PAUL
FLORA
Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
30. September 2016 – 26. März 2017
VORWORT
Wolfgang Meighörner
FLORA ZEICHNET POLITIK
Helena Pereña
BLICK AUS DER PROVINZ FÜR DIE WELTSTADTPRESSE: PAUL FLORA, DIE ZEIT UND DIE DEUTSCHE POLITIK IM INTERNATIONALEN RAHMEN (1957–1971)
Philipp Gassert
PAUL FLORA – EIN SATIRIKER?
Sigurd Paul Scheichl
DAS KONTURWESEN UND DAS KOMISCHE: UNTERSCHEIDENDE GEDANKEN BEIM BETRACHTEN DER ZEICHNUNGEN PAUL FLORAS
Sybille Moser-Ernst
DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DER LINIE: EINE ANNÄHERUNG AN PAUL FLORAS FORMEXPERIMENTE
Rosanna Dematté
IM CLUB DER BIBLIOMANEN: PAUL FLORA – NETZWERKER UND FÖRDERER
Günther Moschig
O WIE ORGIE: BILD- UND SPRACHSPIELE BEI PAUL FLORA
Markus Neuwirth
DER BIBLIOTHEKAR BETRACHTET DIE BIBLIOTHEK: GEDANKEN ZUR KÜNSTLERBIBLIOTHEK VON PAUL FLORA
Roland Sila
DIES UND DAS ÜBER PAUL FLORA UND DIE LITERATUR
Karl-Markus Gauß
DIE WEITERGABE DER KLUGHEIT
Alois Hotschnig
PAUL FLORA, DER MENSCH – WIE ICH IHN KANNTE
Michael Klein
PAUL FLORA: ZEIT-ZEICHEN (1957–1971)
Theo Sommer
EINMAL IM JAHR
Haug von Kuenheim
KATALOGTEIL
Karikaturen in der Klocker Stiftung
ANHANG
Karikaturen im Wilhelm Busch-Museum
Biografie
Bibliografie
AUTORINNEN UND AUTOREN
ZUR AUSSTELLUNG
DANK
BILDNACHWEIS
Als Karikaturist hat er sich selbst nicht verstanden und gesehen, nachdrücklich. Paul Flora soll 1980 sogar Tausende seiner Originalzeichnungen zu den in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT abgedruckten Karikaturen gleichsam rituell verbrannt haben. Aus der Rückschau ist es daher sehr gut, dass damals bereits rund 500 dieser Originale in die Sammlung von Dr. Wolfgang Klocker übergegangen waren und so der Zerstörung entgangen sind.
Diese Zeichnungen sind nun der Ausgangspunkt für eine Ausstellung, die zum einen das zeichnerische Schaffen Floras vorstellt, zum anderen dieses aber in den Kontext seiner Zeit einordnet. Und wie sich die Interessen des aus Glurns im Vinschgau stammenden Künstlers breit auffächern, so ist auch das Schaffen breit gestreut: politische Großereignisse finden ebenso ihren Niederschlag wie menschliche Petitessen, wirtschaftliche Ereignisse wie kirchliche Themen. Und so ist es eine passende Koinzidenz, dass nicht nur die genannten Zeichnungen von der „KR Dr. Hans und Dr. Wolfgang Klocker-Stiftung“ dankenswerterweise zur Verfügung gestellt werden, sondern dass auch der Bibliotheks-Nachlass des Künstlers vor geraumer Zeit in die Sammlungen des Ferdinandeums übergegangen ist. Deren Vielschichtigkeit hilft nun, das facettenreiche Schaffen des Künstlers adäquat zu verdeutlichen, und belegt zudem, dass Sammlungszuwächse auch der weiteren Vermittlungsarbeit dienen. Dass das Projekt auch ein gelungener erster sichtbarer Ausdruck einer schon seit langem gepflegten Zusammenarbeit zwischen den Tiroler Landesmuseen und der Klocker Stiftung ist, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Ich danke daher der Klocker Stiftung unter Führung des Stiftungs-Vorstands Mag. Anton Klocker und Stiftungsrat Dr. Benedikt Erhard für die offene Kooperation von ganzem Herzen. Der Hauptkuratorin der TLM, Dr. Helena Pereña, danke ich für eine äußerst gelungene Ausstellungskonzeption und -durchführung, die dazu beitragen möge, dass das Schaffen des begnadeten Tiroler Künstlers auch in einer hierzulande eher unbekannten Facette seines Werks einer breitere Öffentlichkeit bekannt werde. Die Ausstellungsgestaltung hat einmal mehr Juliette Israël in vorbildlicher Form geleistet, der ich hierfür herzlich danke. Mag. Roland Sila, Dr. Ellen Hastaba und Mag. Astrid Flögel sowie den Autorinnen und Autoren des Begleitbandes danke ich stellvertretend für alle am Projekt Beteiligten für ihre vorzügliche Mitarbeit.
Abschließend darf ich Paul Floras Frau Ursula Ganahl-Flora und seiner Tochter Katharina Seywald sehr herzlich für die wohlwollende Begleitung des Projekts von Anbeginn an danken.
PD Dr. Wolfgang Meighörner
Direktor
Diese Fotografien könnten so entstanden sein (Abb. 1–3): Paul Floras Freund aus Hamburger Zeiten Norbert Denkel (* 1940), der als künstlerischer Leiter für die ZEIT tätig war, besucht den Zeichner 1980 in Innsbruck. Das Gespräch bringt Flora auf die Idee, eine ganze Kiste mit Originalkarikaturen, die er vor ca. zehn bis zwanzig Jahren für die berühmte Wochenzeitung gezeichnet hatte, zu verbrennen. Schließlich wird er noch meistens mit diesen politischen Karikaturen in Verbindung gebracht – obwohl er bereits 1971 beim politischen Ressort gekündigt hatte. Seitdem er nunmehr als freischaffender Zeichner tätig ist, stört ihn der alte Ruf zusehends. Denkel hat Flora bereits häufig fotografiert: zuhause, zeichnend, beim Wandern, im Schnee ... Warum soll er nicht auch die Verbrennung der politischen Karikaturen festhalten? Oder vielleicht war es doch anders: Nach dem Essen hört es zu regnen auf. Floras erste Frau Trude (1922–1989) ruft den beiden Männern zu, sie sollen die Kiste mit Altpapier endlich verbrennen. Jetzt sei der Wald schön nass. Flora und Denkel nutzen die Gelegenheit, um Fotos dieser Verbrennung zu inszenieren. Die Idee, in der brennenden Kiste seien die ZEIT-Karikaturen gewesen, kommt dem Künstler erst später.
Auf welchem Weg auch immer sind die Karikaturen, die 1980 noch im Besitz des Künstlers waren, verschwunden. Dadurch wird die Verbrennung (nachträglich) zu einer Art symbolischem Exorzismus einer Tätigkeit, die Floras Selbstverständnis als freischaffendem Zeichner im Wege stand. Der junge Sammler und Floras Freund Wolfgang Klocker (1945–1974) hatte einige dieser Blätter zur Entstehungszeit erworben, andere schenkte bzw. verkaufte Flora in den 1960er und 1970er Jahren an das Wilhelm Busch-Museum in Hannover. Deshalb sind etwa 800 Originale von 3500 erhalten.1 Erhalten ist aber auch die Erinnerung vieler Anhänger der politischen Karikaturen Floras, die zahlreiche Sammleralben mit Zeitungsausschnitten hinterlassen haben2 – und natürlich auch die Zeitungen.
Die Fotografien sind ein schöner Beweis für die Verbrennung, obwohl sie leider wenig über den Inhalt der Kiste verraten: Zeitungs- oder Zeitschriftenschnipsel sind unten links auszumachen (Abb. 3), von Zeichnungen ist nichts zu sehen. Da auch keine Zeugen Floras Behauptung bestätigen können, bleibt uns nur das Rätseln übrig – und die Freude an einer offenen Geschichte, deren Deutung dem Betrachter überlassen wird. So gesehen ist diese Fotoserie samt Erzählung eine typische Flora-Arbeit, bei der verfrühte Annahmen anhand scheinbarer Beweise sogleich in Frage gestellt werden. Immer wieder spielt er mit mehreren Bild- oder Erzählebenen, die sich gegenseitig „kommentieren“. Auch wenn er Politik zeichnet.
Zwischen 1957 und 1971 hat Paul Flora jede Woche mehrere Karikaturen mit der Bahnpost nach Hamburg geschickt. Freitags hat er mehrere Tageszeitungen gelesen, vor allem „Die Welt“, die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Süddeutsche Zeitung“. Samstags hat er gezeichnet. Zuerst entwickelte er mehrere Ideen in Schrift und Bild auf Skizzenblättern (Abb. 4), die mehr (Kat. 378, S. 450) oder weniger (Kat. 353, S. 436) wörtlich umgesetzt wurden. Sollten die Karikaturen der strengen Jurierung der Familie Flora standhalten, war er fertig. Die Zeichnungen, die Flora immer sonntags in Innsbruck zum Zug brachte, waren spätestens Dienstag morgens in der Redaktion.3 Am Montag standen so gut wie alle Beiträge fest, wobei die Karikaturen und die Leitartikel als Letztes hinzukamen. Dienstagabend war Redaktionsschluss. Bis Mittwochmittag war der Andruck fertig. Die Redakteure bestimmten die Größe und Platzierung der Beiträge und Karikaturen, während sich der künstlerische Leiter um das finale Layout kümmerte. Die erhaltenen Originalzeichnungen Floras tragen viele Spuren des vielstufigen Arbeitsprozesses vom Atelier bis zum Druck. Diese Spuren verdeutlichen einerseits die Zeitnot, unter der Flora stand, andererseits aber auch die Mittlerfunktion der Zeichnungen als reine Reproduktionsvorlage. Flora verwendete immer ein saugfähiges, sehr hochwertiges Papier für seine Tuschezeichnungen. Unterhalb der Darstellung schrieb er den Titel in Bleistift – immer Abstand zur Zeichnung haltend. Vorsichtig notierte er in Einzelfällen Hinweise wie „Bitte Platz geben“, die der Komposition genug freien Raum garantieren (Kat. 62, S. 255). Aufgeklebte Ausschnitte zeugen von der Eile im Arbeitsprozess: Manchmal verdecken die ausgeschnittenen Zeichnungselemente verworfene Bildteile (Kat. 422, S. 474), während andere Ausschnitte zweckmäßiger sind, wie die Schilder in russischem und chinesischem Alphabet in „Proletarier aller Länder, orientiert euch!“ (Kat. 24, S. 224). Häufig findet sich wiederum nichts unter dem Ausschnitt: Möglicherweise schnitt Flora gelungene Teile einer verworfenen Zeichnung aus, um sie auf einem weißen Blatt wiederzuverwenden. Das würde die fließenden Linien erklären, die ohne zu stocken vom bereits aufgeklebten Ausschnitt in das noch freie Blatt gleiten (Kat. 530, S. 535). Manchmal hat zu viel Klebemittel aber auch das Blatt etwas beschädigt (Kat. 354, S. 437). Auf der gedruckten Zeitung sind die Verklebungen natürlich unsichtbar. Auf den Blättern finden sich auch einige Reste von Tipp-Ex, die oft im Bereich der Signatur wieder entfernt wurden (Kat. 25, S. 225; Kat. 22, S. 223). Zumindest zum Teil lassen sie sich darauf zurückführen, dass sie später in Publikationen nachgedruckt wurden. Die Wiederholung der Signatur auf jeder Buchseite wäre wohl etwas aufdringlich, weshalb sie wegretuschiert wurde. Das gedruckte Ergebnis verschleiert diese Veränderungen auch.
Alle übrigen Spuren haben meistens mit der Arbeit der ZEIT-Redaktion zu tun. Druckerschwärze hebt die Funktion der Zeichnungen als Vorlagen hervor. Angaben zur Größe, sowohl in Zentimetern als auch in Spalten, zur Platzierung als Aufhänger (Kat. 428, S. 477) oder etwa im Reise-Teil (Kat. 98, S. 280) stammen nach Auskunft mehrerer Beteiligter vom jeweiligen Chefredakteur. In einzelnen Fällen wurden die Karikaturen von einer Ausgabe zur nächsten verschoben, bis sie schließlich gedruckt wurden (oder nicht) (Kat. 98, S. 280). Andere „Vignetten“ erschienen immer wieder an anderer Stelle (Kat. 8, S. 210). Flora bekam die Zeichnungen zeitnah zurück. Sollten Knicke entstanden sein, beschwerte er sich (Kat. 3, S. 206; Kat. 6, S. 208; Kat. 7, S. 208). Für gelegentliche Reibungen sorgten auch Verwechslungen von Titeln innerhalb einer Ausgabe: Einmal wurde Prag mit Südtirol verwechselt.4 Ein anderes Mal erschien die Karikatur „In Moskau eingefroren“ (Kat. 181, S. 330) unter dem Titel „Kossygin: Bedaure, keine Hand frei“. Der richtige Titel zierte dagegen eine Zeichnung zu den Vermittlungsversuchen der USA in Hanoi in der gleichen Ausgabe vom 6.10.1967. Flora und Kuenheim (* 1934) erinnern sich daran, wie sich die Herausgeberin und ab 1968 Chefredakteurin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002), weigerte, das Wort „Scheiße“ in einem Karikaturtitel zu drucken.5 Anhand der Zeitungen sind auch vereinzelte Abweichungen gegenüber den Originalen nachweisbar: „Von der Gipfeltour: Charles gewinnt an Boden“ (Kat. 5, S. 209) erschien nicht nur beschnitten (Abb. 14), sondern auch unter einem anderen Titel, nämlich: „Radelt für Frankreich“. Titeländerungen finden sich auch in wenigen anderen Fällen, zum Beispiel 1971. Der altertümlich klingende Titel „Vom Männchen, das gar nicht auf den Kontinent hat gewollt“ (Kat. 482, S. 509) war wohl etwas sperrig. Denn neben anderen durchgestrichenen Titelvarianten steht: „Ungern zum anderen Ufer: Mehr Angst oder mehr Vaterlandsliebe?“ in einer anderen Handschrift. Schließlich stand jedoch in der Zeitung „Warten auf Ebbe“ – in Hamburg sicherlich eine zugänglichere Variante.
Flora hat bereits vor seiner Tätigkeit für die ZEIT für Zeitungen gearbeitet. Der Künstler Werner Scholz (1898–1982) vermittelte Flora 1949 den Kontakt zur „Neuen Zeitung“, die in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben wurde. Erich Kästner (1899–1974) war leitender Redakteur des Feuilletons, in den Theodor W. Adorno (1903–1969), Heinrich Böll (1917–1985), Bertolt Brecht (1898–1956), Alfred Döblin (1878–1957), Max Frisch (1911–1991) oder die von Flora verehrten Heinrich (1871–1950) und Thomas Mann (1875–1955) unter vielen anderen bedeutenden Essayisten und Literaten veröffentlichten. Flora lieferte die Illustrationen. Bei der „Neuen Zeitung“ verdiente er sehr gut, als nachhaltiger erwiesen sich jedoch die vielen Kontakte, die nach eigenem Bekunden Floras Leben verändern sollten.6 Die Zeichnungen für die „NZ“ waren also keine politischen Karikaturen, sondern Feuilleton-Beiträge. Ein wichtiger Unterschied, denn Flora zeichnete sein Leben lang häufig und gern für die Kulturteile verschiedenster Zeitungen und Zeitschriften – vor, während, für und nach seiner Tätigkeit für die ZEIT. Aber vielleicht hat sich die amerikanische Zeitung gut auf Floras Lebenslauf ausgewirkt, als die Hamburger zunächst unschlüssig waren, ob sie dem „Älpler“ das große Weltgeschehen zutrauen sollten?7
Die ersten politischen Karikaturen sind bereits ab 1952 auf der Titelseite der Tiroler Zeitung „Wochenpost“ erschienen (Abb. 5). Ab Jänner 1957 druckte auch die „Tiroler Tageszeitung“ – meistens auf Seite 2 der Samstagsausgabe – eine politische Karikatur Floras ab.8 Bei der „Wochenpost“ spielt die österreichische Politik noch eine etwas wichtigere Rolle. Bei der „TT“ fällt auf, dass die Themen der Weltpolitik überwiegen (Abb. 6–11). Nur eine Karikatur aus der früheren Zeit der „TT“ lässt durchblicken, dass die Zeitung österreichisch ist (Abb. 10). Beim „Vorstellungsgespräch“ im Büro des damaligen Chefredakteurs der ZEIT, Josef Müller-Marein (1907–1981), war Flora also bereits ein erfahrener politischer Karikaturist. Warum zeigte er ihm nur Zeichnungen und Illustrationen, die nichts mit Politik zu tun hatten?9 Wollte er sich bereits zu Beginn nicht als politischer Karikaturist präsentieren? Auch in späteren Jahren verschwieg er diese Anfänge.
Wie dem auch sei. Flora hat, nachdem er bereits für die ZEIT engagiert worden war, weiterhin wöchentlich für die „TT“ gezeichnet. Meistens wiederholen sich die Motive. Allerdings war Flora – zumindest am Anfang – bemüht, abgewandelte Varianten der Zeichnungen zu entwickeln (vgl. Abb. 11 und Abb. 8 auf S. 154; Abb. 12 und Kat. 30, S. 229) Da die ZEIT zuerst erschien, waren die Zeichnungen noch in Hamburg, als Flora die „TT“-Karikatur der Woche abgeben musste. Schnelle Striche – etwa bei Schraffuren – verraten die Eile, mit der die neue Vorlage entstehen musste (Vgl. Abb. 13 und Kat. 58, S. 252). Dass die treue Fangemeinde der „TT“-Leser ebenso gespannt auf die neuen Wochenkarikaturen wartete wie die Leserschaft der ZEIT, verdeutlicht etwa die Entschuldigung, die am 16.10.1965 in der „TT“ erschien. Die Leser mussten für die nächsten sechs bis acht Wochen auf die Flora-Karikatur verzichten: „Der Künstler hat sich nämlich auf einer Bergwanderung den Arm gebrochen [...].“10
Viel bequemer für Flora war die Verbreitung seiner Karikaturen über Nachdrucke. Eine der ersten Karikaturen, die Flora für die ZEIT zeichnete, soll im „Time Magazine“ abgebildet worden sein (Abb. 20 auf S. 84–85). Flora erinnert sich daran, dass diese erste Reproduktion die Hamburger Redaktion beeindruckte.11 Auf der stolzen und vor allem langen Liste der Medien, die Floras politische Karikaturen nachdrucken ließen, finden sich viele renommierte internationale Blätter. Es sind alles Medien mit einer ideologischen Affinität zu der ZEIT und deren Westorientierung atlantischer Prägung.12 In der „Canberra Times“ und im „Observer“, wo Marion Gräfin Dönhoff früher gearbeitet hatte, erschienen fast jede Woche politische Karikaturen Floras.13 In der englischsprachigen Presse wurden Titel und sprachliche Elemente der Karikaturen ohne weitere Änderungen einfach übersetzt (Abb. 15, vgl. Kat. 41, S. 238). Flora berichtet, er habe eine Einladung zur festen Mitarbeit beim „Observer“ bekommen. Diese blieb wohl unbeantwortet.14
Doch für manche Medien lieferte Flora etwas veränderte, sogar neue Bildfindungen. Für das Nachrichtenmagazin „Spiegel“, das auch in vielerlei Hinsicht eng mit der ZEIT verknüpft war15, hat Flora Titelblätter gestaltet (Abb. 16). 1965 veröffentlichte der „Spectator“ eine detaillierte Beitragsreihe über Deutschland unter dem Titel „Germany Tomorrow. A Survey on the Eve of the Federal Elections“.16 Dort wurden sieben (Abb. 17, 18) politische Karikaturen Floras abgedruckt, die nicht in der ZEIT zu finden sind. Eine der dazugehörigen Originalzeichnungen ist im Wilhelm Busch-Museum in Hannover erhalten (Abb. 19). Eine weitere Zeichnung, die zwar ausdrücklich für den „Spectator“ bestimmt war, aber wohl nicht verwendet wurde, befindet sich in der Klocker Stiftung (Kat. 528, S. 534). Die Wertschätzung, die der ZEIT in dieser Ausgabe vom „Spectator“ entgegengebracht wird, könnte kaum höher ausfallen: „Die Zeit is one of the world’s best newspapers by anybody’s standard. It is difficult to imagine a major British newspaper empire producing a paper which could compare with it.”17
1962 erschien der erste Band von „Ach du liebe Zeit!“ im Diogenes Verlag. Flora hatte 200 politische Karikaturen aus der ZEIT selbst ausgewählt und kommentiert. Anschließend bat er Marion Gräfin Dönhoff, ein Vorwort zu schreiben.18 Dieses enthält eine sehr treffende Einschätzung von Floras Karikaturen: „Er vermag mit ein paar Strichen ein Problem, eine Situation, ein Geschehen schärfer, einleuchtender, schlagender zu kommentieren als wir mit noch so vielen Zeilen und Spalten. Manchmal kann man ganz neidisch werden. [...] Er ist nie [...] böse aggressiv, sondern immer liebevoll spöttisch; er ist nie parteiisch und hat doch immer einen Standpunkt; [...], steht immer augenzwinkernd und ein wenig amüsiert außerhalb – so ein bißchen wie der liebe Gott.“19
Neidisch konnten die Redakteure auch auf Floras Honorar sein, denn es war – nach der Erinnerung mehrerer Beteiligter – um einiges höher als das eigene. Aber nicht nur finanziell wurden Floras politische Karikaturen bei der ZEIT wertgeschätzt. Sie wurden wie Leitartikel gehandhabt. In fast jeder Ausgabe erschien eine der Karikaturen als Aufmacher. Er entwickelte alle Themen unabhängig von der Redaktion. Niemand durfte dem Künstler etwas vorschreiben. Diese Erinnerung der damaligen Redakteure lässt sich anhand der Zeitungen bestätigen. Man sucht vergeblich nach Verbindungen zwischen den Text- und Bildbeiträgen. Eine der seltenen Ausnahmen ist die Karikatur zum Thema Kritik (Kat. 36, S. 234), die einem Artikel von Dieter E. Zimmer (* 1934) im Feuilleton über sich gegenseitig vernichtende Rezensenten zugeordnet wurde.20 Wohlgemerkt im Feuilleton. Zwar stehen manchmal thematisch mehr oder weniger relevante Beiträge in der Nähe der Karikatur, immer wieder wird diese Nähe jedoch offensichtlich gemieden. Geradezu „herausfordernd“ wirken die Karikaturen, die einen Textbeitrag unterbrechen, ohne den geringsten Bezug darauf zu nehmen (Abb. 20) – wie eine Kunstpause.
Floras politische Karikaturen sind zu wenig konkret, um dazugehörige Texte zu vermissen. Diese Offenheit lässt sich nicht nur damit erklären, dass sie immer mit einer Woche „Verspätung“ gedruckt wurden. Auch nicht (nur) mit dem Desinteresse des Künstlers für Politik, mit dem er sich immer wieder schmückte. Diese Offenheit ist im künstlerischen Arbeitsprozess zutiefst verankert. Sie ermöglicht die ironische Distanz, worauf der Witz von Floras Karikaturen basiert. Floras Karikaturen sind gezeichnete Kommentare zur Politik oder – besser gesagt – zu Politikern. Und wie funktionieren diese Kommentare? Sie gehen eine ironische Verbindung mit dem kommentierten Gegenstand ein, die eine inhaltliche Verschiebung bewirkt. Das ist häufig der Witz.
Ein Blick in Floras Atelier verrät interessante Details zum Entstehungsprozess, zu Floras Humor und zum hohen Stellenwert, den er der Ironie beimaß.21 Er sammelte Fotografien, Postkarten, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte und überhaupt Abbildungen jeglicher Art – manchmal auch kurze Texte – und sortierte sie nach verschiedenen Gesichtspunkten in Mappen, die Titel wie folgende tragen: „Persönlichkeiten. Mussolinis Ende“, „Napoleon. Wagner“, „Städte, Fassaden, Schlösser, Burgen“, „Franz Josef. Franz Ferdinand, Kaiser Karl, Franz Josefs Leichenzug, Alt Wien (Demel)“, „Militär“, „Kirche“, „Tiere, Bäume, Landschaften, Heuschober“ und vieles mehr. Das Bildmaterial ist meistens auf Papier montiert (Abb. 21–31). Dabei stellte Flora Bilder zusammen, die sich gegenseitig „kommentieren“ bzw. einen anderen Sinnzusammenhang entwickeln, als wenn sie nur einzeln wären. Floras Materialsammlung lässt uns in seine Motivwelt eintauchen. Auch wenn sich etliche konkrete Bezüge zu den Karikaturen finden (vgl. Kat. 54, S. 249 und Abb. 26; Kat. 218, S. 355 und Abb. 23), verwendete Flora das gesammelte Bildmaterial nicht bloß als Vorlage. Es geht vielmehr um Prinzipien und Strategien der Bildgestaltung, die sich aus der Konfrontation mit dem Material entwickeln, ergänzen oder bestätigen lassen: wie beispielsweise das Thema Mischwesen und die Verwandlung von Menschen in Tiere oder Gegenstände (Abb. 24; Abb. 25; vgl. Kat. 371, S. 447; Kat. 493, S. 516; Kat. 301, S. 404 und Abb. 29 und Abb. 30; Kat. 116, S. 291 und Abb. 31). Betrachtet man ein Blatt mit einer monströsen Schildkröte (Abb. 33) neben einer der vielen Nasser (1918–1970)-Karikaturen (Kat. 348, S. 434), wird es richtig schaurig.
Flora spielte häufig mit den Möglichkeiten der Verkörperung und Metamorphose. Die Karikaturen haben meistens eine zweiteilige Struktur.22 Wenn sich eine menschliche Figur in einen Gegenstand verwandelt, lässt sich die entstandene Spannung zweier Realitäten knapper, präziser und schärfer auf dem Punkt bringen. Diese Möglichkeit haben Karikaturisten immer wieder genutzt. Je interessanter eine Politiker-Figur für Flora zu sein scheint, desto häufiger und vielfältiger greift er auf diese Strategie zurück. So erscheint Charles de Gaulle (1890–1970) unter vielen anderen Rollen mal als Rettungshubschrauber (Kat. 55, S. 250), mal als Ballon (Kat. 85, S. 269), mal als Wetterfähnchen (Abb. 14 auf S. 80). Das ermöglicht dem Künstler spielerisch, immer neue Metaphern für die Charakterisierung des einflussreichen französischen Politikers zu finden.23 Typisch für Flora ist aber auch – und dafür setzte er ebenfalls gerne die Metamorphose ein – die Offenheit der Deutungsmöglichkeiten: Es gibt keine allzu wörtliche Botschaft. Ist das (Kat. 55, S. 250) wirklich ein Rettungshubschrauber oder fährt er vorbei? Warum fliegt der Ballon erdwärts? Wendet sich das Wetterfähnchen jederzeit (wieder) Adenauer (1876–1967) zu oder schaut es absichtlich weg? In seiner „Kuriositätensammlung“ bewahrte Flora eine Zigarre mit einem Porträt de Gaulles (Abb. 35) auf. Die immanente Bedrohung, der „große“ de Gaulle könne sich in Rauch verwandeln, wirkt, als würde sich die erwähnte Ambivalenz der Karikaturen vergegenständlichen. Vieles in Floras Sammlungen scheint seine künstlerischen Strategien konzeptuell zu bestätigen – nach dem Prinzip des objet trouvé.
Die Verwandlung am Menschen erprobte Flora unermüdlich – und auch spielerisch. Er suchte flache, vom Wasser geglättete Steine, um darauf Gesichter zu zeichnen (Abb. 2 auf S. 101). Wenn sie auf Zeichnungen von Körpern herum gedreht werden, verändert sich die Miene der Figuren deutlich (Abb. 34). Ebenso kinderleicht, aber politisch brisanter, ist die Verwandlung Richard Wagners (1813–1883) in Adolf Hitler (Abb. 32), die bis zum Tod des Künstlers in seinem Atelier hing. Diktatoren waren überhaupt ein ergiebiges Feld für Flora, denn mit wenigen Strichen gerät absolute Macht und persönliches Charisma ins Wanken, ohne jegliche Spur von aggressiver Kritik zu hinterlassen (Kat. 431, S. 478; Kat. 458, S. 494).24 Die duale Struktur der Karikatur bei Flora gewinnt mit der Verschmelzung zweier Persönlichkeiten – wie beim „Wagner-Hitler“ an Aussagekraft, vor allem wenn sie aus verschiedenen Epochen stammen. Zeitliche Sprünge sind typisch für Flora, den Nostalgiker der k. u. k. Monarchie.25 Diese Missverhältnisse schaffen aber auch Distanz zur Gegenwart – und sind daher eine Fundgrube für politische Karikatur. In diesem Sinne müssen sich Bismarck (1815–1898) (Kat. 350, S. 435), aber vor allem Napoleon (1769–1821) immer wieder für die Politik der 1960er herbemühen – mit ganz unterschiedlichen Konnotationen. Einmal steht „Zurück aus Elba“ für die Hartnäckigkeit Adenauers (Kat. 2, S. 205), der, fast aus der Politik verschwunden, doch nicht gehen kann. Einmal feiert Charles de Gaulle alias Napoleon seinen Sieg wie in Austerlitz (Abb. 36). Einmal wirkt Franz Josef Strauß (1915–1988) wie ein trotziger Möchte-gern-Napoleon, der sich nicht durchsetzen kann (Abb. 37).
Flora verdichtet die Darstellung, indem er sie auf das Wesentlichste reduziert. Dadurch wirkt sie weniger anekdotisch oder illustrativ als bei anderen Kollegen. Er setzt auf die polare Struktur der Zeichnung, auf das formale Verhältnis der Figuren und Elemente. Ein Vergleich zwischen Floras berühmter „Reims“-Karikatur zum historischen Treffen de Gaulles und Adenauers 1962 (Abb. 19 auf S. 83) und Fritz Behrendts (1925–2008) Zeichnung zum gleichen Ereignis (Abb. 38) verdeutlicht das Vorgehen: Bei Flora verkörpern die Politiker die Kathedrale, womit sie keine weitere historische Verankerung brauchen. Behrendt dagegen bedient sich dreier Ebenen: der der Politiker, der des gotischen Bauwerks und der der historischen „Ahnen“ über den Wolken: Friedrichs des Großen, Napoleons und Bismarcks. Zieht man eine französische Karikatur zum selben Thema von Roland Moisan (1907–1987) heran (Abb. 39), begegnet uns wiederum eine krönungsähnliche Zeremonie in der Tradition der französischen Malerei.26 Der Gegensatz zwischen dieser Pracht und der schlichten Bildidee von „Reims“ könnte nicht größer sein.
Floras Verwendung von Wortspielen unterstreicht die Wirkung der bewusst eingesetzten knappen Mittel. Die Titel seiner Karikaturen sind meistens weniger erklärend oder beschreibend als vielmehr Teil der Darstellung.27 Daher „verirren“ sich immer wieder Buchtstaben in das Bild, die formal eingesetzt werden: In „Liberté!“ bilden die Buchstaben „NATO“ (Kat. 179, S. 331) das Gefängnisgitter de Gaulles. Im Prinzip funktioniert hier die Strategie der Verkörperung genauso wie bei „Reims“. Floras zeichnerischer Umgang mit Sprache führt immer wieder die Künstlichkeit der Zeichen vor Augen. Unwillkürlich regt die konkrete Verwendung von abstrakten Zeichen die Reflexion über das semantische Verhältnis zwischen Bild und Sprache an. Das erinnert an die sprachskeptische Haltung etwa Hugo von Hofmannsthals (1874–1929). Eine solche Reibung entsteht jedoch nicht nur zwischen Bild und Sprache, sondern zwischen allen Elementen der Darstellung. Floras „Kommentare“ bestehen also aus verschiedenen Bild- und Textelementen, die einen besonderen (Sinn-)Zusammenhang eingehen (können).
Missverhältnisse jeglicher Art, Wiederholungen, Unklarheiten, wacklige Konstruktionen, Gegensätze, Verwirrungen und Sackgassen – das sind alles fruchtbare Strategien für die erfolgreiche Begegnung zweier Zeichnungskontrahenten (Kat. 469, S. 499; Kat. 149, S. 313; Kat. 516, S. 528; Kat. 9, S. 210; Kat. 157, S. 319; Kat. 296, S. 401; Kat. 47, S. 243; Kat. 154, S. 317; Kat. 415, S. 470 und zahlreiche andere). Der Schiedsrichter befindet sich außerhalb: Der Zeitungsleser, der Betrachter der Karikatur, ist gefordert. Flora behauptet, die Qualität einer Zeichnung bestehe zur Hälfte aus der Reaktion des Betrachters: „Jedes Bild ist ein Spiegel, und jeder sieht darin, was er sehen will. Er bekommt so viele Antworten, wie er Fragen stellt. Schaut ein Affe hinein, wird ein Affe herausschauen.“28 Für seine Arbeit für die ZEIT konnte er immerhin mit Vorwissen rechnen – und das nicht nur im Bereich der Politik. Er konnte davon ausgehen, dass die Leser seinen Karikaturen folgten, dass sie Motive, die sich wiederholen und vor allem sich wandeln, wiedererkennen. Er konnte aber auch mit dem deutschen Bildungskanon rechnen, mit dem bis heute ZEIT-Leser in Verbindung gebracht werden. Es tut dem Ganzen jedoch keinen Abbruch, sollten bestimmte Anspielungen nicht oder nicht von allen verstanden werden. Wie viele Leser werden wissen, dass „Frohe Fahrt!“ (Kat. 49, S. 246) von 1965 eine Hommage an Anton Romakos (1832–1889) „Tegetthoff in der Seeschlacht bei Lissa“ ist? Vielleicht nur diejenigen, die sich an Floras Huldigungstext von 1961 mit dem Titel „Mein Bild“ erinnern konnten?29 Man stellt sich Flora beim Schmunzeln vor, wenn er schreibt: „Unser Bild aber, um 1880 gemalt, wurde von Kaiser Franz Joseph (1830–1916) erworben, was wieder einmal für diesen sagenhaften Monarchen spricht.“ Die Offenheit und die ironische Distanz der politischen Karikaturen Floras pflegen eine vermeintliche Neutralität, die immer wieder hervorgehoben wird. Als „Spiegel“ des Betrachters sind sie aber immer nur so neutral wie der Leser selbst.
Besonders gefragt ist der Leser in Floras einzigartigem Buchprojekt „Vivat Vamp! Mit einem gezeichneten Kommentar von Paul Flora“ von 1959. Auf jeder Doppelseite begegnen sich ein „Vamp“-Foto und eine Zeichnung Floras (Abb. 40–43). Floras „Kommentare“ entlocken den eher gewöhnlichen Fotografien immer einen Witz. Daraus entsteht eine konzeptuelle Arbeit, bei der sich Flora mit Leichtigkeit über alles – Militär, Voyeure jeglicher Art, Kino-Divas und vieles mehr – ohne aggressive Boshaftigkeit lustig machen kann (man denke etwa an Manfred Deix [1949–2016]). Diese Verknüpfungen müssen aber die Leser selber herstellen. Es bleibt auch jedem überlassen, darin nur ein erotisches Buch zu sehen.30 Noch radikaler wandte Flora das gleiche Prinzip in einem nie veröffentlichten Buch an, das sich in seinem Nachlass erhalten hat.31 Dort stellte er ausschließlich Fotografien zusammen, die sich gegenseitig kommentieren. Die Abbildungen bedürfen keiner weiteren Erklärung (Abb. 44–47). Indem Flora auf Zeichnungen verzichtete, schuf er eine rein konzeptuelle Arbeit, die erneut an das Prinzip des objet trouvé erinnert. Manche Fotos sind Ausschnitte aus Zeitungen und Illustrierten, manche sind Postkarten oder Fotografien. Sie stammen alle aus Floras erwähnten Bildersammlungen. Diese wuchsen ständig, nicht zuletzt durch die Hilfe eingeweihter Freunde. Gerade der Verleger Daniel Keel (1930–2011) schickte ihm häufig Postkarten mit extravaganten, kitschigen oder nostalgischen Motiven.32 Einmal schrieb er: „Sorry, wenn ich sowas sehe, muss ich an Dich denken!“ (Abb. 48).
Diese Art der Bildersammlung steht in der Tradition von Aby Warburgs (1866–1929) berühmtem „Mnemosyne-Atlas“ (Abb. 50). Der Kunstwissenschaftler Warburg sammelte Abbildungen jeglicher Art, ob Kunst, Werbung oder Pressefotos, um sie nach bleibenden Mustern, nach den Verbindungen ihrer Motive zu erforschen. Forschungsgegenstand des Bilderatlas waren nicht die formalen Entsprechungen, sondern epochenübergreifende Befindlichkeiten, die sich bildlich ausdrücken – im kollektiven Gedächtnis verbleibende „Pathosformeln“. Auch der Künstler Gerhard Richter (* 1932) hat einen berühmten Bilderatlas zusammengestellt (Abb. 51). Richter sammelte ab Mitte der 1960er Jahre auch Bildmaterial jeglicher Art und Herkunft – von Familienfotos bis zu Holocaust-Bildern – und montierte es zunächst auf Blättern, ohne ein vorgefasstes Erkenntnisinteresse. Im Gegensatz zu Flora hatte Richter viele Fotografien selber aufgenommen. Manches davon floss in seine Gemälde mit ein.33 Neben Warburg und Richter könnte auch Hanne Darbovens (1941–2009) konzeptuelles Sammeln von Bildmaterial erwähnt werden, das auch auf der Konfrontation verschiedener Bilder und sonstiger Elemente basiert. Doch jede dieser Positionen setzt ein anderes Vorgehen voraus, ein anderes Erkenntnisinteresse und eine andere künstlerische Arbeitsweise. Floras Bildersammlungen wirken heute außerordentlich aktuell, zumal Kommentare, die gleichberechtigt aus Bildern und Texten bestehen, den wissenschaftlichen/künstlerischen Bereich verlassen haben, um auch die sozialen Netzwerke zu erobern (Abb. 52). Lassen sich die Zusammenstellungen nicht als Fotokarikaturen verstehen? Köstlich, wenn man in Floras Sammlung einen Ausschnitt mit der Verschmelzung der Berliner und der Chinesischen Mauer (Abb. 53) findet. Und wer könnte sonst trotz tiefer Abneigung gegen das Militär das Kaiserjägermuseum zu seinem Lieblingsort erklären?34
Augenzwinkernd kommentiert Flora die Politik anhand der Politiker der 1960er Jahre. Seine ironische Haltung garantiert die nötige Distanz zum Geschehen, um (fast) niemandem zu nahe zu treten. Während seiner 14-jährigen Tätigkeit als politischer Karikaturist für die ZEIT sind nur drei Beschwerden bekannt. Eine Dame soll sich darüber aufgeregt haben, dass Flora Worte aus dem Johannes Evangelium verwendete, um Adenauers Ansprüche auf den Posten des Bundespräsidenten zu parodieren.35 Das blieb der einzige „unabhängige“ Leserbrief. Von den direkt Betroffenen beklagten sich Ludwig Erhard (1897–1977), Bundeskanzler von 1963 bis 1966, und der bayerische Politiker Franz Josef Strauß, Parteivorsitzender der CSU und während der 1960er Jahre Atom-, Verteidigungs- und Finanzminister.
In einer Rede zur Einweihung des Olaf-Gulbransson-Museums am Tegernsee 1966 unterstellte Erhard zeitgenössischen Karikaturisten, nunmehr „die Politiker niedermachen“ zu wollen. Sie werden „mit Recht noch zu Lebzeiten vergessen sein.“36 Diese Rede bescherte ihm eine Erwiderung des Chefredakteurs der ZEIT mit dem vielsagenden Titel „Kein Sokrates“.37 Beim Anschließenden Empfang im Haus von Gulbranssons Witwe brach Erhards Wut aus, man würde ihn nur lächerlich machen, beklagte er sich. Zu Flora soll er gesagt haben, er „käme aus Innsbruck und könne ohnehin nicht beurteilen, wie es in Deutschland zuginge.“38 Vor allem im Vergleich zu de Gaulle – wen wundert es – kam sich Erhard schlecht behandelt vor. Das war wahrscheinlich der springende Punkt. Flora entwickelte einige relativ freundliche Karikatur-Typen: Adenauers magere und runzlige Gestalt wirkt meist elegant (Kat. 14, S. 216; Kat. 16, S. 217). Würdevoll waren auch die amerikanischen Präsidenten ebenso wie der häufig verwendete Uncle Sam (Kat. 32, S. 230; Kat. 68, S. 259). Walter Ulbricht (1893–1973) könnte ein netter Opa sein (Kat. 19, S. 221). Und vor allem die Karikaturen von de Gaulle lassen eine gewisse Sympathie spüren (Kat. 88, S. 271).39 Welche Politiker erscheinen dagegen dick und klein mit einem wenig geistreichen Gesichtsausdruck? Erhard und Strauß; manchmal zum Verwechseln ähnlich.
Franz Josef Strauß ist einer der meist karikierten Politiker seiner Zeit. Der bayerische Politiker bot in mehrfacher Hinsicht ein perfektes Ziel für politische Karikaturisten: Er war in spektakuläre Skandale verwickelt. Berühmt wurde seine wenig glorreiche Rolle in der sogenannten „Spiegel-Affäre“: ein gescheiterter Versuch, kritische Journalisten des Nachrichtenmagazins unter dem Vorwurf des Landesverrats verhaften zu lassen. Die Affäre selbst lässt durchscheinen, dass Strauß höchst empfindlich auf die Kritik der Medien reagierte. Er scheute sich auch nicht vor gerichtlichen Klagen gegen Karikaturisten.40 Manchen kommen solche Reaktionen anachronistisch vor, zum Beispiel dem Karikaturisten Stefan Siegert (* 1946), „wo doch jedes Kind weiß, daß es für Satiriker das Höchste auf Erden ist, wenn sich die sogenannte Zielscheibe ärgert.“41 Obwohl die Affären zu den Mohammed-Karikaturen in den letzten Jahren oder die polemische Anzeige des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (* 1954) 2016 gegen den Verfasser eines Schmähgedichts beweisen, dass die Frage der Grenzen der Karikatur wohl nie endgültig zu lösen sein wird.
Die äußere Erscheinung von Franz Josef Strauß lobte Siegert auch als „ergiebig“: „[...] ich kenne keinen Politiker aus der ganzen Szene, der ihm darin gleichkäme: er ist göttlich leicht zu zeichnen [...]. Nicht nur, daß es so fein ging, den birnenförmigen Kopf, halslos, auf die hochgezogenen Schultern zu setzen, die Nase schön hoch in der Visage platziert, die Augen just in Nasenhöhe, schräg gestellt, Tränensäcke darunter, unter die Nase den kleinen Mund ohne Unterlippe, darunter das Doppelkinn und oben der Haaransatz, dunkel und mephistophelisch.“42 Bayerische Accessoires ergänzen das Bild: egal ob ein Löwe mit bayerischen Rauten, die Lederhose oder einfach ein Bierfass. Diese Beschreibung trifft tatsächlich auf die meisten Strauß-Karikaturen zu (Abb. 54, 55) – auch auf Floras (Kat. 74, S. 262; Kat. 165, S. 323; Kat. 364, S. 442; Kat. 443, S. 486; Kat. 400, S. 462; Kat. 395, S. 459; Kat. 455, S. 492; Kat. 326, S. 419; Kat. 349, S. 434). Hier begegnet uns immer wieder eine plumpe, mitunter nervige Strauß-Erscheinung (Kat. 481, S. 507), die aber gelegentlich Mitleid erregen kann (Kat. 75, S. 263).
Abb. 37