte, wenn man im Nahbereich war und so von ihrer Kochkunst und frisch gewaschener Wäsche profitieren konnte. Und auch nur dann, wenn man die mit jedem Arbeitsschritt einhergehenden Beschimpfungen ausblendete und sich stattdessen aufs Essen konzentrierte. Leider wohnte Oma in Berlin, während Mama in einem Industriepalast im Frankfurter Ostend logierte und ich in Oxford lebte. Und so war der Einzige, der in den Genuss von Omas Liebe kam, mein Vater, weil er auch in Berlin wohnte.

Und dann war da noch Thao. Ein vietnamesischstämmiger Schüler, den Oma seit vielen Jahren als ehrenamtliche Leihgroßmutter betreute. Will heißen: sie bekochte ihn und malträtierte ihn mit ihren Leistungsansprüchen.

Im Prinzip hatte Oma recht, was Mamas bedeutungsloses »Ich liebe dich!« anging. Aber die Sache mit Ralf war natürlich Blödsinn. Meine Mutter und Ralf hatten sich vor über zehn Jahren getrennt, und Mama wurde nur immer wahnsinniger. Wobei – vielleicht nicht so wahnsinnig wie Ralf, der sich irgendwann schlagartig vom jüdischen Atheisten zum jüdisch-orthodoxen Vollbartfanatiker gemausert hatte.

»Hey Thene«, sagte Papa und guckte mich schläfrig an, »ich hab zugesagt, dass wir sie abholen kommen, weil man mit deiner Mutter nicht diskutieren kann! Aber es ist doch nicht so schlimm. Heathrow liegt wirklich auf dem Weg, wenn man nach Oxford fährt. Das ist ein minimaler Umweg.«

»Georg, das ist nicht der Punkt.«

(Wenn er mich aufregte, nannte ich meinen Vater immer Georg. Wenn ich etwas wollte, nannte ich ihn Papa.)

»Oma, das ist linguistisch für ›sie untergräbt meine Fähigkeit, mich willensfrei zu verhalten‹. Man unterscheidet in der Höflichkeitstheorie zwischen positivem Gesicht und negativem Gesicht. Positives Gesicht ist, wenn man sich gut findet und gut fühlt. Negatives Gesicht ist, wenn man sich frei verhalten kann. Wenn jemand zum Beispiel sagt ›Du bist scheiße‹, dann greift er das positive Gesicht an, also die Fähigkeit, sich gut zu fühlen. Aber wenn man sagt ›Tu das nicht!‹ oder ›Du musst dies tun!‹, dann greift man das negative Gesicht an, also die Freiheit zu tun, was man möchte.«

Oma guckte mich immer noch mit großen Fragezeichen in den Augen an. Ich war mir selber nicht mehr so sicher, ob ich das richtig erklärt oder wie so oft die Bedeutungen umgedreht hatte.

Die Verwechslung zweier Ausdrücke in einem Konzeptpaar nennt sich Ranschburg’sche Hemmung. Brutto und Netto, konvex und konkav, »das« und »dass«. All diese Paare, die man heimlich verwechselt und dann so tun muss, als hätte der andere einen falsch verstanden, um weiter ernst genommen zu werden. Gerade vor Oma, die mich erst respektierte, seit ich in Oxford studierte, konnte ich mir solche Schwächen nicht eingestehen. Also ganz schnell weg vom Akademischen. Ich wechselte die Taktik.

»Also: sie zwingt mich. Sie will mich immer zwingen.«

Meine Erklärung wurde mit Nicken und einem »Weil sie so ist!« von meiner Großmutter kommentiert. Nur mein Vater musste sich natürlich auf Mamas Seite schlagen. Ich hasste es, wenn er das tat.

Aber ich wusste, warum. Denn, egal wie scheiße meine

Und jetzt hatte Papa nichts Besseres zu tun, als mir zu

O.k., nein, offenbar nicht; kontrafaktische Fragen führen doch zu nichts, dachte ich. Ich schloss das Fotoalbum mit den Kindheitserinnerungen in meinem Kopf seltsam wohlwollend.

Papa rieb sich die Augen und hievte seinen neugewonnenen Bauch in Richtung meiner Großmutter. Er war seit nunmehr einem Jahr Nichtraucher und hatte sich als ehemaliger Hänfling noch nicht an seine neue Körpermitte und die damit verbundenen Sitzschwierigkeiten in Billigflugzeugen gewöhnt.

Ächzend drehte er sich dem Gesprächskreis aus mir und meiner Oma, die stehend gerade über die Lehne meines Sitzes gucken konnte, wieder zu und erklärte seiner Tochter und Beinahe-Schwiegermutter deren nächste Verwandte.

»Mama will einfach nur geliebt werden. Sie will wissen, sie will bewiesen bekommen, dass sie geliebt wird. Und wenn sie uns alle bitten muss, etwas Dämliches für sie zu tun, nur um daraus, dass wir es tatsächlich tun, zu schließen, dass wir sie bedingungslos lieben, dann bittet sie uns halt darum. Und wenn sie uns auf dem Weg zur Einsicht helfen muss …«

Papa hielt kurz inne und guckte gespielt unschuldig mit vollem Einsatz der ihm eigenen Theatralik in die Runde.

»Manche mögen jetzt denken, es handele sich bei dieser Hilfe um Erpressung. Aber es ist eigentlich nur eine kleine Hilfe, damit wir uns für sie entscheiden. Also machen wir das. Das ist ein Liebesbeweis, und es ist doch klar, dass sie uns lieber alle zehn Finger einzeln brechen würde, als diesen Liebesbeweis nicht zu bekommen.«

»Ich bin Sohn des ersten Sekretärs der Kreisleitung Angermünde, und auch wenn die Parteilinie nicht immer ganz nachzuvollziehen ist, packen wir jetzt alle gemeinsam an und dann wird das eine ganz dufte Sause.«

Als würde er gleich »Bau auf, bau auf« singen und Baracken in Tschernobyl errichten. Das hatte er ein paar Jahre vor meiner Zeugung, also kurz nach dem Super-GAU, übrigens tatsächlich getan und ich bin sicher, er trug dabei das gleiche fatalistisch-motivierende Arbeiterlächeln. Doch meine Oma Patzi, die der Partei auch schon recht gegeben hatte, als mein Vater noch ein Planungspunkt im roten Buch des ersten Sekretärs gewesen war, ließ sich nicht beeindrucken.

»Aber das ist doch Quatsch«, sagte sie und würdigte seine Analyse der Psyche meiner Mutter mit keinem Gedanken. »Wegen so einem kindischen Scheiß …«

(Ja, meine Oma sagte »Scheiß« und oft auch »Arschloch«, aber das nur zu Kindern und Schwächeren.)

»… lässt man sich doch nicht vom Flughafen abholen!«

»Ja, aber deswegen will sie ja auch nicht vom Flughafen abgeholt werden, sondern vom Autobahnzubringer«, triumphierte mein Vater, als hätte er mit diesem Entgegenkommen aufseiten meiner Mutter die Wahrheit seiner Theorie ein für alle Mal bewiesen.

»Vom Autobahnzubringer? Das ist nicht ihr Ernst!«, rief meine Oma empört, während ich »Nicht schon wieder auf der Autobahn!« schrie und meine Stirn in der Hand vergrub.

Doch bevor Oma und ich uns in Gezeter überbieten konnten, erkannte meine Nemesis, die orange-gebräunte Stewardess, die Gefahr. Sie bat uns, uns hinzusetzen und anzuschnallen, da wir uns auf dem Landeanflug befänden.

Jetzt saß ich, im Kopf zumindest, mitten im Odenwald bei Heidelberg und konzentrierte mich auf das Rauschen des Baches, das Brummen der Hummeln und meine eigene ruhige Atmung. Die Autobahn – schon wieder. Den Vorschlag, von der Autobahn abgeholt zu werden, als Entgegenkommen meiner Mutter zu interpretieren, verdeutlichte mir einmal wieder, dass mein Vater und meine Mutter, zumindest in der Ausprägung ihres Wahnsinns, immer noch und für alle Zeit, seelenverwandt waren. Übergaben auf der Autobahn waren der neue Wahn meiner Mutter und nur jemand wie mein Vater ging jemals freiwillig auf so einen riskanten Mist ein.

Ich glaube, die Idee mit der Autobahn war Mama das erste Mal vor einigen Wochen gekommen, auf der Fahrt von Frankfurt nach Heidelberg. Ich hatte mich darauf eingelassen, sie zu treffen. Jugendlicher Leichtsinn. Dabei hätte ich es wirklich besser wissen müssen. Aber eigentlich fing die Sache noch anders an:

Mama wollte mich in Heidelberg zum Essen einladen. Wenn ich nicht in Oxford bin, lebe ich in Heidelberg, in einer Einzimmerwohnung mit meinem Freund, Paul, einem semiprofessionellen Pfannkuchenbräter und einem Hartz-IV-Fernseher.

Der Sommer in Heidelberg hatte mich glücklich und weich gemacht. Nichts ist so schön wie der Sommer in Heidelberg, nicht mal Pfannkuchen essen und Fernsehen. Außerdem hatten Paul und ich angefangen, regelmäßig in den Wald zu fahren, immer am Neckar entlang, durch Schlierbach, vorbei an Ziegelhausen. Richtung Dilsberg, aber nicht auf den Dilsberg rauf, sondern immer weiter geradeaus, als würde man zum Kloster Eberbach fahren, bis man zu einer winzigen Fähre kommt. Auf die Fähre passen gerade mal vier Autos. Sie wird mit einem Drahtseil am Abtreiben gehindert und von einem braungebrannten Mann Anfang fünfzig geführt. Man könnte wahrscheinlich auch eine der Brücken nehmen, aber die Fährfahrt ist wichtig.

Wenn die Fahrt vorbei ist, zahlt Paul den Fährmeister aus und gibt ein gutes Trinkgeld. Weil er immer gutes Trinkgeld gibt. Und, ich glaube, weil er honoriert, dass der Fährmeister seine Berufung gefunden hat, mit der er ganz im Reinen ist. Manchmal frage ich mich, was der Fährmeister im Winter macht. Braucht es ohne wanderwütige Touristen die Fähre noch? Macht der Fährmeister etwas anderes oder dasselbe, nur mit bedecktem Oberkörper und langer Hose? Beides irgendwie traurig.

Wir sind keine Wanderwütigen. Nach der Neckarüberquerung fahren wir in den Wald hinein, bis wir zu einer kleinen Ausbuchtung kommen. Die Bucht neben der Straße ist genau so groß, dass unser alter BMW reinpasst und wir daneben Klapptisch und Stühle aufstellen können. Hier sitzen wir dann, den ganzen Tag, reden, denken, schreiben, genießen das Akademikerdasein und essen mitgebrachten Gundel-Kuchen. Gundel ist die beste Bäckerei von Heidelberg und somit die beste der Welt. Im Sommer backen sie dort Kirschjockel, der so göttlich feucht und kirschig ist, dass er Ambrosia-Hungerstreiks auf dem Olymp auslöst.

Von der Bucht, in der wir sitzen, gehen zwei Straßen ab, auf der nur Nutzfahrzeuge fahren dürfen. Die eine,

Den oberen Weg bin ich noch nicht hochgelaufen. Er scheint auf den Berg zu führen. Von meinem Platz am Klapptisch guckt man auf diesen Weg, allerdings beginnt er mit einer Kurve, sodass man nicht viel sehen kann, außer dem Straßenschild: »Schlechter Weg«. Das ist keine Metapher. Der Weg heißt wirklich so. Das wird auf einem verwitterten Holzschild in großen Lettern verkündet. Von meinem Sitz aus wirkt der Weg nicht schlecht. Aber was weiß ich, ich wandere ja nicht. Ich bin kein Naturmensch, war ich nie. Aber der Wald um Heidelberg, gerade wenn man nicht wandern muss, sondern sich einfach mit Kaffee und Kirschjockel mitten hineinsetzt, der macht Sachen mit einem sonst vernunftbegabten Kopf. Man kann nicht auf Dauer unglücklich sein im Odenwald bei Heidelberg.

Heidelberg hatte mich weich gemacht und so sagte ich zu, als meine Mutter mich fragte, ob ich sie nicht nächste Woche in Heidelberg zum Essen treffen könnte. Die Frage, wann ich denn Zeit habe, beantwortete ich mit einem äußerst großzügigen »eigentlich immer, außer Sonntag Abend«. Sonntag Abend war ich mit Paul zum Pfannkuchenessen verabredet.

»Sag einfach, wie es dir am besten passt«, fügte ich hinzu.

Montag könne sie nicht, erklärte mir Mama, weil sie da einen Termin in Trixies Kindergarten hat.

Trixie ist meine kleine Schwester. Mütterlicherseits. Trixie ist fünf und Mama geht auf die fünfzig zu.

»Toll, wa? Ich mach mir meine eigenen Enkelkinder. Dann musst du nicht ran«, sagt Mama immer.

Dienstag musste Mama auf Recherche. Mama hat einen Blog, mit dem sie die Welt rettet. Oder zumindest denkt sie, dass sie die Welt rettet, und redet es sich damit schön, dass sie ihr Geld ausgerechnet mit Werbung verdient. Als wäre es in Ordnung, Frauen einzureden, dass sie nur begehrenswert sind, wenn sie aussehen wie aalglatte Kleinkinder, und Männern einzureden, sie seien nur Männer, wenn sie im neuesten Sportwagen CO2 in die Atmosphäre pumpten, solange man gleichzeitig knapp zweitausend Auserwählten im Internet erklärt, wie sexistisch und umweltzerstörend der globale Kapitalismus ist.

Also fragte ich, wie es denn mit Mittwoch aussah, doch da war Mama in der Agentur verabredet und konnte somit unmöglich nach Heidelberg kommen. Donnerstag war ganz schlecht, weil sie sich da mit Lothar treffen musste, um über Trixie zu reden. Lothar ist Trixies Vater und der Grund, warum ich Trixie nicht leiden kann.

»Also Freitag oder Samstag«, schlug ich vor, als nichts anderes mehr übrigblieb.

Mama antwortete nach kurzem Nachdenken: »Also Freitag geh ich mit Sarah auf ein Konzert. Kannste dir vorstellen, ihr neuer Freund hat sie jetzt auch betrogen, und Samstag hat Eli doch seinen Auftritt.«

Elijah, den alle Eli nennen, ist mein kleiner Bruder. Wobei er seit seinem letzten Wachstumsschub 1,83 Meter ist. Sehr schlaksige, sommersprossige 1,83 Meter, mit rotblonden Haaren, die ihm in ungewaschenen Strähnen bis zur Nase hängen. Eli ist Zauberer und der unselbstständigste Fünfzehnjährige, den ich je erlebt habe. Eli und Mama sind voneinander abhängig wie ein altes, keifendes Ehepaar. Sie schlagen sich zwar täglich die Köpfe ein, aber das führt nicht zu der Idee, Eli könne seine Auftritte alleine machen.

Nachdem wir alle Tage durchgegangen waren und

»Nein, Mama. Du kannst alle Tage haben. Aber nicht Sonntag Abend«, sagte ich nachdrücklich.

»Ach komm, Thene, das kannst du ruhig mal für mich machen. Ich mach so viel für dich.« Das sagte Mama immer in solchen Situationen.

Ich fing an, mich wie Rilkes Panther im allerkleinsten Kreis zu drehen. Linksherum, bis mir schlecht wurde, dann rechtsherum, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während meine Hände abwechselnd die viel zu langen Haare aus dem Gesicht strichen und wild gestikulierten.

Eigentlich sollte Mama nicht fähig sein, bei mir Herzrasen auszulösen. Im Gegenteil: Der Fakt, dass das Gespräch in den Zustand emotionaler Erpressung

Im Kopf sah ich Eli, wie er sich anhören musste, dass er ohne Mama niemals zaubern gelernt hätte. Sarah, wie Mama ihr erklärte, dass sie sich ohne Mamas Beistand nie von ihrem betrügenden Exfreund getrennt hätte.

Ich weiß nicht, was ich schlimmer fand: Dass Mama jedes Gespräch darauf reduzierte, zu erklären, wie sehr alle von ihr abhängig waren, oder dass sie damit recht hatte. In jedem Fall war das Ergebnis dieses berechtigten Hinweises bei mir nie Dankbarkeit, sondern immer nur das Bedürfnis, die Verbindungen zu kappen. Ich legte auf.

Was das Verhältnis zu meiner Mutter anging, war ich Marxist. Das heißt, ich wusste, dass die materiellen Verhältnisse die ideellen Verhältnisse schaffen.

»›Das Sein bestimmt das Bewusstsein‹, sagt Marx«, so viel Osten hatte mir Papa doch noch beigebracht.

Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und von meiner Mutter finanziell abhängig. Da soll mal jemand erwachsen werden.

Bis vor Kurzem hatte dieses Wissen noch dazu geführt, dass ich im Zweifelsfall klein beigab. Aus Angst, der Geldhahn könnte doch irgendwann zugedreht werden, und, Stipendium hin oder her, solange ich in Oxford war, musste das Geld sprudeln, sonst hieße es: »Goodbye Doktorarbeit«, oder zumindest: »Goodbye Lebensstandard«.

Doch vor Kurzem hatte ich entdeckt, dass ich eine Zeit lang überleben konnte, ohne dass Mama mir jeden Monat Geld überwies. Sie aber nicht. Endlich konnte ich das

Das Telefon klingelte. Ich lächelte. Nach dem dritten Klingeln ging ich ran. »Ja«, sagte ich mit neutral-freundlicher Stimme, wohl wissend, dass ich sie mit Emotionslosigkeit am meisten aufregen konnte. Als wollte ich sagen: »Sieh her. Während du zerplatzt vor Wut, ist mir das alles ganz egal.«

»Thene, es ist unglaublich, wie egoistisch du bist!«, schrie sie. »Ich lasse mich von dir nicht so behandeln. Wenn du es noch einmal wagst, einfach aufzulegen …«

Ich legte auf.

Es dauerte nur einige Sekunden, bis das Telefon wieder anfing zu klingeln. Diesmal ging ich nicht ran, sondern fing an, in der Kochnische den Abwasch vom Vorabend zu machen.

Es ist ein demütigender Fakt des Erwachsenwerdens, dass das Kind zeitlebens bestehen bleibt. So leben in einem immer mindestens zwei Menschen: der Erwachsene, der mit kühler Distanz sehen kann, wo die rationale Entscheidung liegt, und das Kind, welches sich doch irrational entscheidet.

Oder vielleicht ist diese Verallgemeinerung auch unfair all denen gegenüber, die einfach nur »Ich« sind und nicht einem anderen zugucken müssen, wie es Kontrolle über das eigene Gehirn erlangt und sich in sinnlosem Gedankendurchfall ergießt. Ich jedenfalls hatte die Vernunftentscheidung getroffen, den Abwasch zu machen und mich auf den Mist meiner Mutter gar nicht erst einzulassen, weil es absolut sinnlos war, sich mit meiner Mutter rational auseinanderzusetzen. Gleichzeitig übernahm jedoch das Kind die Kontrolle über meine Synapsen und erklärte mir mit adoleszenter Selbstgerechtigkeit, dass Mama ja wohl bescheuert war, mir einen Vorwurf zu machen, wo