Roman
Aus dem Englischen
von Peter Torberg
liebeskind
Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel
»Tomato Red« bei Henry Holt, New York.
© Daniel Woodrell 1998
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2016
Alle Rechte vorbehalten
Covermotiv: Yaga Kielb, Toronto
Covergestaltung: Sieveking, München
ISBN 978-3-95438-064-0
Jeder, der über analytischen Verstand verfügt, weiß um die Tatsache, dass die Welt voller Taten ist, die von Menschen zu ihrem eigenen Schaden und ohne jeden erkennbaren Vorteil für sie begangen wurden, und das sehenden Auges.
THEODOR REIK
Es ist nicht alles eitel Sonnenschein.
Aber das habe ich noch nicht gelernt.
DENNIS »OIL CAN« BOYD
DU BIST KEIN UNSCHULDSLAMM, und du weißt, wie das so läuft: Freitag ist Zahltag, und der Tag ist grau und ganz durchgesuppt von einem langsamen, hässlichen Regen. In deiner Trübsal suchst du Gesellschaft, und weil du neu bist in West Table, Missouri, du hast gerade erst in der Hundefutterfabrik angefangen, ist deine Auswahl begrenzt, aber schließlich findest du Leute auf einem Wohnwagenplatz an der East Main, und der bunte Haufen an Pennern, der sich dort zusammengefunden hat, spendiert dir ein Bier, dann kreist eine Flasche Tequila, und der Regen fällt immer noch in diesem jämmerlich bluesigen Beat, und dann treiben sich da zwei Mädchen rum, die vielleicht zu haben sind, aber sie sind auf bestimmte Sachen aus, Meth und so, und plötzlich fallen eine Handvoll Partystrohhalme aus einer gewebten Handtasche, die jemand mitgebracht hat, das Meth wird zu Linien gezogen, und als du das nächste Mal auf die Uhr schaust, ist es sonntagmorgens drei oder vier Uhr, du hast seit Donnerstagnacht nicht mehr geschlafen, und eins von den Mädchen, mit dem noch nichts lief, auf das du aber scharf bist, obwohl sie einen Haufen unregelmäßiger Mäusezähne hat, die aussehen, als würden sie sauer schmecken, meint, ihr solltet was machen, denn auf Crank, da will man was machen, irgendwas, und sie schlägt mit schmeichelnder Stimme vor, wir sollten doch alle dieses eine Haus in dieser einen Straße in dieser reichen Gegend ausrauben, wo es sich die Leute leisten können, ihren Lastern zu frönen, und sicher noch eine hübsche Menge Dope irgendwo im Haus versteckt haben, was dort ja nur schlecht wird, denn im Scroll stand ein Artikel, dass diese reichen Leute nach Frankreich oder sonst wohin auf eine schicke Urlaubsreise gefahren sind.
Und so passiert es dann. Ist ja nichts Neues für dich.
Das Mädchen mit dem Mund voller Mäusezähne und der tollen Idee fährt hin und lässt mich am Gehweg raus, hinten auf dem Rücksitz liegt noch ein zweiter Einbrecher, aber der ist weggetreten und so was von keine Hilfe. Sie gibt mir einen Kuss, einen flüchtigen Schmatz, und schwört, sie hält die Augen offen, ich soll ihr doch ein Zeichen geben, wenn ich drin bin.
Der Boden ist vom Regen ganz rutschig, er gibt einfach unter meinen Füßen nach und gleitet beiseite, und dann ist da dieser fantastische Nebel, der immer dichter wird, da hat dann die Sehkraft eine Weile nichts zu melden.
Ich stolperte in ein paar Hecken, eine reichte mir bis zum Kopf, die andere bis zur Hüfte, bis ich auf dem Gartenweg landete. Der Weg war wohl aus Ziegeln, schätze ich, aber größer als Ziegel fürs Haus, eher wie Brote, dann heißen sie wohl Kopfsteinpflaster oder so was. Ich stolperte also diesen großen Pflasterweg hinauf und an einer Laterne auf dem Hof vorbei, die so ein gelbsüchtiges Licht machte, direkt bis zur Rückseite des Anwesens.
Reiche Leute lieben anscheinend tolle Aussichten, bezahlen bestimmt teuer dafür, deshalb war da überall dieses Glas. Die Tür war aus Glas und die ganze Rückwand praktisch auch. Am Tag konnte man bestimmt von jedem Winkel da drin die ganze Stadt sehen und so weit ein Pony reiten kann, bis ins Land hinein. Diese ganzen Fenster brachten mich kurz auf blöde Gedanken an Glasschneider mit Diamantspitze und Saugnäpfen und dem ganzen Klimbim von verschissen eleganten Juwelendiebstählen, aber weil mein Verstand ja gerade eigentlich voll auf Urlaub war, schnappte ich mir einfach nur ein paar Scheite von dem Feuerholzstapel auf der Terrasse und schleuderte sie gegen die Glastür.
Schätze, ich hatte da so einen jämmerlichen Drang, mich bei diesen Wohnwagenpennern anzuwanzen, weil ich irgendwie dachte, das sind die Einzigen, die mich aufnehmen, denn als das erste Holzscheit einfach nur von der Glastür abprallte und über die Terrasse schlitterte, war ich wild entschlossen, diesen Job für meine neuen Freunde zu erledigen, scheiß auf die Mühe oder das offensichtliche Risiko.
Die Holzscheite donnerten gegen das Glas. Zwei, drei, vier Mal warf ich sie dagegen, und nicht ein einziges Mal hörte ich auch nur annähernd so was wie Splittern. Ich schlich mich im Nebel an, fuhr mit den Fingern über die Tür und spürte, glaub ich, den Anfang von winzigen Haarrissen, aber keine großen, hoffnungsvollen Spalten.
Das Glas von dieser Tür war sicher so eine Art Spezialglas, das musste teuer gewesen sein, aber das war es wert, muss ich schon sagen, so läppisch wie die Holzscheite daran abprallten und einfach kein Loch schlugen. Aber ich warf immer wieder, und die Schläge dröhnten durch die neblige Nachbarschaft, bis meine Würfe immer müder und wilder wurden und ich ein Scheit fast drei Meter daneben warf, in ein kleines quadratisches Fenster neben der Tür, und das Glas war netterweise von einer schlechteren Qualität und ging sofort zu Bruch.
Das Klirren hörte sich an wie herzlicher Applaus, ein ehrlicher Applaus, der aber für alle anderen Ohren da draußen im Nebel alarmierend klang und neugierig machte. Ich erstarrte, machte auf Schatten. Kurz darauf hörte ich, wie mir Mausezähnchen verächtlich etwas zurief, das meine Gefühle verletzt hätte, wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre, dann quietschten Reifen und schafften meinen neuen Freundeskreis weg, also musste ich mich solo ums Haus kümmern.
Ich blieb noch eine Weile starrer Schatten, aber mein Verstand, zumindest das wenige, was ich in dem Augenblick noch davon übrig hatte, war wild entschlossen: Ich brauchte Freunde, und Freundschaft ist dieser langwierige, schwierige Prozess, da muss man durch, aber vielleicht fand ich ja, wonach wir suchten, und dann konnte ich zu Fuß zum Wohnwagenpark zurückgehen und war der Held und plötzlich der Mittelpunkt der Party.
Es ging kein Alarm los, ich hörte auf, Schatten zu spielen, und ging zu dem kaputten Fenster. Der Nebel fühlte sich an wie eine Zunge, gegen die ich lief, und meine Haut und meine Klamotten waren wie vollgesabbert. Die Welt gab den harmlosen Wachhund, der mir fett übers Gesicht leckte.
Das Fenster war zum Durchspringen zu hoch, und das Glas war auch noch nicht ganz rausgebrochen, es gab kantige Splitter mit langen Dornen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte ganz vorsichtig den Arm durch, aber kam an keine Klinke ran, keinen Türknauf oder sonst was Brauchbares.
Überall lagen Holzscheite herum, die ich geworfen hatte, auch unter meinen Füßen, und als ich das dritte oder vierte Mal darüberstolperte, kam ich auf die Idee. Die Idee war eine Leiter aus Holzscheiten, also machte ich mich an die Arbeit und bastelte an dieser Idee, die mich so von hinten angesprungen hatte. In diesem Nebel war jede Anstrengung schweißtreibend, Schweiß gab mir das Gefühl, was zu schaffen, also rechnete ich schon mit einem Vorarbeiter, der meinen Arsch, schon wegen meiner Haare oder meiner schlampigen Haltung, wie üblich umgehend vor die Tür setzte. Aber ich kriegte die Leiter hin, und sie reichte so weit rauf wie nötig.
Wahrscheinlich hab ich geglaubt, dass diese Leitererfindung bedeutet, dass ich wieder klar denken kann.
Oben auf der Leiter wickelte ich mir das T-Shirt um die Faust und schlug die Glassplitter aus, bis der Rahmen so sauber war, dass ich mich durchzwängen konnte, ohne mich aufzuschlitzen.
Ich schlüpfte rein, ohne mich zu schneiden, und stolperte durch die Reichtümer.
Meine Distanzeinschätzung war mir irgendwie im Kopf verrutscht, der Boden setzte zum Sprung an und verpasste mir eine. Er fühlte sich an wie eine saubere Straße, eine Straße aus so Mamorzeug, mexikanische Fliesen vielleicht, nur dass die Straße in der Küche war und für eine ziemlich harte Landung sorgte, vor allem mit dem schiefen Winkel in meinem Kopf, und ich hob kaum die Arme, um mich abzustützen, und rutschte darüber. Ich hatte gedacht, vom Fenster aus wäre es tiefer, aber nee, und der Schmerz rasselte mir von den Ellbogen und Knien bis zu Schultern und Zehen. Ich schrie auf, rollte herum und donnerte im Dunkeln gegen einen Stuhl mit hoher Rückenlehne und warf ihn um.
Man kann der Meinung sein, dass ich das mit der Einbrecherei auf der Stelle hätte sein lassen sollen, aber ich liebe nun mal die Menschen, schätze ich, also machte ich weiter.
Ich wurde wieder zu einem Schatten, wie ich da auf dem importierten Fußboden lag und dem Haus lauschte. Eigentlich sollte es leer sein, aber in den Zeitungen steht ja viel Quatsch. Am besten, man traut denen nicht. Im Haus war so ein schummriges Leuchten, und ich erkannte, dass die wohl in einem Zimmer weiter hinten ein paar Lichter hatten brennen lassen. Die Lampen waren bestimmt an eine Zeitschaltuhr angeschlossen und sollten solche wie mich verscheuchen, damit so was wie das hier gar nicht passierte.
Diese Einbruchslichter halfen mir dabei, meine Augen scharf zu stellen.
Als ich wieder stand, zog ich mir das T-Shirt an und rieb mir die blauen Flecken, dann ließ ich mich von meinen Füßen zum leuchtenden Zimmer führen. Langsam kam ich vom Crank runter, nehme ich an, jedenfalls wurden mir die Beine ganz schwer, sie wankten und stapften. Die Villa roch nach großen Errungenschaften und Handtaschen aus Rom und unbekannten Leckereien, bessere Gerüche als die, die ich gewohnt war. Selbst die Wände wirkten irgendwie besonders, wie ich so mit den Fingerspitzen darüberfuhr und spürte, wie fein und teuer sie sich anfühlten. Mein Verstand, muss ich zugeben, stolperte zwei, drei Schritte hinter meinem Körper her. Eher Tellerwäscher, kein Meisterkoch.
Als ich in dieses beleuchtete Zimmer stolperte, verschlug es mir den Atem. Ich schnappte nach Luft, stöhnte, miaute. Die Beine versagten mir den Dienst, und ich fiel mit dem Gesicht voran auf einen weichen Teppich, der süßer roch als die Haare meiner Exfrau und mich an Schafe auf einer blumenübersäten Alm hoch oben in den Alpen oder in Japan oder Vermont oder sonst einem dieser Postkartenorte da draußen in der Welt denken ließ, wo all die schönen Sachen herkommen, die ich niemals besitzen werde.
Der Anblick und der Duft all dieser Dinge erschütterte mich.
Ich weiß noch, ich zitterte und atmete flach.
Das Anwesen war genauso, wie ich mir eine Villa vorgestellt hatte, nur noch schlimmer. In meiner Angst davor hatte ich es nie geschafft, mir die spektakulären Einzelheiten vorzustellen. Eine kurze Bestandsaufnahme dieses einen Raums – und schon hasste ich mich. Ich hasste mich und alle von meiner Sorte vor mir. Dieses Haus stand zig Ebenen über jedem, in dem ich jemals gewesen war.
Wie ich mich so umsah – wohl eher glotzte –, bin ich passend zum Zittern wahrscheinlich auch noch rot geworden.
Ich würde ja erzählen, was das für Zeug war, das ich in dem Zimmer sah, wenn ich wüsste, wie das Zeugs heißt, aber ich würde schwer darauf wetten, dass ich diese Namen noch nie gehört habe. Solche Sachen haben bestimmt eigene Namen – diese stimmungsvollen Lampenschirme aus Perlenschnüren, dieser Sessel mit Fußschemel, die irgendwie mit geflochtenem Leder miteinander verbunden waren, das an schmiedeeisernen Rahmen oder vielleicht auch seltenen polierten Knochen hing, diese Beistelltische, in die Muster eingestanzt und mit Blattgold oder was anderem Kostbarem gefüllt worden sind, und an der hinteren Wand standen ein kleiner protziger Schreibtisch und ein Bücherregal, das so alt war, da hatte wohl die amerikanische Revolution daneben stattgefunden, mit feinen Schnitzarbeiten, sauber aufpoliert, und einer Reihe von winzigen Statuen und Puppen obendrauf.
Nach einer Weile verkroch ich mich wieder, weg vom Licht in die dunkleren Ecken des Hauses. Da überkam mich dieses bange Gefühl. Um ehrlich zu sein, ich hatte Angst und schämte mich für das schlecht ausgestattete Leben, in das ich hineingeboren worden war.
Diese Villa ist keinen Gewehrschuss von der Wohnwagensiedlung entfernt, aber es kam mir vor, als hätte ich eine Reise zu einem anderen Planeten unternommen. Auf diese Welt hier war ich bisher noch nie gestoßen.
In der Küche fing ich mich wieder und brachte meine Einzelteile in Ordnung. Mein Atem ging normal. Diese Pracht hatte mich betäubt, und dann war mir in einem Wirrwarr der Erkenntnis schlecht geworden.
Wenn du so eine schicke Welt von innen zu sehen kriegst, dann bringt das die eigene ins Wanken, und ein ständiger nagender Unmut macht sich über deine Eingeweide und deine Seele her. Ein Ort von diesem Kaliber entlarvt dich als Versager und bringt dich dazu, dass du dich selbst diskriminieren willst als winziges Staubkörnchen Nichts, das nur den Planeten durcheinanderbringt, auf dem diese würdigen Vertreter so prachtvoll leben und sich wünschen, sie könnten dich und deinesgleichen fernhalten.
Ich bin kein Abschaum! Ich bin kein Abschaum!, schreit dein Hirn, doch dieser Ort beweist es.
Zum Teufel, ja, diese Villa war ein ausgewachsener Vergnügungspark mit verflucht fantastischem Zeug, das ich nie hatte, nie haben werde und persönlich noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Klar, da überkommt einen die Wut, in dem Haus Amok zu laufen und alles kurz und klein zu schlagen, diesen ganzen Klimbim und Krempel zu zertrümmern, als hätten einem diese Dinge höchstpersönlich einen Schlüssel zugeworfen und gesagt, ich solle ihnen ihren Wagen holen. Der Drang ist da, die Sachen zu zerschlagen, verbeulen, ruinieren. Dieser Drang ist immer da, meistens im Hintergrund, aber nie weit weg.
Aber ich brauche das nicht mehr, zumindest nicht in letzter Zeit, stattdessen beschloss ich, was zu essen.
Der Nebel war dichter geworden und wälzte sich gegen die Küchenfenster wie eine sich die Hälse verrenkende Meute, die bei was Privatem zuschaut. Ein paar Schwaden drückten sich durch das kaputte Fenster herein, wie lange, langsam auf mich zeigende Finger, fand ich.
An der Wand neben dem Herd war ein Knopf, ich drückte drauf und hatte Licht. Das Licht scheuchte die Meute zurück und verpasste den zeigenden Fingern einen Klaps. Diese Küche war fast so groß wie ein ordentlicher Wohnwagen. Wenn ich das richtig erkennen konnte, gab es zwei, drei Herde oder nur einen Riesenherd mit einem Dutzend Gasbrenner. Die Schränke, aus hellem orientalischem Holz, würde ich sagen, reichten bis zur Decke, und die Decke war richtig hoch, deswegen gab es eine süße kleine Trittleiter an einer Schiene, die man von Schrank zu Schrank schieben und damit in die oberen Fächer schauen konnte. Eine ziemlich schicke Schreinerarbeit, meiner Meinung nach. Der Kühlschrank sah aus wie ein Banktresor, ein großes graumetallenes Ding mit schweren Türen.
Das Lustige an diesen reichen Leuten ist, sie lassen nie sonderlich viel Essen zum Schnorren übrig. Ich ging den Kühlschrank durch und stellte fest, dass alles, was ich kannte, gefroren war. Ich war enttäuscht: keine exotischen Reste. Im Gefrierschrank kramte ich eine Flasche raus, die auf das teurere Regal im Schnapsladen gehörte. Das Etikett sah aus wie ein Sehtest, Russisch oder so was, aber nach ein paar Schlucken konnte ich bezeugen: Es war Wodka, und ein guter noch dazu.
Ich suchte in den Schränken nach Erdnussbutter, denn im Kühlschrank hatte ich Mayonnaise gesehen, und Erdnussbutter mit Mayonnaise hieß, ich konnte schlafen. Ich konnte dem Crank Tschüss sagen und schlafen. Ohne was zu essen in der Nähe kann ich nicht pennen, ich kann nirgendwo schlafen, wenn ich nicht weiß, dass ich was zu essen finde, wenn ich was brauche. Ich muss nicht unbedingt auch essen, aber ich kann nicht einschlafen, wenn ich mir nicht ganz sicher bin, dass es was gibt, aber diese Leute gaben sich wohl gar nicht erst mit Erdnussbutter ab – es gab nämlich keine. Erdnussbutter ist die verordnete Medizin gegen Hunger bei armen Leuten, und irgendwo ganz hinten im Küchenschrank findet sich immer noch ein kleiner Rest unten im Glas. Ich bin schon oft hungrig schlafen gegangen, und mein Bauch hat gewimmert und gewimmert, und dieses Wimmern läuft in meinem Kopf auf Endlosschleife.
Wenigstens musste mein Gedärm vom Wodka nur grummeln, nicht wimmern.
Im Kühlschrank fand ich auch noch Käse. Ein nettes rundes Stück, aber nicht gelb. Fast weiß, und er roch für meinen Geschmack auch schon ein wenig zu feinschmeckerisch, aber das Stück war seidenweich, und als ich reinbiss, hatte ich das Gefühl, meine Zähne in einen frisch gepuderten Babypopo zu stecken.
Der Geschmack war komisch, aber okay, und da wusste ich, ich konnte schlafen.
Der Wodka und ich und der Babypopo wanderten einen dunklen Flur entlang. Wenn Crank abklingt, schlägt plötzlich eine riesige Müdigkeit zu, und ich konnte spüren, wie sie ausholte, um mir eine reinzusemmeln. Du schläfst, wo du gerade landest. Ich kam in ein Zimmer, in dem meine Schritte hallten, es hörte sich groß an, dann stieß ich mir das Schienbein an einem Sessel an, ließ mich reinplumpsen, warf den Kopf nach hinten und legte die Beine auf den Hocker davor.
Ich hatte mich in einen mit Kalbsleder bezogenen Lehnsessel fallen lassen, also faltete ich mich einfach darin zusammen und machte mich so klein wie ein Kondom in der Lederbrieftasche eines Gentleman.
Die Träume, die sich in meinem Schädel breitmachten, waren keine »Traum«-Träume, sondern eher so lange Einblendungen aus Scheingerichtsverhandlungen, denen ich mich in einer kitschig plüschigen Arrestzelle stellen musste, und die Geschworenen setzten sich aus Angehörigen zusammen, die ich alle bitter enttäuscht hatte, seit sie begraben worden waren, und aus bärtigen Perversen, die Gefallen an mir gefunden hatten, genauso wie ich war.
Ich verschlief einen ganzen Tag, müssen Sie wissen, aber ausruhen kann ich das nicht nennen.
ICH FIEL IN EIN TIEFES LOCH, bis mich dieses helle Licht aus dem Schlaf riss. Wenn du aus einer solchen Höhle kommst, dann denkst du, das helle Licht könnte Gott sein oder ein Bulle auf Streife; dann wacht dein Gehirn auf, du glaubst zu wissen, wo du bist, und die Lichter eines Zuges rasen auf dich zu. Dann konnte ich wieder richtig sehen, und der Zug war nur eine Kerze, die mir ein junges Mädchen in einem schwarzen Mantel und mit glitzernden Edelsteinen behängt vors Gesicht hielt. Und da war noch ein junger Kerl in einem Smoking, der ihn ganz verschluckte; er rauchte eine schwere weiße Pfeife, in deren Kopf ein Gesicht geschnitzt war.
»Bist du gefährlich?«, fragte das Mädchen. »Du siehst gefährlich aus.«
Ich wollte mir das Gesicht reiben und mich ohrfeigen, bis ich munter war, aber meine Arme funktionierten nicht, ich schaute runter und sah, dass ich mit Silberband an den Sessel gefesselt war. Viel Spielraum hatte ich nicht.
»Ich hab zu lange nicht geschlafen, das ist alles.«
Das Mädchen reichte auf Pfennigabsätzen knapp eins fünfzig hoch und wog nicht mehr, als ein uralter einarmiger Butler tragen konnte. In dem Kerzenschein wirkte sie winzig, aber auch hart und vibrierend lebendig.
»Wir interessieren uns für gefährliche Typen.«
»Ich muss mich mal rasieren und alles. Unter die Dusche.«
Der Typ hatte meine Brieftasche in der Hand und wühlte in meinen persönlichen Papieren. Die Pfeife zwischen den Zähnen wackelte auf und ab wie ein Sprungbrett. Viel Qualm machte er nicht, fiel mir auf. Das Gesicht an der Pfeife war schmal und ziegenbärtig, vielleicht satanisch, ein Gesicht, das man lieber nicht sehen will, wenn man gerade vom Stoff runterkommt. Ich glaubte mich daran zu erinnern, dass die Pfeife auf dem Bücherregal im hellen Zimmer gelegen hatte.
»Du siehst ziemlich genauso aus wie der Mann, den wir gerade suchen«, sagte sie.
»Mit weniger Bart wohl schon«, meinte der Bursche. »Oder womöglich mit erheblich mehr Bart.«
Das Mädchen streckte die Hand aus und schaltete eine Lampe an. Ich war wohl in einem Hobbyraum. Die Decke war ziemlich hoch für ein Haus, mindestens fünfeinhalb, sechs Meter. Tote Viecher hatten ihre Köpfe an die Wände gehängt. Auf der anderen Seite sah ich einen Kamin aus hellem Stein, den man betreten konnte, ohne sich groß bücken zu müssen.
»Hast du Angst?«, fragte sie.
»Noch hab ich mir nicht in die Hose gemacht«, entgegnete ich. »Aber das letzte Bier ist auch schon ’ne Weile her.«
»Er könnte gehen«, sagte der Bursche. »Er hat diese Art des geborenen Losers an sich, ein totaler Loser. Das ist gut.«
Die beiden boten einen ziemlichen Anblick. Mir fällt leider nur schräg dazu ein, albern ist zu schwach, und merkwürdig zu vernünftig.
»Was ist deine Geschichte?«, fragte sie.
Also, zuallererst hatte sie rote Haare, ein Rot, das bei irgendeinem Gewächs im Garten natürlich aussieht, aber nicht bei einem Menschen auf dem Kopf. Geschnitten waren die Haare ganz, ganz kurz, aber verstrubbelt, hier sicher total in, andernorts wohl eher nicht, aber bestimmt teuer. Kurz genug für einen alten Elitesoldaten, aber irgendwie so gestylt, dass es total weiblich wirkte. Die tomatenroten Haare wurden ergänzt durch ein ausgefallenes Gruftie-Make-up. Ihren Lippenstift würde ich friedhofsschwarz nennen, und die Fingernägel babyleichenblau. Sie sah total hip aus und ziemlich exotisch. Ihre Augen hatten dieses herrische Grau, wie dafür geschaffen, zu befehlen und die Befehle haargenau befolgt zu bekommen.
Ich war nicht darauf eingestellt, sofort neue Leute kennenzulernen, aber es hatte ja auch keinen Zweck, unfreundlich zu sein. Freunde kann man sich nicht aussuchen.
»Ich hab eigentlich keine besondere Geschichte.«
»Aber sicher doch. Erzähl.«
Ich dachte kurz daran, ein paar Varianten an ihnen auszuprobieren, wie zum Beispiel: Ich war auch mal reich, hatte mein eigenes Waffel-Restaurant oder so was, aber wollte der Dixie-Mafia kein Schutzgeld zahlen, und da haben sie mir die Bude abgefackelt; ich war mal die Nummer sieben im Mittelgewicht, bis ich mir bei einem Fiasko auf einer Jacht eine doppelte Netzhautablösung geholt habe, habt ihr sicher in den Nachrichten gesehen; ich war ein vernachlässigter Straßenköter aus Blue Knee, Arkansas, mit einer dicken Akte, unterwegs auf meinem langen Kampf durch tiefe Armut und verschiedene faszinierende Missgeschicke.
Der Bursche ersparte mir das. Er las aus meinem Führerschein vor. Die Smokingärmel reichten ihm über die Fingerspitzen, und alle ein, zwei Atemzüge musste er sie zurückschieben. Die Pfeife behielt er zwischen den Zähnen und ließ sie beim Sprechen hüpfen.
»Barlach«, sagte er, und er sprach den Namen mit einem »lack« am Ende aus, wie ich es auch mache, die meisten aber beim ersten Mal nicht. »Sammy. Vierundzwanzig, aus dem großen Staate Arkansas – was bedeutet, er ist satte siebzehn Meilen außerhalb seines Heimatstaats –, behauptet, eins dreiundachtzig groß zu sein und siebenundsiebzig Kilo zu wiegen. Blonde Haare, braune Augen.«
»Das ist schon mal hilfreich«, sagte sie. »Aber es verrät uns nicht, ob er gefährlich ist.«
»Hört mal«, meinte ich. »Ich bin nicht wirklich gefährlich, ich stell manchmal nur Blödsinn an, das ist alles.« Die beiden fingen an, mich langsam zu umkreisen und genau zu begutachten. Sie machten hm und mhmh und hmhm. Mir ging auf, dass ich wohl ziemlich zum Himmel stank und keinen sonderlich umgänglichen Eindruck machte. Die beiden rochen gut und schienen freundlich.
»Man könnte ihn leicht auf gefährlich umstylen«, meinte der Typ. »Dazu braucht’s nicht viel. Ein paar Accessoires, damit er wie ein ganzer Kerl aussieht, ein neuer Haarschnitt.«
»Ja«, stimmte sie zu. Dann hockte sie sich auf die Sessellehne, und ich sah das Küchenmesser in ihrer linken Hand. Die Klinge war mit einer Reihe wirklich bösartig aussehender Zähne besetzt. »Ganz, ganz gefährlich. Meine Güte, ja, man könnte ihn so herrichten, dass er als wirklich böser Mann durchgeht.«
»Können wir ihm so weit trauen, um ihn loszuschneiden?«, fragte der Bursche.
»Schwer zu sagen«, meinte sie. »Er ist noch ziemlich müde, aber er ist ein Einbrecher, ein Dieb.«
»Ich klau nichts Wertvolles«, warf ich ein. »Das ist gar nicht mein Ding. Ich nehm nur Quatsch mit. Ihr wisst schon: Medikamente, Krawatten, die blinken oder winken oder mit Hula-Mädchen drauf, so ’n Scheiß eben. Schnappschüsse von der Frau, wie sie sich auszieht, vielleicht noch alten Rockabilly oder Blues, der aus Versehen rumliegt.« Die Wodkaflasche stand auf dem Tisch hinter den beiden; sie war leer, fiel mir auf. »Und, okay, ich trinke euren Schnaps. Aber alles in allem bin ich nicht so der knallharte Einbrecher.«
Der Typ war zu einer Stelle gewandert, an der ich ihm bei gutem Licht richtig ins Gesicht schauen konnte, von vorn, und er sah so aus wie – also, es fällt mir echt nicht leicht, das offen zu sagen.
Er ist die Art Typ, also, wenn der es allein wegen seines Aussehens bis ganz nach oben schafft, dann müsste man immer noch sagen: er hat das verdient. Hoodoo-Bildhauer und lüsterne Hexen haben sich diesen Kerl gebacken und seine Knochen und Sehnen in atemberaubender Weise zusammengefügt. Dunkle Haare, grüne Augen, das Gesicht fein und dramatisch zugleich. Wenn deine Ex seine Lippen hätte, wärst du noch verheiratet. Er war etwas klein geraten, aber ansonsten mit Sicherheit der schönste Knabe, den ich je gesehen habe. Ich fürchte, »schön« ist das einzige Wort, das hier zutrifft, und ich bin nicht andersrum oder so, aber »schön« trifft es.
»Verflucht noch mal«, sagte ich, als ich ihn da so ansah.
Das klang wohl, als würde ich nach Luft schnappen.
Das Mädchen grinste mich an, sah zu ihm hinüber, strahlte und kicherte.
»Ist er nicht der Wahnsinn?«, sagte sie. »Erwachsene Frauen werfen ihm im Supermarkt ihre Schlüpfer zu, mit ihrer Telefonnummer in Lippenstift drauf.«
»Schluss damit«, sagte er. »Mach dich nicht über mich lustig.«
»Ts, ts.« Das Messer lag noch immer in ihrer winzigen Hand und hielt nicht still. »Sammy«, fuhr sie fort, »ich bin Jamalee, und dieser Kavalier dort ist mein kleiner Bruder Jason.«
Ich zerrte an meinen Fesseln und nickte dann.
»Ich würd euch ja die Hand geben, aber …«
Ihr Gesicht kam ganz nah an meins, ihre Augen waren fünfzehn Zentimeter von meinen entfernt, und sie sah mich an. Sie bohrte etwas Mächtiges in mich hinein, tief in mich hinein.
»Hoffen wir auf das Beste.« Sie legte die Klinge an den Streifen um meine Brust und fing an zu sägen. Ihre Augen fixierten mich weiter und bohrten sich durch die harte Schale bis dorthin, wo ich ganz weich werde. »Mir scheint, ich tue stets das Gute«, sagte sie leise, »und hinterher bereue ich es.«
SOLCHE GELEGENHEITEN bieten sich nur selten. Jamalee und Jason zeigten mir das Badezimmer im oberen Stock mit einer riesigen schicken Wanne, die sogar so eine Art Sitzbank unter Wasser hatte. Man konnte sich ausstrecken, sich treiben lassen, herumplanschen oder auf dieser glatten Bank im heißen Schaumbad sitzen und gründlich nachdenken. Ich ließ mich in den Dampf und Schaum sinken, seifte mich ein, schrubbte und tauchte unter. Als ich aus der Wanne stieg, lag da dieser Morgenmantel aus Seide oder so was wie Seide, den sollte ich anziehen. Der Morgenmantel war pfauenblau. Ich fand eine Klinge und rasierte mich am Waschbecken. Auf einer Ablage standen sechs oder acht Duftwässerchen, und ich bespritzte mich mit Vetiver, wovon ich noch nie gehört hatte, aber der Duft war raffiniert und wundervoll.
Das Ganze war wie ein verrückter Traum, den man zu verstehen glaubt.