Josef Giger-Bütler
Depression ist keine Krankheit
Neue Wege, sich selbst zu befreien
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ISBN 978-3-407-86428-4
1. Auflage 2016
© 2012, 2016 im Beltz Verlag
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
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ISBN 978-3-407-86434-5
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Inhaltverzeichnis
Einleitung
1 Depression ist keine Krankheit
Was depressiv zu sein bedeutet
Mein Verständnis der Depression
Depressive Menschen leiden, sie sind aber nicht krank
2 Was alles keine Depression ist
Verbitterung
Trauer
Burn-out
3 Irrtümer
Trauer, Angst und Langeweile
Irrungen und Wirrungen um den Begriff Depression
Falsche und beleidigende Bilder
4 Die depressiven Muster
Dem depressiven Menschen geht es nie um sich selbst
Die depressiven Muster sind lebensbestimmend
Zusammenfassung
5 Die Latenzdepression
Die Latenzdepression ist ein heimliches Leiden
Der depressive Mensch und seine Angehörigen
Besondere Äußerungsformen der latenten Depression
6 Von der latenten zur manifesten Depression
Wie es zu einer manifesten Depression kommen kann
Das Leben in der Vormanifest- und in der Manifestdepression
7 Die Vormanifestdepression
Das Ende der Latenzdepression
Die Sekundärsymptome
Der Suizid
Scham und sich schämen
Die Bedeutung der Medikamente
Fragen und Antworten
8 Die Depression als Entwicklungsgeschehen
Was zur latenten wie zur manifesten Depression gehört
Die depressive Entwicklung
Zusammenfassung
Exkurs: Unterschiedliche Schweregrade der Depression
9 Der Ausstieg
Grundsätzliches zum Ausstieg
Jetzt geht es um mich: Das Hauptthema
Verschiedene Perspektiven
Schlussfrage
Bücher zum Thema Depression
Einleitung
Depressive Menschen sind keine kranken Menschen. Vielmehr sind es Menschen, die sich auf eine überfordernde Weise ans Leben angepasst haben und jetzt darunter leiden und zu zerbrechen drohen, und zwar so sehr, dass dieses Leiden Krankheitswert hat. Mit anderen Worten: Auch wenn die Depression keine Krankheit ist, bringt sie für die Betroffenen oder den Betroffenen ein hohes Maß an Leiden mit sich.
Dass es sich bei der Depression um keine Krankheit im herkömmlichen Sinn handelt, ist für mein Depressionsverständnis wichtig und zentral.
Für viele mag das tröstlich klingen, nicht krank, sondern »normal« zu sein. Andere wiederum sind enttäuscht. Wenn man krank ist, dann hat man etwas, dann weiß man, woran man ist. Und es gibt Ärzte, die dafür zuständig sind, und Medikamente, die es für einen richten.
In meiner therapeutischen Tätigkeit erfahre ich jedoch immer wieder von Neuem, dass man die Depression verstehen kann, dass es sich um nachvollziehbare Schritte handelt, die zu depressiven Zuständen führen. Aus diesem Verständnis heraus lassen sich dann nachvollziehbare Wege ableiten, wie man aus der Depression aussteigen kann, ob zusammen mit professioneller Hilfe und Unterstützung oder allein.
Aussteigen bedeutet, neue Verhaltensweisen zu lernen. Die bisherigen haben diese Menschen dorthin geführt, wo sie heute stehen, und zu dem gemacht, was sie heute sind. Lernen aber heißt Umlernen, heißt auch, neue Gewichte setzen, neue Einstellungen finden. Das jedoch ist nur möglich, weil die alten Denk- und Verhaltensmuster nicht gottgegeben oder angeboren waren, sondern so gelernt wurden. Das so zu sehen ist deshalb wichtig, weil viele depressive Menschen von Fachleuten im Glauben gelassen oder gar bestärkt werden, mit diesem Leiden und mit diesem Schmerz weiterhin leben zu müssen, und die einzige Erleichterungsmöglichkeit darin besteht, bis ans Lebensende Medikamente zu schlucken.
Mein Ansatz unterscheidet sich von dieser Sichtweise grundlegend: Der depressive Mensch soll wissen, dass er nicht krank ist, dass er nicht weiter leiden muss und dass es darum geht, sich zu verstehen und nachzuvollziehen, weshalb welche Schritte beim Ausstieg wichtig und erfolgreich sind. Wissen, warum man etwas tut, und warum man es gerade so macht, gibt Sicherheit und Vertrauen. Nachvollziehbar und einleuchtend sollen die Schritte des Ausstieges sein, und die Folgerungen daraus plausibel, logisch und umsetzbar. Vor allem aber müssen die vorgeschlagenen Schritte bringen, was sie versprechen. Sonst nützen die besten Erklärungen nichts.
Die Schritte beim Ausstieg sind logisch, nachvollziehbar und machbar, was aber nicht heißt, dass sie einfach sind. Was sich über Jahre in den depressiven Menschen eingelagert hat, kann nicht mit einem Handstreich verändert werden. Verstehen und nachvollziehen können, weshalb man selbst etwas unternehmen könnte, gibt den depressiven Menschen ein erstes Werkzeug in die Hand und nimmt ihnen das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Der Ausstieg ist nicht nur beschwerlich und erfordert viel Ausdauer und Geduld, sondern es ist auch spannend, neue Gefühle bei sich wahrzunehmen, zu erfahren, wie das Selbstbewusstsein wächst und die Angst vor Rückschlägen immer kleiner wird.
Es hat sich im Laufe der letzten Jahre gezeigt, dass die drei Forderungen, die ich mit einer stimmigen Theorie der Depression verbinde, mit meinem Verständnis der Depression schlüssig einhergehen:
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Der depressive Mensch selbst muss die Erklärungen des Therapeuten verstehen und durch sie sich selbst besser verstehen können. Sie müssen für ihn stimmig, rational nachvollziehbar und emotional evident sein.
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Die Theorie muss einen Weg zur Veränderung aufzeigen und praktisch umsetzbar sein.
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Ursache, Verlauf und Ausstieg müssen durch ein solches Verständnis folgerichtig in ihrem Zusammenhang erklärt werden können.
Aufgrund meiner langjährigen therapeutischen Erfahrung bin ich zu der festen Überzeugung gekommen, dass der depressive Mensch sich verändern kann und die anderen ihn verstehen können. Die hier beschriebenen Erklärungen weisen den Weg und öffnen ihm Perspektiven und Einsichten, die er sich bislang selbst nie überlegt hat, weil ihm die gängigen Vorstellungen, was eine Depression ist, die Sicht versperrt und ihn gehindert haben, sich selbst zu verstehen. Es gibt also Wege, wie der depressive Mensch sein Leiden hinter sich bringen und ein neues Leben beginnen kann. Das ist deshalb möglich, weil
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es ganz klare, nachvollziehbare und umsetzbare Schritte gibt, die jeder nach seinen eigenen Möglichkeiten und Vorlieben auswählen kann;
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es Schritte sind, die nicht überfordern und jederzeit veränderbar sind;
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es auf dem Weg kein Muss, kein fertiges Programm gibt, das die oder der Betreffende zu übernehmen hat;
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der depressive Mensch all die Eigenschaften mitbringt, die ihn zu einem erfolgreichen Ausstieg befähigen.
So, wie man über Jahre hinweg in eine Depression hineingeraten ist, kann man auch wieder aus ihr herauskommen; aber es braucht Zeit.
Depression bedeutet depressive Entwicklung und ist immer mit einer zunehmenden Überforderung und Ermüdung verbunden.
Geradezu zwangsläufig hat eine solche Entwicklung, die weder krank noch abnorm ist, eine wachsende Isolierung und Einsamkeit zur Folge. Aber es gibt Wege, diesen Zustand zu verändern, Wege, die alle gehen können und die zum Ziel führen.
Man wird von der Depression nicht befallen, auch nicht heimtückisch überfallen, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Depression ist auch keine Krankheit, die zufälligerweise irgendjemanden trifft. Man sollte sich von diesen Gedanken möglichst schnell trennen, weil sie viel Unheil stiften. Es sind Vorstellungen, die den depressiven Menschen den Zugang zu sich und den Zugang der anderen zu ihm verbauen. Es sind diese immer und immer wieder aufgewärmten Bilder, die die depressiven Menschen in ihrer Einsamkeit gefangen halten und die es den nicht betroffenen Menschen verunmöglichen, sich sachlich dem Thema Depression und den depressiven Menschen zu nähern und lang gehegte Vorurteile abzubauen.
Der Gedanke, der Depression hilflos ausgeliefert zu sein und ohnmächtig von ihr heimgesucht zu werden, ist furchtbar. Zum Glück ist es nicht so. Und es ist auch nicht so, dass man sich daran gewöhnen muss, mit ihr zu leben. Es ist falsch, wenn man sagt, dass es für den depressiven Menschen nur darum gehen kann, sich mit ihr zu befreunden, weil man gezwungen ist, mit ihr zu leben. Es darf kein Leben mit der Depression geben, weil die damit verbundene Unfreiheit und Ohnmacht zu demütigend sind und dieses Leiden zu heftig ist. Leben mit einer Depression ist kein Leben, sondern ein An-sich-und-dem-Leben-Vorbeileben.
In diesem Buch geht es mir ganz wesentlich darum, aufzuzeigen, was eine wirkliche Depression ist und was nicht. Zu vieles wird der Depression zugewiesen, was nicht im Entferntesten mit einer Depression zu tun hat. Zum anderen wird die Depression als Krankheit betrachtet. Damit wird all das, was ein Mensch im Laufe seines Lebens geworden ist, mit all dem Guten und all dem Beschwerlichen, als nicht gesund, nicht normal, falsch und nicht lebenswert etikettiert. Eine solche Betrachtungsweise finde ich furchtbar, beleidigend und demütigend. Das haben die depressiven Menschen nicht verdient, dass ihre Art, zu leben, und damit sie als Personen krank sein sollen. Krank bedeutet schließlich nach Ansicht der meisten Menschen, dass etwas nicht stimmt, dass jemand »be«-handelt werden muss. Wie soll denn ein depressiver Mensch vor diesem Hintergrund Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen aufbauen können und selbstständig handeln? So, wie er ist, ist es ja falsch.
All das, was nicht so heiter und leicht daherkommt, als Depression zu bezeichnen und dann gleichzeitig die Depression als Krankheit hinzustellen, die alle Menschen treffen kann, macht aus der Depression einen letztlich beliebigen Zustand, der jeden und jede treffen kann. Den Leidtragenden, den wirklich depressiven Menschen, wird dabei sehr viel Unrecht getan. Ihr Leiden wird bagatellisiert und gleichzeitig pathologisiert.
Ich wehre mich gegen die verbreitete Pathologisierung all dessen, was in irgendeiner Form schmerzhaft oder nicht ganz so lebensbejahend ist. Leiden, Schmerz, Trauer und ebenso die Depression sind menschliche Erlebensformen und keine krankhaften Zustände. Es so zu sehen bedeutet, unbelastet und vorurteilsfrei an den jeweiligen Menschen heranzugehen. Wenn diese Einstellung wieder vermehrt zum Maßstab unseres Denkens würde, wäre allen Menschen, den Gesunden wie letztlich auch den wirklich Kranken, geholfen.
Krankheit gehört wie die Gesundheit zum Leben. Es geht mir nicht darum, die Depression mit allen Mitteln vom Krankhaften fernzuhalten, sondern darum, die Zustände, die normal sind, in der Normalität zu belassen, auch wenn sie für die Betroffenen noch so leidvoll und schmerzlich sind. Depressives Erleben ist leidvolles, aber auch normales und gesundes Erleben. Gesund ist gesund und krank ist krank und beides sind urmenschliche Lebensformen.
So, wie Gesundheit nicht einfach die Kehrseite der Krankheit ist, so ist die Krankheit nicht einfach die Abwesenheit von Gesundheit. Und mit Krankheit hat nicht zu tun, was normale und selbstverständliche Entwicklungen hervorbringen.
Krankheit ist eine Abweichung von selbstverständlichen und gewohnten Abläufen und Zuständen, häufig verbunden mit Schmerzen und Leiden.
Auch wenn sie dazu führt, dass die Betroffenen sich überfordern und vernachlässigen und immer mehr leiden, stellt die Depression eine solche Abweichung nicht dar.
Die »Werner Alfred Selo Stiftung« hat im Jahre 2010 in der Schweiz eine Untersuchung durchgeführt mit dem Thema »Depression – was weiß die Schweiz darüber?« Sie wurde am 28. 02. 2011 ins Internet gestellt. Darin heißt es zum Beispiel: »Dr. Hans Kurt, Psychiater und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, stellt klar: ›Depression kann jeden treffen und ist kein Zeichen von Willensschwäche. Psychische Erkrankungen gehören in den Bereich der Medizin.‹« In solchen Formulierungen wird mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen gesagt, dass die Depression eine psychische Krankheit sei und in die Hände der Mediziner gehöre. Wer depressiv sei, sei krank, psychisch krank. Und das heißt für den depressiven Menschen nichts anderes als: »So, wie ich bin, ist es nicht richtig, ist es nicht normal. Ich bin nicht normal, ich bin nicht wie die anderen, ich bin daneben.« Und damit überlässt er sein Schicksal eben einem Arzt. Er muss geheilt werden. Damit ist sein ganz Leben, ist er als Person mit allem, was er gelebt und gelitten hat, infrage gestellt. Das kann es aber nicht sein. Darum sollten wir alle mit dem Begriff Krankheit sehr vorsichtig und sehr restriktiv umgehen. Die Depression ist keine Warze, die man wegoperieren kann, und keine Lungenentzündung, die es zu heilen gilt.
Depressive Menschen sind über Jahre geformte Persönlichkeiten mit einem sehr beschwerlichen Leben, das die Betroffenen unter schwierigsten Bedingungen bestmöglich zu leben versuchen.
Eine Persönlichkeitsentwicklung, auch eine depressive, ist kein pathologischer Vorgang und die Persönlichkeit, die sich daraus entwickelt hat, ist nicht krank.
Werden dieses Leben und das Durchhalten und Durchstehen als Krankheit abqualifiziert, dann war alles vergebens. Dann hat der oder die Betroffene nichts anderes gemacht, als sich mit allen Kräften im Zustand der Nichtnormalität und der Krankheit zu halten. Etwas Absurderes kann es nicht geben. Dann haben sein oder ihr Leiden und Sichaufraffen gar nichts gebracht, dann war alles umsonst. Deshalb ist es so wichtig, Depression als den normalen Zustand einer normalen Entwicklung zu sehen und sie nicht als eine Krankheit abzustempeln, die in die Hände eines Mediziners gehört.
Das sind die Grundsätze, mit denen ich mich im Buch besonders beschäftigen möchte. Folgende Leitsätze betrachte ich als wesentlich für mein Depressionsverständnis:
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Depression ist keine Krankheit und es stimmt nicht, dass jedermann depressiv werden kann.
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Nicht alles, was als Depression daherkommt, ist ein krankhafter Zustand oder eine Depression.
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Depression ist für die anderen meist nicht einsehbar, kann aber irgendwann einmal für andere sichtbar werden.
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Wer depressiv ist, ist es schon viel länger, als er meint und es für ihn und die anderen erscheint.
Menschen, die sich depressiv entwickeln, haben sich in ihrer Kindheit aufgrund ihrer persönlichen Disposition und ihrer Auseinandersetzung mit der damaligen Familien- und Lebenssituation bestimmte Verhaltensweisen angewöhnt und diese gelernt. Dazu gehören etwa: sich übergehen und überfordern, hart und verständnislos mit sich umgehen oder auch, sich keine Bedeutung zu geben. Sie haben diese Verhaltensmuster in ihrer persönlichen Entwicklung geübt und perfektioniert und sich dabei ständig überfordert und erschöpft. Deswegen ist die Depression aber noch lange kein krankhaftes Erleben, sondern Ergebnis und Ausdruck eben dieser in der Kindheit gelernten Überlebensstrategie. Depressiven Menschen geht es ums Überleben und nicht ums Leben. Das ist ihre Lebensauffassung und darin fühlen sie sich jeden Tag von Neuem bestärkt.
Die Entwicklung, die sie durchgemacht haben, nenne ich depressive Entwicklung und den jeweiligen aktuellen Zustand selbst Depression. Die depressive Entwicklung ist ein sich über Jahre hinstreckender Prozess.
Um die verschiedenen Begriffe voneinander abzugrenzen, ein kurzer Hinweis:
Jeder depressive Mensch hat eine depressive Entwicklung hinter sich und vor sich. Die Depression meint den jeweiligen Stand oder Zustand in der depressiven Entwicklung. Je fortgeschrittener eine depressive Entwicklung, umso größer der Kraftaufwand für den Alltag und umso weniger Energie ist da, nach außen gut aufgestellt und kraftvoll zu wirken. Die Kraft reicht einfach nicht mehr für alles, sosehr sich das die Betreffenden auch wünschen. Je mehr eine depressive Entwicklung fortschreitet, umso sichtbarer wird sie.
Irgendetwas kann die Depression sichtbar werden lassen, allmählich oder plötzlich. Und vielfach lässt sich mit einem auslösenden Ereignis ein Zusammenhang herstellen. Ich spreche ganz klar vom auslösenden und nicht vom verursachenden Ereignis. Wer depressiv ist, ist es schon Jahre, bevor es für den betreffenden Menschen als solches fassbar ist. Für die Betroffenen ist diese Erkenntnis einerseits einleuchtend, weil sie viel erklärt und enträtselt. Zum andern erschreckt es sie aber auch, sich bewusst zu werden, wie lange sie schon in den depressiven Mustern, auf die ich im vierten Kapitel näher eingehe, gefangen sind und wie sie sich schon jahrelang überfordern und schwächen. Viele empfinden es als Schock, wenn sie realisieren, wie sehr ihr Leben von eingefahrenen Mustern bestimmt war, ja, dass die Wurzeln bis in die Kindheit zurückgehen. Das muss man zuerst verdauen, um es dann akzeptieren zu können. Andererseits hat es auch etwas Entlastendes, wenn man sich sagen kann, dass man sich nicht schuldig zu fühlen braucht für den jetzigen Zustand.
Wichtig ist, dass depressive Muster schon lange wirksam sein mussten, um sichtbar werden zu können. Etwas, was nicht da war, kann auch nicht sichtbar werden.
Wirksam waren die depressiven Muster schon lange, sie gehörten zum Leben dieser Menschen, wenn auch nicht als solche erkannt und benannt. Die Depression ist nicht plötzlich da, kommt nicht aus heiterem Himmel, wie vom Blitz getroffen oder als Reaktion auf etwas. Reaktiv reagiert niemand depressiv, wenn er es nicht schon lange gewesen ist. Die Depression ist auch nicht Ausdruck irgendwelcher körperlicher Beschwerden oder funktioneller Veränderungen. Depression ist nicht das Ergebnis von fehlenden oder überzähligen oder falsch programmierten Botenstoffen, auch wenn man solche Befunde bei depressiven Menschen finden kann. Man kann die Depression nicht auf krankhafte Veränderungen reduzieren. Depression bedeutet depressive Entwicklung und damit chronischer Stress, der im Laufe der Zeit zunehmend körperliche Spuren hinterlässt.
Das bedeutet zum Beispiel auch, dass depressive Menschen über lange Zeit in ihrem Leiden allein und unerkannt blieben, es für sie keine Worte gab, keine Erklärung oder Begründung für ihr schweres Leben, und sie sehr oft gerade mit dieser Unkenntnis und Wortlosigkeit enorm und zusätzlich zu kämpfen hatten. Es sind dieses Nicht-fassen-Können und Nichtwissen, was mit ihnen los ist, dieses Sich-nicht-erklären-Können, weshalb sie so erschöpft sind, was sie so vereinsamen lässt, obwohl sie von ihren Mitmenschen akzeptiert und geschätzt werden. Es ist dieses Unverständnis, was sie verunsichert und verzweifeln lässt, diese Stummheit, weshalb es ihnen so schlecht geht und sie sich so schlecht fühlen, obwohl äußerlich alles in Ordnung zu sein scheint.
Nicht wissen, woran man ist, verstärkt das Leiden, ist unheimlich und macht wortlos. Ich betone das, weil es auch dieses Nichtwissen ist, das der Depression diesen Anstrich gibt, unheimlich und bösartig zu sein. Die depressiven Menschen wissen nicht, dass sie schon ihr ganzes Leben einen Weg der Überforderung und Selbstentfremdung gegangen sind. Dass ihr Leiden schon in ihrer Kindheit seinen Anfang nahm, ist ihnen fremd und meist auch nicht nachvollziehbar. Damit fühlen sie sich überfordert, das macht einen großen Teil ihres Elends aus. Sie sind gefangen in ihren depressiven Mustern, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, wie sie da reingekommen sind, und vor allem ohne die geringste Ahnung, wie sie da wieder rauskommen. Sie leben ein Leben, das sie nicht wirklich leben, und sie sind jemand, den sie nicht kennen und den sie nur als ohnmächtig und ausgeliefert erfahren.
Es ist dieses Meer von Gedanken und Hypothesen, es sind diese Erklärungsversuche, die sie nie zur Ruhe kommen lassen, die nicht beruhigen und nichts erklären. Es ist diese Ruhelosigkeit, die ihrem Zustand eine so unheimliche und bedrohliche Färbung gibt und die dann, wenn eine Diagnose Depression dazukommt, der Depression das Unheimliche, Unfassbare und damit auch Perfide und Angstmachende zuordnet.
Die depressiven Menschen haben kein gutes Leben. Es geht ihnen nicht gut, das ist schon schlimm genug. Aber zu leiden, ohne zu wissen, was los ist, ist fürchterlich und bewirkt, dass sie noch mehr zu verbergen versuchen, wie es ihnen geht. Und genau diese Umstände werden heute, wenn von Depression gesprochen wird, außer Acht gelassen. Man geht von einem Depressionsverständnis aus, in dem sich die depressiven Menschen nicht erkennen. Es wird von etwas gesprochen, was die depressiven Menschen nicht erreicht und ihnen damit auch nicht helfen kann. Ich würde so weit gehen, dass das, was heute über die Depression gesagt wird, mit der Depression nichts zu tun hat und deshalb die depressiven Menschen auch nicht treffen und berühren kann. Sie kommen in diesen Diskussionen selbst gar nicht vor und damit kann auch ihr Leiden nicht gesehen und gewürdigt werden. Damit sind wir im heutigen Depressionsverständnis auch nicht weiter als vor 30 Jahren, außer, dass es in der psychiatrischen Diagnostik heutzutage eine unglaublich große Zahl von Gruppen und Untergruppen der Depression gibt, die alle mit den jeweils entsprechenden Medikamenten behandelt werden sollten, wenn man keinen Kunstfehler machen will.
Die Depression ist nicht nur ein heimliches, sondern auch ein einsames Leiden. Heimlich ist sie deshalb, weil sich die Depression die meiste Zeit über nicht offen zeigt, weil sie nicht sichtbar ist und sich die depressiven Menschen mit ihrem Leiden nicht outen. So bleiben ihre Einsamkeit und ihre Not weiterhin verborgen, und ebenso, dass sie so nicht leben wollen und doch so leben müssen, dass sie nicht anders können und ihr Leben für sie vor allem Kampf und Qual ist. Wenn sie um ihr Leiden wissen, verstecken sie sich, wollen nicht als depressiv gelten und tun mit Erfolg alles, damit sie niemand als depressiv bezeichnen kann.
Mit ihrem Leiden ernten die Depressiven in unserer Gesellschaft keine Lorbeeren, machen keinen Gewinn. Die Depression ist kein Zustand, der Anerkennung und Zuwendung bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Depression isoliert den depressiven Menschen und wertet ihn ab. Bei uns zählen die jungen und dynamischen Menschen, zählt, wer sicher auftreten, sich behaupten kann und erfolgreich ist. Da gibt es für die Depression keinen Platz, mit der will man nichts zu tun haben, die passt nicht zum Menschenbild in der heutigen Gesellschaft – und zum anderen macht sie Angst und ist bedrohlich für einen selbst. Die depressiven Menschen haben auch heute noch gute Gründe, ihr Leiden zu verheimlichen. Nur bezahlen sie einen viel zu hohen Preis dafür.
Das Leiden der depressiven Menschen ist grausam – und weil sie in aller Stille leiden, kann von den anderen Menschen auch nicht nachvollzogen werden, wie schlimm ihr Leiden tatsächlich ist, und von daher können sie auch nicht wirklich verstanden werden. Ihre Angst, nicht verstanden zu werden, hat deshalb eindeutig einen realen Hintergrund. Dazu kommt, nicht ganz unwesentlich: Depressive sprechen nicht gern von sich, sie schämen sich, fühlen sich klein, minderwertig und als Versager, und als solche wollen sie nicht erkannt und wahrgenommen werden. Wer sich so sieht, spricht nicht gern von sich oder nur dann, wenn er spürt, dass man ihn ernst nimmt und nicht verurteilt.
Depressive sind es nicht gewohnt, über sich zu sprechen. Um sie selbst ging es nie in ihrem Leben. Von sich sprechen kann aber nur, wer sich wichtig nimmt, und das können depressive Menschen nicht. Sie überlassen den anderen das Feld, sind aber gute Zuhörer, weil sie davon ausgehen, dass die anderen viel mehr und Wichtigeres und Interessanteres zu erzählen haben.
Wer versucht, im Alleingang die Depression zu überwinden, und das kann man sehr wohl, verstärkt damit die eigene Sprachlosigkeit und den Rückzug auf sich, neben der schon vorhandenen Tendenz, sowieso alles mit sich allein auszumachen. Er wird nicht kommunikativer, und es braucht deshalb gezielt und bewusst eingesetzte Schritte, die den Depressiven aus seiner psychischen Isolation und Sprachlosigkeit herausführen. Je sicherer und eindeutiger der Depressive auf seinem Weg wird, umso bestimmter, offensiver und selbstbewusster ist sein Auftreten. Aber die Neigung zum schnellen Rückzug und zur Sprachlosigkeit wird immer seine verwundbare Achillesferse bleiben. Der depressive Mensch tendiert nicht aus Prinzip dahin, sich zu isolieren, sondern meidet die anderen aus einem Gefühl des Ungenügens heraus. Wenn er sich sicherer und besser fühlt, wird er auch verstärkt den Kontakt nach außen hin suchen und Schritte auf die anderen zu machen.
Diese beiden Punkte – heimlich und unheimlich – machen das Spezielle und Entscheidende bei einer Depression aus, sie stehen in engem Zusammenhang damit, wie sie entsteht, vom betroffenen Menschen erlebt und von den andern wahrgenommen wird.
Die depressiven Menschen sind eingeschlossen in einem Käfig aus Ohnmacht und Einsamkeit. Sie werden aufgrund ihrer depressiven Entwicklung und des Verbergens ihrer wirklichen Verfassung verzerrt und falsch wahrgenommen und in ihrer Eigenart und Befindlichkeit verkannt. Es gibt für sie keine Sprache, mit der sie sich verständlich machen können. Es gibt keine Worte, die ihnen Verständnis und Anteilnahme bringen könnten. Und sie erleben sich so widersprüchlich und so verkannt, dass sie gar nicht erst anfangen, sich zu erklären:
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Sie fühlen sich schwach und werden bewundert wegen ihrer Stärke.
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Sie fühlen sich ohnmächtig und werden geschätzt wegen ihrer Eigenständigkeit.
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Sie fühlen sich elend und schlecht und werden dafür beneidet, dass sie mit ihrem Leben gut klarkommen.
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Sie fühlen sich schwach und werden wahrgenommen als die, die nie müde werden, sich immer wieder neu motivieren und durchhalten können.
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Sie werden geschätzt, bewundert und selbst fühlen sie sich klein und minderwertig.
Es ist tragisch, dass Menschen mit so vielen Begabungen und Qualitäten dahin kommen, sich klein, schlecht und minderwertig zu fühlen. Und es ist traurig, dass Menschen, die den anderen so viel geben können, die einen so immensen Reichtum an Gefühlen und Empfindungen haben und über so viel Kraft und Energie verfügen, sich selbst nichts zutrauen und das Leben nur als Qual erleben. Sie spüren, dass das Leben anders sein könnte, und diese intuitive Erkenntnis macht es ihnen noch einmal schwerer. Seine Möglichkeiten nicht ausschöpfen zu können und darunter zu leiden ist schmerzhaft, macht diesen Zustand aber noch lange nicht zu einer Krankheit.
Die depressiven Menschen haben sich im Laufe ihres Lebens überfordert, geschwächt und haben schlussendlich verloren. Alle Schritte, die ihnen zu mehr Verständnis, Wertschätzung und Bedeutung verhelfen und die eine Konkretisierung eines neuen Umganges mit sich sind, bringen sie näher zu sich und weiter weg von ihren depressiven Handlungsweisen und Einstellungen. Das ist, auf den Punkt gebracht, das Rezept eines erfolgreichen Ausstieges.
Es geht bei allem, was der depressive Mensch auf seinem Weg aus der Depression unternimmt, um ihn. Er ist wichtig und er ist der Maßstab für alles, was er macht. Er muss aber nichts – und das ist zuerst einmal ein ganz wichtiger Grundsatz:
»Ich muss nicht etwas Bestimmtes lernen und eine neue Strategie anwenden, sondern ganz einfach versuchen, im Moment das zu machen, was mir möglich ist, was mir entgegenkommt und mir hilft. Das zu lernen und es irgendwann einmal auch zu leben ist meine Aufgabe. Das sind die Schritte aus der Depression. Anders geht es nicht.«
Oder auf eine Kurzformel gebracht:
Wenn der depressive Mensch macht, was ihm guttut, ihn aufbaut und nicht überfordert, was ihm Angst nimmt und ein gutes Gefühl gibt, dann ist er auf dem richtigen Weg, dann macht er das, was ihn weiterbringt, dann ist er auf dem Weg zu sich und aus der Depression hinaus. Das heißt zum Beispiel:
»Ich darf Fehler machen, ich muss nicht perfekt sein, ich muss nichts erreichen und mir und den anderen nichts beweisen. Ich will sorgfältig mit mir umgehen, achtsam, behutsam, vorsichtig, verantwortungsvoll, gewissenhaft, zuverlässig und überlegt. Ich will mir mit Respekt, Achtung, Verständnis und mit Wohlwollen begegnen.«
Das eigentliche Geheimnis jedes erfolgreichen Ausstieges lautet:
Sich ernst nehmen,
auf sich hören und
das tun, was für einen stimmt.
Es geht beim Ausstieg um Langsamkeit und Zeithaben. Alles, was eine Überforderung verhindert, ist richtig und entscheidend: kleine Schritte, kleine Portionen, immer wieder die Rückfrage, ob der Schritt und das Maß und der Zeitpunkt stimmen. Je länger die Depression dauert, umso größer ist die Ungeduld, umso stärker die Angst, dass die Kräfte nicht mehr reichen, dass die Energie nicht mehr genügt, um freier und unabhängiger zu werden. Es wird zunehmend schwierig für den depressiven Menschen. Die Ungeduld wird zu einem riesigen Problem: »Jetzt bin ich schon so lange drin und dran und bin noch nicht weiter.«
Es geht beim Ausstieg um das Lernen einer neuen Einstellung, um das Sichaneignen eines neuen Umgangs mit sich, was mit folgenden Adjektiven umschrieben werden kann: sorgfältig, verantwortungsbewusst, aufmerksam, wertschätzend, wissend um die Schwierigkeiten, um die Anstrengung, die der oder die Betreffende leistet.
Ungesund, kontraproduktiv und überfordernd ist alles, was als zu früh, zu schnell und als zu viel vom depressiven Menschen erlebt wird, auch wenn es noch so gut gemeint und im Ansatz richtig ist. Und jeder Zwang ist Gift für den Menschen, schadet und schwächt ihn. Er setzt sie oder ihn unter Druck und bringt sie oder ihn von sich weg.
Hierher gehört auch, dass der Patient in der Psychiatrie, zurückhaltend formuliert, als Mensch nicht viel zählt, die Bettenbelegung und durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Patienten aber desto mehr. Das heißt nicht, dass man in der konkreten Situation am Patienten einfach vorbeisieht. Es gibt nur anderes, das noch wichtiger ist als der Patient, etwas, das sich sonst nicht rechnet. Auch Krankenkassen machen Druck. Es kann alles nicht schnell genug gehen, und je kürzer die Behandlungsdauer, umso besser, umso erfolgreicher die Behandlung und umso angesehener die Klinik. Vielleicht müssten die Kassen und Kliniken einmal rechnen, dass mit einer längeren Aufenthaltsdauer die Patienten auch weniger häufig wieder zurückkommen und dass eine längere Behandlungsdauer nachhaltiger ist. Zeitschinden kostet unter dem Strich mehr, denn diese Zeitschinderei verhindert, dass sich Veränderungen etablieren und nicht die Depression als solche.
Es geht beim Ausstieg um den depressiven Menschen, und zwar radikal. Sie oder er bestimmt, sie oder er ist maßgebend. Der Titel meines letzten Buches »Jetzt geht es um mich«1 ist keine Floskel, sondern ein absolutes und ultimatives Ja zu sich, bei jedem Schritt, den der depressive Mensch auf seinem Weg des Ausstiegs macht. Dieses Ja zu sich ist gleichzeitig die Grundlage und Bestimmung seines zukünftigen Lebens. Es bedeutet, sich wichtig zu nehmen, gut auf sich zu hören und sich nahe zu sein. Im Bewusstsein zu leben, dass es um ihn und um sein Leben geht, bringt den depressiven Menschen einen Schritt weiter in der Veränderung der depressiven Muster.
Es geht darum, sich zu erlauben, um sich zu kreisen, sich zu schützen und zu beschützen, sich ins Boot zu nehmen und für sich Partei zu ergreifen. Darum geht es, und um diese Erlaubnis muss der depressive Mensch immer wieder von Neuem kämpfen. Sich dieses Recht zu geben ist so neu, dass es ihm immer wieder entgleitet und er in die alten Muster zurückfällt.
Ziel des Ausstieges ist es, immer weniger am Leben zu leiden, vermehrt sein eigenes Leben zu leben und zufriedener zu werden, mit der Zeit immer mehr fähig zu werden, den Augenblick auszukosten und sogar zu genießen.
Die Grundpfeiler während des Ausstieges, die wichtigsten und entscheidendsten Fragen und Weichenstellungen, sind:
»Was will ich, was brauche ich, was tut mir gut und was traue ich mir im Moment zu?«
In diesen Fragen manifestiert sich die neue Grundhaltung des depressiven Menschen sich selbst gegenüber. In ihnen konkretisiert sich sein neues Lebensfundament:
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Sich ernst nehmen, sich eine Bedeutung geben, sich um sich sorgen, sich gerecht werden wollen, sich nicht überfordern und sich nicht schaden. Das sind die Leitplanken seines neuen Lebens.
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Sich nicht vergessen, sich immer im Auge haben, auf sich aufpassen, um sich nicht zu vernachlässigen, und sich nicht zurückstellen ist das neue Credo.
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Sich begleiten, auf sich achten, sich mitberücksichtigen, erkennen, dass bei allem, was man macht, man selbst gefragt und betroffen ist, das soll das neue Bewusstsein sein.
Auf sich hören und keinem Programm folgen müssen, darum geht es beim Ausstieg. Der depressive Mensch muss nichts. Er entscheidet und er ist maßgebend. Und alle diese Aussagen sind abgeleitet vom Ausgangsgedanken, dass man die Depression verstehen kann. Wenn man sich die depressive Entwicklung vergegenwärtigt, lässt sich nachvollziehen, wie eine Depression entsteht, weshalb depressive Menschen so und nicht anders denken, fühlen und handeln und wie sie sich wieder daraus befreien können.
Das Leben heutzutage ist der ideale Nährboden für eine depressive Entwicklung vieler junger Menschen. Wie viele von ihnen latent depressiv bleiben und wie viele manifest depressiv werden, ist eine andere Frage. Die heutige Zeit ist aber vor allem eine Überforderung für alle diejenigen, die schon mit depressiven Mustern leben und sich mit ihrer depressiven Lebensstrategie den Anforderungen des Alltags stellen müssen. Wer schon eine depressive Entwicklung mitbringt, und das sind die latent depressiven Menschen, wird gerade unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen mit Sicherheit Opfer seines depressiven Überforderungsstils.
Wichtig für den einzelnen Menschen ist, dass er wie das Kind in der Familie in und von der Gesellschaft Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit erfährt: nachvollziehbare Abläufe, klare Strukturen, klar definierte Rechte und Gesetze, die für alle gelten. Anders wird ein Staat nicht als gerecht, verlässlich und fair erlebt. Eine Gesellschaft, die sich nicht an diesen Maßstäben orientiert, birgt in sich all das, was depressive Entwicklungen fördert. Sie birgt in sich die Gefahr, dass sich diese wie ein Flächenbrand ausbreiten. Heutzutage nehmen Depressionen in unserer Gesellschaft rasant zu – das muss uns aufhorchen lassen. Dagegen müssen Kinder in der Familie und der Einzelne in der Gesellschaft wieder Werte wie Fairness, Gerechtigkeit und Respekt erfahren. Je mehr eine Gesellschaft sich in diese Richtung entwickelt, umso weniger Menschen werden eine depressive Entwicklung einschlagen.
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Depression
ist keine Krankheit
Was depressiv zu sein bedeutet
Depression ist entsprechend meiner Erfahrung keine Krankheit, wohl aber ein Leiden, das bezüglich seiner physisch und psychisch erfahrbaren Intensität krankheitswertig ist. In einer ersten Phase entwickelt sich die Depression im Verborgenen. Ich spreche deshalb von der Latenzdepression. Dieser Leidenszustand ist nicht das Resultat eines äußeren Einflusses, sondern Ergebnis einer Entwicklung, die ihre Wurzeln in Anpassungsleistungen in der frühen Kindheit hat. Beim Versuch, etwas Gutes zu machen, wurde ein Weg eingeschlagen, der auf Kosten und zum Schaden des später depressiv werdenden Menschen ging. Gut gemeint und schlecht belohnt, das ist die Bilanz.
Depressiv sein heißt zuallererst müde sein, keine Kraft mehr haben, erschöpft und erledigt sein, sich keinen Wert geben und sich nichts zutrauen. Die depressiven Menschen sind seit frühester Kindheit einen Weg gegangen oder haben, anders gesagt, ihre depressive Entwicklung so gestaltet, dass sich der Betroffene immer mehr vernachlässigt und überfordert und sich damit auch zunehmend schwächt und erschöpft.
So ausgeprägt depressive Menschen ihre chronische Müdigkeit auch erleben, so ist sie dennoch kein Ausdruck einer Krankheit. Wer sich über Jahre überfordert und erschöpft, ist gezeichnet, aber nicht krank.
Subjektiv geht es diesen Menschen schlecht, sie fühlen sich unter Druck, unfähig, Freude, Interesse oder Lust zu erleben. Immer wieder raffen sie sich auf und erledigen ihren Alltag mit einem immensen Kraftaufwand, dabei gleichzeitig für die anderen oft mit einem strahlenden Lächeln, als wäre es die leichteste Sache der Welt, so zu leben. Aber es geht den depressiven Menschen nicht gut. Was noch lange nicht heißt, dass sie krank sind. Wem es schlecht geht, der muss nicht automatisch krank sein.
Langsam schleicht sich immer mehr eine Müdigkeit ein, die jede Freude verblassen lässt und zunehmend ein Gefühl der Leere schafft. Was diese Menschen machen, genügt ihnen nicht und gibt ihnen keine Zufriedenheit. Die Latte der Erwartungen und Ansprüche an ihre Leistungen wird immer so hoch angesetzt, dass sie zwangsläufig scheitern müssen. Und das nie zu erreichen, was sie sich vornehmen oder meinen, leisten zu müssen, schafft eine dauernde Unruhe und einen permanenten Stress.
Was immer depressive Menschen machen, genügt in ihren Augen nie. Es ist immer zu wenig und nicht gut genug.
Diese Beschreibung stimmt für die latente Depression und die Vormanifestdepression,Das große Heer der depressiven Menschen gehört der Gruppe der latent Depressiven an.